Kapitel 7

 

»Blut, sagt man, fordert Blut.«

William Shakespeare (1564-1616)

 

In der Innenstadt von Baden-Baden

 

Lukas Bürg konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Nicht, dass er sonst wie ein Murmeltier in die Welt der Träume eintauchen würde. Das war ihm meist sowieso nicht vergönnt, denn die bösen Erinnerungen ließen ihn in der Dunkelheit am wenigsten los.

Was sollte er nur tun? Die Situation schien ihm mit einem Mal völlig aussichtslos. Am liebsten hätte er sich in sein Bett gelegt, unter der Decke zusammengerollt und geweint. Aber würde das seine Schuld nicht noch mehr beweisen?

Leise schlich er nun an den halbhohen Hecken des Grundstücks vorbei. Über den Nachbargarten näherte er sich dem Haus. Das Geschäft war natürlich längst geschlossen, im oberen Stockwerk brannte jedoch Licht. Geduckt, hinter dem Stamm einer alten Tanne, bezog der junge Kommissar seinen Posten. Eine ganze Weile stand er reglos in der Dunkelheit. Wolken bedeckten den Mond und zur Rückseite des Hauses gab es keine Straßenlaternen.

Er hätte schon früher hierherkommen sollen, was hatte er sich nur dabei gedacht?

Endlich bewegte sich an dem beleuchteten Fenster etwas. Lukas sah die Silhouetten zweier Männer. Natürlich konnte er nicht verstehen, über was die beiden sprachen, aber ihre Gesten waren eindeutig genug. Sie stritten eine Zeit lang heftig. Dann legte der eine dem anderen beschwichtigend die Hände auf die Schulter, aber dessen schwarzer Schatten entzog sich der Berührung.

Es war wie in einem dieser Scherenschnitttheater. Schwarze Bewegungen auf weißem Hintergrund. Die Geräusche der sich zur Ruhe begebenden Stadt hatten die musikalische Untermalung des Schauspiels übernommen. Eine Weile kauerte Lukas noch unbeweglich in seinem Versteck und beobachtete mit einer Mischung aus Neugier und Angst die Schatten von Theo von Lohberg und dessen Partner.

 

Geburtstagsfeier von Frank Dorthal

 

Marion hatte sich mit der Tischdekoration selbst übertroffen und Frank war begeistert, als er sah, welche Mühe sich seine Frau für ihn gegeben hatte. Das große Wohnzimmer mit dem edlen Esstisch strahlte im Kerzenschein und Frank trug voller Stolz die wunderschöne Armbanduhr, die ihm Marion heute Morgen überreicht hatte. Er wusste, dass deren Preis um die sechstausend Euro lag.

Gegen 19.00 Uhr trafen die Gäste ein. Karina war die Erste und Marion blickte die Schwägerin bewundernd an. Ihre schlanke Figur zeichnete sich verführerisch unter einem eng anliegenden roten Kleid ab. Das schwarze Haar, das sie offen trug, bot einen herrlichen Kontrast dazu. Die grünen Augen strahlten Frank entgegen, als sie diesen nun herzlich umarmte. Auch Marion wurde auf die Wange geküsst und Karina sprudelte geradezu vor guter Laune. Fast schien es der Gastgeberin, als sei die Schwägerin beschwipst. Frank wunderte sich nicht über die überdrehte Art seiner Schwester.

Rolf Heerse, der kurz darauf mit seiner Frau eintraf, entging jedoch Karinas Verhalten nicht. Obendrein kam ihm die junge Frau bekannt vor. Fast glaubte der Hauptkommissar, er wäre ihr schon einmal begegnet, aber sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Ansonsten fand er Franks Schwester äußerst interessant und das altmodische Wort »reizend« kam ihm in den Sinn. Er hatte schon einige Frauen wie Karina Dorthal getroffen, meistens im Rahmen seines Berufs. Diese reizenden Wesen sorgten nämlich gewöhnlich für jede Menge Probleme. Im Stillen seufzte er. Was wurden nicht schon für Dummheiten wegen solcher Frauen begangen?

