Kapitel 12

 

»Blut ist ein ganz besonderer Saft.«

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

 

»Trinkhalle«, Baden-Baden

 

Am nächsten Morgen stand Heerse einigermaßen ausgeruht auf. Seine Frau Petra war bereits unterwegs, hatte ihm aber ein üppiges Frühstück gerichtet.

Doktor Calliditas’ Abschiedsworte klangen ihm noch in den Ohren: »Sie müssen sich Auszeiten nehmen, denken Sie daran!«

Heerse konnte sich eigentlich im Moment keine Freizeit erlauben, allerdings spürte er die Erschöpfung nur allzu deutlich. Deshalb schloss er mit sich selbst einen Kompromiss. Er würde noch einmal die Trinkhalle aufsuchen. Dort konnte er ungestört über die Morde nachdenken. Vielleicht kam er so auch auf eine neue Idee.

 

Gemächlich lief der Hauptkommissar an den alten Wandbildern vorbei. In Gedanken sah er die einzelnen Opfer vor sich und musste gegen die Schwermut ankämpfen, die ihn zu überkommen drohte.

Wenigstens war die Verbindung zwischen den Morden und den Trinkhallen-Sagen noch nicht durchgesickert. Das hätte ihre Arbeit sicherlich erschwert.

»Hallo Herr Chef-Kommissar«, hörte er plötzlich eine fröhliche Stimme hinter sich.

Als sich Heerse umdrehte, sah er in das strahlende Gesicht einer hübschen jungen Frau mit kindlichem Blick.

»Ich bin es, die Schwester von Frank Dorthal ...«

»Natürlich, Sie sind Karina«, stellte der Hauptkommissar höflich fest und fragte sich, warum er auch heute wieder das Gefühl hatte, die Frau von irgendwoher zu kennen.

»Haben Sie Urlaub?«, fragte die Schwester seines Mitarbeiters neugierig.

Heerse lächelte. Die Frau war auf eine verdrehte Weise sehr ungewöhnlich.

»Nein, nur eine Freistunde, wenn Sie so wollen. Und was führt Sie hierher?«

»Ich war letzte Nacht bei Marion und Frank.«

Während sie sprachen, liefen sie langsam den Gang entlang. Unvermittelt blieb Karina vor einem der Sagen-Bilder stehen. Es war das Gemälde mit dem Titel »Allerheiligen«.

»Das ist meine Lieblingssage.«

Heerse betrachtete das Gemälde, auf dem eine Frau abgebildet war.

»Sie trauert um ihren Geliebten«, sagte Franks Schwester nun theatralisch.

»Sie kennen die Geschichte?«, fragte Heerse interessiert.

»Oh, ich kenne alle vierzehn Geschichten.«

Die Verwunderung des Hauptkommissars schien Karina anzustacheln. Eifrig fuhr sie mit ihrer Erzählung fort: »Als wir Kinder waren, Frank und ich, verbrachten wir die Sommer oft hier in Baden-Baden bei unserer Großmutter. Nun, und um uns zu beschäftigen, erzählte sie uns die Sagen oder machte mit uns Ausflüge zu einigen der darin vorkommenden Orte. Ich liebte es, diese Geschichten nachzuspielen.« Wieder drehte sie sich zu dem Gemälde. »Die Unglückliche«, seufzte sie nun, »wird von einem Raben bestohlen. Der schwarze Vogel erbeutet ausgerechnet ihren Verlobungsring. Als ihr Liebster nun das Schmuckstück, das Symbol ihrer ewigen Liebe, zurückholen will, stürzt er dabei in die Tiefe und stirbt. Das ist doch herrlich tragisch, nicht wahr?«

Heerse war überrascht und kam ins Grübeln.

»Mein Lieblingsplatz waren übrigens die Battertfelsen. Sie kennen dieses Klettergebiet sicher besser als ich. Jedenfalls gibt es dort einen kleinen Weg zu einer Anhöhe. Als Kind fand ich diese Stelle geradezu ideal zum Nachspielen der Sagen-Erzählungen. Meine Oma hat es allerdings nicht gerne gesehen, wenn wir auf den Felsen herumgeturnt sind. Sie hielt es für zu gefährlich. Aber ich fand gefährlich immer besonders faszinierend. Man muss manchmal auch ein Risiko eingehen, was meinen Sie?« Ihr Blick schien für einen kurzen Moment herausfordernd, fast aggressiv.

Heerse war sich jedoch nicht sicher, vielleicht war das ja auch nur eine Täuschung gewesen.

