Kapitel 11
»Was Blut kostet, ist gewiss kein Blut wert.«
Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781)
Präsidium der Kriminalpolizei, Baden-Baden
Drei Tage später brütete Heerse über den Berichten. Erneut nahm er sich die Zusammenfassung der Fallanalytiker vor. Der Hauptkommissar hatte die zuständigen Experten gebeten, eine Einschätzung zum Geschlecht des Täters abzugeben.
Bei den Morden an Hanson, dem Zupf-Hans, dem Jäger Barus, dem Ehepaar und nun auch an dem Russen Wladimir hatten die Opfer gekniet, sich gebückt oder gesessen. Annemarie Müller war sehr klein und Sina Wieser traf der erste Schlag in den Hals, als sie aus ihrem Auto steigen wollte. Damit war klar, dass der Täter nicht besonders groß sein musste. Das Mordwerkzeug, ein leichtes Beil, war zusammen mit dem Überraschungsmoment kein Gerät, bei dem ein hoher Kraftaufwand notwendig war. Eine Frau als Täterin kam damit durchaus infrage. Für eine Frau sprach überdies deren weniger bedrohliche Wirkung auf die Opfer, die sie deshalb auch nahe an sich herankommen lassen würden. Dagegen standen die Statistiken. Gewalttaten dieser Art wurden für gewöhnlich dem männlichen Geschlecht zugeordnet. Allerdings gab es immer Ausnahmen.
Na toll!, dachte Heerse, jetzt bin ich so schlau wie vorher!
Die Experten blieben bei ihrer Einschätzung, dass der erste Mord ohne Planung und in wilder Raserei stattgefunden hatte. Alles danach war überlegt gewesen, auch wenn die Brutalität der Morde das auf den ersten Blick nicht so wiedergab. Niemand bezweifelte die Intelligenz des Täters, der keine verwertbaren Spuren hinterließ und seine Opfer in die Falle lockte. Auch diese Feststellung ließ keine weiteren Rückschlüsse auf die zu suchende Person zu. Das Wissen zur Spurenvermeidung konnte man sich heutzutage leicht aneignen.
Der sexuelle Aspekt blieb unklar. Dem ersten Opfer, Mark Hanson, hatte man die Genitalien zerhackt. Dem Russen wurde eine Reitgerte eingeführt. Auch einen homosexuellen Hintergrund konnte man nicht ausschließen.
Heerse dachte mit Erleichterung daran, dass Lukas Bürg beim letzten Mord überwacht worden war und damit nicht als Täter infrage kam. Das Gleiche galt übrigens auch für von Lohberg. Sollte einer der beiden allerdings einen Partner für die Morde haben, dann wäre es schwer, das zu beweisen.
Jedenfalls schien klar, dass der Mörder eine Botschaft senden wollte. Heerse ging allerdings nicht davon aus, dass der Täter den Wunsch hatte, sich an die breite Öffentlichkeit zu wenden. Wäre das der Fall gewesen, dann hätte er die Aufmerksamkeit der Medien gesucht oder die Möglichkeiten des Internets genutzt. Daraus ließ sich schließen, dass der Kreis der Empfänger definierter war. Möglich, dass eine Einzelperson oder eine bestimmte Personengruppe, wie zum Beispiel die Polizei selbst, angesprochen werden sollte. Das Motiv war unklar, zu befürchten war jedoch, dass der Täter entschlossen genug war, alle vierzehn Trinkhallen-Sagen mit einem Mord darzustellen.
Die Befragungen liefen auf Hochtouren. Heerse hatte selbst mit dem Mann gesprochen, den Marion Dorthal damit beauftragt hatte, den Nachlass ihres Vaters zu veräußern, aber das hatte nichts ergeben. Am meisten erhofften sich die Polizisten von den Vernehmungen bezüglich des Mordes an Wladimir Juroschek. Jemand musste doch etwas gesehen haben! Allerdings blieben bis jetzt auch hierbei die Rückmeldungen dürftig.
Heerse griff gerade nach seinem kalten Kaffee, als plötzlich die Bürotür aufgerissen wurde.
»Wir haben ihn!«, schrie ihm Müller vom Türrahmen zu und war schon wieder verschwunden.
Heerse sprang wie elektrisiert auf, griff nach seiner Jacke und rannte auf den Flur.