Etwa zehn Minuten später erschien auch Lukas Bürg. Heute traf er sowohl Marion Dorthal als auch Karina zum ersten Mal. Ihm schienen beide Frauen so verschieden wie Feuer und Wasser und doch hatten sie eines gemeinsam, nämlich seinen Kollegen Frank. Lukas wünschte sich ebenfalls eine Familie, einen Ort, wo er sich geborgen fühlen konnte, wo man auf ihn wartete und wo man ihn liebte.

 

Seine Mutter hatte ihm so einen Ort niemals geschaffen. Oft hatte er gehört, wie sie bei anderen darüber referiert hatte, wie wichtig die eigenen Kinder doch seien, und dass er, Lukas, der Sinn ihres Lebens sei. Aber das war nicht die Wahrheit gewesen. Nur wenn sie alleine war, hatte sie ausgesprochen, was sie wirklich dachte. Und Lukas hatte es manches Mal gehört, wenn sie im Suff ihren Ekel nicht mehr unterdrücken konnte. »Ich habe verkommenes Blut zur Welt gebracht. Der Vater hat es verdorben.«

 

»Noch Wein?«, riss ihn Marion Dorthal aus seinen Gedanken. Sie blickte ihn freundlich an.

»Gerne«, sagte er verlegen und betrachtete die Frau verstohlen. Marion trug ein schlichtes Kleid, das sicher ein Vermögen gekostet hatte. Das blonde Haar war im Nacken zu einem Knoten verschlungen. Seitlich hatten sich ein paar Strähnchen gelöst. Sie wirkte völlig relaxed und war die perfekte Gastgeberin.

Frank und Karina bildeten den Mittelpunkt des Abends. Schon beim Aperitif unterhielten die beiden wie Entertainer die Gäste.

Auch Petra Heerse amüsierte sich prächtig. Ihr entging allerdings nicht, dass sich der junge Kommissar Bürg unter den ständigen Flirtversuchen und zweideutigen Sticheleien seiner Tischnachbarin Karina unwohl fühlte. Auch Marion hätte es lieber gesehen, wenn ihre Schwägerin den jungen Mann nicht so bedrängt hätte.

»Und wieso hast du keine Freundin?«, bohrte diese gerade weiter.

Lukas Bürg gab knappe Antworten und vermied es weitgehend, überhaupt mit Karina zu sprechen. Auch dieses Mal zuckte er nur stumm mit den Schultern und war sichtlich erleichtert, als sich Frank an seine Schwester wandte und das Thema gewechselt wurde.

Beim Essen war die Stimmung ausgelassen. Die Geschwister erzählten witzige Anekdoten und lieferten sich amüsante Wortgefechte. Marion konnte es kaum glauben, dass bis vor wenigen Tagen noch totale Funkstille zwischen den beiden geherrscht hatte. Frank und Karina erinnerten sie an die Geschichten über eineiige Zwillinge, die so verbunden miteinander waren, dass sie die Gefühle des anderen selbst über große Distanzen wahrnehmen konnten.

Petra Heerse unterbrach die Überlegungen der Gastgeberin und die Frauen sprachen eine Weile über die kommenden Theater- und Konzertveranstaltungen. Rolf Heerse, der im Gegensatz zu seiner Frau nicht allzu viel für die schönen Künste übrig hatte, warf mit einem vorwurfvollen Seitenblick auf Petra ein, dass er nur gezwungenermaßen ins Theater gehen würde.

Frau Heerse zwinkerte ihrer Gesprächspartnerin zu und sagte in vertraulichem Ton: »Letztes Jahr waren wir in einem Kriminalstück, da hat er am Ende sogar ›Bravo‹ gerufen!«

»Das war auch klasse«, erwiderte Heerse und schaufelte den letzten Löffel Karamellcreme in den Mund.

Zufrieden lehnte sich der Hauptkommissar zurück und dachte an die letzten Tage, die ihn und seine Mitarbeiter zusammengeschweißt hatten. Er war froh, dass ihr Verhältnis mittlerweile so gut war. Der heutige Abend bestätigte das umso mehr.

