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Sie waren im letzten Augenblick aufgebrochen. Das zeigte sich, als sie die Straße von Johannisberg nach Ortelsburg erreichten. Hier stauten sich die Fahrzeuge, verkeilten sich ineinander, nur schrittweise ging es manchmal vorwärts. Soweit man die Straße überblicken konnte: Wagen hinter Wagen, Pferdeköpfe, brüllende Kühe, Traktoren, dazwischen, verloren, geradezu lächerlich, ein paar Autos mit dem roten Winkel auf dem Nummernschild … unabkömmliche Wagen, für den Heimateinsatz nötig, mit Benzinscheinen versorgt. Von allen Seiten wälzten sich die Menschenschlangen heran, vor allem aber von der Grenze, von Fischborn, Gehlenburg, Lyck. Ein anderer großer Treck zog vom Sammelpunkt Neidenburg nach Allenstein, der dritte von Marienwerder nach Marienburg. Sie alle hatten nur ein Ziel: Die Küste. Danzig. Das Meer. Pommern. Mecklenburg. Berlin. Hinein in das unbedrohte Deutschland. Hinüber zu den Brüdern im Westen. Dort fielen zwar jeden Tag Tausende von Bomben, Sicherheit war nirgendwo, aber lieber Tag und Nacht in einem Keller warten und beten, als eine einzige Stunde die rote, erbarmungslose Flut aus den Weiten Rußlands erleben.

Der Treck aus Adamsverdruß wußte noch nicht – und das war gut so –, daß von allen Seiten die Flüchtenden zusammenströmten. Ihm genügte schon, daß es auf der Straße nach Ortelsburg nicht weiterging.

»Der Russe holt uns ein!« sagte Paskuleit zu Pfarrer Heydicke, der noch immer an der Spitze fuhr. Es war wie damals, als das Volk aus Ägypten zog und Moses folgte … nur wußte man eins: Dieses rote Meer, das jetzt um sie herum über die Ufer trat, würde sich nicht vor ihnen teilen. »Wenn das hier so weitergeht bis Danzig, können wir uns gleich an den Weg setzen und auf die Russen warten.«

Ortsgruppenleiter Felix Baum, der seine gelbbraune Uniform gegen seinen Anzug vertauscht hatte, den er früher immer getragen hatte, einen guten derben Bauernanzug mit grüner Joppe, Stiefelhosen, Filzstiefeln und darüber einen gefütterten Mantel, ratterte mit einem Motorrad durch die Wagenreihen der Adamsverdrusser und zog alle Flüche und Bitten auf sich wie ein Magnet. Er hatte kein Gepäck bei sich, dafür auf dem Hintersitz seines Motorrades drei Kanister mit Sprit und im Wagen Paskuleits nochmal zehn Kanister. Außerdem besaß er einen Ausweis der Gauleitung, daß er überall Benzin fassen durfte. Das war jetzt mehr wert als ein ganzer Wagen voller Geld. Solange Baum beim Treck blieb, hatte man Sprit. So glaubte man.

»Fahr vor und sieh nach, was da los ist!« schrie ihm Paskuleit zu. »Wozu bist du ein Parteibonze?! Da ist doch irgendeiner, der den Weg sperrt! Tritt ihn in den Arsch!«

Felix Baum donnerte los. Mit seinem Motorrad kam er gut durch alle Stockungen, fuhr Slalom um die dicht an dicht aufgefahrenen Bauernwagen und erreichte nach sechs Kilometern die Weggabelung bei Groß Jerutten. Hier stand ein Hauptmann der Feldgendarmerie mit vier Mann, sperrte die Straße und ließ von Friedrichshof eine lange Militärkolonne auf die Chaussee nach Ortelsburg.

Troßfahrzeuge, Werkstätten, eine Feldbäckerei, eine Schmiede, Kastenwagen mit gut genährten Stabsintendanten in dicken Lammfellmänteln, eine Divisionsschreibstube, zehn schwere Horch-Wagen mit Stabsoffizieren, dahinter wieder Lastwagen mit Büromaterial und sogar ein vollständiger Musikzug. Aber kein Sanitätsauto, kein Munitionswagen, keine müden, abgekämpften, hohlwangigen Fronttruppen.

