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Sie hörten es zum erstenmal, als sie aus der Kirche kamen. Der Pfarrer hatte den Segen gesprochen, die kleine Glocke in dem spitzen Turm läutete, sie standen in Gruppen auf dem Kirchplatz, die letzten Worte noch auf der Seele: »Gott schütze unser Vaterland und gebe uns bald Frieden –«, – da wehte es zu ihnen her, jenes ferne, fremdartige, merkwürdige, fast nur gehauchte Grollen, das der Wind mitgenommen hatte und nun über die Äcker und Wiesen, Birkenwälder und Seen trieb.

Sie hoben die Köpfe, blickten in den Herbsthimmel, ein unendlicher blauer Himmel mit dicken weißen Wolkenbergen, unterbrachen ihr Gespräch und lauschten.

»Artilleriefeuer«, sagte Paskuleit und steckte die Hände in die Taschen seines Sonntagsanzuges. »Ganz klar Artilleriefeuer.«

Die anderen schwiegen. Die Frauen nestelten an ihren Kopftüchern und sahen zur Kirche. Pfarrer Heydicke kam heraus, auch er hob den Kopf und blieb in der Tür stehen. Groß, breit, in seinem schwarzen Talar eine wuchtige Gestalt, urweltlich fast, wie aus dem ostpreußischen Boden in Jahrhunderten gewachsen.

»Irgend etwas stimmt da nicht!« sagte Paskuleit so laut, daß alle Köpfe zu ihm herumfuhren. »Im Wehrmachtsbericht steht nur, daß die Russen kleine örtliche Gewinne hatten. Das aber kommt von der Weichsel, verlaßt euch drauf!«

Es war ein Sonntag im Oktober. Das Dorf Adamsverdruß zwischen Ortelsburg und Johannisburg war fast vollständig vor der Kirche versammelt. Nur wenige fehlten … der Ortsgruppenleiter Felix Baum, der Ortsbauernführer Johannes Lusken und die gelähmte Rentnerin Juliane Brakau. Juliane brauchte viel Schlaf … sie kam erst gegen Mittag in die Kirche. Johannes Lusken, der Nachbar, rollte sie dann in ihrem Rollstuhl zum ›Privatgottesdienst‹ und bekam so automatisch auch seinen Segen mit. Er umging dadurch die von der Partei erwartete Ignorierung der Religion und redete sich damit heraus, daß er nur Juliane zuliebe in der Kirche blieb, ein Akt absoluter Menschenfreundlichkeit. Jeder in Adamsverdruß wußte, daß Lusken sogar hinter der Lehne des Rollstuhles die Hände faltete, wenn Pfarrer Heydicke das Vaterunser sprach, und so war es eigentlich nur der Ortsgruppenleiter Baum, der nicht in der Kirche saß, sondern vor dem Volksempfänger dem sonntäglichen Leitartikel des Propagandaministers Goebbels lauschte. Meistens verglich er dann heimlich die Worte aus Berlin mit dem, was Urlauber von der Front erzählten, was man in Groß Puppen, dem nächsten größeren Dorf, beim Einkauf hörte oder was der Viehhändler aus Ortelsburg an Neuigkeiten mitbrachte.

»Was ist das, Herr Pfarrer?« fragte Paskuleit über die Köpfe der Adamsverdrusser hinweg. Er stand breitbeinig auf dem Platz, mit einem runden Kopf und ausladenden Schultern, und wer ihn so sah, verstand, warum dieses Land Ostpreußen von Gott gesegnet war.

Julius Paskuleit war Schuhmachermeister. Eigentlich hatte er den elterlichen Hof in Kleinlindengrund übernehmen sollen, Kartoffeln und Pferdezucht, dazu zwanzig Stück Rindvieh und den Gemeindebullen. Aber gerade an diesem Bullen scheiterte sein vorgeschriebener Lebensweg. Er war achtzehn Jahre alt, als er den Bullen von der Weide holen sollte, und bis heute weiß noch keiner, welchen Geruch Paskuleit an sich hatte, jedenfalls senkte der Bulle den Kopf, stampfte den Boden auf und donnerte auf Paskuleit zu.