Was sie in den letzten Wochen hatten sehen müssen, war nur als Team zu ertragen. Obwohl er von Anfang an vermutet hatte, dass Frank Dorthal Karriere machen wollte, hoffte er nun insgeheim, dass der Oberkommissar es doch noch eine Weile in seiner Abteilung aushalten würde. Und als ob die Gedanken an die Arbeit auch gleich Folgen hätten, klingelte Heerses Diensthandy.

Mit einer entschuldigenden Geste stand er auf und zog sich in eine Ecke zurück. Das Gespräch dauerte nicht lange – als Heerse aufgelegt hatte, bat er Frank, den Fernseher einzuschalten.

»Das war die Zentrale, Neuigkeiten von unserer Freundin Sina Wieser.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Seine Mitarbeiter hatten sich bereits neben ihm versammelt und gemeinsam starrten sie auf den Fernsehschirm. Zu sehen war die extravagant gestylte Sina, die von einem nicht minder hippen Talkmaster interviewt wurde.

 

»Und Sie glauben, Sie könnten in diese Beilmorde etwas Licht bringen?«, fragte der Moderator seinen Gast von oben herab.

Sina Wieser lächelte verkniffen. Die Kamera hatte sie nun in der Totalen. »Das wird sich alles am Samstag zeigen.«

»Und Sie können uns nicht einen kleinen Tipp geben, um was für Informationen es sich genau handelt?«

»Tut mir leid. Meine Anwälte haben mir geraten, diese Dinge erst bei dem Exklusiv-Interview preiszugeben. Schließlich habe ich mit dem Sender einen Vertrag.«

Sie lächelte arrogant, was so viel heißen sollte, wie: »Sie waren ja nicht in der Lage, mich entsprechend zu bezahlen!«

Dann fuhr sie großspurig fort: »Ich möchte nochmals anmerken, dass ich alles auch schon der Polizei gesagt habe. Ich halte also keine Informationen zurück.«

 

»Das zu sagen, haben ihr sicherlich auch ihre verdammten Anwälte geraten«, fluchte Frank ungehalten.

 

»Sie denken also, dass die Polizei nicht in der Lage ist, die vorliegenden Informationen richtig auszuwerten?«, fragte der Talkmaster nun in freundschaftlichem Ton.

Allerdings ließ sich Sina Wieser nicht drauf ein. Man hatte sie für dieses Gespräch gut vorbereitet.

»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete sie deshalb gelassen, »aber die Menschen können sich ja am Samstag selbst ein Bild machen! Ich fahre nach Baden-Baden, der Sender wird mich direkt vor Ort interviewen. Wir werden die Original-Tatorte aufsuchen.«

 

»Himmel noch mal!«, polterte Heerse los, »diese blöde Kuh hat uns gerade noch gefehlt! Am liebsten würde ich die wegsperren.« Der Hauptkommissar rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Das ist zum Kotzen! Erstens stehen wir jetzt wie unfähige Idioten da und zweitens machen die aus dieser Mordermittlung einen Rummelplatz.« Er unterbrach sich und mit weniger Zorn, dafür aber mit umso mehr Sorge, fuhr er fort: »Und drittens hat sich diese Sina Wieser damit gerade selbst zur Zielscheibe gemacht. Was, wenn der Mörder glaubt, sie wüsste tatsächlich etwas?«

»Tut sie sicher nicht«, antwortete Lukas gereizt.

»Natürlich nicht, das ist nur Show und eine Möglichkeit, schnelles Geld zu verdienen«, erwiderte Frank. »Und für das ›Crashen‹ meiner Geburtstagsparty können wir sie ja schlecht drankriegen.«

Die Männer entspannten sich, allerdings verrieten die Gesichter der Frauen weniger Gelassenheit.

Petra Heerse war zu lange schon mit einem Polizisten verheiratet, um nicht zu wissen, wie sich ihr Mann gerade fühlte. Diese Wieser machte ihm das Leben schwer und das konnte sie als Ehefrau kaum gutheißen, deshalb schickte sie in Gedanken ein paar unschöne Verwünschungen in Richtung der jungen Frau.

Auch Marion dachte über Sina Wieser nach. Ihr Vater hatte solche Menschen als Abschaum bezeichnet. »Schlechtes Blut hat Geltungssucht«, pflegte er dann in einem angewiderten Tonfall zu sagen.

