Kapitel 8
»Gewaltsam ist der Zwang des Bluts!
Mit Qual gebiert das Weib und quält sich für's Geborne!«
Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759-1805)
Präsidium der Kriminalpolizei, Baden-Baden
Als Heerse ins Präsidium stürmte, gab er Frank und Lukas ein Zeichen, ihm ins Büro zu folgen. Erst als er hinter ihnen sorgfältig die Tür geschlossen hatte, schmiss er drei Hochglanzbroschüren auf den Tisch. »Besuchen Sie Baden-Baden und lassen Sie sich von den Trinkhallen-Sagen verzaubern!« stand auf der Titelseite.
Verblüfft starrten ihn seine Mitarbeiter an.
»Aufschlagen«, kommandierte ihr Vorgesetzter. Die Broschüre bildete die Gemälde und die erklärenden Texte der Trinkhallen-Sagen ab.
Heerse hielt sich nicht mit einer Vorrede auf, sondern kam direkt zum Punkt. »Die Sage von der Engels- und der Teufelskanzel. Der Teufel tritt wütend mit dem Fuß auf, als ihm die Menschen nicht mehr zuhören, sondern sich einem Engel zuwenden.« Der Hauptkommissar schritt zur Magnettafel und schrieb in seiner krakeligen Handschrift den Namen von Sina Wieser darauf.
»Ihr wurde das Bein unterhalb des Knies abgeschlagen und in die Mitte eines Pentagramms gestellt. Der Täter hat damit eindeutig auf den Teufel anspielen wollen.«
Frank und Lukas schwiegen, lasen die Geschichte in der Broschüre, betrachteten das abgedruckte Gemälde und starrten dann geschockt zur Tafel.
»Titel: ›Die Geisterhochzeit zu Lauf‹«, sprach Heerse gehetzt weiter, seine Kollegen blätterten an die entsprechende Stelle. »Erst bekommt ein vorbeiziehender Ritter in einem Spukschloss ein Festmahl aufgetischt, danach will er den Geist der Burgprinzessin heiraten. Bei Sonnenaufgang ist alles vorbei.«
Wieder griff Heerse zum Stift, dieses Mal notierte er die Namen des Ehepaars Karin und Bernd Lauder, die in Geroldsau getötet wurden. »Das aufgereihte Essen ist das Festmahl, die verschlungenen Hände symbolisieren die Ehe und die Uhr steht auf sechs, die Zeit, zu der es hell wird.« Es folgte ein kurzes Räuspern, dann fuhr der Hauptkommissar mühsam beherrscht fort: »Titel: ›Die Felsen‹, ein Jäger sieht ein weißes Reh, trifft dann auf eine geheimnisvolle Frau, die das hilflose Geschöpf schützt, und wird fortan ein Freund der Tiere und des Waldes.«
»Die in weißes Papier eingewickelten Kaninchen. Die Taschenlampe als Heiligenschein. Walter Barus, der Jäger«, flüsterte Lukas.
»Titel: ›Die Nixe des Wildsees‹«, erklang erneut Heerses Stimme. Wieder kratzte der Stift über die Tafel, als er den Namen des Zupf-Hans notierte. »Ein junger Mann folgt der lieblichen Musik einer Nixe und stirbt am Ende in den Tiefen des Sees. Und falls sich jemand fragt, was mit der Tulpe im Mund des Opfers ist, von der hier nichts steht, dann ...«
Lukas beobachtete fasziniert seinen Chef, während Frank mit versteinerter Miene auf die Broschüre starrte.
Heerse war ungehalten und ergänzte: »Dann können wir auf eine äußerst bekannte Version dieser Geschichte zurückgreifen, nämlich, dass der arme Kerl eines Tages nach einer Blume im Wasser gegriffen hat, als die Nixe nicht da war, und daraufhin in die Tiefe gezogen wurde.«
»Das würde die nasse Kleidung und die Tulpe erklären. Und natürlich die Gitarre als das Symbol für Musik«, sagte Lukas, als wäre noch eine Erklärung nötig.
Heerse hörte nicht einmal zu, sondern notierte den nächsten Namen auf der Tafel. »Annemarie Müller.« Der Kommissar wurde von einem unglaublichen Zorn getrieben, als er die Erklärung wie eine Kampfansage zwischen den Lippen hervorpresste. »›Schloss Hohenbaden‹«, nannte er laut den Titel der Sage. »Eine Markgräfin erfleht Rettung vor der Pest. Daraufhin erscheint ihr die Jungfrau Maria und sagt ihr, sie solle das Wasser der heißen Quellen durch die Straßen von Baden-Baden fließen lassen, um die Menschen vor der Krankheit zu bewahren. Aus Dankbarkeit verspricht die Markgräfin, ihre beiden Kinder ins Kloster zu schicken.« Heerse war noch nicht fertig. Erschöpft fügte er hinzu: »Seht euch das dazugehörige Bild an. Dort liegen die schlafenden Kinder der Markgräfin und jetzt denkt an den Tatort in der Schrebergartenkolonie.«
»Die Gartenzwerge!«, rief nun Lukas, der beinahe eifrig dabei war, die Botschaften zu entschlüsseln. »Die Gartenzwerge, das sind die Kinder. Die Verbrennungen mit dem heißen Wasser. Eine Anspielung auf die heißen Quellen und …«, jetzt kam der junge Kommissar ins Stocken, »die Frau hatte doch diese starke Hautkrankheit, Neurodermitis – ob der Täter das Opfer bewusst deshalb ausgewählt hat, ich meine als Symbol für die Pest?«
In diesem Moment krachte Frank Dorthals Stuhl geräuschvoll auf den Boden. Der Oberkommissar war aufgesprungen. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, als er nun, ohne ein Wort zu verlieren, aus dem Raum stürmte.
Als Frank Dorthal die Waschräume erreichte, musste er sich das erste Mal seit Jahren übergeben. Die Bilder der Opfer waren plötzlich vor seinem inneren Auge erschienen. Er konnte sogar ihr Blut riechen, so stark war die Erinnerung an die Tatorte gewesen. Alles wirbelte in seinem Kopf durcheinander. Die gespaltenen Schädel, die abgetrennten Gliedmaßen, die eingewickelten Kaninchen mit ihren kalten, leblosen Augen.