Es ist keine Feigheit, wenn man vor einem blödsinnig gewordenen Bullen davonläuft. Paskuleit drehte sich um, streckte sich wie ein Sprinter und versuchte, in langen Sprüngen den schützenden Zaun zu erreichen. Aber der Bulle war schneller, erreichte ihn, rammte ihm das Horn in den linken Oberschenkel, schleuderte Paskuleit mit einem Schädelzucken hoch in die Luft und war dann plötzlich sehr friedlich, als der kleine, blutende Mensch ohnmächtig durch den Zaun rollte.

Von Kleinlindengrund bis zum Krankenhaus nach Ortelsburg sind es nur 27 km, aber so schnell war damals kein Auto aufzutreiben. Dr. Krokau kam mit einem Wägelchen aus Friedrichshof, aber auch das dauerte fast eine Stunde, band das Bein ab, und als Paskuleit endlich in Ortelsburg auf dem Operationstisch lag, war es zu spät, man mußte das Bein amputieren, aber mit einem so schönen langen Stumpf, daß Paskuleit mühelos eine Prothese tragen konnte.

Den Hof übernahm der zweite Sohn. »Du wirst Schuster«, sagte der alte Paskuleit, ein Patriarch mit rauhem Bart, der nach einem beendeten Satz mit der Faust auf den Tisch schlug, um zu demonstrieren, daß es keine Widerrede gab. »Wer nur ein Bein hat, lernt das gute Gehen anderer Menschen schätzen.« So wurde Julius Paskuleit Schuhmacher, ließ sich in Groß Puppen mit einer Werkstatt nieder und zog 1940 nach Adamsverdruß, weil sein Schwager Ewald Kurowski in den Krieg mußte.

Auch Ewald Kurowski war Schuhmachermeister. Als er 1942 zum letztenmal in Urlaub war, sagte er: »Julius, Erna kriegt wieder ein Kind. Paß auf meine Familie auf, und wenn mir was passiert … bleib bei ihr. Verlaß sie nicht. Bis auf Großvater und Großmutter haben wir ja nur noch dich. Und dieser Krieg wird eine große Scheiße werden, das sag ich dir. Das ganze Heil-Rufen macht uns doch nur besoffen, und was der Baum da an Reden hält, quatscht er doch nur nach. Julius, kümmere dich um meine Familie …«

Und das tat Paskuleit. Als Ewald Kurowski Ende 1943 vermißt wurde, irgendwo in den Pripjet-Sümpfen, wurde er der Chef der Kurowskis. Seine Schwester Erna und die Kinder erkannten ihn an, auch Großmutter Berta war froh, daß Paskuleit mit seiner Schuhmacherwerkstatt die Familie ernährte, lediglich Großvater Joachim, genannt ›Brüll-Jochen‹, sah nicht ein, warum ein junger Kerl Familienoberhaupt wurde und nicht er, der Würdigste von allen. Für ihn, den 72jährigen, war Paskuleit mit seinen 39 Jahren gerade aus dem Ei gekrochen. Er zeigte seinen Widerstand an allem, kam zu spät zum Essen, war grundsätzlich anderer Meinung als Paskuleit und brüllte bei jeder Gelegenheit: »Mein Urahne war Müller bei den Ordensrittern. Ich lasse mir nichts befehlen!«

Auch jetzt schnupperte er in die Luft, hörte wohl das ferne Grollen, aber da Paskuleit schon seine Meinung abgegeben hatte, sagte er ebenso laut: »Das ist ein Gewitter!«

»Sie stehen an der Weichsel, es stimmt«, sagte Pfarrer Heydicke. Er ging durch die Leute von Adamsverdruß hinüber zu seinem kleinen Pfarrhaus, und sie folgten ihm dichtgedrängt. Nur Opa Jochen blieb stehen, drückte das Kinn an und brüllte: »Es ist ein Gewitter!«