Karina, die mittlerweile reichlich dem Alkohol zugesprochen hatte, hielt sich mit Äußerungen zurück, hatte aber die Frau im Fernsehen mit einem geringschätzigen Blick bedacht.

 

Damit die Stimmung nicht anfing zu kippen, servierte Marion schnell den Espresso und einen zwanzig Jahre alten Grappa. Die öligen Schlieren, die er am Glas zurückließ, wenn man dieses langsam drehte, zeugten von der Hochprozentigkeit des Getränks.

Frank bot seinen Gästen Zigarren an und verschwand dann mit den Rauchwilligen auf dem großen Balkon.

Die kleine Gruppe besann sich wieder auf den Grund ihres Zusammentreffens und bald schien Sina Wieser vergessen.

Den ganzen Abend über sprang Marion zwischen den Gästen wie ein Geist hin und her. Niemand bemerkte ihre Betriebsamkeit, und als ihr Petra Heerse in der Küche behilflich sein wollte, lehnte sie das strikt ab.

Während sie grob Ordnung schaffte, die Cateringfirma würde morgen den Rest erledigen, hörte sie von draußen Stimmen. Es gab auch von der Küche einen Ausgang auf die Terrasse, und da es eine warme Nacht war, standen die Türen offen.

Marion erkannte Frank und musste lächeln, als sie hörte, wie er seine kleine Schwester ermahnte: »Karina, du solltest dich mit dem Alkohol etwas zurückhalten.«

»Schon gut, großer Bruder«, erwiderte diese nun gut gelaunt, »ich werde brav sein.«

Daraufhin wurde es still und Marion glaubte schon, die beiden wären wieder zu den anderen Gästen zurückgekehrt, als sie erneut Frank etwas sagen hörte. Sie verstand ihn nicht, scheinbar schien er zu flüstern, während seine Schwester nun weniger leise antwortete: »Ich rede, mit wem ich will! Wann ich will! Ich lasse mir von dir nichts mehr verbieten.«

»Er ist mein Kollege, also was soll das?«

Nun wusste Marion, worum es ging. Also war Frank doch aufgefallen, wie aggressiv Karina versucht hatte, mit dem schüchternen Lukas Bürg zu flirten.

»Eifersüchtig?«, hörte sie die Schwägerin sagen, woraufhin Frank mit einem müden »Oh Gott, Karina!« antwortete.

Marion schüttelte den Kopf und lächelte erneut. Wenn sie eines Tages Kinder haben würde, und sie wollte auf alle Fälle mindestens zwei, dann musste sie sich wohl erst noch an diese Geschwisterstreitereien gewöhnen.

 

* * *

 

Es war nicht dasselbe, wenn es ohne den Zufall geschah. Aber dieses eine Mal sollte es eben so sein. Die Botschaften mussten schließlich gesendet werden und nur ihnen hatte die gesamte Aufmerksamkeit zu gelten. Mühsam war das Beil seiner Bestimmung gefolgt, zu mühsam, um jetzt beiseitegeschoben zu werden.

Leider fehlte dieser Nacht der Reiz, denn alles war so einfach gewesen. Das Beil war heute wütend. Seine Pläne wurden durchkreuzt, das würde der neue Gehilfe zu spüren bekommen.

Endlich näherten sich die Lichter des Fahrzeuges.

Als sich die Tür öffnete und die Fahrerin die Beine lässig auf den Asphalt schwang, entlud sich die Wut. Blut spritzte, als die Schneide den Hals der Frau traf. Das Opfer fasste sich mit beiden Händen an die eigene Kehle und stürzte aus dem Wagen. Mit einem gequälten Röcheln wälzte sich die Sterbende auf den Rücken. Noch bevor sie ihren letzten Atemzug tat und ihre Augen durch den Tod getrübt wurden, traf die Schneide mitten in das hübsche, junge Gesicht.

»Du hast geglaubt, dir meinen Platz nehmen zu können? Dazu hattest du kein Recht«, flüsterte jetzt eine heisere Stimme. Dann hörte man mehrmals hintereinander den unverkennbaren Klang der tödlichen Waffe, die schnell durch die Luft sauste.

