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Zwei Tage später eroberten die sowjetischen Divisionen Allenstein. Ihre schnellen Panzerspitzen teilten sich … nach Königsberg und nach Elbing-Danzig ratterten jetzt die tonnenschweren Ungetüme über das verschneite, vereiste, von flüchtenden Menschen überschwemmte Land.

Ostpreußen wurde zerschnitten. Es gab kaum noch Widerstand. Aber die Menschen auf den Straßen und Wegen, die Wagenkolonnen, die Trecks, denen die Angst im Nacken saß, die kreuz und quer durch das Land zogen und überall auf russische Panzer trafen, wurden überrollt, niedergewalzt, in die Straßengräben gedrückt, die Frauen von den Wagen gezerrt oder aus den Häusern geschleppt und dem Haß und dem Siegestaumel überlassen.

Die Straßen Ostpreußens brauchten keine Bäume oder Chausseesteine mehr, – man erkannte sie an den Leichen, die rechts und links von ihnen im Schnee lagen. Meistens Frauen und Kinder, steinhart gefroren, in den Trümmern ihrer zerquetschten Wagen, oder auch einfach so, wie hingelegt, wie die totale Erschöpfung sie niedergeworfen hatte, wie sie zusammenbrachen und den Tod gar nicht merkten. Dann wieder Menschenhaufen, aufeinandergeschichtet, blutverschmiert, erschossen und zerstochen. Wegmarkierungen russischer Truppen. In den Trecks, die noch immer herumirrten innerhalb der sowjetischen Ringe, erzählte man sich grauenhafte Dinge, die von allen Seiten herankamen. Da sollten sibirische Truppen einen Pfarrer lebend an die Tür seiner Kirche genagelt haben. In einem Dorf, das schneller überrollt wurde, als es wegziehen konnte, hatte man alle Frauen, von der Achtzigjährigen bis zum zehnjährigen Kind, der Reihe nach vergewaltigt. In einem anderen Dorf hatten tatarische Verbände der Einfachheit halber alle Männer auf dem Marktplatz erschossen.

Greuel über Greuel … und die Eroberung Ostpreußens hatte erst begonnen.

Der Treck aus Adamsverdruß war bisher verschont geblieben. Es schien, als ob der Zahlmeister vorne im ersten Wagen der Verpflegungskolonne einen guten Riecher hatte: Er fuhr auf Nebenwegen, mühsam, aber unangefochten, zielstrebig nach Elbing. Aber an der großen Kreuzung beim Bahnhof Schlobitten kam der Treck zum Stehen. Es schien, als sei eine ganze deutsche Armee unterwegs von Allenstein zum Haff. Die Straßen waren vollständig verstopft, der Weg nach Elbing durch Artillerieregimenter und Panzer verbaut. Es blieb nur noch eine Möglichkeit: Doch nach Norden, über Braunsberg und die Passarge entlang zum Frischen Haff.

Pfarrer Heydicke und Paskuleit waren sich einig, nicht aber die rollende Verpflegung vor ihnen. Sie blieb auf der Straße nach Elbing und versuchte, sich in die Militärkolonne einzugliedern.

»Das können wir nicht zulassen«, sagte Opa Jochen, als feststand, daß die Adamsverdrusser zum Haff ziehen würden. »Wir können doch nicht unsere Speisekammer sausen lassen! Jungchen, das muß geregelt werden!«

»Willst du die ganze Kolonne überfallen?« knurrte Paskuleit.

»Genug dazu wären wir.« Jochen Kurowski schielte zu Heydicke und faltete dann die Hände über dem Bauch. »Denken Sie intensiv an den Himmel, Herr Pfarrer … ich muß mit Julius etwas besprechen.«

Was Kurowski vorschlug, war geradezu idiotisch, aber es sollte später der Familie das Leben retten. »Ich habe nichts gehört«, sagte Heydicke später. »Und ich sehe auch nichts. Gottgefällig ist es nicht … aber du hast recht, Jochen: Wo ist Gott jetzt?«

In der Nacht – die ganze Kolonne stand noch auf der Straße und konnte nicht vor und zurück, weil von Allenstein deutsche Truppen heranrückten und Feldpolizei rigoros alles vom Weg drängte, was ein schnelles Vorwärtskommen behinderte – verschwanden aus sieben Verpflegungswagen zwanzig Kisten mit Konserven, Brot, Butter, Schmalz, Öl und Dauerwurst. Man merkte es gar nicht in den bis unter die Planendecke reichenden Kistenbergen, daß hier und da eine freie Stelle war. Vor Aufregung schwitzend, lautlos und wie gleitende Schatten in der Nacht, transportierten Paskuleit, Busko und Felix Baum die Kisten ab. Ab der neunten Kiste kam noch Ortsbauernführer Lusken hinzu, der die gelähmte Juliane Brakau in seinem Wagen transportierte und sie jetzt, wo sie schlief, allein lassen konnte.

