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Zuerst hatte man es gar nicht gemerkt. Als die ratternden, feuerspeienden Ungetüme wieder im tiefhängenden, bleigrauen Schneehimmel verschwunden waren und der auseinandergespritzte, in den Straßengräben und unter den Wagen liegende Treck wieder hervorkroch, rannte auch Opa Jochen zu seinem breiten Leiterwagen und hieb mit der Faust auf den Küchentisch, unter dem im Stroh und in Decken gewickelt die Oma lag.

»Komm 'raus!« brüllte Joachim Kurowski. »Mein Gott, is die Alte schwerhörig. Wenn wir im Westen sind, laß ich ihr die Ohren durchblasen! Berta! Wach auf!« Dann erst sah er mitten in der Tischplatte einen Einschuß. Ein zersplittertes Loch, ein einziges nur, aber genau dort, wo Berta Kurowski im Stroh lag. Sicher ein Zufallstreffer, aber er hatte Kurowskis Welt ärmer gemacht.

Mit zitternden Händen wühlte er das Stroh weg. »Julius!« brüllte er dabei. »Herr Pfarrer! Herr Oberleutnant! Die Berta … die Berta …«

Als das Stroh zur Seite geschoben war und die Gestalt in den Decken frei lag, konnte Jochen Kurowski nicht mehr weiter. Er lehnte bleich am Wagen, und Paskuleit wickelte Oma Berta aus ihrer herrlich warmen Umhüllung. Die Kugel des überschweren Flugzeugmaschinengewehres hatte sie genau von hinten ins Herz getroffen. Sie hatte nicht mehr ihren Tod gespürt, vielleicht nur einen kurzen, heißen Schlag, der alles Bewußtsein plötzlich auslöschte. Pfarrer Heydicke zog die Decke wieder über das ruhige, entspannte, noch von der wohligen Wärme gerötete Gesicht. Der Oberleutnant mit dem Ritterkreuz legte den Arm um Kurowskis Schulter. Und plötzlich weinte Opa Jochen, lehnte den Kopf an die Schulter des Offiziers und schüttelte sich im Schluchzen. Es war das erstemal, daß die Familie den Großvater weinen sah – man hatte bisher angenommen, er könne das gar nicht. »Meine Berta …«, stammelte er. Seine Stimme war jetzt wirklich greisenhaft, zurückverwandelt in das Greinen eines Kindes. »Meine alte, gute Berta –«

»Wir haben neunundvierzig Tote im Treck«, sagte der Oberleutnant. Es sollte ein Trost sein. Sie ist nicht allein. Ein Krieg vernichtet nicht einzelne, – er ist ein legitimer Massenmörder. »Und wir wissen noch nicht, wie es weitergeht, Opa. Vielleicht« – er blickte hinüber zu dem zugefrorenen Haff, über das sie in einer Stunde ziehen wollten – »hat sie die beste Art gewählt, aus diesem Wahnsinn auszusteigen.«

Heydicke sprach ein Gebet. Paskuleit und Busko hoben Oma Berta aus dem Wagen, wickelten sie in eine andere Decke und wollten mit ihr unbemerkt weggehen. Aber Kurowski merkte es trotz allen Schmerzes. »Halt!« brüllte er und riß sich von dem jungen Oberleutnant los. »Wohin?! Stehenbleiben! Meine Berta begrabe ich allein!« Er holte Paskuleit ein und umklammerte dessen Schulter. »Du willst sie einfach wegwerfen, was? Wie einen faulen Kohlstrunk, was? Hast du kein Herz, du Schuft? Meine Berta –«

»Der Boden ist steinhart gefroren«, sagte Paskuleit milde. »Du kommst keine zehn Zentimeter tief! Opa, ich weiß, es ist zum Kotzen, es ist grausam … aber Tausende liegen in den Straßengräben, – wir müssen Oma dazulegen!«

»Nie!« schrie Kurowski. »Nie! Und wenn, dann lege ich mich daneben! Eine Schaufel her! Eine Hacke! Berta bekommt ein Grab!«

»Wir müssen weiter!« Der Oberleutnant blickte über den Treck. Die anderen Toten lagen rechts und links der Straße wie Meilensteine. Ihre Hinterbliebenen knieten vor ihnen, und Pfarrer Heydicke ging herum, segnete, sprach Gebete, schlug das Kreuz. »Herr im Himmel«, sagte er achtundvierzigmal – »sie haben Deine Gnade verdient.« Dann kam er zu Berta Kurowski, die Opa Jochen jetzt auf den Armen trug wie ein Kind.