Erst als von dem Gesicht des Opfers nichts mehr übrig war, hatte auch die Wut ein Ende. Nun galt es, sich wieder auf die Botschaft zu konzentrieren. Dieses Mal war es einfach und passend. Wieder wurden Knochen durchtrennt und wieder lief dunkles, frisches Blut aus einem noch warmen Körper.

Das Lachen, das dem mörderischen Werk Applaus zollte, hallte unheimlich durch die Nacht. Kurz darauf war es wieder still, so als wäre nichts geschehen.

 

Auf einem Parkplatz, nahe der Innenstadt von Baden-Baden

 

Zwei Tage nach Franks Geburtstagsparty war Sina Wieser tot. Ein Jogger hatte die junge Frau neben ihrem Auto gefunden. Der Wagen stand auf einem Parkplatz, nicht weit von der Innenstadt entfernt, aber doch abgelegen genug, sodass es keine Zeugen gab.

Heerse hatte Sina Wieser noch einen Tag zuvor gebeten, auf sich achtzugeben und eventuell Personenschutz in Anspruch zu nehmen. Aber die junge Frau wollte nichts davon hören.

Widerwillig nährten sich die Männer nun dem Tatort.

Ein Polizist trat auf sie zu. »Leihwagen. Hat ihr ein Fernsehsender zur Verfügung gestellt.« Dann gab er den Blick auf den roten Sportflitzer frei, der nun das Zentrum des Geschehens bildete.

Heerse riss sich zusammen und trat zur Fahrerseite. Die Leiche von Sina Wieser lag neben dem Wagen. Er hörte, wie Lukas Bürg hinter ihm einen erschrockenen Laut von sich gab.

Der Kopf der jungen Frau war fast vollständig vom Körper abgetrennt worden und nur noch an einigen Sehnen mit dem Rumpf verbunden. Außerdem hatte der Täter das Gesicht brutal zerstückelt.

In einiger Entfernung hörten die Beamten das Schlagen von Autotüren und aufgeregte Stimmen. Die Polizisten brüllten etwas und plötzlich wurde sich Heerse des Tumults, der hinter ihm ausbrach, bewusst.

Eine Gruppe Reporter hatte den Parkplatz erreicht und drängte nun vor, Richtung Tatort. Die Absperrbänder würden die Presse kaum aufhalten können.

Der Einsatzleiter der Streife griff durch und gab seinen Leuten entsprechende Anweisungen. Die Gruppe kam zum Stehen. Heerse erinnerte sich an seine Anfangszeit im Polizeidienst. Ein Schauder überlief ihn, als er an diverse Großeinsätze dachte, bei denen er gezwungen gewesen war, zusammen mit seinen Kollegen große Menschenmassen in Schach zu halten. Mit einem Blick auf die junge tote Frau fragte er sich deshalb wieder einmal, ob die Menschheit überhaupt noch zu retten wäre.

»Jetzt kommen auch noch Schaulustige«, fluchte Frank Dorthal neben ihm, und wie zur Bestätigung schlugen weitere Autotüren zu.

Der Hauptkommissar drehte sich nicht um und versuchte die lauten Rufe der Reporter zu ignorieren.

»Was hat man dir nur angetan?«, murmelte Heerse und konzentrierte sich ganz auf den Leichnam von Sina Wieser. Der jungen Frau war unterhalb des Knies das linke Bein abgetrennt worden. Der Körperteil lag nicht bei der Leiche. Jedoch gab es dieses Mal Fußabdrücke. Blutige Spuren zeichneten das Profil eines Damensportschuhs auf den Asphalt. Wäre Heerse ein gläubiger Mensch gewesen, dann hätte er sich jetzt bekreuzigt. Die Beamten folgten den Abdrücken, die vom Körper wegführten. Hinter dem Kofferraum des Wagens endete die Spur. Heerse hörte, wie Lukas Bürg zur Seite trat und sich übergab.

Auch der Hauptkommissar schloss für einen Moment die Augen und kämpfte gegen das Rauschen in seinen Ohren an.

»Das ist doch total krank!«, keuchte Frank Dorthal neben ihm.