Felix Baum staunte. Dann überkam ihn eine mächtige Wut. Zum erstenmal in seinem Leben vielleicht war er mutig, stand er nicht bloß stramm und gehorchte ohne zu denken. Er sah, wie die Männer an der Spitze des kilometerlangen Flüchtlingstrecks mit dem Hauptmann auf der Kreuzung verhandelten; Bauern, in langen Mänteln, Greise und alte Frauen schrien auf ihn ein, und Baum wußte, daß jede Minute die Schlange der vor den Russen Flüchtenden länger wurde und daß von allen Seiten die sowjetischen Panzerspitzen über die Grenze stießen.

Er gab Gas, raste mit seinem Motorrad auf die Kreuzung und bremste ein paar Zentimeter vor dem Hauptmann. Der hatte einen roten Kopf von der Kälte und vom dauernden Brüllen, starrte Baum an und schrie ihm etwas zu, was im Lärm der Motoren einer neuen Troßkolonne unterging.

»Die Straße frei!« schrie Baum zurück. Er mußte sich dazu nahe zu dem Hauptmann vorbeugen. »Da hinten warten Tausende …«

»Zuerst die Truppe!« brüllte der Hauptmann zurück.

»Wo sind hier denn Truppen?« schrie Baum. »Nur vollgefressene Etappensäcke! Zahlmeister und Großfressen! Wo ist hier ein Soldat? Die stehen da hinten an der Grenze, und hier haut alles ab! In Pelzmänteln! Mit dem Sprit, den unsere Panzer vorne brauchen! Ihr Lumpen!«

»Ich verhafte Sie!« Der Hauptmann der Feldgendarmerie griff nach seiner Pistolentasche. Sein Gesicht war geschwollen vor Zorn. »Im Namen des Führers …«

»Ich scheiße auf deinen Führer!« brüllte Baum zurück. »Ich bin Ortsgruppenleiter, und wenn du Idiot schießen willst, ich kann das auch!« Er riß aus der Manteltasche seine Pistole, und das ging schneller als das Lösen der Lederschlaufe an der Pistolentasche.

»Mann! Sind Sie verrückt?« Der Hauptmann blickte sich nach seinen vier Männern um. Aber die waren plötzlich nicht mehr da. Eine geballte Masse zu allem entschlossener Männer hatte sie einfach überrollt, als Baum mit seinem Eingreifen die Scheu vor der Uniform genommen hatte. Jetzt besetzten die Bauern die Kreuzung, die Verkehrskellen der vier verschwundenen Feldgendarmen tauchten auf, eine Reihe Leiber versperrte jetzt die Kreuzung, die roten Stopzeichen blinkten. Knirschend hielt der erste Wagen, dem sich das Hindernis in den Weg stellte. Ein Küchenwagen, mit dampfendem Kessel. Im Fahrerhaus saß ein feister, mondgesichtiger Zahlmeister. Hinten, neben dem Kessel, in wohliger Wärme, hockten in dicken Mänteln die Köche. Ein Oberfeldwebel und zwei Unteroffiziere. Nach dem Küchenwagen bremste ein Schreibstubenlaster, dahinter eine Werkstatt … und dann Wagen an Wagen. Es war, als bestände die ganze deutsche Wehrmacht nur aus Troßfahrzeugen.

»Ich bringe Sie vors Kriegsgericht!« brüllte der Hauptmann. »Sie verhindern den Aufmarsch einer Armee!«

»Ich rette mein Dorf –« sagte Baum, plötzlich ganz ruhig. Er sah, wie sich die Flüchtlingstrecks endlich wieder in Bewegung setzen konnten. Die Bauernwagen mit den Pferden, die Trecker, die Kühe, die trostlose Fracht aus Betten, Tischen, Kommoden, Töpfen, Körben und Säcken, aus Greisen, Kindern und Frauen rollte langsam hinter ihm vorbei. Das machte ihn glücklich. Ich bin doch noch zu etwas nutze, sagte er sich. Vielleicht rechnen sie mir das an, eine gute Tat gegen hundert dämliche Parteireden, die ich gehalten habe. Einmal Wahrheit gegen tausend Lügen.

Die lange Troßschlange begann wild zu hupen. Offiziere liefen nach vorn und brüllten die Bauern an. Aber das waren Ostpreußen, mit Schädeln so dick wie das Eis auf den Seen im Frost und so standhaft wie die jahrhundertealten Bäume in den weiten Wäldern rund um Masuren. Sie fielen vor Stimmen nicht um, auch nicht, wenn diese Stimmen aus Uniformen mit silbernen Schulterstücken klangen. Sie starrten die Offiziere aus zusammengekniffenen Augen an, und einer aus dieser Mauer auf der Kreuzung sagte langsam zu einem Stabsintendanten:

»Maanchen, wennste nich weggehst, scheiße ich dich in die Luft …«

»Das ist Revolution!« brüllte der Hauptmann. Er griff wieder zur Pistolentasche.