»Helfen Sie, Herr Pfarrer«, stotterte Kurowski. »Sie wollen sie einfach an die Straße legen. Meine Berta … Versuchen wir zu graben.«

Sie versuchten es. Während der Treck langsam weiterzog, blieben Kurowski, Busko, Ortsgruppenleiter Baum und ein Nachbar der Kurowskis zurück und hieben mit zwei Spitzhacken und drei Spaten in die gefrorene Erde. Paskuleit hatte unrecht, – sie kamen keine zehn Zentimeter tief, sondern gaben es bereits auf, als die längliche Grube erst fünf Zentimeter herausgehämmert war. Der Boden war härter als Stein, der Frost hatte die Erde zu Stahl verwandelt, an dem Werkzeuge abprallten. Jochen Kurowski ließ sich neben seiner Frau auf die Knie fallen und beugte sich über sie. »Berta –« sagte er mit einer Zärtlichkeit, vor der sich Paskuleit abwenden mußte, um nicht laut loszuheulen. »Berta, altes, liebes Aas … es geht nicht. Du mußt an der Straße liegen bleiben. Aber das verspreche ich dir, Berta … wenn ich den Krieg überlebe, werde ich jedem, der bei mir von Heldentum, Soldat und Feld der Ehre spricht, in die Fresse schlagen. Berta« – Er umarmte die kleine Gestalt in der Decke – »Leb wohl. Oben seh'n wir uns wieder, wenn se mich hineinlassen –«

Sie legten Oma Berta neben die Straße, schaufelten Schnee über sie, beteten und nahmen dann Jochen Kurowski in ihre Mitte. Sie zogen ihn weg, und Paskuleit sagte rauh: »Sieh dich nicht um, Opa! Verdammt, dort drüben ist unser Treck, unser Adamsverdruß. Der Wagen mit Erna und den Kindern, Ewalds Kinder, Opa! Von deinem Sohn! Wenn Ewald wiederkommt, müssen wir zu ihm sagen können: Hier, Ewald, sind Erna und deine Kinder! Wir haben sie durchgebracht. Die Kurowskis und Paskuleits geben nicht auf. Nie! Komm, Opa …«

Jochen Kurowski nickte. Er blickte nicht zurück, schwankte zwischen Paskuleit und Busko dem Treck nach, nur Felix Baum blieb zurück, hieb mit der Spitzhacke eine zerbrochene Deichsel aus einem zerschossenen Bauernwagen und steckte sie hinter Bertas Kopf in den Schneehaufen. Ein zerborstenes, riesiges, bizarres Kreuz. Finger, die nach Gott griffen. Aufschrei und Mahnung. Dann stieg er auf sein Motorrad und knatterte der Kolonne nach.

Das Haff war zugefroren. Man hatte die richtige Stelle ausgesucht, das Eis schien meterdick zu sein. Vorsichtig zog der Treck über die blanke Fläche. Die Bauern hatten ihren Pferden und Ochsen die Hufe mit Säcken umwickelt, damit sie nicht ausrutschten, es war ein mühseliger Weg, aber man kam langsam voran. Nur die Motorfahrzeuge rutschten heillos herum, ihnen konnte man keine Säcke um die Reifen drehen. Felix Baum mit seinem Motorrad hatte die Spitze und die Erkundung übernommen … er schlidderte über das Haff, die Füße meistens auf dem Eis, um sein Fahrzeug zu halten, und brachte die neuesten Meldungen mit. Heydicke und der Oberleutnant, die im ersten Wagen saßen, konnten nicht viel sehen … grau war der Himmel, war die Luft, das Eis, das Licht des Tages … man zog einfach in das Nichts hinein mit dem Glauben, irgendwo anzukommen … drüben, auf der Nehrung, auf diesem schmalen Landstreifen, auf dem man dann westwärts ziehen wollte, nach Danzig.

Felix Baum kam am zweiten Tag von einem weiten Ausflug zurück. Der Treck hatte mitten auf dem Eis übernachten müssen … es ging nicht mehr. Die Pferde stolperten über ihre eigenen Beine, drei Wagen stürzten dadurch um, vier Räder brachen. Man mußte die Wagen aufgeben, liegenlassen und sie auf andere Fahrzeuge umladen. Nur das Wichtigste, das Leben im Rohzustand: Ein paar Betten, Kissen, Decken, Töpfe, ein Herd. Schluß!