Opa Jochen unterhielt unterdessen jeweils die Besatzung des Wagens, der hinten bestohlen wurde, mit Witzen und fröhlichen Jagderzählungen aus Masuren. Er war in solchen Geschichten unerschöpflich, erhielt zum Kehleschmieren überall ein paar Schlucke Schnaps und war nach dem Abtransport der zwanzig Kisten soweit, daß Paskuleit ihn abschleppen mußte. Selbst Pfarrer Heydicke machte mit. Um sie abzulenken, klopfte er mit den Offizieren des Transports einen mörderischen Skat.

Am frühen Morgen endlich ging es weiter. Das rollende Verpflegungslager zog nach Elbing, der Treck nordwärts nach Braunsberg. Traurig hockte Opa Jochen auf seinem Kutschbock und blickte den graugrünen Lastwagen nach.

»Da fährt Fressen für ein ganzes Jahr –« sagte er. »Eine Schande ist das, eine Schande. Warum ist von euch Holzköpfen nicht früher einer auf die Idee gekommen, uns vollzuladen! Brauchen wir Küchenschränke, he? Bettgestelle? Kommoden? Sessel? Eckbänke? Zu Fressen brauchen wir … dann raucht der Ofen! Wer gut kackt, kann auch gut arbeiten. Maanchen, wir hätten die ganzen Wagen umladen sollen!«

Der Frost wuchs. Oma Berta kroch vollständig ins Stroh und rührte sich nicht. Ihr Zusammenkriechen war so vollkommen, daß Opa Jochen am frühen Nachmittag anhielt und brüllte: »Alles halt! Ich habe meine Berta verloren. Das Luder muß aus'n Wagen gefallen sein! Zurück!«

Aber zurück war unmöglich. Es gab nur ein Vorwärts.

Felix Baum und Busko, die mit Motorrad und Fahrrad den zurückgelegten Weg absuchten, kamen ohne Ergebnis zurück.

Der Treck stockte. »Ohne meine Berta fahr ich nicht weiter!« schrie Jochen Kurowski. »Wir waren einundfünfzig Jahre zusammen!«

»Vielleicht ist sie mit der Versorgungskolonne mitgefahren?« sagte Paskuleit. »Du hast ihr ja immer vorgeredet: Essen ist das wichtigste.«

»Zurück!« brüllte Opa Jochen wieder. Verzweifelt suchte er noch einmal in dem langen hohen Bauernwagen. Felix Baum raste noch einmal zurück zur Kreuzung beim Bahnhof Schlobitten. Er war kaum weg, fand Kurowski seine Frau. Tief unten im Stroh, unter einer Decke und zusammengerollt unter dem Küchentisch. Es war ein Rätsel, wie sie hier Luft bekam, – aber sie schlief fest und glücklich in der eroberten Wärme. Außerdem war sie schwerhörig.

»Da ist se«, sagte Opa Jochen. »Undenkbar, daß ich meine Alte verliere.« Es lag soviel Zärtlichkeit in seiner Stimme, daß Paskuleit darauf verzichtete, Kurowski einen Idioten zu nennen. Er deckte Oma Berta wieder mit der Decke und dem Stroh zu und winkte zum ersten Wagen, zu Pfarrer Heydicke. »Weiter!«

Die Kolonne der Wagen und Pferde, Ochsen und Kühe setzte sich wieder in Bewegung. Keiner von diesen Menschen, die der Vernichtung davonliefen, ahnte, daß seitlich von ihnen der Russe durchbrach, daß sie bereits von Deutschland, ihrer großen Sehnsucht, abgeschnitten waren und daß sie zufällig durch einen schmalen, noch nicht eroberten, freien Schlauch Land zogen. Links und rechts von ihnen und hinter ihnen brannten die Dörfer, starben die Menschen auf den Straßen, wurden wie Vieh zusammengetrieben, rollten Panzerketten über steifgefrorene Leiber, drückten T34 die Wagen in die Gräben, ging Ostpreußen unter in Feuer, Blut und Tränen.