Erneut drehte es ihm den Magen um. Es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu kontrollieren. Ein starkes Zittern überkam ihn, so als hätte er Schüttelfrost. Die Toten ließen ihn nicht in Frieden, der Zupf-Hans mit der Tulpe im Mund, die aus seinem blutverkrusteten Gesicht herausragte, vermischte sich mit Erinnerungen an die Rosen, die er Marion geschenkt hatte. Er sah nackte Frauenkörper vor sich, sah sich beim Sex mit ihnen und spürte wie nie zuvor, was richtig und was falsch war.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Geht es wieder?«
Das war Heerse.
Frank, der in gebeugter Haltung über dem Waschbecken lehnte, atmete jetzt langsam durch. Dann streckte er seinen Kopf unter den Hahn. Das kalte Wasser ließ sein Gehirn zur Ruhe kommen. Die Gedanken ordneten sich, das Zittern seiner Hände hörte auf.
»Manchmal kommt der Schock erst später, manchmal sogar erst, wenn ein Fall abgeschlossen ist«, sagte Rolf Heerse verständnisvoll.
Frank nickte dankbar und der Hauptkommissar ließ seinen Mitarbeiter mit den Worten »Das ist völlig normal« wieder alleine.
Als Frank Dorthal in das Büro zurückkam, stand noch ein weiterer Name auf der Tafel: Mark Hanson, markiert als erstes Opfer in Hamburg. Dahinter stand der Titel seiner Geschichte: »Der Mummelsee«.
Es war Lukas Bürg, der dem Kollegen unaufgefordert die Erklärung lieferte. »In dieser Sage geht es um Zeit. Zu einer bestimmten Zeit müssen die Nixen des Mummelsees ins Wasser zu ihrem Vater, dem Seekönig, zurückkehren. Das wäre die Verbindung zu den zerschlagenen Uhren in dem Atelier. Uhren als Symbol für die Zeit.«
»Ist das nicht zu weit hergeholt?« Das war das erste Mal, dass sich Frank überhaupt zu Wort meldete, und er sprach ohne Überzeugung. Heerse hatte recht, die Sagen der Trinkhalle waren der Schlüssel.
»Es ist genauso, wie unsere Frau Doktor Calliditas gesagt hat: ›Meistens ist es viel einfacher, als man denkt.‹«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Lukas nun seinen Chef. »Ich meine, hier steht, es gibt vierzehn dieser Sagenbilder in der Trinkhalle. Heißt das, der Mörder schlägt noch weitere acht Mal zu?«
»Wenn wir ihn nicht aufhalten«, antwortete Heerse gereizt, »dann ist das leider wahrscheinlich. Wenn wir nur das Warum kennen würden! Gehen wir davon aus, dass unser Mörder eine starke Verbindung zu Baden-Baden hat. Er ist bei Hanson in Hamburg, aus irgendeinem Grund greift er zum Beil und erschlägt diesen, sieht die Prospekte der Trinkhalle und ...«
»Womöglich jemand, der die Stadt hasst?«, überlegte Lukas.
»Womöglich«, erwiderte Heerse und traf schließlich eine Entscheidung. »Wir müssen alles überprüfen, was mit Ereignissen rund um die Trinkhalle zu tun hat. Sachbeschädigungen, Übergriffe auf Besucher und so weiter. Gleichzeitig möchte ich, dass ihr die Dateien durchkämmt. Gab es in letzter Zeit irgendwelche Drohbriefe, gibt es Prozesse gegen die Stadt, vielleicht auch städtische Mitarbeiter, die entlassen wurden und sich ungerecht behandelt fühlen. Dieser ganze Bereich muss abgeklärt werden.«
»Warum denkt ihr, dass ein Beil benutzt wurde?«, hakte Lukas noch einmal nach, während er sich Heerses Anweisungen notierte.
»Weil es da war«, antwortete Frank abwesend, »weil es zufällig gerade da war ...«
Wohnung von Marion und Frank Dorthal
Als Frank an diesem Abend nach Hause kam, war er sehr still. Marion hatte sich eine besondere Überraschung für ihren Mann ausgedacht. Sie trug einen langen weißen Seidenbademantel und darunter feine Spitzendessous, die sie extra für diesen Abend besorgt hatte. Etwas unsicher lächelte sie ihren Mann nun an und schob schüchtern den Bademantel zur Seite.
Sich Frank auf diese Art zu öffnen, hatte sie einiges an Überwindung gekostet, aber das gemeinsame Glück war es ihr wert. »Ich habe gedacht, ich überrasche dich«, hauchte sie ihm verlegen entgegen.
Franks Gesicht wirkte verbissen, er sah sie kaum an. Normalerweise bedrängte er seine Frau ständig – und jetzt? Marion war verunsichert. Trotzdem trat sie näher an ihn heran und wollte ihre Arme um seinen Hals schlingen.
Genervt stieß er sie zur Seite. »Was für eine Überraschung soll das sein?«, fuhr er sie grob an, »willst du künftig als Nutte arbeiten, oder was?«
Marions Augen füllten sich sofort mit Tränen. Mit offenem Mund starrte sie entsetzt zu ihrem Mann. Instinktiv wickelte sie den Bademantel fester um sich. Ihre Fäuste umklammerten hilflos den zarten Stoff.
»Wie kannst du so etwas sagen?«, rief sie mit zitternder Stimme. Es gelang ihr nicht, die Tränen zurückzuhalten.
»Weißt du was«, brüllte Frank nun wütend, »dieses Geheule ist unerträglich!« Damit griff er nach seiner Jacke, stapfte wütend aus der Wohnung und schlug die Tür laut hinter sich zu.
Marion schluchzte und sank auf die Knie. Wie hatte er sie nur so demütigen können. Niemals zuvor hatte sie sich so klein und elend gefühlt. Die junge Frau zog geräuschvoll die Nase hoch. Das stimmte natürlich nicht. Sie hatte sich schon oft so gefühlt. Früher, als ihr Vater noch lebte ...