»Wenn ich in Baden-Baden bin«, fuhr sie nun schwärmerisch fort, »dann komme ich meistens in die Trinkhalle, um mir die Bilder anzusehen. Das erinnert mich an meine Kindheit. Ich war in Ihrer Stadt immer sehr glücklich.«

Heerse nickte bedächtig.

»Und warum sind Sie hier? Geht es um einen Fall?« Ihr Blick und ihre Stimme waren unschuldig.

Sie ist doch nur eine nette, junge Frau, oder etwa nicht?, dachte Heerse beunruhigt. »Mir geht es wie Ihnen, ich verbinde schöne Erinnerungen mit diesem Ort.«

»Ja, jedes Bild teilt uns etwas mit, eine ganze Geschichte voller Zeichen und Symbole. Man muss sie nur verstehen. Wenn einem das gelingt, dann werden die Freuden und die Qualen, die in ihnen stecken, lebendig. Das ist wunderbar ...«, antwortete ihm Karina mit verklärtem Blick. Dann wirbelte sie plötzlich herum, legte ihre Hand kurz vertraulich auf den Arm des Hauptkommissars und rief: »Oh, ich muss los. Alles Gute für Ihre Ermittlungen!«

Schon hastete sie davon und Heerse warf einen letzten Blick auf ihr dunkles Haar, das bei dem schnellen Gang der jungen Frau gleichmäßig hin und her wiegte.

Jetzt wusste Heerse wieder, an wen ihn Franks Schwester erinnerte, und er schloss für einen Moment die Augen. Karina Dorthal ähnelte auf verblüffende Weise Sina Wieser, der Geliebten von Mark Hanson.

 

* * *

 

Zwanzig Minuten später stand der Hauptkommissar im Büro seines Vorgesetzten, der ihn ungläubig anstarrte.

»Sie wollen was

»Ich möchte eine 24-Stunden-Überwachung von Karina Dorthal, der Schwester meines Mitarbeiters«, wiederholte Heerse sein Anliegen mit fester Stimme. »Natürlich so, dass ihr Bruder davon nichts erfährt, deshalb bin ich auch direkt zu Ihnen gekommen. Ich möchte sie überprüfen lassen.«

Heerses Vorgesetzter, der einige Jahre jünger war als der Hauptkommissar, lehnte sich mit zusammengepressten Lippen in seinem Stuhl zurück. Er wusste, dass Heerse solche Maßnahmen nicht ohne dringenden Verdacht forderte, trotzdem hakte er nach: »Und die Notwendigkeit dieser Untersuchung führen Sie einzig auf Ihr eben geführtes Gespräch in der Trinkhalle zurück?«

»Darauf und auf die Tatsache, dass Karina Dorthal der ehemaligen Geliebten von Hanson gleicht. Vielleicht hatte sie etwas mit ihm. Männer bevorzugen oft den gleichen Frauentyp. Auch wenn dieser Hanson sehr aktiv war, heißt das nicht, dass er keine Vorlieben hatte.«

»Gibt es dafür denn Beweise? Ich meine, dass diese Karina eine Verbindung zu Hamburg hat?«

»Sie hat keinen festen Job, ist Aushilfskellnerin, und soviel ich weiß, erst seit Kurzem in Pforzheim. Wir sollten das jedenfalls überprüfen.«

»Und was ist mit dem Motiv?«

»Da bin ich mir noch nicht sicher. Aber sie war während ihrer Kindheit viel in Baden-Baden. Zugleich hat sie ein besonders enges Verhältnis zu ihrem Bruder. Ich habe die beiden zusammen erlebt. Seit letztem Jahr ist er verheiratet. Vielleicht war das der Auslöser.«

»Eifersucht?«

»Warum nicht? Sicherlich eines der häufigsten Motive für einen Mord. Mütter mögen ihre Schwiegertöchter nicht, weil sie eifersüchtig sind, und Väter lehnen die Männer ihrer Töchter ab. Vielleicht teilt Karina Dorthal ihren großen Bruder nicht gerne mit einer anderen Frau.«

Der Vorgesetzte seufzte unglücklich: »Gut, ich verlasse mich auf Ihr Urteil. Aber so langsam wundere ich mich über das, was in Ihrer Abteilung vorgeht. Erst fällt der junge Kollege Bürg aus, und jetzt ermitteln Sie gegen ein Familienmitglied Ihres Oberkommissars.«