Die Adamsverdrusser aber zogen weiter wie unter der hohlen Hand Gottes. Sie hatten Kühe bei sich, geschlachtete und im Frost bestens konservierte Hühner und Schweine, zwanzig Kisten Konserven und Wurst, Fässer mit Butter und Schmalz, Säcke mit Zucker, Mehl und Hafer. Sie hatten vorgesorgt, weil Paskuleit es ihnen geraten hatte.

»Kinder, was habt ihr mich als Ortsgruppenleiter beschissen«, sagte Baum ein paarmal. »Monatelang.«

»Jahrelang, du Rindvieh.« Paskuleit lachte dunkel. »Seit zwei Jahren haben wir schwarz geschlachtet und gehortet! Grenzland – unruhiges Land … das haben wir schon in der Schule gelernt.« Und zu Erna Kurowski, die wie ein Mann die Kutschpferde dirigierte und ihre Kinder ebenfalls beim Einbruch des grausamen Frostes wie Hundewelpen unter Stroh gesteckt hatte, sagte er: »Sag's keinem weiter, aber ich glaube nicht, daß wir alle zusammenbleiben können. Es kommt einmal der Tag, wo jeder für sich selbst sorgen muß. Aber wir, Erna, wir Kurowskis und Paskuleits, wir bleiben zusammen. Sie müßten uns schon einzeln abhacken wie Äste von einem Baum!«

Sie zogen über Nebenwege, über Neumarck, Ebersbach, Tiedmannsdorf, Schalmey und quer übers Feld nach Pettelkau, weil neue Trecks die Straßen blockierten. Dörfer, die im Aufbruch waren wie vor vierzehn Tagen Adamsverdruß. Menschen, von der Angst getrieben.

Kurz vor Braunsberg geschah das gleiche wie vor einigen Tagen: An der Kreuzung der beiden Straßen stand ein Mann, diesmal in der Uniform eines Politischen Leiters, und regelte den Verkehr. Von Mehlsack wälzte sich eine Kolonne Privatwagen heran, drückte die Flüchtlingsfahrzeuge an den Straßenrand und brauste durch den aufstaubenden Schnee. Die gelben Uniformen hinter den beschlagenen Scheiben waren nicht zu übersehen. »Gelb wie Kinderscheiße!« hatte Opa Jochen sie genannt.

»Sieh nach!« sagte Paskuleit bloß. Felix Baum sauste los. Er bremste sein Motorrad vor dem Mann auf der Kreuzung und hob die Hand zum Gruß. »Ich bin Ortsgruppenleiter Baum aus Adamsverdruß!« rief er. »Heil Hitler, Kamerad!« Dann gab er dem Verdutzten eine gewaltige Ohrfeige, der Mann rollte in den Schnee, Busko ließ einen Wagen quer über die Kreuzung stellen, und die Adamsverdrusser hatten Vorfahrt.

»Er wird immer nützlicher, der Felix«, sagte Paskuleit anerkennend. »Leider ein paar Jahre zu spät …«

Sie kamen nach Braunsberg hinein und wurden aufgesaugt von Hunderten Wagen und Tausenden von wartenden Menschen. Opa Jochen, Paskuleit, Pfarrer Heydicke, Busko und Lusken sammelten Informationen. Ortsgruppenleiter Baum fragte sich durch, bis er einen Parteigenossen fand, der noch Dienst tat … im Rathaus von Braunsberg saßen noch eine Dienststelle der NSV und der Leiter des Wirtschaftsamtes mit zwei Mann und einigen Tausend Lebensmittelkarten, die jetzt wertloser waren als Klosettpapier. Alles war ratlos. Braunsberg schien die Endstation zu sein.

»Es stimmt«, sagte Pfarrer Heydicke nach drei Stunden, als alle wieder beim Treck waren. »Königsberg ist eingeschlossen. In Pillau sitzen die Russen bereits. Um Marienburg wird gekämpft. Panzerkeile der Russen stoßen nach Danzig und nach Pommern. Alles ist zu! Wohin jetzt?«

»Zum Haff!« sagte Paskuleit.