»Wir kommen bei Pröbbernau auf die Nehrung«, berichtete Baum, »wenn wir die Richtung weiterziehen. Aber von Kahlberg ist ein anderer Treck unterwegs und von Elbing zieht ein ganzes Heer herauf. Das ganze Gebiet um Elbing ist auf den Beinen! Die größte Scheiße aber: Vor Danzig steht schon der Russe!«

»Dann sind wir abgeschnitten.« Der junge Oberleutnant betrachtete die Karte, die auf seinen Knien lag. »Rundherum Russen. Nur die Ostsee ist noch frei.«

»Sollen wir nach dem Westen schwimmen?« sagte Jochen Kurowski leise. »Ich geh zurück zu meiner Berta und leg mich daneben.«

»Wir kommen durch, verflucht nochmal!« Paskuleit hieb mit der Faust gegen die Wagenwand. »Was ist mit der Weichselmündung, Oberleutnant?«

»Daran denke ich auch. Aber wir müssen schneller sein als die sowjetischen Panzer. Wenn wir riesiges Glück haben, ist die Weichselmündung nur mit Treibeis bedeckt, und wir finden ein paar Boote.« Er faltete die Karte zusammen, – es war zu trostlos, ihre Lage auch noch gedruckt zu sehen. »Leute, weiter! Zur Weichsel! Erst dort können wir sagen: Alles im Eimer! Oder auch nicht!«

Die Adamsverdrusser zogen weiter. Sie ließen auf dem Haff sieben Wagen zurück. Nur leichtes Gepäck, hieß es. Das Leben ist wichtiger als ein Eichenschrank und ein blankgeputzter Herd. Wir müssen schneller werden. Von allen Seiten drängten die sowjetischen Divisionen durch Ostpreußen. Königsberg war eingeschlossen, über Hunderte von Kilometern brannten die Dörfer, türmte sich ein Berg von Greueln auf, machte man Jagd auf die Frauen. Der berühmte russische Dichter Ilja Ehrenburg schwelgte in einem Aufruf an die sowjetischen Truppen in der Vernichtung alles, was deutsch war.

Der Treck erreichte die Nehrung tatsächlich bei Pröbbernau. Von hier zog er weiter nach Westen, über Vogelsang, Bodenwinkel, Stutthof nach Steegen. Hier kreuzte die Straße von Elbing über Tiegenhof und die Elbinger Weichsel. Der große Treck saugte die Adamsverdrusser auf. Ein einziger Satz trieb Tausende vorwärts, ein Gerücht, das jeder als Wahrheit nahm, weil es das Leben bedeutete: Bei Nickelswalde, in der Weichselmündung, liegen noch drei Frachtschiffe.

O Gott im Himmel – drei Schiffe!

Ein dicker, schwarzer, endloser Wurm, so wälzte sich der Treck zur Weichsel. Und in diesem Wurm fuhr eine intakte deutsche Truppe in Regimentsstärke mit einem vollständigen Divisionsstab, der das Pech gehabt hatte, seine Division zu verlieren. Die Russen waren schneller gewesen. Sie schlossen die Division ein, aber der Stab war draußen. Nun zog er auch zur Weichsel, weil es sinnlos war, mit einer Schar Offizieren, Schreibern und einem voll besetzten Feldgericht gegen T34 anzurennen.

Aber die militärische Alltagsarbeit, dieser sture preußische Kasernengeist, blühte auch jetzt im Stadium der Auflösung. Jeden Morgen gab es Truppenappell, wurden die Kompanien strammstehend gemeldet. Während eines Ruhetages bei Pasewark setzten zwei Kompaniechefs sogar Gewehrgriffübungen an und Stiefelappell.

Hier in Pasewark geschah es auch, daß ein Oberfeldrichter, der einen Teil des Trecks an sich vorbeiziehen ließ, den Oberleutnant mit dem Ritterkreuz auf dem Kutschbock von Pfarrer Heydickes Wagen sitzen sah. Er sah den jungen Offizier an, winkte dann und brüllte: »Kommen Sie mal her!«

Der Oberleutnant sprang vom Bock. Paskuleit, der als nächster vorbeifuhr, hörte noch, wie der Oberfeldrichter schrie: »Was sagen Sie da?! Wo ist Ihre Truppe?! Sie Hundsfott! Mitkommen!« Dann sah er, wie beide in einen Horchwagen stiegen und nach vorn fuhren. Paskuleit warf die Zügel Busko zu und rannte nach vorn zu Heydicke.