Sie stand auf und schlurfte ins Schlafzimmer. Mechanisch zog sie die teuren Dessous aus und schlüpfte in einen ihrer bequemen Sportanzüge.
Die Tränen ließen sich nicht stoppen und Marions Hände zitterten, als sie jetzt voller Wut nach der Schere griff. Ohne zu zögern, rammte sie deren Spitze in das kleine Häufchen Unterwäsche auf dem Boden. Sie zerrte und riss an dem Seidenbademantel, zerschnitt das Höschen und die Korsage und stach dann immer und immer wieder mit der Schere auf die Stofffetzen ein, bis sich die weiße Seide rot verfärbte.
Keuchend hielt sie inne. »Immer mache ich alles falsch!«, schrie sie verzweifelt. Der Schnitt an ihrer Hand brannte. Das Blut tropfte auf den hellen Teppich und sie wurde von einem entsetzlichen Heulkrampf durchgeschüttelt.
Plötzlich wurde Marion still. Etwas hatte sich verändert, ein Gefühl kroch in sie hinein. Erst schlüpfte es durch ihre Haut, dann durch die Muskeln und Sehnen bis in die Knochen. Jede Faser ihres Körpers war nun durchdrungen von einem unglaublichen Hass. Wenn Frank jetzt zur Tür hereingekommen wäre, sie hätte ihm, ohne zu zögern, die Schere in sein Gesicht gerammt. Wie hatte er ihr das nur antun können? Wieso hatte er sie dazu gebracht, erneut zu hassen? Der Hass verschmutzte ihr Blut, machte es unrein. Das würde sie ihm nicht so schnell verzeihen.
Präsidium der Kriminalpolizei, Baden-Baden
Am nächsten Morgen war Rolf Heerse sehr früh in seinem Büro. Die Verbindung der Morde zu den Trinkhallen-Sagen war ein Durchbruch gewesen. Trotzdem hatte der Täter immer noch einen gewaltigen Vorsprung. Die Theorie mit den Stadtgebieten abseits der Innenstadt konnten sie nach dem Mord an Sina Wieser vergessen. Es gab kein Muster bei der Auswahl der Tatorte. Sie stimmten auch nicht mit den Schauplätzen überein, an denen die Sagen spielten, sondern waren einfach willkürlich ausgesucht worden. Das Gleiche hatte bisher auch für die Opfer gegolten. Sina Wieser war jedoch eine Ausnahme. Sicher hatte man sie mit einem Trick auf den Parkplatz gelockt. Heerse machte sich Vorwürfe, er hätte auf eine Überwachung der jungen Frau bestehen müssen.
Dass der Mörder die Trinkhallen-Sage mit dem Teufel gewählt hatte, der erzürnt war, weil man ihm nicht zuhörte, und deshalb wütend mit dem Fuß auftrat, konnte sicher kein Zufall gewesen sein. Sina hatte mit ihren Fernsehauftritten und Interview-Ankündigungen dem Täter die Show gestohlen. Im Übrigen hatte der Mörder nicht ausschließen können, dass die junge Frau doch etwas wusste. Darum wurde sie aus dem Weg geräumt.
Heerse hatte seine Entdeckung nur den engsten Mitarbeitern, seinen Vorgesetzten und dem Team der OFA mitgeteilt. Keinesfalls sollte von der Verbindung zu den Trinkhallen-Sagen etwas an die Presse gehen. Während sich der Hauptkommissar auf die Kooperation der regionalen Zeitungen verlassen konnte, machten ihm diese Sensationsblätter, die bundesweit verkauft wurden, das Leben schwer. Jeden Tag zerrten sie neue Halbwahrheiten an die Öffentlichkeit und hetzten die Menschen auf.
Als ihm der Kollege Müller mit besorgtem Gesicht die heutige Ausgabe überreichte, war er auf einiges gefasst und doch traf ihn die Schlagzeile wie ein Faustschlag:
»Homosexueller Kunsthändler mordet sich durch die Republik! Irres Mörder-Duo im Blutrausch?«
Heerse schnaubte ungehalten und spürte sofort einen dumpfen Kopfschmerz. Müller stand immer noch vor dem Schreibtisch, wissend, dass er gleich Anweisungen bekommen würde.
»Hol mir sofort die Zeugenaussage von Lohbergs Lebensgefährten.«
Der Beamte trat etwas nervös auf der Stelle, bevor er zögerlich antwortete: »Ich habe mir schon gedacht, dass du die sehen willst. Es tut mir leid, es gibt keine.« Er kannte Heerse schon lange, sie arbeiteten immer mal wieder zusammen und verstanden sich gut. Jetzt fuhr er leise fort: »Ich habe gleich bei den hiesigen Kliniken angerufen. Es stimmt, der Lebensgefährte war vom 14. bis 20. Januar wegen einer OP stationär untergebracht. Ich habe bisher mit niemandem darüber gesprochen ...«
Heerse war außer sich.
Seine Stimme drang durch die gesamte Etage, als er brüllte: »Schaffe mir sofort Kommissar Lukas Bürg hierher, und wenn du ihn nackt aus der Dusche zerren musst. Und Dorthal soll sich einen Durchsuchungsbeschluss für Geschäft und Wohnung dieses Theo von Lohberg besorgen und mit Verstärkung dort antanzen, und zwar sofort!«
Im Präsidium war es nun mucksmäuschenstill. Wer Heerse kannte, der wusste, dass viel geschehen musste, um den Mann so in Rage zu bringen. Wer konnte, beschloss deshalb, die nächsten Stunden dem Hauptkommissar aus dem Weg zu gehen.
Als Heerse wieder alleine in seinem Büro war, stützte er die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Was hatte er übersehen? Dieser ganze Mist war seine Schuld, er hatte als Vorgesetzter versagt. Wütend las er erneut den Zeitungsartikel auf der ersten Seite:
»Theo von Lohberg, ein dubioser Kunsthändler aus Baden-Baden, steht nach unseren Informationen im dringenden Verdacht, an den Beilmorden in der Kurstadt Baden-Baden beteiligt zu sein. Laut vertraulichen Quellen vermutet die Polizei, dass der Mann einen Komplizen hat. Deshalb kann er auch für einige Morde ein Alibi aufweisen. Das gilt allerdings nicht für die Zerstückelung des Baden-Badener Ehepaars an den Geroldsauer Wasserfällen und den Mord an dem zwielichtigen Hamburger Geschäftsmann Mark Hanson.