Frank Dorthal kam ihm entgegen. »Wir haben ihn!«, rief auch er und spurtete vor Heerse den Gang entlang, Richtung Parkplatz.
Die Sirenen der Einsatzfahrzeuge dröhnten durch die ganze Stadt.
Heerse sprang fast aus dem fahrenden Auto, als sie ihr Ziel – eine einfache Wohngegend – erreichten. Die Anwohner hatten sich bereits hinter den Absperrungen versammelt. Der Hauptkommissar rannte auf den nächsten Kollegen zu.
»Was ist hier los?«, kam er gleich zum Punkt.
»Geiselnahme. Der Typ ist durchgedreht. Bedroht seine Frau und seinen achtjährigen Sohn mit einem Beil. Vielleicht ist das euer Mann?«
Heerse überkamen die ersten Zweifel.
»Wie kam es dazu?«
»Die alte Geschichte. Der Kerl hat vor einem halben Jahr seinen Job verloren, das Saufen angefangen und jetzt wollte ihn seine Frau verlassen. Das war dann wohl zu viel.«
Heerses Zweifel wurden größer, trotzdem rannte er ins Gebäude. Die Polizisten im Treppenhaus ließen ihn zu ihrem Vorgesetzten durch.
»Der Geiselnehmer heißt Peter Schmidt, achtunddreißig. Die Oma hat uns angerufen.«
»Wo ist die jetzt?«
Der Kollege deutete nach unten. »Wohnt ein Stockwerk tiefer, ist die Mutter der Ehefrau.«
»SEK?«
»Auf dem Weg«, sagte Heerses Gegenüber sachlich, dann fuhr er in besorgtem Ton fort, »ich hoffe, das Spezialeinsatzkommando taucht bald auf. Ich fürchte nämlich um das Leben des Kindes.«
Wie zur Bestätigung brüllte es aus der Wohnung: »Ich bring euch alle um, ihr Schweine, und mit dem Jungen fang ich an!«
Heerse sah bestürzt zu seinem Kollegen, dann fasste er einen Entschluss.
»Herr Schmidt«, hallte die feste Stimme des Hauptkommissars nun durch das Treppenhaus, »mein Name ist Heerse, Rolf Heerse.«
»Verschwinde, du beschissener Bulle!«
»Herr Schmidt, das kann ich nicht. Nicht, solange der Junge bei Ihnen ist.«
Heerse gab den Polizisten hinter sich wilde Zeichen. Einer der Männer formte daraufhin mit den Lippen den Namen Kevin.
»Geht es Ihrem Sohn gut? Geht es Kevin gut?«, versuchte der Hauptkommissar ein Gespräch zu führen.
»Noch ja!« Die Stimme des Mannes klang gehetzt und etwas schwerfällig, wahrscheinlich hatte er getrunken.
Im Hintergrund hörte Heerse erleichtert das Geräusch eines sich nähernden Hubschraubers – das Spezialeinsatzkommando war im Anflug.
»Wie geht es Ihrer Frau?« Jemand hob ihm einen Zettel vor die Nase. »Nathalie?«
»Die Schlampe wollte mich verlassen ...«
Heerse sprach ganz automatisch weiter, irgendetwas sagte ihm, dass er das Gespräch nur am Laufen halten musste, dann würde der Familie nichts passieren.
»Wo ist Nathalie jetzt?«
Das Brummen des Hubschraubers schien kurz sehr nahe, dann entfernte sich das Geräusch wieder.
»Wen interessiert das?«, gab der Mann hinter der Tür zornig zurück.
»Ist Kevin bei Ihnen?«
Hinter sich hörte Heerse schwere Schritte. Die Männer des SEK rannten die Treppe hoch. Ihr Einsatzleiter ließ sich von einem der Baden-Badener Beamten schnell auf den neusten Stand bringen. Gleichzeitig gab er Heerse das Zeichen, weiterzusprechen. Die SEK-Leute standen in dem für sie typischen »Räuberzivil« hinter ihm. Da die Männer im Notfall abgerufen wurden, blieb keine Zeit für aufwendige Kleidungswechsel. Die meisten trugen deshalb eine handelsübliche Jeans, eine Uniformjacke, darüber eine Schutzweste mit entsprechender Aufschrift und auf dem Kopf einen Kevlarhelm. Ebenso gehörten schwere ballistische Schutzschilde, Maschinenpistolen und Kurzwaffen zu ihrer Ausrüstung.