»Wir sollten Baum fragen, was nun kommt«, sagte Paskuleit. »Als Ortsgruppenleiter muß er wissen, wie's weitergeht! Kommt der Russe über die Weichsel? Gibt's ein zweites Tannenberg? Er soll mal in Ortelsburg bei der Kreisleitung anrufen.«

»Sie werden kommen.« Pfarrer Heydicke blieb in der Tür seines Hauses stehen. Sein Blick wanderte über die Köpfe. Ein paar Männer, meistens alte, zu alt für den Krieg, ein paar Invaliden, wie Paskuleit, genau vierzehn jüngere Männer, für unabkömmlich erklärt, weil sie in verschiedenen Fabriken in Ortelsburg und Bischofsburg arbeiteten, oder wie der Schuhmachergeselle Franz Busko, der wegen einer alten Lungentuberkulose nicht eingezogen wurde, irgendwelche Leiden hatten, sonst aber nur Frauen und Kinder. Eine zusammengeballte Masse stummer Fragen und hintergründiger Angst. Was wird aus uns? Müssen wir Adamsverdruß verlassen? Kommt der Russe bis zu uns? Und wohin dann? Hinauf zur Küste, zur Nehrung? Oder westwärts, nach Pommern, nach Berlin, ins Brandenburgische Land hinein? Was wird aus Ostpreußen, Herr Pfarrer? Müssen wir aus der Heimat flüchten?

»Ich weiß es nicht«, sagte Heydicke in die breitflächigen Gesichter hinein. Diese Menschen brauchten nicht laut zu fragen, er verstand sie an ihren Blicken. »Ich weiß nicht einmal, ob Gott hier helfen kann. Im Krieg beten alle zu Gott … alle, die auf Befehl töten, hüben und drüben. Die Bomben werden gesegnet, die Granaten, die Gewehre, die Kanonen, die Menschen, die Verwundeten, die Sterbenden, die Toten. Gott soll jedem helfen, denn jeder glaubt, gerecht zu sein. Was soll Gott tun? Wißt ihr darauf eine Antwort?«

Die Kirchgänger zerstreuten sich langsam. Sie waren stolz auf ihren Pfarrer. Er war nicht einer von denen, die immer und zu jeder Gelegenheit sich hinter Jesus versteckten und ihm die Entscheidung zuschoben. Er sagte, was er dachte, und es war oft nicht heilig, aber ehrlich. Das war mehr wert als zehn Bibelsprüche, die gerade jetzt nicht mehr halfen, wo dieses ferne Grollen in der Luft hing.

»Ich geh zu Baum«, sagte Paskuleit, als die Familie Kurowski am Vorgarten ihres Hauses angelangt war. »Von der Weichsel bis zu uns ist ein Spaziergang. Wir sollten uns auf alles vorbereiten.«

»Ich geh mit«, sagte Großvater Jochen und stemmte seinen Spazierstock in den Boden.

»Warum?« Paskuleit zeigte in den Herbsthimmel mit den träge ziehenden Wolkenbergen. »Kümmere dich um dein Gewitter, Opa.«

»So ein junger Rotzer!« brüllte Joachim Kurowski. »Ich gehe hin, wohin ich will! Ich will mit Baum über Goebbels diskutieren! Was dagegen, Maanchen?!«

»Aber du hältst den Mund, wenn ich frage.«

»Ich rede, wie's mir paßt!« brüllte Opa Jochen. »Los! Ich will noch einen Bärenfang trinken!«

Er stampfte voraus. Erna Kurowski hielt ihren Bruder am Ärmel fest. Das jüngste Kind, die 2jährige Inge, trug sie auf dem Arm. »Sind das wirklich Kanonen?« fragte sie.

»Ja.«

»Und wir müssen weg von hier?«

»Willst du von den Russen überrollt werden?«

»Und das Haus? Die Werkstatt? Die Felder? Unser Wald?«

»Danach fragt ein Krieg nicht. Wenn die Russen über die Grenze kommen, werden wir froh sein, das nackte Leben retten zu können. In einer Stunde wissen wir mehr …«

Das war ein Irrtum.