Heerse hielt es für besser, darauf nicht zu antworten, stattdessen sagte er: »Dieses Gespräch in der Trinkhalle war so, als wollte sie mich herausfordern. Vielleicht geschah das unbewusst, oder ich liege falsch und alles war ein harmloser Zufall. Aber ich würde gerne auf Nummer sicher gehen. Irgendwie hatte ich einfach die ganze Zeit über das Gefühl, unser Täter wäre weiblich. Mark Hanson, der Frauenheld als erstes Opfer. Die Unbedarftheit, mit der Annemarie Müller und der Obdachlose Hans den Täter haben in ihre Nähe kommen lassen. Sina Wieser, die ebenfalls keine Angst hatte, sich in der Dunkelheit mit jemandem zu treffen. Das Gleiche gilt für Wladimir Juroschek. Das alles lässt auf eine Person schließen, der man vertraut. Vor einer Frau hätten sich die Opfer sicher am wenigsten gefürchtet.«

Der Vorgesetzte winkte ab. »Schon gut, mir soll alles recht sein, wenn wir nur endlich Ergebnisse vorweisen können.«

 

Noch am selben Tag erhärtete sich Heerses unglaublicher Verdacht, als er die Information bekam, dass Karina Dorthal bis Ende Januar in Hamburg gelebt und dort diverse Jobs in Bars ausgeübt hatte. Telefonisch hatte der Hauptkommissar dem Überwachungsteam seine Anweisungen gegeben. Sein Vorgesetzter hatte die Zusammenarbeit mit einem anderen Präsidium organisiert. Keinesfalls wollte Heerse, dass Frank davon erfuhr. Weiterhin hatte er ein langes vertrauliches Gespräch mit seinem Hamburger Kollegen Rieber geführt, der ebenfalls ein paar Erkundigungen einholen sollte.

 

* * *

 

Das Beil fühlte sich heute fremd in den eiskalten Händen. Alles war anders als gewöhnlich. Der Zufall konnte dieses Mal kein Verbündeter sein, denn ein notwendiger Schachzug sollte exakt ausgeführt werden.

Es würde kein Vergnügen bereiten, denn es galt, einen Plan umzusetzen. Einen grausamen Plan, der jedoch unausweichlich und ohne Alternative war. So wurde das Beil zu einem wichtigen Teil dieser mörderischen Intrige, die sich nicht mehr aufhalten ließ.

 

Die Frau wartete bereits vor ihrem kleinen Campingbus. Wie vereinbart trug sie die entsprechende Kleidung. Die Dunkelheit bot einen guten Schutz.

Der grellrot geschminkte Mund verzog sich zu einem anzüglichen Grinsen, dann erklang ihre Stimme. Der Spott war nicht zu überhören. »Ein besonderes Outfit für einen besonderen Menschen. Ich erfülle dir deine Wünsche, egal, wie ungewöhnlich sie sind.« Sie strich mit ihren langen schwarz lackierten Fingernägeln sanft über die Wange ihres Gegenübers. »Und ich diskriminiere niemanden. Nicht wegen des Geschlechts, des Alters oder des Berufs. Bei mir ...«

Die Frau verstummte, als sie ein harter Schlag an der Schläfe traf. Sie verlor das Gleichgewicht und taumelte zu Boden. Die stumpfe Seite des Beils sauste ein zweites Mal herab und traf das Opfer am Hinterkopf. Unbeweglich lag sie nun auf den kalten Kieseln. Hände drehten sie mühsam auf den Rücken. Eine tiefe Ohnmacht ersparte der Bewusstlosen den Schmerz, der nun folgen würde.

Die Schneide des Beils traf genau zwischen ihre Augen. Einmal, zweimal, dann war das Leben aus ihrem Körper gewichen. Ein weiterer Schlag folgte und der scharfe Stahl zerschmetterte den Kehlkopf. Ein erleichtertes Grunzen zeugte davon, dass alles nach Plan lief. Dann hieß es, keine Spuren zu hinterlassen bei der Platzierung der Botschaft. So konnte es gelingen.

 

* * *

 

Am nächsten Morgen rief Heerse die Überwachungsprotokolle von Karina Dorthal ab. Demnach hatte die junge Frau ihre Pforzheimer Wohnung nicht verlassen und auch keinen Besuch empfangen. Martin Grunder bestätigte ihm ebenfalls, dass es bei Lukas Bürg keine besonderen Vorkommnisse gegeben hatte.

Dann, ohne Vorwarnung, kam am selben Vormittag die Meldung eines weiteren Mordes.

Heerse fühlte sich wie gelähmt, offensichtlich war sein Verdacht gegen Karina Dorthal unbegründet gewesen. Die Streife, die jetzt den Tatort absperrte, hatte bereits durchgegeben, dass alles darauf hinwies, dass ihr Beilmörder ein weiteres Mal zugeschlagen hatte.

Frank steckte den Kopf zur Tür herein. »Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt, dabei sah er selbst erbärmlich aus.