»Und dann?«

»Auf die Nehrung.«

»Wir können nicht übers Wasser wandeln wie Jesus.«

»Aber wir können über das Eis fahren. Das Haff ist vereist.«

»Das ist unmöglich …«, sagte Heydicke leise und starrte Paskuleit an. »Auf dem Eis sind wir wie auf dem Schießstand. Ein paar Bomben … und ganz Adamsverdruß ersäuft …«

»Bleiben wir hier, überrollt uns der Russe.«

»Wir sind am Ende, Julius.«

»Wir sind nie am Ende, Herr Pfarrer.« Er nahm seine halb gerauchte Zigarette aus dem Mund und hielt sie Heydicke hin. Der nahm sie und rauchte weiter. »Wir lassen uns nicht unterkriegen … das ist die beste Predigt, Herr Pfarrer.«

Sie blieben zwei Tage in Braunsberg, bis sich drei große Trecks gebildet hatten. Sie schlossen sich einer Kolonne an, die über Frauenberg nach Tolkemit ziehen wollte, um dort übers Haff zu kommen. Hier fror es immer besonders dick zu, und in strengen Wintern konnte man von Tolkemit hinüber zum Seebad Kahlberg auf der Nehrung mit dem Schlitten fahren.

Als sich Heydicke, Paskuleit und Opa Jochen bei dem Führer des Trecks meldeten, sahen sie verblüfft, daß es ein junger Oberleutnant war. Um seinen Hals hing das Ritterkreuz. Er hatte blonde Haare, ein jungenhaftes, offenes, fröhliches Gesicht, große blaue Augen und strömte trotz seiner Jugend Ruhe und vor allem Mut aus.

»Wieviel Wagen?« fragte er kurz.

»Neun …«, sagte Heydicke gepreßt. Adamsverdruß war zerrissen worden. Eine Gruppe um Johannes Lusken wollte in Braunsberg abwarten. Juliane Brakau hatte eine Lungenentzündung und glühte vor Fieber. Vierzehn Wagen mit meist alten Leuten blieben zurück. Sie gaben auf. Es war die schwärzeste Stunde, und Pfarrer Heydicke segnete die Alten, die bereit waren, auf der Erde ihrer Heimat zu sterben. Eine zweite Gruppe wollte zurück nach Schill gehen, sich dort auf die Reichsautobahn setzen und nach Elbing wandern. Von Elbing, so hieß es, fuhren noch Züge ins Reich. »Du mit deinem Meer!« schrie man Paskuleit an. »Das war ein Fehler, bei dem wir jetzt alle draufgehen! Elbing, das war die Richtung! Leck uns am Arsch!«

Adamsverdruß brach auseinander. Was Jahrhunderte zusammengefügt hatten, zerplatzte in Angst, Entsetzen, Kopflosigkeit und Verzweiflung. So blieben nur noch neun Wagen übrig: Die Familie Kurowski mit Paskuleit, Pfarrer Heydicke, Franz Busko, Felix Baum, drei unmittelbare Nachbarn Paskuleits und eine junge Frau mit einem Säugling, die erst seit acht Monaten in Adamsverdruß gewohnt hatte und die Frau des Gutsherren Rambsen war. Gottfried Rambsen war irgendwo an der Front als Leutnant. Seine junge Frau kannte man kaum … nun war sie der neunte Wagen. Ein leichter Jagdwagen mit nur einem Pferd davor. Ein Trakehnerhengst. Er hieß ›Goldener Sommer‹. »Er ist mein einziges Kapital –« sagte Julia Rambsen zu Paskuleit. »Mit ihm kann man überall von neuem anfangen …«

Am Abend ging Opa Jochen noch einmal zu dem jungen Oberleutnant mit dem Ritterkreuz. »Warum sind Sie nicht an der Front?« fragte er direkt.

Der junge Offizier lächelte schwach. »Hier kann ich vielleicht vierhundert Frauen und Kinder retten … da drüben« – er nickte ins Weite – »nichts mehr. Was ist mehr wert?«

»Ich bleibe an deiner Seite, Jungchen«, sagte Opa Jochen fest. »Das Ding da um den Hals kannste dir jetzt zum zweitenmal verdienen …«

In der Nacht brach der Treck zum Haff auf. Am Morgen, gegen sieben Uhr – es war noch dunkel – kamen die russischen Flugzeuge. Nur drei Stück, tuckernde, langsame, schwergepanzerte Stahlvögel. Aber sie flogen tief, so tief, daß man glaubte, sie fassen zu können, und sie schossen mit überschweren Maschinengewehren in den Treck und warfen kleine Bomben mit verheerenden Splitterwirkungen.

Der erste Tote war Oma Berta in ihrem Haufen aus Decken, Küchengerät und Stroh.