Ortsgruppenleiter Felix Baum hatte den Goebbels-Artikel aus dem ›Reich‹, der Wochenzeitung, die das Sprachrohr der Regierung geworden war, im Radio gehört und dachte bei Marschmusik über die hoffnungsvollen Worte nach. Er war erstaunt, als erst Jochen Kurowski und gleich dahinter Julius Paskuleit bei ihm eintraten und ›Brüll-Jochen‹ ohne zu fragen das Radio ausstellte.

»Du verpaßt das Beste«, sagte er dann. »Steck den Kopf 'raus, Felix … da donnert's von der Weichsel her!«

»Ein Gewitter –« sagte Paskuleit genußvoll.

»Artillerie!« brüllte Opa Jochen.

»Blödsinn!« Baum winkte ab. »Ich habe gerade Goebbels gehört …«

»Und ich kenne den Ton von 14/18 her! War Goebbels vor Verdun, ha? War Goebbels am Toten Mann? War Goebbels auf der Höhe 304? Aber ich! Und ich kenne das Grollen! Das ist ein Trommelfeuer! Ortsgruppenleiter – kommen die Russen nach Adamsverdruß?!«

»Nie! Unser Führer wird die Roten Horden bis nach Asien hineinjagen … Ostpreußen ist ein Bollwerk, das wie ein Fels …«

»Leck mich doch am Arsch!« sagte Paskuleit und setzte sich. »Der Russe steht an der Weichsel, willst du das bestreiten?«

»Der Wehrmachtsbericht …« Felix Baum stellte den Volksempfänger wieder an. Die Marschmusik riß ihn hoch. Vom Militärdienst war er befreit wegen einer Leberverhärtung und geradezu bilderbuchhaften Hämorrhoiden, dafür hatte man ihn zum Ortsgruppenleiter von Adamsverdruß gemacht. »Jedes Dorf« – hatte der Kreisleiter in Ortelsburg gesagt – »muß eine verschworene Gemeinschaft im Glauben an den Führer sein! Nur dieser Glauben bringt uns den Endsieg und das Großdeutsche Reich! Sieg Heil!« Felix Baum hatte den Arm hochgerissen, sich in Ortelsburg seine Uniform als Politischer Leiter gekauft und war nach Adamsverdruß zurückgekommen wie ein Fürst, der in sein Land einzieht. Seitdem hatte er nur Unannehmlichkeiten gehabt, nur Krach mit seinen alten Freunden, nur Streit und Beschimpfungen, und als er Pfarrer Heydicke einmal ermahnte, seine Predigten seien zersetzend, wurde er in der Nacht von Sonntag auf Montag jämmerlich verprügelt, ohne daß man jemals herausbekam, wer die Attentäter waren. Baum ahnte es, sprach von da an vor allem mit Paskuleit sehr vorsichtig und umging alle Diskussionen.

»Und wenn sie an der Weichsel stehen … unsere tapferen Divisionen werden sie vor sich hertreiben …«

»Du weißt also gar nichts?« sagte Opa Jochen dröhnend.

»Nur, was Goebbels sagt. Das genügt doch, was?!«

»Ruf den Kreisleiter an!«

»Jetzt, am Sonntag? Ihr habt 'ne Meise …«

»Wenn bei mir 'ne Kuh eine Kolik hat, kommt der Viehdoktor! Ob am Sonntag, in der Nacht, zu Weihnachten oder Ostern … er kommt! Jetzt hat ganz Deutschland die Kolik … Kreuzdonnerwetter, da will ich hören, was die großen Viehdoktoren sagen!«

Felix Baum starrte Joachim Kurowski entgeistert an. »Soll ich das wörtlich dem Kreisleiter sagen?«

»Von mir aus.«

»Die verhaften dich sofort!«

»Dann bin wenigstens ich in Sicherheit, wenn die Russen kommen. Los, ruf in Ortelsburg an!«