Heerse gab keine Antwort, sondern stand wortlos auf und folgte dem Kollegen zum Auto.

 

Am Tatort angekommen, suchte der Hauptkommissar verzweifelt nach einem Sinn für das alles. Sie standen auf einem abgelegenen Feldweg bei den Rheindämmen, nicht weit von Baden-Baden. Die Mitglieder eines Angelsportvereins hatten die Polizei informiert.

»Todeszeitpunkt?«, fragte er mechanisch.

Jemand in einem weißen Schutzanzug antwortete: »Vermutlich gegen Mitternacht.« Und dann folgte das Obligatorische: »Das ist nur vorläufig.«

Die tote Frau hatte keine Chance gehabt. Es gab nicht einmal Abwehrspuren an Armen und Händen. Ihr entstelltes Gesicht war blutverschmiert und der einst weiße kleine Stehkragen, der Teil ihres Kostüms gewesen war, hatte sich vollgesogen und troff vor weinrotem Blut.

»Sie trägt ein Nonnenkostüm«, stellte irgendjemand überflüssigerweise fest.

Erneut herrschte Schweigen. Die Kleidung des Opfers zusammen mit dem Schlüsselbund, den man ihr in die tote Hand gedrückt hatte, ließen keinen Zweifel daran, um welche Trinkhallen-Sage es sich handelte. Der Mörder hatte sich dieses Mal die Geschichte mit dem Titel »Kloster Lichtental« ausgesucht. In dieser Sage hatte die Klostervorsteherin ihre Schlüssel einer Marienstatue um den Arm gebunden. Im Vertrauen darauf, dass die Gottesmutter das Kloster vor feindlichen Truppen schützen würde.

Die Polizisten fanden die Papiere der Toten. Einer von der Streife hatte die Frau jedoch bereits erkannt. »Das ist Nelly, eine der Prostituierten, die mit Campingbussen unterwegs sind.«

In ihrem Ausweis stand Norma Wagner. Das Foto zeigte das hübsche Gesicht einer jungen, unauffälligen Frau. Heerse fragte sich, ob es irgendwo noch Eltern gab, die jetzt um die Tochter trauern würden.

Im Inneren des kleinen Campingbusses fand man neben einer ziemlich durchgelegenen Matratze noch weitere Verkleidungen. Das Repertoire reichte vom Outfit der Krankenschwester bis zum Schulmädchen.

Heerse hatte also auch diesen Mord nicht verhindern können. Die Hilflosigkeit, die er jetzt empfand, konnte er kaum ertragen. Wie ein Kartenhaus brach seine Theorie bezüglich Karina Dorthal über ihm zusammen. Was hatte er übersehen? Und wieso war er so überzeugt gewesen von der Schuld dieser jungen Frau? Wenn er ehrlich war, dann hätte er ihr die Taten zugetraut. War das Wunschdenken? Einfach, um diesen Fall schnell abzuschließen?

»Er hat das Beil zurückgelassen«, stellte Frank Dorthal mit stoischer Miene fest. Der Oberkommissar vermied den Blick auf den Leichnam.

»Ja, das Beil ...«, antwortete Heerse wie in Trance. »Wieso?«

»Vielleicht wurde der Täter gestört und musste schnell abhauen?«, schlug Müller vor.

Die Schneide des Mordinstruments steckte tief im Unterleib der Toten.

»Nein, das halte ich für unwahrscheinlich«, mischte sich Frank ein. »Hier kommt doch nachts keiner vorbei. Ich denke, er hat das Beil aus einem bestimmten Grund dagelassen. Vermutlich will er uns mitteilen, dass es vorbei ist«, sagte er nun hoffnungsvoll.

»Das ergibt keinen Sinn«, murmelte der Hauptkommissar und warf einen letzten Blick auf die Tote, der man auf so unmenschliche Weise das Leben genommen hatte.

 

* * *

 

Heeres Vorgesetzter machte keinen Hehl aus seinem Ärger, auch wenn er sich mit Vorwürfen zurückhielt. Trotzdem wusste er kaum noch, wie er dem stetig steigenden Druck von außen standhalten sollte. »Das Käseblatt«, wie Heerse die Zeitung nannte, die damals den Bericht über von Lohberg gebracht hatte, klebte an dem Fall wie eine Seuche. Nach dem Selbstmord des Antiquitätenhändlers lautete die Titelstory: »Besessener Polizist treibt Unschuldigen in den Freitod!«

Am nächsten Tag steigerte sich das Ganze noch und der Leser konnte sich an der Schlagzeile »Von Hamburg bis Baden-Baden – der Tod im Polizeigewahrsam« erfreuen. Die Zeitung hatte noch einmal den Selbstmord von Andreas Meiner aufgerollt.