Hanson und von Lohberg soll mehr als nur die Leidenschaft zur Kunst verbunden haben. Insider berichten von einer sehr vertraulichen Beziehung der Männer. Besonders brisant ist das Ganze, wenn man bedenkt, dass von Lohberg den Mord begangen haben könnte, während sich sein Lebensgefährte O. gerade zur Behandlung in einer Klinik befunden hat. Hamburg ist nur wenige Autostunden von Baden-Baden entfernt. Die Bevölkerung fragt sich nun natürlich, warum dieser Kriminelle nicht bereits verhaftet wurde. Müssen erst noch mehr Menschen sterben?«
Lukas Bürg saß in sich zusammengesackt auf dem Stuhl in einem der Vernehmungszimmer. Heerse knallte ihm die Zeitung vor die Nase.
»Lies!«, brüllte er wütend, »lies und erkläre es mir!«
Lukas blinzelte ein paar Mal, als er den Artikel gelesen hatte, dann hob er den Kopf.
* * *
Frank Dorthal war gerade auf dem Weg zum Präsidium gewesen, als der Anruf kam. Mit wenigen Worten setzte ihn der Beamte ins Bild. Anscheinend hatten Theo von Lohberg und sein Lebensgefährte bezüglich des Alibis für den Mord an Mark Hanson gelogen. Von Lohbergs Partner war zu diesem Zeitpunkt nicht in der gemeinsamen Wohnung gewesen. Deshalb konnte er natürlich auch nicht die Anwesenheit von Theo bezeugen. Mehr hatte ihm der Kollege Müller nicht sagen wollen, er sollte später alles von Heerse direkt erfahren.
Eine Hausdurchsuchung bei Theo von Lohberg. Frank atmete auf. Vielleicht war der Antiquitätenhändler doch in die Verbrechen verstrickt? Für den Mord an Sina Wieser hatte er wieder ein hieb- und stichfestes Alibi gehabt, deshalb waren sie eigentlich versucht gewesen, ihn als Verdächtigen zu streichen.
In der Wohnung von Theo von Lohberg schluchzte der Lebensgefährte Oliver laut, während die Beamten die Zimmer durchsuchten. Von Lohberg sagte nichts und ging mit den Polizisten von Raum zu Raum. Meistens schaute der Antiquitätenhändler aus dem Fenster. Als sie nun das Schlafzimmer betraten, fiel Frank zuerst gar nichts auf. Da überall in der Wohnung Gemälde hingen, entging ihm im ersten Moment ein wesentliches Detail.
Das Schlafzimmer war puristisch eingerichtet und ganz in Weiß gehalten. An den Wänden hingen mannshohe Kunstdrucke, die von kleinen Lämpchen angestrahlt wurden. Jetzt erst registrierte Frank, was für Bilder das waren. Heute musste sein Glückstag sein. Vielleicht waren seine Befürchtungen doch unbegründet ...
Mit einem Gefühl aus Scham und Verzweiflung dachte er an den gestrigen Tag. An Heerses Entdeckung bezüglich der Trinkhallen-Sagen, an seinen Aussetzer bei der Besprechung und an diesen schrecklichen Streit mit Marion. Was hatte er ihr damit nur angetan? Fieberhaft dachte er über eine Wiedergutmachung nach, während er die Nummer seines Vorgesetzten wählte.
* * *
Lukas Bürg saß Rolf Heerse gegenüber. Er war also in eine Falle getappt. Wie dumm er gewesen war. Die Stimme der Mutter dröhnte in seinem Kopf und ließ sich voller Eifer über die Versager der gleichen Blutlinie aus.
»Lukas!«, fuhr ihn Heerse an, »ich frage dich das nur ein einziges Mal: Hast du eine Verbindung zu Theo von Lohberg?«
Der junge Kommissar rang nach Worten. »Nein«, stotterte er nun hilflos.
»Dann erkläre mir«, zischte der Vorgesetzte zwischen den Zähnen hervor, »warum du ihn gedeckt hast?«
»Aber das habe ich nicht!«, antwortete Lukas beinahe empört.
»Ich muss aus irgendeinem Käseblatt erfahren, dass einer der Verdächtigen uns ein falsches Alibi angegeben hat. Gleichzeitig stellt sich heraus, dass mein Kommissar, der das hätte überprüfen müssen, dies nicht getan hat. Aber noch viel schlimmer ist, dass du mich belogen hast.«
Wütend warf Heerse nun eine Akte auf den Tisch. »Ich habe dich gefragt, ob der Lebensgefährte von diesem Theo von Lohberg bestätigt hat, dass sein Partner in der Nacht von Hansons Ermordung zu Hause war. Du hast mir geantwortet, dass er das hätte. Jetzt stellt sich heraus, dass du ihn überhaupt nicht befragt hast. Warum? Weil du wusstest, dass es eine Lüge war? Deckst du Theo von Lohberg?«
Lukas Bürg lief rot an. Seine Stimme überschlug sich, als er antwortete: »Nein, um Gottes willen. Ich kenne ihn doch gar nicht. Ich schwöre dir, ich wollte ihn befragen, aber ...« Er brach mitten im Satz ab.
»Sag mal, spinnst du?« Heerse war nahe dran, den jungen Kollegen zu schütteln. Er mochte Lukas, daher war diese Situation umso schlimmer.
Bürg sah verzweifelt zu seinem Vorgesetzten. Seine Gedanken überschlugen sich, was konnte er antworten? Was würde ihn noch retten? Sollte ihn der Hauptkommissar bei einer weiteren Lüge erwischen, dann war es aus. »Ich war in Panik!«, rief er verzweifelt.
In diesem Moment klingelte Heerses Handy.
An seinem Gesicht konnte Lukas ablesen, dass sich etwas ergeben hatte.