»Die hängen dich wegen Wehrkraftzersetzung auf, Jochen!«

»Mich? Einen Kurowski? Der Kreisleiter? Der Ewald Tollak, der als Säugling in die Hose schiß, als ich bereits vor Verdun lag?« Opa Jochen griff nach dem Telefon, das neben dem Volksempfänger stand. »Soll ich telefonieren?«

»Bloß nicht!« Felix Baum stellte das Radio leiser, drehte eine Nummer und wartete. Dann knarrte eine Stimme, Baum nahm stramme Haltung an und sagte: »Herr Kreisleiter, hier ist Ortsgruppenleiter Baum aus Adamsverdruß. Ich rufe wegen einer komischen Sache an. Seit einer halben Stunde liegt ein dumpfes Grollen in der Luft. Nein! Ich habe keinen Durchfall und furze nach innen … es kommt aus Richtung Weichsel … Was? Ich soll keine Latrinenparolen verteilen? Jawoll, Herr Kreisleiter, ich habe eben auch den Reichspropagandaminister gehört, ein wunderbarer Artikel, jawoll … natürlich glaubt auch in Adamsverdruß jeder an den Endsieg, Adamsverdruß steht geschlossen hinter dem Führer … aber das ferne Grollen, Herr Kreisleiter, jawoll, ich war schon scheißen … der Wind trägt das Grollen mit sich … Ich verstehe, Herr Kreisleiter, hat nichts zu bedeuten, unsere Truppen haben die Sowjets zurückgeschlagen. Jawoll, das wird es sein! Heil Hitler!«

Felix Baum legte den Hörer auf und wischte sich den Schweiß ab. »Ihr habt's gehört«, sagte er schwach. »Mensch, war das ein Anschiß! Übermorgen ist er hier. Dann schicke ich ihn zu euch!«

»Nur immer ran.« Paskuleit ging zum Fenster und riß es auf. Das Grollen war deutlich zu hören, aber irgendwie nicht greifbar, so weit weg war es. Baum zog die Schultern hoch.

»Ich sitze doch nicht auf 'n Ohren!« sagte er. »Und nun? Sollen wir packen?« fragte Jochen Kurowski.

»Packen? Wieso denn? Wollt ihr Panik machen? Nur weil's ganz weit donnert?«

»Haste mal auf die Landkarte geguckt?« Paskuleit holte aus seinem Sonntagsrock einen Bleistift und begann, auf der Tischdecke die Umrisse von Ostpreußen zu malen. Ganz unten, an der Grenze zu Polen, wo sie einen langen schwachen Bogen bildete, machte er ein Kreuz. Adamsverdruß. Baum verzichtete darauf, gegen die Bemalung seiner weißen Tischdecke zu protestieren. Wenn Julius Paskuleit etwas demonstrieren wollte, mußte man das hinnehmen.

»Na und?« fragte er bloß. »Ich hatte in Heimatkunde ›gut‹ auf der Schule.«

»Hier ist die Weichsel. Hier steht der Russe! Zwischen ihm und uns ist Flachland. Und der Russe hat Panzer, die fahren so schnell wie ein Auto. Die verfluchten T34!«

»Und wir haben die Tiger-Panzer, die Leoparden …«

»Aber keinen Sprit, du Rindvieh!«

»Alles dumme Reden!« Felix Baum stellte die Marschmusik wieder lauter. Er brauchte seelische Stütze. »Das sind die neuen Dolchstöße in den Rücken! Noch nie waren unsere Armeen besser ausgerüstet wie jetzt!«

»Und die Rückzüge, du Schaf?« brüllte Opa Jochen.