»Der Junge ist bei mir. Ich bin schließlich sein Vater. Hier ist sein Platz«, antwortete der Geiselnehmer hinter der Tür.
Vier der SEK-Leute verschwanden in der Nachbarwohnung. Ganz offensichtlich wollten sie über den Balkon steigen und so in die Räume der Schmidts eindringen.
Jemand hielt Heerse einen weiteren Zettel vor die Nase, der Hauptkommissar hatte verstanden.
»Hören Sie, wir können das alles noch zu einem guten Abschluss bringen.«
»Es wird nichts Gutes mehr in meinem Leben geben.«
Wieder ein Zettel.
»Reden Sie keinen Unsinn, Ihr Junge, Kevin, das ist doch etwas Gutes.«
»Ja, und den wollen sie mir nehmen!«
Heerse glaubte ein Schluchzen durch die Tür zu hören.
Mit hochgezogenen Augenbrauen las er nun die nächste Anweisung.
»Herr Schmidt, ich schlage vor, Sie lassen den Jungen gehen, dafür komme ich zu Ihnen.«
»Um mich zu erschießen?«
»Unsinn«, erwiderte der Hauptkommissar dieses Mal ohne Vorgaben. »Ich bin alt und grau. Ein Bürohengst, ich rede mit den Menschen. Öffnen Sie die Tür und lassen Sie Kevin gehen, ich werde an seiner Stelle zu Ihnen in die Wohnung kommen.«
Peter Schmidt schien Bedenkzeit zu brauchen. Noch schleuderte er wüste Beschimpfungen durch die Tür, aber Heerse ließ nicht locker und redete mit Engelszungen auf den Geiselnehmer ein. Der Hauptkommissar hatte das Gefühl, dass er schon seit vielen Stunden in diesem Treppenhaus wäre und Tausende dieser kleinen Notizzettel gelesen hätte, die man ihm ständig vor die Nase hielt.
Endlich schien Peter Schmidt einzulenken. »Ich tausche meinen Jungen aus, aber wenn ihr irgendwelche Tricks versucht ...«, drang es bedrohlich durch die Tür.
Die SEK-Männer waren bereit. Das Vierer-Team stand schon auf dem Balkon.
Gerade, als sein Nebenmann einen neuen Zettel schreiben wollte, hörten die Beamten das Drehen des Schlüssels. Ein schmächtiger Junge mit ängstlichem Gesicht blickte durch den Türspalt – dann passierte alles gleichzeitig.
Heerse wurde zur Seite gestoßen. Einer der SEK-Männer packte den Jungen am Arm und zog ihn mit einem Ruck ins Treppenhaus, wo ihn sofort ein anderer Mann mit festem Griff nach unten trug. Die Tür wurde aufgestoßen und die SEK-Beamten stürmten in die Wohnung. Aus dem hinteren Teil hörte man das Zerbersten von Glas.
Das Team, das nun über den Balkon eindrang, hatte mit seinen Schutzschilden die Scheiben zertrümmert. Peter Schmidt blieb keine Zeit zu reagieren. In der nächsten Sekunde trafen ihn die Nadeln eines Tasers am Körper. Von Muskelkrämpfen geschüttelt, stürzte er zu Boden. Jemand schlug ihm die Waffe aus der Hand, dann rissen ihm die Beamten die Arme nach hinten und das Einrasten der Handschellen ließ das Team fürs Erste durchatmen.
Heerse lehnte immer noch, wie ein nasser Sack, an der Wand. Jemand half ihm auf.
»Gute Arbeit, Kollege.« Das war der Zettelschreiber.
Heerse nickte nur. Durch seine Adern schien im Moment kein Blut, sondern reines Adrenalin zu fließen.
Wie in Trance betrat er die Wohnung. Das angebliche Beil stellte sich als alte, rostige Axt heraus. Peter Schmidt schluchzte laut, als ihn die Beamten abführten. Zwei Sanitäter eilten an den Männern vorbei ins Nebenzimmer, dort lag die Ehefrau. Sie war bewusstlos und hatte eine große Platzwunde auf der Stirn. Vermutlich war sie von ihrem Mann niedergeschlagen worden. Die Krankenbahre wurde mit größter Umsicht durch das gewundene Treppenhaus getragen.