Heerse antwortete nicht, sondern blickte verzweifelt auf das mit Blut nachgezeichnete Pentagramm, in dessen Mitte das abgetrennte Bein von Sina Wieser stand. Hier also hatten sie die blutigen Abdrücke hinführen sollen.

 

Präsidium der Kriminalpolizei, Baden-Baden

 

»Das Bein wurde ihr post mortem abgeschlagen. Dann hat der Täter damit, wie mit einem Stempel, die Abdrücke auf dem Boden verteilt. Das Blut, mit dem das Pentagramm nachgezeichnet wurde, stammte ebenfalls vom Opfer«, las Frank Dorthal einen Tag später den Bericht vor. Kurz schwieg er und überflog die nächsten Zeilen. »Das hier könnte vielleicht interessant sein.«

Heerse und Bürg blickten ihren Kollegen erwartungsvoll an.

»An der Jacke des Opfers hat man ein blondes, langes Haar gefunden. Stammte von einer Perücke.«

Der Hauptkommissar rieb sich über das Gesicht. »War eine blonde Perücke in ihrem Gepäck?«

»Nein.«

»Gut, dann informiert Rieber in Hamburg, er soll in der Wohnung der Toten nach einer suchen. Wenn Sina Wieser auf der Blondinen-Party war, hat sie vermutlich selbst eine Perücke. Rieber soll das Teil ins Labor schicken, vielleicht kommen wir damit weiter. Was noch?«

»Da war ein Anruf, der vielleicht etwas bedeutet. Er ging über die Rezeption ihres Hotels.«

»Mann oder Frau?«

»Keine Ahnung!«

Heerse riss die Augen auf. »Wie das?«

»Die Empfangsdame hat gesagt, dass sich die Anrufe für Sina Wieser seit ihrer Ankunft immer mehr gehäuft hätten. Aber das Opfer hatte bereitwillig alles durchstellen lassen. Der Hotelangestellten ist dieses Telefonat nur deshalb im Gedächtnis geblieben, weil der Anrufer sich definitiv mit verstellter Stimme gemeldet hat. Im ersten Moment hatte die Rezeptionistin geglaubt, dass da so ein keuchender Perverser dran sei. Entsprechend hatte sie sich gegenüber der Wieser geäußert, die jedoch meinte: ›Fans sind immer gut!‹ Daraufhin hat sie das Gespräch durchgestellt.«

»Wann war das?«

»Am Abend ihres Todes so gegen zwanzig Uhr.«

»Können wir feststellen, woher der Anruf kam?«

»Wissen wir schon.«

Heerse sah verblüfft zu Frank Dorthal. Aber der zarte Hoffnungsschimmer verschwand sofort, als er seinen Kollegen abwinken sah.

»Die Telefonanlage des Hotels speichert die eingehenden Anrufe, soweit die Anrufernummer angezeigt wird.«

»Also, von wo kam der Anruf? Restaurant, Bar?« Heerse ahnte bereits, dass sie wieder keine Spur hatten.

»Öffentliche Telefonzelle, Innenstadt.«

Ein wüster Fluch rutschte dem Hauptkommissar über die Lippen, und als Frank sagte: »Ich habe trotzdem ein Team hingeschickt«, hielt Heerse das für reine Zeitverschwendung.

 

* * *

 

Die Regenbogenpresse hatte Baden-Baden zwischenzeitlich zu ihrem Lieblingsthema gemacht und der Mord an Sina Wieser war das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem i.

Heerse und seine Männer kämpften an allen Fronten. Der Druck von oben stieg, die Presse wollte Informationen, die Bevölkerung war verängstigt, die Angehörigen der Opfer forderten verständlicherweise Gerechtigkeit und eigentlich rechnete der Hauptkommissar jeden Tag damit, dass man ihn ablösen würde. Die Zusammenarbeit mit den anderen Abteilungen und Behörden lief dagegen hervorragend. Das Team um Heerse bekam jede Unterstützung. Die Labore, die operative Fallanalyse, die Gerichtsmedizin, jeder gab sein Bestes und doch konnten sie keinen Durchbruch verzeichnen. Ihr Täter schien ein Geist zu sein.