»Strategische Frontverkürzungen. Je enger und kleiner die Hauptkampflinie, um so wuchtiger die Schläge! Wir lassen den Iwan kommen, immer kommen … und dann krachbum gibt es konzentriertes Feuer! Glaubt mir, der Führer weiß, was er will! Er ist ein Genie!«

»Das ist mir wurscht!« sagte Paskuleit. »Mir geht es allein um Erna und die Kinder. Ich evakuiere sie.«

»Das ist Verrat, Julius!« schrie Felix Baum. »Der deutsche Osten ist das sicherste Land! Wo soll denn Erna überhaupt hin?«

»Nach Krefeld. Dort hat sie eine Tante wohnen.«

»Hat man so etwas Idiotisches schon gehört?« rief Baum. »Nach Krefeld! Wo jeden Tag die Bomben fallen! Ins Ruhrgebiet, aus dem sie uns die Ausgebombten hierher schicken! Jochen, mach ihm einen Hirnwickel! Aber eiskalt! Die Gauleitungen im Westen bringen Frauen und Kinder bei uns in Sicherheit – weil der deutsche Osten ein starker Schild ist! – und dieser Hammel will Erna und Ewalds Kinder in den Westen bringen!«

»Es ist die Frage, was besser ist: Bomben oder Russen! Der Onkel in Krefeld ist irgendein hohes Tier in der Partei … er wird Erna gut unterbringen!«

»Nach Ostpreußen wird er sie schicken!« schrie Baum.

»Es hat keinen Sinn.« Paskuleit stand auf und winkte Jochen Kurowski zu. »Komm, Opa. Ich warte nicht, bis die russischen Panzer vor der Tür stehen! Ich fahre morgen nach Johannisburg ins Lazarett. Ich habe dort noch Stiefel abzuliefern und laß mir mal von den Neuen erzählen, wie's an der Front wirklich aussieht.« Er tippte Baum gegen die Brust und freute sich über die Unsicherheit in dessen Augen. »Dann kann ich dir mehr erzählen als dein Goebbels! Wehrmachtsbericht aus erster Hand. Schönen Sonntag, Felix.«

»Heil Hitler!« sagte Felix Baum trotzig.

Er blickte durchs Fenster Paskuleit und Kurowski nach. Das ferne Grollen hatte aufgehört, der Frieden des Sonntags lag über dem Land, eine helle Fröhlichkeit strahlte aus den Birkenwäldern und floß aus dem unendlichen Blau des weiten Himmels.

»Sie kommen nie, die Russen«, sagte Baum leise. »Sie dürfen nicht kommen. Unser schönes Land …«

Er sah, wie Ortsbauernführer Johannes Lusken die gelähmte Juliane Brakau zur Kirche rollte. Er trug seine Parteiuniform, aber die linke Rocktasche war ausgebeult, und hier verbarg er das Gesangbuch. Baum wußte das, und in diesem Augenblick beneidete er Lusken, daß dieser ein anderes Wort hören konnte als die von Adolf Hitler.

Er beschloß, am Abend heimlich zu Pfarrer Heydicke zu gehen, hintenherum, durch den Garten, und mit ihm zu sprechen.

Am 20. Oktober – es regnete wie aus Eimern, und Jochen Kurowski sagte: »Jetzt ersäuft Adamsverdruß. Die Russen müssen in der Badehose kommen!« – kam der Unteroffizier Hans Kampken zurück. Man hatte ihm bei Witebsk ein Auge ausgeschossen, das rechte, er trug eine schwarze Klappe über der leeren Höhlung und trug als Ersatz für sein Auge das Eiserne Kreuz I. Klasse an der Brust. Er kam von Groß Puppen mit einem Dogcart gefahren, das dem Apotheker gehörte, und machte in der Dorfschenke seine erste Station. Paskuleit und sein Geselle, der lungenkranke Franz Busko, saßen beim Skat, als Kampken triefend von Nässe eintrat und sich wie ein Hund schüttelte.

»Leute, ist das eine Scheiße!« rief er und winkte dem Wirt zu. »Einen Kümmel, Franz!« Er sah sich um, klopfte Paskuleit auf die Schulter und beachtete einen Mann nicht, der fremd hier war, in der Ecke saß und ein Bier trank. Er war mit einem Auto gekommen und hatte sich als Versicherungsvertreter vorgestellt.