»Herr Pfarrer!« schrie er. »Da braut sich was zusammen! Sie haben unseren Oberleutnant mitgenommen! Herr Pfarrer! Helfen Sie! Ich übernehme Ihren Wagen!«

Pfarrer Heydicke sprang vom Bock, saß hinten bei Felix Baum auf und brauste mit ihm dem Horch nach. Am Abend kamen sie zurück. An ihren Augen sahen alle, daß etwas Schreckliches geschehen war. Baum holte sein Parteibuch aus der Tasche und zerriß es.

»Sie haben ihn verurteilt«, sagte Heydicke leise. »In einer regelrechten Gerichtsverhandlung unter dem Vorsitz von Oberfeldrichter Dr. Eberhard Bollow. Wegen Fahnenflucht und Feigheit vor dem Feind … zum Tode. Ich habe versucht, ihn zu verteidigen … sie haben mich einfach hinausgeworfen. Eine Stunde später haben sie ihn aufgehängt … Er hängt an der Straße an einem Baum, das Ritterkreuz noch um den Hals …«

»Dr. Eberhard Bollow –«, sagte Opa Jochen laut. Dann nahm er ein Schulheft aus der Tasche, riß aus ihm ein paar Blätter, teilte sie in neun Streifen und schrieb neunmal den Namen Dr. E. Bollow darauf. Die Streifen verteilte er an Paskuleit, Baum, Busko, Heydicke, Erna, die Kinder und steckte selbst auch einen ein. »Damit ihr diesen Namen nie vergeßt!« rief er dröhnend. »Dieser Zettel ist wichtiger als jedes Geld! Nie vergessen! Wir werden den Namen Dr. Bollow noch brauchen!« Dann zogen sie weiter.

Nach vier Stunden kamen sie an dem Baum vorbei, an dem der junge Oberleutnant hing. Die Adamsverdrusser legten grüßend die Hände an den Kopf, Paskuleit ging zu ihm hin und drückte dem Toten die eisige Hand. Heydicke segnete ihn. Opa Jochen brüllte: »Mein Jungchen, wir werden immer an dich denken!« und zeigte den Kindern den Toten. »Das ist er! Und sein Mörder heißt Dr. Bollow! Nicht vergessen!«

In der Nacht, einer ganz klaren, frostklirrenden Nacht, erreichten sie die Weichsel bei Nickelswalde. Im treibeisübersäten Wasser lagen wirklich drei Schiffe … und vor ihnen eine dreifache Kette Soldaten mit gesenkten, geladenen Maschinenpistolen.

Die Lage war ganz klar: Die Schiffe standen bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen, – aber nur Frauen und Kinder. Die Männer mußten zurückbleiben und warten, ob dann noch Plätze frei waren. Konnten die Schiffe noch mehr aufnehmen, würden zuerst die Alten an Bord gelassen werden.

»Ich bleibe!« sagte Opa Jochen. »Aber ihr« – er zeigte auf Erna und die Kinder – »ihr geht aufs Schiff! Verflucht, keine Widerrede, Erna, – denk an Ewald!«

Durch einen Schlauch schwerbewaffneter Offiziere und Soldaten wurden die Frauen und Kinder an Bord gelassen. Der Abschied war für immer, die meisten ahnten es. Auf dem Land blieben die Wagen zurück, all die armselige Habe, die sie mit dem Treck gerettet hatten. Nur was man tragen konnte, war zugelassen, und die meisten Mütter trugen ihre Kinder auf den Armen. Auf ihren Rücken hingen Rucksäcke, zusammengerollte Decken, Kleiderbeutel, ein bißchen zu essen. Weinend gingen sie auf die Schiffe, und die Männer winkten ihnen nach, mit brennenden Augen und verzerrten Gesichtern. Am Morgen durfte auch Opa Jochen an Bord … er wehrte sich, aber Paskuleit ließ den Alten von Busko abschleppen, und eine Stunde später durfte er auch aufs Schiff. Ein Mann mit einem Holzbein, so entschied die Offizierskommission, ist nur bedingt wehrfähig.

»Nun sind wir alle wieder zusammen«, sagte Opa Jochen und umarmte Paskuleit. »Was haste mitgenommen?«

»Nur die Schuhmacherwerkzeuge.«

»Das reicht. Auch nach'n Krieg wird keener barfuß gehen.«

Über ihnen flatterte die Fahne des Roten Kreuzes. Sie wurde am Hauptmast hochgezogen. Und unter der Fahne stand ein Mann, von dem keiner wußte, wie er an Bord gekommen war, – aber er war da. Oberfeldrichter Dr. Eberhard Bollow.