 

In Karinas Wohnung, Pforzheim

 

Sie hatte es gewusst. Eines Tages würde er es nicht mehr ohne sie aushalten. Endlich war sein Anruf gekommen.

Wie hatte damals ihr Bruder Frank gesagt? »Eine selbstzerstörerische Beziehung«. Aber er hatte unrecht gehabt. Karina hatte viel über seine Worte nachgedacht und war immer wieder zu demselben Schluss gekommen. Ja, es gab eine Zerstörung – Karinas Seele war zerstört worden. Aber erst als die Beziehung, diese große einzige Liebe, mitleidlos auseinandergerissen worden war. Sie hatte es Frank bei ihrem letzten großen Streit entgegengeschrien. Für sie würde es immer nur diese Liebe geben und niemand könnte sie vom Gegenteil überzeugen. Und jetzt schien das Glück zu ihr zurückzukommen. Sie hatte es tief in ihrem Inneren gespürt. Er würde nicht ohne sie leben können. Keine Frau konnte ihm das geben, was sie ihm gab. Nur bei ihr konnte er sein, wie er wirklich war.

Karina hatte sich nicht die Mühe gemacht, etwas anzuziehen. Als es jetzt an der Tür klingelte, öffnete sie nackt. Seine Blicke ruhten kurz auf ihren kleinen, runden Brüsten und ihrer rasierten Scham, dann stürzte er sich auf sie, so als wäre er am Verhungern, als könnte sie ihm wieder Leben einhauchen, als wäre sie seine einzige und letzte Hoffnung.

Ihr Sex war zügellos, wild. Den Zärtlichkeiten folgte Brutalität. Ihre Körper waren schweißgebadet, klatschten immer wieder aufeinander, quälten sich gegenseitig und überschritten alle Grenzen. Ohne Tabus hatten sie ihre Lust aneinander gestillt und jetzt, wo der Rausch vorbei war, schien es, dass eine wunderbare innere Ruhe von ihnen Besitz ergriffen hatte.

Die Minuten vergingen, in denen sie nur dalagen, schweigend, die wunden Körper aneinandergepresst.

Karina war glücklich. Jetzt war es wieder so wie früher, so wie es sein sollte.

»Das hätten wir nicht tun dürfen«, sagte er nun unvermittelt und zerstörte damit den Augenblick des vollkommenen Glücks.

»Unsinn, das hätten wir schon viel früher wieder tun müssen, oder kommt jetzt die übliche Predigt?«, und mit einer graziösen Bewegung richtete sie sich auf und spielte die Belehrende, indem sie ihre Stimme auf schulmeisterhafte Art verstellte. »Diese Beziehung ist zum Scheitern verurteilt!«

»Du solltest dir diese Worte tatsächlich zu Herzen nehmen. Schließlich weißt du doch, dass es so ist.«

Karinas Augen verengten sich und zornig blitzte sie ihn an. »Das ist nicht wahr. Hörst du, es ist nicht wahr!« Ihre Stimme wurde schrill. »Niemand muss von uns erfahren. Glaubst du, ich will mit dir Hand in Hand durch die Straßen ziehen? Wenn du bei mir bist, dann bin ich glücklich, das genügt und das muss ich mit niemandem teilen. Das will ich nicht einmal teilen.«

»Aber das ist doch kein Leben. Auf Dauer ist das doch nicht normal, verstehst du das denn nicht?«

»Normal?«, schrie sie jetzt fast hysterisch. »Blümchensex mit deiner Frau, das ist für dich normal? Oder das, was wir hier haben? Sag mir, dass du es nicht genießt, mich zu ficken, bis ich schreie, bis ich ...«

Die klatschende Ohrfeige ließ Karina abrupt verstummen.

»Es tut mir leid«, flüsterte er verlegen und wollte sie berühren, aber sie drehte sich weg. »Verzeih mir, bitte.« Dieses Mal griff er nach ihrem Arm, und sie begann sich zu wehren. Sein Griff wurde härter, sie schrie vor Schmerz und trat nach ihm. Er bekam ihre Beine zu fassen und zog sie zu sich.