Plötzlich war Frank Dorthal neben dem Hauptkommissar. »Rolf? Geht es dir gut?«
»Ich denke nicht, dass das unser Mann war«, sagte Heerse leise, anstatt seinem Kollegen eine Antwort zu geben.
Als die beiden Polizisten wenig später Peter Schmidt verhörten, stellte sich deutlich heraus, dass der Mann nicht ihr Beilmörder war. Was sie heute erlebt hatten, war eines dieser häuslichen Dramen, das die Menschen für den Rest ihres Lebens in den Abgrund stürzen konnte. Peter Schmidt würde mit Sicherheit eine Haftstrafe verbüßen. Blieb zu hoffen, dass die Ehefrau und der Junge trotzdem einen Weg fanden, irgendwann wieder ein normales Leben zu führen.
Innenstadt von Baden-Baden, nächster Tag
Der Beamte gähnte und streckte sich auf dem Beifahrersitz. »Sieht alles ruhig aus«, sagte er gerade zu seinem Kollegen. Es war bereits kurz vor 11.30 Uhr morgens und die Ablösung würde erst in drei Stunden kommen.
»Das arme Schwein«, antwortete der andere Polizist. »Hast du die Schlagzeilen gelesen? Damit kann der so unschuldig sein, wie er will. Diese Morde werden ihm ewig anhaften.«
»Vielleicht zu Recht.«
»Na, den Letzten hat er jedenfalls nicht begangen, da standen wir schließlich vor der Tür des guten von Lohbergs.«
»Stimmt, aber da wir nun immer noch dastehen, scheint ihn Heerse noch nicht von der Verdächtigenliste gestrichen zu haben.«
Ein paar Minuten schwiegen die Männer und beobachteten die Eingangstür des Antiquitätengeschäfts.
»Die haben die regionale Presse um Mithilfe gebeten«, nahmen die Beamten die Unterhaltung wieder auf.
»Man sucht nach Zeugen wegen des toten Russen.«
Einer der Männer rutschte nun unruhig auf seinem Sitz hin und her. »Irgendetwas stimmt heute nicht. Normalerweise kommt er Punkt elf Uhr aus dem Laden und fegt über die Stufen. Dann legt er den Fußabtreter vor die Tür und schaltet das Licht ein.«
»Vermutlich verschlafen, oben hat sich auch noch nichts bewegt.«
»Noch zehn Minuten, dann gebe ich das an die Zentrale durch.«
Aber die beiden Beamten brauchten nicht mehr so lange zu warten. Ein Ehepaar hielt mit dem Wagen vor dem Geschäft. Offensichtlich waren sich die beiden nicht einig. Während sie mit zornigem Blick zur Eingangstür stapfte, lief er bewusst gelangweilt und im Schneckentempo hinter ihr her.
»Na, der scheint jetzt schon dem Geld nachzutrauern, das seine Gattin hier gleich ausgeben wird.«
Die beiden Beamten grinsten.
Der Laden war geöffnet, denn das Ehepaar verschwand jetzt im Inneren. Mit einem unguten Gefühl beobachteten die Polizisten das folgende Geschehen.
Protokollauszug Überwachung Theo von Lohberg
... Bis 11.00 Uhr gab es nichts Auffälliges. Das Haus war ruhig. Dann bemerkten wir allerdings, dass der zu Überwachende, Theo von Lohberg, nicht wie sonst seinen Gewohnheiten nachkam. Im Obergeschoss, also dort, wo sich die Wohnräume des Verdächtigen befinden, wurde kein Licht angeschaltet. Soweit wir zu diesem Zeitpunkt feststellen konnten, wurden auch die üblichen Tätigkeiten (Fegen vor der Tür, Fußmatte auslegen) nicht ausgeführt.
Das Ehepaar betrat das Geschäft um 11.38 Uhr. Ungefähr dreißig Sekunden später hörten wir den lauten Schrei der Frau. Noch bevor wir das Antiquitätengeschäft von Theo von Lohberg erreicht hatten, stürzte besagtes Ehepaar aus dem Laden. Wir betraten die Räume und fanden den Leichnam ...
Heerse hatte die Protokollzeilen immer wieder gelesen und doch schienen sie sich ihm nicht einzuprägen. Er fühlte sich unnütz und schuldig. Vor zwei Stunden hatte man ihn benachrichtigt. Frank hatte die Fahrt über dauernd davon gesprochen, dass das wohl ein klares Schuldeingeständnis sei, aber Heerse sah das anders.