Und dann war da noch der überraschende Bericht der Gerichtsmedizin: Norma Wagner, alias Nelly, wurde zwar mit dem Beil getötet, aber zuvor hatte man sie damit bewusstlos geschlagen. Die Experten hielten das für ein Zeichen von Gnade, so als hätte der Täter dem Opfer den Schmerz der scharfen Schneide ersparen wollen. Das Warum blieb nach wie vor ein Rätsel.

Das zurückgelassene Beil, das blutverkrustet im Bauch der Toten gesteckt hatte, war auch bei den anderen Morden die Tatwaffe gewesen. Mittlerweile hatte der Täter acht der Trinkhallen-Sagen »benutzt« und neun Menschen dabei brutal abgeschlachtet. Bei dem Mord in Geroldsau an dem Ehepaar war er sogar bereit gewesen, zwei Menschen gleichzeitig zu töten. Bisher war der Täter vor nichts zurückgeschreckt. Das führte jetzt natürlich zwangsläufig zu der Frage, weshalb er das Beil nicht wieder mitgenommen hatte. Schließlich gab es noch sechs weitere Trinkhallen-Sagen.

Allerdings passte bei dem Mord an Nelly nichts zusammen. Er schien in die Serie zu gehören und dann doch wieder nicht. Ein Team wurde damit beauftragt, das Leben der Prostituierten zu durchleuchten. Vielleicht hatte es eine persönliche Verbindung zwischen ihr und dem Mörder gegeben. Das würde erklären, warum der dieses Mal anders vorgegangen war.

 

»Ich denke, er hört mit den Morden auf, deshalb hat er das Beil zurückgelassen«, sagte Frank Dorthal erneut.

Heerse wurde aus seinen Gedanken gerissen. Diese Theorie vertrat nicht nur sein Oberkommissar. Trotzdem sagte Heerses Instinkt, dass das noch nicht das Ende war. Etwas hatten sie übersehen, übersahen sie vielleicht schon die ganze Zeit.

Mit einem flauen Gefühl dachte der Hauptkommissar an Lukas Bürg und seine Verbindung zu einer Prostituierten. Gott sei Dank hatte der ein Alibi. Allerdings, was wäre, wenn sich der junge Kommissar heimlich aus dem Haus geschlichen hätte? Es gab zwar keinen Hinterausgang, Grunder hatte das überprüft, aber ein intelligenter junger Mann wie Lukas hätte vielleicht einen Weg gefunden ...

Heerse schob diesen Gedanken beiseite. Was war mit Karina Dorthal? Die Verbindung nach Hamburg passte einfach zu gut. Wieder sah er ihr Gesicht vor sich. Bei ihrem Gespräch in der Trinkhalle hatte es einen Moment gegeben, in dem Heerse geglaubt hatte, dass sie schuldig war. Er hatte solche Augenblicke in den langen Jahren seiner Karriere immer wieder erlebt und selten trog ihn sein Gefühl. Er kannte genug Kollegen, denen es ähnlich ging. Der Instinkt sagte einem, wer schuldig und wer unschuldig war, egal, wie die Beweislage aussah. So war es auch im Fall von Theo von Lohberg und Lukas Bürg gewesen.

Trotzdem hatte Heerses Chef die Überwachung von Karina Dorthal abgeblasen – etwas, das sich nicht verhindern ließ.

 

In einem Wellness-Hotel, Schwarzwald

 

Marion wurde von dem leisen Summen des Telefons aus ihren unruhigen Träumen gerissen. Sie hatte die Rezeption um einen Weckruf gebeten. Langsam nahm sie ihre Umgebung wahr und erinnerte sich daran, dass sie in diesem erstklassigen Wellness-Hotel war. Die knapp anderthalbstündige Autofahrt hierher hatte ihr gutgetan. Während sie das Fahrzeug über die Schwarzwaldhochstraße gelenkt hatte, war sie zur Ruhe gekommen.

Frank hatte ihr diesen Aufenthalt zur Versöhnung geschenkt. Eine ganze Woche voller Schönheitspflege, Massagen und Fitnessstunden. Unter anderen Umständen hätte sich die junge Frau schrecklich darüber gefreut, aber sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob Frank sie hatte loswerden wollen.

Natürlich hatte er sich schuldig gefühlt und sie tatsächlich auf Knien um Verzeihung gebeten. Das war an dem Morgen nach Karinas letztem Besuch gewesen. Die Schwägerin hatte gerade die Wohnung verlassen, als Frank Marion reumütig seine Liebe versichert hatte. Aber der Urlaubsgutschein war nun doch ungewöhnlich.