»Wißt ihr schon, was los ist? Ich komme gerade aus Rastenburg, aus 'm Lazarett. Der größte Feldherr aller Zeiten soll kalte Füße kriegen. Das Führerhauptquartier soll nach Berlin verlegt werden. Wißt ihr, was das bedeutet? Ostpreußen ist bald im Eimer. Macht euch auf die Socken, Leute! Ich sage euch: Wenn der Iwan mit seinen T34 erst einmal losrollt, hält keiner mehr den Daumen dazwischen. Prost, Leute. Mein Auge liegt in Witebsk. Es meldet mir: Alles große Scheiße! In Kurland liegt eine ganze Panzerdivision ohne einen Liter Sprit, in den Weichselniederungen liegen die Jungs und müssen ihre Patronen und Handgranaten zählen. Und der Iwan holt heran, Tag und Nacht … Panzer, Kanonen, Stalinorgeln, Lastwagen, Divisionen, frische, unverbrauchte Truppen aus Sibirien … die reißen uns den Arsch bis zum Zäpfchen auf!«

An diesem Abend sprach Paskuleit noch einmal mit seiner Schwägerin. »Fahr nach Krefeld«, sagte er. »Es ist ja nur ein Abwarten, Erna. Ich bleibe ja hier. Aber wenn es brenzlig wird … denk daran, was Ewald zu mir gesagt hat: Sorge für Erna und die Kinder. Ihr fahrt am Samstag in den Westen.«

»Wir bleiben hier«, sagte Erna Kurowski. »Ewald ist hier geboren, ich bin hier geboren, die Kinder sind hier geboren, hier steht unser Haus, hier ist Ewalds Werkstatt, und hierher wird Ewald zurückkommen. Er lebt, das fühle ich, vermißt ist nicht tot, und wenn er plötzlich vor der Tür steht und niemand ist da, was soll ich ihm dann später sagen? Wir waren feig, wir sind einfach weggefahren, wir haben von ganz weit Kanonendonner gehört und sind geflüchtet?! Nein, Julius … wir bleiben hier!«

»Ihr werdet es bereuen«, sagte Paskuleit ernst. »Zwingen kann ich euch nicht. Aber wenn der Russe wirklich nach Ostpreußen kommt, wird's ein Wettrennen, und ob wir das dann gewinnen …?«

Am nächsten Tag holten zwei Mann des SD den Unteroffizier Hans Kampken aus dem Bett. Er hatte noch nicht einmal mehr Zeit, sich seine Klappe über die leere Augenhöhle zu schnallen. Sie führten ihn wie einen Mörder zu einem geschlossenen grauen Wagen und fuhren mit ihm ab. Auch der fremde Herr, der Versicherungsvertreter, verließ Adamsverdruß, nachdem er kurz mit Ortsgruppenleiter Felix Baum gesprochen hatte. Opa Jochen wanderte am Abend dann durch das Dorf und berichtete.

»Sie werden den Kampken zum Tode verurteilen«, brüllte er. »Und Baum hat eine Verwarnung bekommen! Hölle und Teufel, nur weil er die Wahrheit gesagt hat! In Kurland ist der Russe wirklich durchgebrochen! Leute, wir sollten anfangen, die Koffer zu packen! Kommt der Russe über die Weichsel, hält den keiner mehr auf! Das sage ich, Joachim Kurowski … und wenn sie mich jetzt neben Kampken aufhängen!«

Um Ostpreußen schloß sich die Zange der sowjetischen Divisionen. Tausende von Panzern warteten auf den Angriffsbefehl, Tausende Geschütze richteten sich auf die deutsche Grenze, ein Meer aus graubraunen Menschenleibern flutete heran. Neue Armeen aus den Tiefen Rußlands, junge frische Truppen … und ihnen gegenüber lagen die müden, ausgezehrten, zusammengeschrumpften deutschen Divisionen, deren einzige Stärke der Wille war, vor der Heimat einen Wall aus Leibern zu bauen. Und der Wind trug wieder das ferne Grollen heran, den Atem der Vernichtung …