Die Bilder von Theo von Lohbergs Leichnam ließen ihn nicht los.
In seinem Kopf baumelte er immer noch wie ein makaberes Requisit zwischen seinen teuren Kunstgegenständen. Die Haut bläulich verfärbt, die Zunge dick zwischen den Lippen hervorquellend.
Theo von Lohberg hatte sich gestern Nacht einen schwarzen Smoking angezogen und reichlich von dem schweren Aftershave aufgetragen, das scheinbar in jeden Winkel des Verkaufsraumes gekrochen war. Heerse würde diesen Geruch nun stets mit dem Tod verbinden. Dann hatte von Lohberg die Ladentür aufgeschlossen und sich erhängt.
Der Antiquitätenhändler hatte zwei Nachrichten hinterlassen. Eine richtete sich an Heerse persönlich, die andere an den Lebensgefährten Oliver. Beide waren nun in durchsichtiges Plastik eingehüllt wie die Speisekarten in den Fast-Food-Restaurants.
Damit sie nicht von jemandem bekleckert werden, dachte der Hauptkommissar verbittert.
Die Abschiedsworte an Oliver waren voll tiefem Gefühl und Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit.
Heerse griff zu dem zweiten Brief, las erneut die Zeilen und wünschte sich für einen kurzen Moment, er hätte sich damals nicht für den Beruf des Polizisten entschieden.
Verehrter Herr Hauptkommissar,
was blieb mir letzten Endes anderes übrig? Ich werde Oliver keine Vorwürfe machen. Er hat gehandelt, wie es seinem Naturell entsprach, aber Ihnen und Ihren Männern gebe ich die volle Schuld an dieser tragischen Wendung in meinem Leben.
Ihre falschen Verdächtigungen haben mich ruiniert, mein Leben zerstört. Ich war in all den Jahren, die ich auf Gottes schöner Erde habe wandeln dürfen, niemals ein rachsüchtiger oder bösartiger Mensch, aber dieses eine Mal, sozusagen zum Abschied, werde ich all das sein, was Sie mir fälschlicherweise vorgeworfen haben. Ich hinterlasse Ihnen diese Zeilen mit dem Wunsch, dass Sie sich bis zum Ende Ihrer Tage damit quälen, mich auf dem Gewissen zu haben. Ihre Stümperhaftigkeit hat mich in der Öffentlichkeit unmöglich gemacht und mir Oliver, meinen Halt und meine Liebe, genommen.
Ich bin einer der angesehensten Kunsthändler von Deutschland gewesen, bis ich durch Ihre Indiskretionen zum Gespött der Menschen wurde. Ich konnte das keinen Tag länger mehr ertragen. Da ich davon ausgehe, dass mir auch im Tod nicht der nötige Respekt entgegengebracht wird, habe ich mich entschlossen, sozusagen als Ende dieser wochenlangen Schmierenkomödie, mich der Welt direkt in meinem Laden zu präsentieren. Warum im stillen Kämmerlein sterben, wenn man so gefragt ist wie ich? Lassen Sie mich hängen, bis meine verwesende Leiche im Internet Einzug gehalten hat und die Titelseiten der Boulevardpresse ziert.
Meine Mutter hat immer gesagt, wir sollen, bevor wir sterben, unseren Frieden mit der Welt machen. Obwohl ich stets ein getreuer Sohn war, werde ich ihr dieses eine Mal nicht folgen. Das, was Sie mir angetan haben, war schlichtweg unverzeihlich. Ich wünsche mir, dass Ihnen mein Tod keine Ruhe lassen wird. Fühlen Sie sich schuldig, denn Sie sind es.
Hochachtungsvoll
Theo von Lohberg
PS: Ich, Theo von Lohberg, habe weder die mir vorgeworfenen Morde begangen, noch jemanden damit beauftragt, noch habe ich Kenntnis von dem wahren Täter!
Heerse wehrte sich gegen all die Schuldgefühle, die in ihm aufstiegen, aber er spürte, dass er dabei war, zu unterliegen.
»Das heißt gar nichts!«, zischte Frank wütend zwischen den Zähnen hervor. Er stand jetzt dicht neben Heerse zwischen all den Möbeln und Gemälden und hätte am liebsten auf den Toten gespuckt.