»Dieser Fall frisst mich auf. Du wirst mir zwar schrecklich fehlen, aber ich möchte auch nicht, dass du durch mich in diese Sache hineingezogen wirst.«

Marion hatte widersprechen wollen, aber er war ihr zuvorgekommen. »Tu mir den Gefallen. Ich bin ja sowieso die ganze Zeit unterwegs, und bevor du alleine zu Hause sitzt und wartest, bis dein idiotischer Ehemann wieder auftaucht, möchte ich, dass du meine Entschuldigung annimmst und dir eine schöne Zeit machst.«

Sie hatten sich vertragen und Marion war bereit gewesen, ein paar Tage zu verreisen. Eigentlich hatte sie nach der Versöhnung erwartet, dass er mit ihr schlafen wollte. Bisher war das nach einem Streit meistens der Fall gewesen. Aber Frank hatte keinerlei Anstalten gemacht und sie war enttäuscht gewesen.

Mit einem bitteren Lächeln dachte Marion an Karina, während sie in das luxuriöse Bad ihrer Suite ging. Die Idee mit der Familienzusammenführung war wohl keine ihrer Glanzleistungen gewesen.

Frank hatte zwar nichts gesagt, aber ganz offensichtlich war die erste Freude über das Wiedersehen mit der Schwester längst verflogen. Marion hatte eine SMS von Karina erhalten. Die Schwägerin wollte sich erneut mit ihr treffen. Aber sie hatte sie mit einer lahmen Ausrede abgewimmelt.

Beim Zähneputzen versuchte sie all die üblen Gedanken der letzten Tage aus ihrem Kopf zu verbannen und bereitete sich auf die erste Stunde Wasseraerobic vor.

 

* * *

 

Einen Tag später berichteten die Zeitungen von dem Mord an Norma Wagner. Als Heerse die Zeilen las, wurde er blass. Dieses Mal hatte wieder eines dieser Boulevardblätter die Nase vorn. In einem sachlichen Bericht wurde zuerst die offizielle Version der polizeilichen Pressestelle abgedruckt, dann folgte allerdings noch eine weitere Schlagzeile.

»Ist es vorbei?« stand dick gedruckt darunter.

Der Hauptkommissar konnte sich kaum beherrschen, als er den Artikel las. Dort hieß es: »... laut einem anonymen Hinweis ließ der Täter die Mordwaffe, ein Beil, bei seinem letzten Opfer zurück. Die Polizei hofft darauf, dass sich der Baden-Badener Serienkiller in den Ruhestand verabschiedet ...«

 

Rolf Heerse tobte wie ein Orkan durch das Präsidium. Je mehr ihm bewusst wurde, dass er kaum herausfinden würde, wer diese vertrauliche Information an die Presse weitergegeben hatte, desto mehr schnellte sein Puls in die Höhe. Hätte er den Schuldigen vor sich, dann würde er wahrscheinlich auch nicht vor körperlicher Gewalt zurückschrecken. Irgendwer torpedierte ihre Arbeit, und wenn er denjenigen eines Tages erwischen sollte, dann würde er für nichts mehr garantieren können.

Die Kollegen teilten Heerses Zorn und beäugten sich misstrauisch. Wer war der Schuldige?

 

* * *

 

Karina sah mit erhitzten Wangen und glänzenden Augen in den Spiegel. Endlich hatte er seine wahren Gefühle für sie offenbart. Die ganze Zeit über war sie also im Recht gewesen. Seine Liebe zu ihr hatte nie aufgehört, sondern war nach wie vor ungebrochen. Endlich hatte er das auch selbst erkannt.

Wie wenig man doch voneinander wusste! Natürlich, gehofft hatte sie immer. Aber eines Tages die Gewissheit zu haben, davon hätte sie nicht einmal zu träumen gewagt.

Sie würden sich bald treffen und ihre Zukunft besprechen. Daran führte jetzt kein Weg mehr vorbei. Das gemeinsame Schicksal, das gemeinsame Glück konnte ihnen niemand mehr nehmen.

Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass jemand etwas unglaublich Romantisches für sie getan hatte. Und zwar etwas, das man nur tun kann, wenn man wirklich liebt.

Er war ganz offensichtlich bereit, einen hohen Preis für ihre gemeinsame Zukunft zu bezahlen. Vermutlich musste er alles aufgeben, was ihm bisher so wichtig gewesen war. Ihre Gebete waren erhört worden, er hatte sich entschieden, für Karina, gegen seine Frau.