»Ich komme sofort«, raunzte der Vorgesetzte in sein Telefon und an Lukas gewandt, sagte er streng: »Gib mir deinen Dienstausweis.«
Das leise »Aber« des jungen Kommissars ignorierte Heerse.
»Du meldest dich krank, sofort. Ich will dich hier nicht mehr sehen. Dann marschierst du direkt nach Hause und dort bleibst du, bis du von mir hörst. Wenn du dich nicht an meine Anweisungen hältst, dann stehst du morgen als Hauptverdächtiger auf unseren Fahndungslisten.«
Lukas Bürg nickte stumm und blieb alleine in dem kahlen Raum zurück.
* * *
Noch auf dem Weg zum Parkplatz griff Heerse erneut zum Telefon. Er wusste sehr wohl, dass er sich gerade auf äußerst dünnem Eis bewegte.
»Ja, hallo?«, meldete sich eine ruhige, tiefe Stimme.
»Martin? Ich bin’s Rolf!«
»Rolf, das ist ja ...« Weiter kam Heerses Gesprächspartner nicht, denn der Hauptkommissar unterbrach ihn hektisch und schilderte im Telegrammstil sein Anliegen.
»Du weißt schon, was du da gerade tust?«, hörte er seinen Freund und mittlerweile pensionierten Kollegen Martin fragen.
»Ich riskiere gerade meinen Job. Ja, ich weiß. Also, machst du es?«, erwiderte Heerse ungeduldig.
»Keine Sorge, ich kümmere mich darum.«
Rolf Heerses Anspannung ließ ein wenig nach. Auf seinen alten Freund Martin Grunder war eben Verlass.
* * *
Theo von Lohberg schien äußerlich ganz ruhig, als ihm Heerse gegenüber Platz nahm. Sie saßen wieder in dem Wohnzimmer des Antiquitätenhändlers, nur dieses Mal ohne Espresso.
»Sie können mir ruhig Ihre Fragen stellen, meine Herren«, sagte von Lohberg um eine feste Stimme bemüht. »Ich bin bereit zu antworten, auch wenn mir mein Anwalt dringend davon abgeraten hat.«
Heerse zögerte kurz, bevor er ansetzte: »Kennen Sie einen Lukas Bürg?«
Frank Dorthal blickte überrascht zu seinem Vorgesetzten, blieb aber still.
Theo von Lohberg schüttelte den Kopf. »Nein, den Namen habe ich noch nie gehört. Sagen Sie nicht, dass ich den auch umgebracht haben soll!«
Heerse gab darauf keine Antwort, sondern kramte den Dienstausweis von Lukas aus der Tasche. »Kennen Sie den Mann auf dem Bild?«
Der Antiquitätenhändler kniff die Augen zusammen und überlegte angestrengt, dann antwortete er: »Noch nie gesehen. Ist das ein Polizist? Dieser Lukas Bürg?«
Wieder gab Heerse auf die Frage seines Gegenübers keine Erwiderung. Stattdessen wechselte er das Thema. »Was haben die Bilder in Ihrem Schlafzimmer zu bedeuten?«
Theo von Lohberg lächelte matt. »Sie meinen die Kunstdrucke?«
Der Hauptkommissar nickte.
»Das sind Nachbildungen der Wandbilder aus der Baden-Badener Trinkhalle. Sie als Einheimischer sollten die eigentlich kennen.« Jetzt seufzte der Antiquitätenhändler vernehmlich. »Es ist immer das Gleiche. Man kennt die Sixtinische Kapelle in Rom in- und auswendig, aber die Sehenswürdigkeiten seiner Heimatstadt? Ein Jammer.«
»Ich bin durchaus ein häufiger Gast unserer Trinkhalle und damit sind mir auch die Bilder bekannt. Was ich jedoch von Ihnen wissen möchte: Welchen Bezug haben Sie dazu? Wieso hängen diese Gemälde in Ihrem Schlafzimmer?«
»Wieso nicht?«, erwiderte von Lohberg nun etwas genervt. »Ich bin Kunsthändler und verkaufe Antiquitäten. Ist es da so verwunderlich, dass ich auch meine privaten Räume entsprechend gestaltet habe? Was wäre denn Ihrer Meinung nach passender gewesen? Wanddekoration aus einem Einrichtungskatalog?«
»Warum die Trinkhallen-Sagen?«, ließ der Hauptkommissar nicht locker.
Theo von Lohberg antwortete ungeduldig: »Also schön. Warum nicht. Kennen Sie die Geschichten dahinter?«
Als Heerse nichts erwiderte, fuhr von Lohberg fort: »Das sind einfache, aber sehr schöne Geschichten von Mut und Dankbarkeit, der Liebe und dem Glauben an Gott. Manche sind unheimlich, andere geradezu mystisch. Die Bilder geben all das wieder. Warum also sollte ich ihnen nicht meine Aufmerksamkeit schenken?«
Heerse betrachtete von Lohberg einen Moment. Es fiel im schwer, diesen Mann für einen Mörder zu halten. Er hatte so gar nichts Bösartiges an sich. Der Hauptkommissar konnte von Lohbergs Erklärung absolut nachvollziehen. Er selbst hatte mit seiner Frau einige der Orte besucht, die in den Sagen beschrieben wurden.
»Wie lange haben Sie diese Bilder schon?«
Der Antiquitätenhändler überlegte. »Das ist noch nicht so lange her. Vielleicht zwei Jahre. Die Drucke stammen aus dem Nachlass eines Baden-Badener Unternehmers.«
Als Theo von Lohberg den Namen nannte, konnte Frank Dorthal einen erstaunten Ausruf nicht unterdrücken. Sein Vorgesetzter warf ihm einen warnenden Blick zu und der Oberkommissar schwieg daraufhin. Auch Heerse war überrascht. Die Bilder stammten ganz offensichtlich aus dem Erbe von Marion Dorthal. Wie es aussah, hatte deren Vater ebenfalls eine Schwäche für die Sagenwelt der Baden-Badener Trinkhalle gehabt.