»Lass mich, du Schwein!«, schluchzte Karina.

Doch, als er sie küssen wollte, gab sie nach. Ihre Lippen pressten sich aufeinander. Der Sex, der nun folgte, war hart und fordernd und am Ende blieb Karina alleine zurück. Wieder einmal hatte er sich für immer verabschiedet.

»Du kannst mich nicht verlassen, du hast mir ein Versprechen gegeben«, hatte sie ihm erst wütend, dann flehentlich hinterhergerufen.

Er wollte sich nicht einmal mehr nach ihr umdrehen und ließ einfach leise die Tür ins Schloss fallen. Sie wagte es nicht, ihm ins Treppenhaus zu folgen. Die Tränen kamen ganz automatisch. Aber noch bevor sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde, richtete sie sich auf, straffte die Schultern und drückte energisch das Kinn nach vorne. Was ihr blieb, war die Hoffnung.

»Er wird wiederkommen, er kann nicht von mir lassen«, flüsterte sie ihrem verschwitzten, verheulten Gesicht im Spiegel zu. »Er wird wiederkommen, dafür werde ich sorgen!«

 

»Trinkhalle«, Baden-Baden

 

Heerses Leute arbeiteten rund um die Uhr und der Hauptkommissar musste sie regelrecht dazu zwingen, ein paar Stunden freizunehmen. Auch er selbst ließ sich nur widerwillig aus dem Präsidium vertreiben. Trotzdem folgte er seinem eigenen Ratschlag und gönnte sich einen halben Tag Auszeit. Petra Heerse bestand darauf, diesen außerhalb der Wohnung zu verbringen. So führte sie ihren Mann durch den Kurgarten in der Innenstadt zur Baden-Badener Trinkhalle.

Da hier nicht allzu viel Betrieb herrschte, schien ihr das prachtvolle Gebäude mit der offenen Front, die durch korinthische Säulen unterbrochen wurde, genau der richtige Ort zum Entspannen.

Um ihren Mann, der sich von der Architektur alleine nicht ablenken ließ, aus seinen Grübeleien zu holen, sagte sie: »Und nachher hast du die Wahl zwischen lauwarmer Thermalquelle mit Salzgeschmack oder einem heißen schwarzen Kaffee mit Schwarzwälder Kirschtorte.«

Heerse ließ endlich von seiner Arbeit los und grinste. »Ich glaube, heute nehme ich Letzteres.«

Damit legte er einen Arm um seine Frau und fing an, sich auf die herrlichen Gemälde zu konzentrieren, die von den Sagen der Region erzählten. Die riesigen Fresken hatten Petra Heerse immer schon beeindruckt und daher war die Trinkhalle auch eines ihrer beliebtesten Ausflugsziele. Unter den Bildern gab es Texttafeln, die mit wenigen Worten den Kern der Geschichten wiedergaben, die so kunstvoll in den Gemälden dargestellt wurden.

Petra plapperte munter drauflos und kommentierte die einzelnen Szenen. Rolf Heerse hörte ihr mit halbem Ohr zu und versuchte abzuschalten.

Plötzlich versteifte sich der Körper des Hauptkommissars. Irgendetwas war gerade aus seinem Unterbewusstsein an die Oberfläche geschwappt.

»Was hast du gerade gesagt?«, fuhr er ungeduldig seine Frau an. Sie standen vor einem der Bilder mit dem Titel Engels- und Teufelskanzel.

»Ich sagte«, antwortete Petra nun etwas beleidigt, »dass der Teufel heute sicher nicht mehr vor Zorn mit dem Fuß auftreten müsste, weil ...«

Aber Heerse hörte nicht mehr zu. Er rannte den circa neunzig Meter langen Gang der Trinkhalle entlang und hielt immer wieder vor den einzelnen Gemälden an. Die wenigen Besucher schauten ihm verwundert hinterher, wie er hektisch vor- und zurücklief und dabei immer blasser wurde.

Verschwitzt blieb er schließlich neben seiner Frau stehen.

»Du musst zurück ins Büro, nicht wahr?«, sagte diese leise.

Rolf Heerse nickte. »Du brauchst nicht auf mich zu warten, es wird sicher spät.«