Sie spürte eine körperliche Erregung und ein leichtes Kribbeln zwischen ihren Schenkeln. Sie war mehr als willig, seine Begierden zu befriedigen. Welche verdorbenen Dinge er sich auch immer wünschen würde, mit Lust wäre sie bereit, sich ihm hinzugeben. Ihre Körper würden sich berühren, aneinanderpressen und eins werden. Nie wieder durften sie sich trennen.

 

* * *

 

Heerse hatte sich erneut auf den Weg zu Clara Calliditas gemacht. Er musste mit jemandem reden, und die Ärztin war gerne bereit gewesen, den Hauptkommissar zu empfangen. Wieder saßen sie in dem überfüllten Arbeitszimmer und Heerse kam ein wenig zur Ruhe.

Clara Calliditas hatte bisher noch nicht nach dem Grund für seinen Besuch gefragt. Sie konnte es sich ohnehin schon denken. Der Fall ging durch die Medien und die Nachricht, dass die Tatwaffe beim letzten Mord zurückgelassen wurde, war ihr deshalb bekannt.

Eine Weile schwieg Heerse und drehte die Tasse mit dem starken Kaffee auf dem Unterteller hin und her, dann lehnte er sich seufzend zurück und sagte: »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich mich nach einem dieser TV-Profiler sehne, der mir alle kleinen Geheimnisse des Täters verraten könnte, sodass ich am Ende meine Suche auf drei Personen eingrenzen kann. Den Rest würde dann ein durchgeknalltes Computergenie übernehmen und in fünfundvierzig Minuten hätten wir unseren Mörder.«

Clara Calliditas lachte amüsiert auf. »Dieses Geständnis muss jemandem, der immer wieder sein Missfallen über diese unrealistische Darstellung der Polizeiarbeit betont, äußerst schwerfallen.«

Auch Heerse verzog das Gesicht nun zu einem verlegenen Grinsen. »Ich verlasse mich auf Ihre ärztliche Schweigepflicht.«

»Kann ich denn helfen?«, erbot sich die Ärztin.

»Denken Sie, man kann im Alter seinen Spürsinn verlieren?«

Auf Claras fragenden Blick hin sprach er weiter: »Ich lag bisher nur daneben. Ich habe keine einzige Spur und verfolge aus lauter Verzweiflung eine Theorie, die wahrscheinlich absurd ist.«

Die Ärztin sah ihn interessiert an. »Das will ich hören.«

Heerse räusperte sich. »Ich verdächtige eine junge Frau. Jemand, der einem meiner Kollegen nahesteht. Ich habe sie kennengelernt und ein zweites Mal getroffen. Ausgerechnet in der Trinkhalle. Sie kennt die Sagen, ist davon fasziniert. Alles in mir sagt, sie ist schuldig und trotzdem kann sie den letzten Mord nicht begangen haben, weil ich sie überwachen ließ.«

»Erst Lukas Bürg und jetzt wieder jemand aus Ihrem direkten Umfeld?«

»Bei Lukas war es etwas anderes. Da sprachen die Indizien gegen ihn und mein Instinkt sagte mir, er war es nicht. Bei dieser Frau ist es genau umgekehrt.«

»Dafür brauchen Sie niemanden mit einem Abschluss in Psychologie. Das hätte Ihnen auch meine Großmutter, Gott habe sie selig, erklären können. Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Da kann man sich schon einmal verrennen!«

Heerse verzog den Mund. »Also einfach ein paar Schritte zurücktreten und das Ganze mit etwas Abstand betrachten? So einfach?«

»Ich habe nicht gesagt, dass es einfach ist, aber wenn wir falsch abgebogen sind, dann müssen wir wenden und zurück. Haben Sie kein Navi in Ihrem Auto? Meines sagt das zum Beispiel andauernd.«

Der Hauptkommissar war mit der Antwort nicht glücklich, das konnte ihm Clara Calliditas ansehen, deshalb fügte sie noch hinzu: »Das heißt allerdings nicht automatisch, dass uns unser Instinkt im Stich gelassen hat. Wenn ich einen Patienten habe, der krankhaft eifersüchtig ist, dann kann ich ihm helfen, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Das heißt aber noch lange nicht, dass seine Eifersucht an sich unbegründet ist. Was ich sagen will: Ihre Instinkte mögen Sie nicht trügen, aber was auch immer Sie gerade unternehmen, so funktioniert es nicht. Gehen Sie einen anderen Weg.«

»Guter Rat, aber leider habe ich keine Ahnung, wie ich das machen soll.«

Die Ärztin lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und griff nach einem Stift, den sie durch ihre Finger gleiten ließ. »Was sagen denn Ihre Kollegen? Ich meine, welche Theorien haben die anderen?«