»Was bildet sich der Kerl überhaupt ein?«, stieß er nun lauter hervor.
»Frank«, beschwichtigte ihn der Hauptkommissar, »der Mann war verzweifelt. Wir sollten ihm diesen Abschiedsbrief nicht übel nehmen.«
»Nicht übel nehmen?«, erwiderte der jüngere Kollege aufgebracht, »der Typ meint wohl, er ist jetzt von der Angel. Wer sagt uns denn, dass sein Selbstmord nicht zum Plan gehört?«
»Frank, der Mann ist tot, was soll das für ein Plan sein?« Heerse war dem Kollegen zwar für seine Unterstützung dankbar, hatte aber doch das Gefühl, dass der sich zu sehr hineinsteigerte.
»Die Welt ist voller verquer denkender Spinner. Sieh dir doch nur die Amokläufer an, die sich am Schluss selbst hinrichten. Vielleicht ist das hier auch so. Theo von Lohberg hat einen Komplizen. Nachdem wir diesem Theo nun zu nahe gekommen sind, erhängt der sich, nicht ohne vorher noch unhaltbare Anschuldigungen aufs Papier zu bringen, beteuert am Ende des Briefes seine Unschuld und wir fühlen uns schlecht und verfolgen die Spur nicht weiter. Was am Ende dazu führt, dass der Komplize freie Bahn hat oder untertauchen kann.«
Heerse hätte Frank Dorthal gerne einen Tag Urlaub gegeben, aber leider war das momentan nicht möglich. Also versuchte er das Gemüt des Kollegen mit Vernunft abzukühlen. »Ein hoher Preis, mit dem nichts gewonnen wäre. Und von Lohberg hat nicht ganz unrecht. Diese Untersuchung hat ihm beruflich und privat sehr geschadet und ich fühle mich dafür mit verantwortlich.«
Frank wollte etwas dagegen sagen, aber Heerse winkte ab. »Ich habe immer bezweifelt, dass Theo von Lohberg unser Mann ist. Und du hast das doch auch.«
Wohnung von Marion und Frank Dorthal
Als Karina mit ihrem kleinen Handkoffer vor Marions Tür stand, war diese hin- und hergerissen.
Seit Tagen ging sie Frank aus dem Weg und ließ sich auf kein Gespräch ein. Wenn jetzt Karina in der Wohnung wäre, dann würde sich eine Aussprache noch weiter hinauszögern lassen. Marion war vollkommen verunsichert, was Frank betraf, und auch eingeschüchtert.
Auf der anderen Seite empfand sie Karina als anstrengend. Es fiel ihr schwer, ihre Handlungsweisen zu verstehen. Dieses Beziehungsdrama, in dem sich Franks Schwester befand, ging Marion mittlerweile auf die Nerven und sie fragte sich, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, den Kontakt zu ihr aufzunehmen.
Nicht zuletzt hatte sie Karinas Bitte am Telefon, eine Nacht bei ihnen Unterschlupf finden zu können, regelrecht überrumpelt. Deshalb hatte Marion auch zugestimmt. Karinas geheimnisvoller Liebhaber war nämlich erneut aufgetaucht und hatte sie gedemütigt. Frank wusste nichts davon, da Marion momentan nicht mit ihm sprach. Allerdings musste sie ihrem Mann eines zugutehalten: Sie konnte mittlerweile besser nachvollziehen, warum er den Kontakt zu seiner Schwester abgebrochen hatte. Auf Dauer war es tatsächlich niemandem möglich, dieses selbstzerstörerische Treiben zu ertragen.
»Darf ich reinkommen, oder hast du es dir anders überlegt?«, riss die junge Frau Marion aus ihren Gedanken.
»Selbstverständlich, entschuldige.«
Karina schlüpfte eilig an Marion vorbei und bugsierte ihr Gepäck in das bereits für sie vorbereitete Gästezimmer. Dann atmete sie durch. Gott sei Dank war sie hier. Keinesfalls wollte sie weiter untätig in ihrer Wohnung in Pforzheim sitzen. Eine Nacht bei Marion und Frank würde ihr sicher helfen.
»Richte dich in Ruhe ein, ich mache uns erst einmal einen Tee«, sagte Marion, die sich daran erinnerte, was ihre Pflichten als gute Gastgeberin waren.