»Die Erbin hat alles verkauft und das noch zu einem verboten günstigen Preis. Leider haben mir die besten Stücke andere Kollegen vor der Nase weggeschnappt.«
»War auch Mark Hanson einer dieser Kollegen?«
»Ja, er kam damals extra nach Baden-Baden, als der ›Ausverkauf‹ losging. Er hat eine wunderschöne Kaminuhr erstanden.«
Die Entwicklung, die diese Sache so langsam nahm, gefiel Heerse ganz und gar nicht. Frank Dorthal im Sessel daneben wirkte jetzt extrem angespannt.
»Warum haben Sie uns ein falsches Alibi gegeben, was den Tod an Mark Hanson betrifft?«, wechselte Heerse erneut das Thema.
»Mein Gott, das war kein falsches Alibi. Ich war zu Hause. Allerdings allein. Oliver war in der Klinik. Ich weiß, ich hätte ihn nicht als Zeugen benennen dürfen, aber als Sie mich gefragt haben, war ich in Panik.« Hilflos hob Theo von Lohberg die Schultern.
Das ist das zweite Mal, dass ich heute diese Antwort bekomme, dachte Heerse ratlos.
»Aber warum haben Sie das danach nicht richtiggestellt?«, bohrte der Hauptkommissar weiter.
»Niemand kam und hat mich oder Oliver danach gefragt.« Ein trauriges Lächeln umspielte von Lohbergs Mund. »Ich hatte angenommen, dass die Polizei so klug wäre, mich nicht ernsthaft für einen Serienmörder zu halten. Ich dachte, Sie würden mich nicht weiter verfolgen. Schließlich habe ich ja für die meisten Morde ein Alibi.«
Heerse hätte Lukas Bürg immer noch für das entstandene Schlamassel ohrfeigen können.
»Sie können mir übrigens glauben, dass ich bereits über Gebühr für diese kleine Unüberlegtheit bestraft wurde«, fuhr Theo von Lohberg verbittert fort. »Mein guter Ruf ist ruiniert, wahrscheinlich kann ich das Geschäft bald schließen und mein Partner Oliver wird mich verlassen. Er glaubt, ich hätte eine Liebesbeziehung mit Mark gehabt.« Die Lippen des Mannes begannen zu zittern und seine Augen wurden feucht.
Heerse spürte, wie er Mitleid mit dem Verdächtigen bekam. Sein Instinkt sagte ihm, dass Theo von Lohberg nur ein Opfer der Umstände war. Sie hatten eigentlich nichts gegen ihn in der Hand. Gut, beim Alibi für den Hanson-Mord hatte er gelogen. Andererseits wiederum nicht besonders gut. Wenn der Mann so ein gerissener Mörder wäre, hätte er sich dann nicht wesentlich besser für den Fall der Fälle abgesichert? Den Partner als Zeugen anzugeben, war weder besonders fantasievoll noch besonders glaubhaft gewesen. Das sah zwar wirklich nach einer Panikreaktion aus, aber andererseits hatte von Lohberg definitiv einen Bezug zu den Trinkhallen-Sagen.
»Sind Sie tatsächlich der Meinung, dass ich mal eben so nach Hamburg gerast bin, dort einen Menschen massakriert habe und dann zurück, Nonstop, alles in einer Nacht?«
Es war Frank Dorthal, der jetzt nicht ohne Schärfe sagte: »Ihr Geschäft ist von elf Uhr morgens bis fünfzehn Uhr am Nachmittag geöffnet. Sie haben keine Zeugen, die Sie nach fünfzehn Uhr am 15. Januar und vor elf Uhr morgens am 16. Januar gesehen haben. Also warum sollte es Ihnen nicht möglich gewesen sein, die circa 700 Kilometer hin- und wieder zurückzufahren. Zeit war theoretisch genug ...«
»Ich habe das nicht gemacht!« Von Lohbergs Stimme wurde laut, dann riss er sich zusammen und flüsterte noch einmal: »Ich habe niemanden getötet und ich habe auch keinen geheimen Liebhaber, der mit einem Beil durch Baden-Baden streift und Menschen umbringt.«
Jetzt war seine Stimme flehentlich, dann winkte er ab, drehte sich zur Seite und ließ den Tränen seiner Verzweiflung freien Lauf.
Im Nebenzimmer wartete der Lebensgefährte. Oliver war vollkommen aufgelöst. Gab an, dass er keinen Lukas Bürg kenne, bestätigte seinen Klinikaufenthalt sowie die Aussage seines Partners, was den Kauf der Bilder anging, und betonte, dass sein »Ex« mit Sicherheit kein Mörder sei, aber ein mieser Ehebrecher.
Es war, wie von Lohberg gesagt hatte: Der Zeitungsbericht hatte die Partnerschaft der beiden zerstört.
Lahm murmelte Heerse, dass ihm die ganze Sache leidtue, was bei Oliver allerdings auf taube Ohren stieß.
Als die beiden Polizisten wieder im Wagen saßen, gab Heerse über Funk die Anweisung, Theo von Lohberg ab sofort zu überwachen.
»Ich sollte jetzt mit deiner Frau sprechen«, sagte der Hauptkommissar zu seinem Mitarbeiter.
»Ich wäre dankbar, wenn du das nicht auf dem Präsidium machen würdest. Die Kollegen würden sich dann nur das Maul zerreißen ...«
»Natürlich. Fahr mich zu eurer Wohnung. Ich muss lediglich darauf bestehen, mit ihr alleine zu sprechen.«
»Selbstverständlich«, gab Frank zur Antwort, dem allerdings nicht ganz wohl bei der Vorstellung war.
Eine Weile schwiegen die Männer, dann stellte Frank die Frage, die die ganze Zeit im Raum lag:
»Was hat Lukas damit zu tun?«
Heerse sah aus dem Fenster und raufte sich gedanklich die Haare. Verstimmt antwortete er schließlich dem Kollegen: »Der hat Mist gebaut, schlampig gearbeitet. Vorerst ist er krankgemeldet. Mehr gibt es über diese Angelegenheit nicht zu sagen. Ich werde mich darum kümmern, wenn der Fall abgeschlossen ist.«
»Es wird also ein Disziplinarverfahren geben?«, schloss Frank aus der Antwort und schien eine gewisse Genugtuung zu empfinden.