»Laß stecken, Maanchen …«, sagte Baum breit.

»Sie Verräter!« Der Hauptmann hatte seine Pistole frei. Aber er kam nicht dazu, sie auf Baum anzulegen. Mit einer Ruhe, die er selbst nicht verstand, drückte Baum zuerst ab. Der Schuß traf den Hauptmann in den rechten Oberarm, stieß ihn zurück, er rutschte auf dem vereisten Boden aus und fiel auf die Knie. Ungläubig starrte er Felix Baum an und preßte die Linke auf seinen durchschossenen Arm. Unter seinen Fingern quoll träge Blut hervor.

Baum kümmerte sich nicht mehr um ihn. Er wendete sein Motorrad und raste die Kolonne zurück. Drei Bauern hoben den Hauptmann von der Straße, stützten ihn und brachten ihn zum Küchenwagen. Der Intendant im Fahrerhaus war bleich geworden und zitterte, als einer der Bauern die Tür aufriß.

»Kümmert euch um ihn!« sagte er. »Ein Heimatschuß! Aber wo ist denn noch die Heimat?«

»Ihr seid verrückt geworden …«, stotterte der Zahlmeister.

»Und ihr? Warum seid ihr nicht vorn an der Front, he? Wo wollt ihr denn hin? In Sicherheit, was? Aber erst die Zivilbevölkerung, Maanchen! Soldaten gehören nach vorn.«

Er ließ den Hauptmann stehen, an den Wagen gelehnt, und rannte zurück zur Kreuzung. Dort standen sich Offiziere und Bauern gegenüber … wehrlose Männer, die hinter sich ihre Frauen und Kinder, Enkel und Urenkel vorbeirattern hörten, und Männer mit Waffen in den Händen, die ebenfalls nach Norden und Westen wollten.

Aus dem Lautsprecher eines Batterie-Radios im Schreibstubenwagen tönte die Stimme des Nachrichtensprechers des Großdeutschen Rundfunks. Eine Sondermeldung. In der Nordsee ein Geleitzug angegriffen, 300.000 Tonnen versenkt. Im Westen erfolgreicher Abwehrkampf westlich Straßburgs. In Ungarn Angriffe der 6. SS-Panzerarmee gegen Budapest. Aber kein Wort von Ostpreußen, nichts von der Weichsel, vom Narew, vom Njemen und der Memel. Erst am Ende, ganz beiläufig, ein Satz: »Deutsche Verbände stehen in einem erbitterten Abwehrkampf gegen starke russische Kräfte im Weichselbogen.«

»Sind wir nichts?« sagte ein alter, weißbärtiger, riesiger Bauer in der ersten Reihe der lebenden Mauer auf der Kreuzung. »Hast du's gehört, Major? Nichts von uns! Und dabei ist das ganze Land auf der Straße. Schießt nur … hinter uns kommen andere, und immer wieder andere, bis ihr keine Munition mehr habt … Wir ziehen nach Danzig, und ihr hindert uns nicht mehr daran …«

Die beiden Mauern blieben stehen. Die Offiziere begannen zu verhandeln. Ein Oberst unterbreitete einen Vorschlag. »Ihr zieht in Dorfgemeinschaften«, sagte er. »Gut. Machen wir es so. Wenn ein Dorf durch ist, darf eine Kolonne von uns weiter. Dann das nächste Dorf, dann wir … und so weiter. Ein vernünftiger Rhythmus, das müssen Sie zugeben.«

Darauf einigte man sich.

Das Dorf Altkelbunken zog vorbei, dann wurde die Kreuzung freigegeben für zwanzig Militärfahrzeuge. Ihnen folgte das Dorf Krutinnen. Darauf zwei Werkstätten und ein mobiles Verpflegungslager. Hinter ihm schloß sich das Dorf Adamsverdruß an.

»Besser kann's gar nicht sein«, sagte Opa Jochen zufrieden. »Zu fressen in Hülle und Fülle vor uns. Julius, sag dem Pfarrer, er soll immer hart am Mann bleiben! Haste schon mal was von Piraten gelesen, Jungchen?«

Paskuleit erriet die Gedanken des Alten und tippte sich an die Stirn. ›Brüll-Jochen‹ schrie auf, – aber der Treck ging weiter, und er mußte sich um die Pferde kümmern. Dicke Eisbrocken hingen ihnen an Mähnen und Beinen und an den Nüsterhaaren. Es begann wieder zu schneien.