»Mir wäre ein Rotwein lieber ...«
Marion zuckte mit den Achseln und sagte freundlich: »Gut, dann Rotwein!«
An diesem Abend kam Frank ungewöhnlich früh nach Hause. Heerse hatte darauf bestanden, dass er zeitig Schluss machen sollte. Ihm kam das sehr gelegen, er wollte endlich die Sache mit Marion geraderücken. Ihre Distanziertheit machte Frank zu schaffen. Er brauchte ihre Ruhe und Hingabe. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie dermaßen vor den Kopf zu stoßen?
Reumütig schloss er die Wohnungstür auf und rief nach seiner Frau. Sofort wurde ihm klar, dass sie Besuch hatten – ein schrilles Kichern drang aus dem Wohnzimmer. Für eine Sekunde erstarrte Frank, dann versuchte er sich zusammenzureißen und sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen.
Neben Marion auf dem Sofa saß Karina. Die Rotweinflasche auf dem Tisch vor ihr war beinahe leer.
Während ihm seine Schwester zur Begrüßung um den Hals fiel, nickte Marion lediglich freundlich in seine Richtung. Am liebsten hätte er Karina in diesem Moment aus der Wohnung geworfen, aber wie hätte das auf seine Frau gewirkt. Also verhielt er sich so, wie diese es von ihm erwarten würde.
»Karina, was machst du denn hier?« In seiner Frage schwang eine gewisse Schärfe mit, als er sich aus ihrer Umarmung befreite. Seine Schwester schien davon nichts zu bemerken.
»Ich leiste Marion Gesellschaft. Sie hat mich eingeladen, ist das nicht nett von ihr? So habe ich ein wenig Abwechslung.«
Ihre Stimme klang unschuldig und in ihren Augen lag ein flehentlicher Ausdruck.
»Marion ist nicht deine Alleinunterhalterin!«, antwortete er schroff.
»Frank, ich denke nicht, dass mich Karinas Besuch überfordern wird«, mischte sich seine Frau ein. Ihre Stimme war kalt und beherrscht.
Erst schien es, dass Frank darauf etwas erwidern wollte, aber er zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Gut, wie ihr meint.«
Als sich Marion kurz darauf in die Küche begab, um das Abendessen vorzubereiten, fuhr Frank seine Schwester wütend an: »Was willst du hier?«
»Was ist? Freust du dich nicht, deine Schwester zu sehen?«
»Was willst du hier?«
»Schon kapiert, du hast momentan Eheprobleme, Bruderherz. Keine Sorge, ich werde mit Marion reden, das kriege ich wieder hin.«
»Unterstehe dich. Du lässt sie in Ruhe, sonst ...«
»Essen ist fertig«, erklang hinter ihnen Marions Stimme, die nun etwas irritiert zwischen den Geschwistern hin und her sah.
Das Abendessen verlief sehr schweigsam.
Einmal fragte Frank gereizt: »Bekommst du keinen Ärger mit dem Chef, wenn du so kurzfristig Urlaub nimmst?«
Karina ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und antwortete schnippisch: »Ich bin Aushilfskellnerin, kein Herzchirurg. Mein Chef kommt auch mal ganz gut ohne mich klar.«
Nach dem Essen zog sich Frank mit der Entschuldigung, er sei müde, sofort ins Schlafzimmer zurück. Bevor er die Augen schloss, verfluchte er seine kleine Schwester und den Tag, als sie wieder in sein Leben getreten war.
* * *
Rolf Heerse dagegen hatte noch eine Verabredung. Als er die Treppen in der alten Villa nach oben stieg, knarzten die Stufen so jämmerlich, wie sich der Hauptkommissar gerade fühlte.
Clara Calliditas hatte dieses Treffen vorgeschlagen. Es ging um Lukas Bürg. Heerse wusste, dass ihm die Ärztin einen großen Gefallen getan hatte. Schließlich war die Psychiaterin schon lange im Ruhestand und nahm eigentlich keine Patienten mehr an. Von Martin Grunder, der Lukas noch abwechselnd mit einem Freund überwachte, wusste er, dass der junge Mann den Termin bei Clara Calliditas wahrgenommen hatte. Hoffentlich erfuhr er jetzt nicht irgendwelche schlimmen Wahrheiten. Sein Tag war auch so schon übel genug gewesen.