Das wiederum ärgerte Heerse, deshalb antwortete er gereizt und lauter als beabsichtigt: »Ich denke, wir haben jetzt andere Sorgen. Ich werde mich später darum kümmern, damit ist das Thema beendet.«
Franks Kiefermuskeln verkrampften sich, allerdings verkniff er sich einen weiteren Kommentar.
Als Marion Dorthal die Tür öffnete, sah der Hauptkommissar gleich, dass etwas nicht in Ordnung war. Obwohl die junge Frau alles dafür getan hatte, ihr Äußeres perfekt zu stylen, konnte das nicht von den geröteten Augen ablenken. Heerse hatte in seiner Dienstzeit schon zu viele verweinte Frauen gesehen, um das nicht sofort zu erkennen.
»Oh, Herr Heerse«, sagte Marion nun überrascht und lächelte freundlich, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und blankes Entsetzen lag in ihrer Stimme, als sie flüsterte: »Frank?«
Heerse hätte sich am liebsten selbst in den Allerwertesten getreten. Wie hatte er das nur vergessen können! Partner von Polizisten lebten ständig in der Angst, dass der geliebte Mensch im Dienst verletzt oder sogar getötet werden könnte.
»Alles in Ordnung, Frank wartet unten im Wagen«, sagte er deshalb schnell.
Marion atmete durch und bat den Hauptkommissar herein.
»Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Schon gut«, antwortete die junge Frau höflich und fragte: »Um was geht es denn?«
Heerse war sich jetzt ganz sicher, dass die Tränen, die Marion vergossen hatte, mit ihrem Ehemann zusammenhingen. Nachdem nämlich feststand, dass ihm nichts passiert war, fragte sie weder nach ihm, noch wollte sie mit ihm sprechen.
Nun, Heerse würde sich keinesfalls in die Eheprobleme seiner Mitarbeiter einmischen – als er allerdings Marions Verband an der Hand sah, hakte er besorgt nach.
»Oh, die Küche kann manchmal genauso gefährlich sein wie der Polizeidienst«, erwiderte sie charmant und der Hauptkommissar wusste sofort, dass sie ihm nicht die Wahrheit sagte.
Der Tag schien nicht besser zu werden.
»Frau Dorthal, ich bin als Polizist hier.«
Marion sah überrascht zu ihrem Gegenüber und bat den Gast mit einer Geste Platz zu nehmen.
»Es geht um Ihren Vater beziehungsweise seinen Nachlass.«
Heerse war nicht entgangen, dass die Erwähnung von Marions Vater zu einer Veränderung führte. Die junge Frau war plötzlich angespannt und ihr Körper versteifte sich.
»Der Nachlass meines Vaters?«
»Ja, genauer gesagt, die vierzehn Kunstdrucke mit den Motiven der Trinkhallen-Sagen.«
Marion schluckte schwer.
Heerse versuchte, ihre Reaktion zu ergründen.
»Was ist damit?«, fragte sie fast abweisend.
»Können Sie sich noch an den Käufer erinnern?«
»Nein.«
»Was heißt das?«, hakte Heerse nach.
Marion war gereizt. Trotzdem antwortete sie: »Ich habe die Abwicklung des Verkaufs einer Firma übergeben. Ich war nicht dabei, als der ganze Kram veräußert wurde.«
Heerse hob überrascht die Brauen.
Marion seufzte: »Sie können das nicht wissen, aber mein Vater war kein einfacher Mensch.«
Heerse wusste das sehr wohl. Marions Vater war für sein herrisches Wesen sowohl in der Firma wie auch im Privatleben bekannt gewesen. Aber er schwieg und nickte der jungen Frau auffordernd zu, damit diese weitersprach.
»Jedenfalls duldete er im Haus nur seinen eigenen Stil. ›Das Alte ist von Wert‹, pflegte er dann zu sagen. Vielleicht war es undankbar von mir, nach seinem Tod das Haus samt Inhalt so zu verramschen. Aber ehrlich gesagt, die Sachen haben mich erdrückt. Ich wollte sie nicht mehr haben.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete Heerse mechanisch und fragte sich, was für eine Kindheit diese Frau gehabt haben musste, dass ihr jedes Erinnerungsstück an den Vater unerträglich geworden war.
»Ich könnte Ihnen die Adresse der Firma geben, die das damals alles geregelt hat.«
»Ja, bitte«, erwiderte Heerse in Gedanken. »Kennen Sie eigentlich Theo von Lohberg?«
»Den Mordverdächtigen?«, rief sie nun überrascht. Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht, als sie sagte: »Ich gebe zu, dass ich manchmal nicht an der Klatschpresse vorbeikomme.«
Heerse lächelte freundlich. »So geht es wohl den meisten. Kannten Sie den Mann?«, fragte er erneut.
»Flüchtig, vom Sehen. Ich war vielleicht ein, zwei Mal in seinem Laden, habe dort aber nichts gefunden.«
»Und Mark Hanson?«
»Das Opfer aus Hamburg?«
Heerse nickte.
»Nein, nicht, dass ich wüsste. Allerdings sage ich gleich dazu, dass ich schon vielen Leuten vorgestellt wurde, vor allem, als mein Vater noch lebte, mich aber nicht mehr an alle Namen und Gesichter erinnern kann. Aber ich denke nicht, dass ich Mark Hanson schon einmal begegnet bin. Warum?«
»Er hat eine Kaminuhr aus dem Nachlass Ihres Vaters erworben.«
Marion schien ungerührt und zuckte nur mit den Schultern.
Heerse stand auf und die junge Frau begleitete ihn zur Tür. Der Hauptkommissar wusste selbst nicht, warum er die Frage stellte, aber irgendetwas trieb ihn dazu. »Hatte Ihr Vater eigentlich eine besondere Verbindung zu diesen Trinkhallen-Sagen?«
Marion verzog ihren Mund geringschätzig. »Diese Kunstdrucke waren für ihn wie heilige Kühe. Ihm ging es allerdings nicht um die Geschichten, sondern nur um die Gemälde. Ich weiß nicht, wie oft wir vor den Originalen gestanden haben. Als Kind verliert man dann irgendwann die Begeisterung.«
»Ich danke Ihnen, Frau Dorthal.«
»Sie werden mir vermutlich nicht sagen, um was genau es geht, oder?«
»Tut mir leid«, antwortete Heerse und verabschiedete sich mit einem freundlichen Gruß.