Sie zogen fünf Tage hinter den Verpflegungswagen her.

Nach Allenstein kamen sie gar nicht mehr hinein. Es war abgeriegelt, eine neue Frontlinie baute sich hier auf, der Russe stieß schneller vor, als man berechnet hatte. Der Treck wurde bei Alt-Märtinsdorf auf eine schmale Landstraße umgeleitet in Richtung Wartenburg. Schon bei Passenheim war ein großer Teil der Flüchtlinge abgeschwenkt in Richtung Bischofsburg. Nach Norden, nach Heilsberg, und von dort über Landsberg, Zinten nach Heiligenbeil. Zum Frischen Haff, dann hinüber auf die Nehrung, und auf dem schmalen Landstreifen westwärts zur Weichselmündung und nach Danzig. Das war das große Ziel.

Auch Adamsverdruß stand an der Kreuzung Passenheim vor dieser Frage.

»Nein!« sagte Paskuleit nach einer kurzen Beratung. »Nicht diesen Bogen! Auf schnellstem Wege nach Elbing und dann weiter. Warum wieder nach Osten? Weiß man, was mit Königsberg wird?«

»Da kommt der Russe nie hin!« rief Felix Baum.

»Er fängt schon wieder an!« brüllte Opa Jochen. »Warum verklebt ihm keiner die Parteischnauze?! Wir ziehen dahin, wo die Verpflegungskolonne hingeht.«

»Er denkt nur ans Fressen«, stöhnte Franz Busko, der Geselle. Er hatte in diesen fünf Tagen mit seinem Fahrrad weitere Ausflüge nach vorn unternommen, genau wie Baum, der sogar mit seinem Ausweis nach Allenstein hineingekommen war. Die Kreisleitung war längst fort. Er fand nur verlassene Büros und viel verbranntes Papier. Im Zimmer des Kreisleiters wohnten drei Quartiermacher irgendeines Regimentsstabes.

»Wir kommen vom Weg ab, sag ich euch! Die ziehen mit dem ganzen Fressen zur kämpfenden Truppe.«

»Die? Nie!« Paskuleit dachte an den dicken Stabsintendanten im ersten Lastwagen. »Ich bin dafür, daß wir nach Elbing kommen!«

Was Paskuleit sagte, war immer gut, man wußte das. Also blieben die Adamsverdrusser auf der Straße und ließen Passenheim hinter sich.

Jeden Abend und jeden Morgen hielt Pfarrer Heydicke einen schnellen Gottesdienst. Dann übernahm Paskuleit die Kutsche, und Busko fuhr den Trecker. Heydicke stand dann auf dem Dach seines Wagens, festgehalten von sechs Händen, blickte zurück über die lange Reihe der Wagen, sprach sein Gebet, segnete die Frauen und Kinder, Greise und Männer und sagte am siebten Tag: »Mein Gott, verlaß sie nicht. Es sind gute Menschen; sie sind mutig und zäh. Bring sie hinaus aus der Hölle, – sie haben sie nicht verdient.«

Am 19. Januar 1945 überrannten die Russen Tilsit und Wloclawek. Am 20. Januar stießen ihre Panzerspitzen bereits nach Allenstein vor. In Polen fluteten die deutschen Truppen zurück. Sie gaben am 17. Januar Warschau auf, am 19. Lodz und Krakau. Durch das Weichseltal ergossen sich die sowjetischen Armeen und schnitten Ostpreußen vom Reich ab.

»Wir verlieren das Wettrennen«, sagte Pfarrer Heydicke spät in der Nacht zu Paskuleit. Sie hockten um ein Lagerfeuer. Zwei Stunden Rast, – man kann nicht ohne Unterbrechung laufen. Die Pferde hatten kaum noch Kraft, die schweren Wagen zu ziehen. »Spätestens in drei Tagen fällt Allenstein. Wenn wir jemals die Küste erreichen, – wohin dann? Wir leben auf einer Insel. Oder glauben Sie, wir bekämen ein Schiff?«

»Glauben ist Ihre Arbeit, Herr Pfarrer«, sagte Paskuleit und starrte in das knisternde Feuer. »Ich weiß nur, wir kommen durch. Wir lassen uns nicht unterkriegen, wir nicht! An etwas anderes denke ich nicht! Lassen Sie uns erst am Meer sein …«