»Eigentlich hoffen alle, dass sich unser Mörder für immer verabschiedet hat.«

»Bestätigen das Ihre Analytiker?«

»Schön wäre es, aber die sind skeptisch. Niemand wird schlau aus dem letzten Mord.«

»Aber es war der gleiche Täter?«

»Ja. Bei allen Morden, auch dem letzten, sind diese Botschaften, die Anspielungen auf die Trinkhallen-Sagen, hinterlassen worden. Davon kann nur der Täter wissen. Und dann das Beil selbst ...«

»Also kein Trittbrettfahrer?«

Heerse schüttelte den Kopf und stellte seine Frage direkt: »Denken Sie, dass er einfach aufgehört hat? Wäre das logisch?«

Clara Calliditas hätte dem Hauptkommissar gerne eine eindeutige Antwort gegeben, aber das konnte sie nicht. »Sie werden mein ›Schwer zu sagen‹ nicht gerne hören.«

Heerse seufzte daraufhin gut vernehmlich und die Ärztin hob entschuldigend die Hände, bevor sie weitersprach. »Leider ist es aber so. Die Logik des Täters mag es hergeben, dass der Mord an der Prostituierten sein letzter war. Grundsätzlich scheint es uns, wenn man Fälle aus der Vergangenheit betrachtet, aber eher unwahrscheinlich, dass ein Serienmörder das Töten einfach so einstellt. Und in diesem besonderen Fall«, sie suchte nach geeigneten Worten, »immerhin sind noch einige der Trinkhallen-Sagen ›übrig‹ ...«

»Aber warum gibt er seine Waffe ab?«

»Vielleicht will er wechseln? Möglicherweise, um Verwirrung zu stiften?«

»Na, das ist ihm auch vortrefflich gelungen!«

 

* * *

 

Frank Dorthal betrat an diesem Abend völlig erschöpft seine Wohnung. Die Sache mit Marion hatte er gerade so wieder hingebogen. Gott sei Dank hatte sie seine Entschuldigung angenommen. Er wusste natürlich, dass seine Frau immer noch verletzt war, und irgendwie fand er es auch ein wenig schäbig, sie mehr oder weniger aus dem Haus zu drängen. Allerdings war ihm keine andere Wahl geblieben. Wenn er seine Ehe retten wollte, dann schien es jetzt notwendig, dass Marion nicht in seiner Nähe war. Er konnte momentan keine Rücksicht auf sie nehmen. Diese Morde mussten zuerst aufhören, dann würde er sich wieder voll und ganz auf seine Frau konzentrieren.

Frank kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, wie ungerecht und gemein er manchmal reagierte, wenn er starken Stress hatte. Marion sollte nicht noch einmal zu seinem Ventil werden.

Mit einem Mal stellte er fest, wie sehr er seine Frau liebte. Anfangs hatte er immer geglaubt, er hätte sie aus Vernunftsgründen geheiratet. Aber mit jedem Tag, der verging, nahm sie einen größeren, einen besonderen Platz in seinem Leben ein. Das Gefühl, das da ganz tief in seinem Inneren wuchs wie ein zartes Pflänzchen, machte ihm etwas Angst, wenn es ihn auch gleichzeitig mit einer unbekannten Wärme erfüllte. Er hatte auch vor Marion geliebt, aber das war anders gewesen. Eine Liebe ohne Reinheit. Aber an seine Vergangenheit wollte er nicht mehr denken. Lange hatte er versucht sie zu vergessen – und dann?

Plötzlich war Karina wieder in seinem Leben aufgetaucht. Er hatte sich darüber gefreut, denn die Geschwister waren immer voller Zuneigung füreinander gewesen. Als er seine eigenen Wege gegangen war, hatte Frank seine Schwester schmerzlich vermisst, das konnte er nicht leugnen. Und jetzt? Jetzt fing alles wieder von vorne an. Marion hatte ihm erzählt, was ihr Karina anvertraut hatte. Alles war noch genauso wie früher. Warum hatte er sich auch eingebildet, dass seine Schwester, wenn es um ihre große Liebe ging, ein »Nein« akzeptieren würde. Die Selbstzerstörung hatte von Neuem begonnen und nahm dieses Mal noch abscheulichere Züge an.

Franks Hände zitterten und ein dünner Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn. Er fühlte sich krank. Als er die Augen schloss, sah er die geschändeten Opfer vor sich. Vor allem die Prostituierte im Nonnenkostüm mit dem zertrümmerten Kehlkopf hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt. Fast glaubte er, ihren Blutgeruch an den Kleidern kleben zu haben. Frank Dorthal stürzte ins Badezimmer, wo er sich unter heftigen Krämpfen übergab.