Als ihm die Ärztin die Tür öffnete, konnte er an ihrem Gesichtsausdruck nicht ablesen, wie die Dinge standen. Dafür erfasste sie auf einen Blick, wie es Heerse ging.
»Sie brauchen einen Cognac, junger Mann«, war alles, was sie zur Begrüßung sagte.
Wenig später hatte es sich Heerse in einem der Sessel bequem gemacht und nippte an dem starken Getränk.
»Die Psychiater von Baden-Baden schließen bereits Wetten ab, wann Rolf Heerse zusammenklappt.«
Ihre Stimme klang ernst, aber als er das spitzbübische Blitzen in ihren Augen sah, wusste er, dass sie einen Scherz machte.
Der Hauptkommissar stöhnte: »Ich würde momentan nicht auf mich setzen.«
»Ich würde auch nicht auf Sie setzen, mein Freund. Sie brauchen eine Pause.«
Heerse stöhnte laut: »Pause geht nicht. Wie wäre es mit guten Nachrichten, Frau Doktor?«
Clara Calliditas schob ihre Brille zurecht und griff nach einer dünnen Aktenmappe.
»Ich habe mit Ihrem Lukas Bürg gesprochen.«
»Und?«
»Er will, dass ich Ihnen meine Einschätzung mitteile.«
Heerse war verblüfft.
»Sehen Sie mich nicht so an, ich war auch nicht begeistert und habe ihm davon abgeraten, schließlich ist das eine sehr persönliche Angelegenheit.«
»Aber Sie machen es jetzt trotzdem?«
»Er hat mir gesagt, was passiert ist. Der junge Mann ist Ihnen sehr dankbar. Er will Ihnen beweisen, dass Sie ihm vertrauen können.«
Heerse war gerührt, was der Ärztin nicht entging.
»Sie haben ihm hoffentlich gesagt, dass er mir nichts schuldet«, sagte er deshalb schnell.
»Natürlich«, erwiderte sie mit einem feinen Lächeln, »ich habe ihm versichert, dass Sie völlig egoistisch gehandelt haben, um Vergebung für Ihre eigenen kleinen Sünden zu erlangen.«
Heerse antwortete matt: »So sehen Sie mich also?«
»Nein, ich denke, Sie haben einen guten Instinkt und ein großes Herz.« Sie atmete geräuschvoll aus. »Im Fall des jungen Mannes würde ich Ihnen gerne sagen, dass Sie völlig beruhigt sein können. Aber das kann ich nicht.«
Als sie sein erschrockenes Gesicht sah, fuhr die Ärztin schnell fort: »Zumindest noch nicht. Ihr Kollege hat da ordentlich etwas angesammelt. Er hätte schon viel früher mit jemandem darüber reden müssen. Ich habe mit ihm die Therapie besprochen und er scheint mir auch bereit, diesen Weg zu gehen.«
»Denken Sie, er wird ...« Heerse suchte nach dem richtigen Wort. »… gesund?«
Clara Calliditas blickte den Hauptkommissar nun ernst an. »Wenn er sich helfen lässt, dann kann er seine Probleme in den Griff bekommen. Da habe ich keine Zweifel. Aber das hängt vor allem von ihm selbst ab. Wenn Sie wissen wollen, ob er mit den Morden etwas zu tun hat oder dazu in der Lage wäre, dann kann ich das als Ärztin zu diesem Zeitpunkt noch nicht beantworten.«
»Und ganz privat? Nicht als Doktor Calliditas, sondern einfach nur als Clara?«
Offensichtlich widerstrebte es der Ärztin, diese Frage zu beantworten. Sie zögerte. Eine Auskunft, wie Heerse sie verlangte, war nicht gerade besonders professionell, aber schließlich rang sie sich doch zu einer Antwort durch. »Ich glaube nicht, dass er etwas mit diesen schrecklichen Morden zu tun hat.«
Heerse entspannte sichtlich bei ihren Worten. Dann erzählte er von seiner Entdeckung. Clara Calliditas hörte überrascht von der Verbindung zwischen den Morden und den Trinkhallen-Sagen. Eine ganze Weile saßen sie noch zusammen und besprachen die Situation, leider ohne auf neue Erkenntnisse zu stoßen. Als sich der Hauptkommissar müde verabschiedete, spürte er einen dumpfen Kopfschmerz. Wie viele Unschuldige würden noch sterben müssen?