Marion blieb nachdenklich zurück.
Auf der Rückfahrt zum Präsidium erzählte Heerse von seinem Gespräch.
»Also wieder nichts Konkretes?«, fragte Frank Dorthal, als sein Chef geendet hatte.
»Nein!« Heerse rieb sich müde die Augen. »Alles, was wir machen, fühlt sich halb gar an.«
»Wie meinst du das?«
»Nehmen wir Theo von Lohberg. Der Mann soll siebenhundert Kilometer nach Hamburg gefahren sein, Mark Hanson erschlagen haben und dann wieder siebenhundert Kilometer zurück? Wer macht denn so was?«
»Vielleicht hat er einen Überraschungsbesuch geplant. Der Partner liegt schließlich im Krankenhaus. Warum das nicht ausnutzen und schnell mal nach Ladenschluss nach Hamburg fahren? Er ruft bei Mark Hanson an, sagt, er sei unterwegs, und da er voraussichtlich erst nach Mitternacht ankommt, verabreden sich die beiden in Hansons Atelier. Bis zu diesem Zeitpunkt hat unser Verdächtiger noch keinen Mord geplant. In Hamburg kommt es zum Streit und ...« Frank Dorthal machte ein entsprechendes Gesicht, was so viel heißen sollte wie: »Damit ist alles klar!«
»Es kam zum Streit und Theo greift einfach so zum Beil?« Heerse drängte Frank, ihm zu widersprechen.
»Bei dem Streit ging es sicher um nichts Geschäftliches. Nehmen wir an, Theo hat Mark bedrängt – sexuell. Mark hat ihn zurückgewiesen, vielleicht sogar ausgelacht oder ihm gedroht, anderen Kollegen von seinen Annäherungsversuchen zu erzählen. Ein abgewiesener Liebhaber wäre durchaus zu so einer Tat fähig. Oder ...« Frank schien Gefallen an der Rolle des Anklägers zu finden. »Oder die beiden hatten bereits eine Beziehung und Mark hat ihm an diesem Abend den Laufpass gegeben.«
»Gut«, erwiderte Heerse, »dann hätten wir das Motiv. Verschmähte Liebe. Theo erschlägt Mark in einem Anfall von Raserei. Dann packt er das Beil ein und fährt zurück nach Baden-Baden. Aber vorher zerschlägt er noch alle Uhren und spielt damit auf eine der Trinkhallen-Sagen an. Aber ein Mord reicht ihm nicht, sondern nun will er für jede einzelne Sage auch ein Opfer präsentieren.«
»Genau. Wir haben doch gehört, wie dieser von Lohberg von den Sagen geschwärmt hat. Er hat eine besondere Verbindung dazu, das war doch offensichtlich.«
»Also, so offensichtlich ist die Verbindung auch wieder nicht. Der Mann interessiert sich für Kunst und Geschichte. Das ist noch lange keine Besessenheit und außerdem könnte er laut seinen Alibis lediglich Mark Hanson und das Ehepaar in Geroldsau umgebracht haben. Die Frage ist doch, wer die anderen Morde begangen hat. Wenn die Tötung von Mark Hanson ungeplant war, wie ist es von Lohberg dann gelungen, anschließend einen Partner zu finden, mit dem er sich beim Morden abwechseln kann? Nein, diese Theorie ist einfach zu dünn. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Theo von Lohberg nicht unser Beilmörder ist.«
Frank schnaufte ungeduldig.
»Du siehst das anders?«
»Ehrlich gesagt ja. Meiner Meinung nach laufen genug Spinner herum. Man muss doch bloß im Internet nach denen suchen. Warum soll von Lohberg nicht nach Hamburg auf den Geschmack gekommen sein. Nehmen wir an, er findet in irgendeinem dubiosen Chatroom einen Partner und instruiert den entsprechend. Und dann macht er sich einen Spaß daraus, uns an der Nase herumzuführen.« Die letzten Worte hatte Frank wütend hervorgestoßen.
Heerse gab zu, dass das natürlich eine Möglichkeit war, allerdings blieb er skeptisch. »Wir werden sehen, was die Überwachung bringt.«
Als die beiden Polizisten das Präsidium betraten, drückte ihnen ihr Kollege Müller einen Bericht in die Hand.
»Das blonde Kunsthaar, das man bei Sina Wieser gefunden hat, stammte nicht von deren Perücke. Das Labor hat das gerade durchgegeben: Sina Wieser hatte eine Echthaarperücke!«
Heerse sah zu Frank. »Vielleicht unsere erste Spur.«
»Das Haar kann von überall herstammen. Schließlich hat sich die Wieser doch mit diesen Fernsehleuten herumgetrieben. Da gibt es jede Menge Schminke, Kostüme und Perücken«, hielt Frank Dorthal dagegen.
»Ich denke, wir können das trotzdem nicht ignorieren. Sina Wieser hat ausgesagt, dass Mark Hanson ein paar Tage vor seinem Tod angeregt mit einer Frau mit blonder Perücke gesprochen hat, und jetzt finden wir ein Perückenhaar an ihrer Kleidung.«
»Sie hat aber auch gesagt, dass sie nicht hundertprozentig sicher sei, dass die Person mit der Perücke eine Frau gewesen war.«
»Sie war sich ziemlich sicher«, entgegnete Heerse, fuhr dann aber nachdenklich fort, »aber es stimmt, was du sagst. Es könnte auch ein Mann gewesen sein.«
»Und es muss nichts zu bedeuten haben, dass ein Weiberheld wie Mark Hanson auf einer Blondinen-Party mit einer Blondine spricht«, schob Frank fast trotzig hinterher.
Heerse musste seinem Kollegen recht geben, eine wirkliche Spur hatten sie dadurch nicht.