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Weihnachten wurde ein trauriges Fest.
Nicht nur ganz Adamsverdruß, sondern ganz Ostpreußen saß auf gepackten Koffern, und fluchtbereite Wagen standen in den Scheunen und Garagen. Der Winter war über das Land gefallen mit einem Frost, der die Bäume ächzen ließ. Wenn der Wind um die Häuser pfiff und die Fensterscheiben zitterten, umfaßte Opa Joachim seine dicke Pfeife und sagte tröstend: »Das ist mal gut, Kinder. Bei so einem Wetter greift der Russe auch nicht an. Auch die Kerle aus Sibirien frieren.«

Er irrte sich. Julius Paskuleit, der in Groß Puppen beim Wirtschaftsamt Gummi und Leder für seine Schuhmacherwerkstatt abgeholt hatte, berichtete von Soldaten, die vom Narew und von der Weichsel kamen. Dort hatten sich, genau wie in Kurland, gewaltige Truppenmassen der Sowjets zusammengezogen und warteten auf den Angriffsbefehl.

»Man weiß sogar die Namen!« sagte Paskuleit. »Die Marschälle Rokossowskij und Tschernjakowski haben den Oberbefehl übernommen. Sie sollen die besten russischen Heerführer sein.«

»Alles Quatsch!« widersprach Opa Jochen. »Ich habe auch 'n ›i‹ am Schluß, bin ich deshalb ein großer General?«

Paskuleit hatte keine Lust, sich mit Kurowski zu streiten, und rannte durch den Schneesturm zu Felix Baum, dem Ortsgruppenleiter. Er war der einzige, der nicht gepackt hatte. Zu Weihnachten machte er eine Gratulationsrunde durch das Dorf, erhielt seinen Schnaps und sagte in jeder Familie vor dem Weihnachtsbaum das gleiche: »Keine Angst, Volksgenossen! Der Führer wird's machen! Das war doch schon immer so: hundert Russen gegen einen Deutschen! Die Front steht wie Kruppstahl! Ihr sollt sehen: Neunzehnhundertfünfundvierzig jagen wir die Roten bis zum Ural. Heil Hitler!«

Als er am Ende seiner Runde bei Pfarrer Heydicke ankam, konnte er kaum noch gehen und fiel mit glasigen Augen auf das alte Ledersofa.

»Ich möchte beichten«, sagte er mit schwerer Zunge. »Herr Pfarrer, auch wenn ich besoffen bin, – ich möchte beichten. Was sagt Gott dazu: Ich habe Weihnachten ein ganzes Dorf belogen! Und ich habe Angst! Keine Nacht schlafe ich mehr. Ich bin ein so erbärmliches Schwein, Herr Pfarrer.«

Er legte den Kopf auf die Tischplatte und heulte.

Pfarrer Heydicke ließ ihn weinen. Nach einer Stunde gab er Felix Baum Salatöl zu trinken, der Ortsgruppenleiter kotzte erbärmlich, aber dann war er so nüchtern, daß man mit ihm vernünftig reden konnte.

»Was ist nun?« fragte Pfarrer Heydicke. »Was wissen Sie, Baum?«

»Die Kreisleitung verlegt nach Allenstein. Provisorisch.«

»Sauber. Und das soll keiner wissen?!«

»Um Himmels willen, nein.« Baum trank ein halbes Glas Sprudel, rülpste, sagte verschämt: »Entschuldigung, Herr Pfarrer«, und starrte dann aus dem Fenster auf den Schneesturm. »Aber ich mußte es Ihnen sagen. Ich habe auch meinen Zivilanzug neben dem Bett liegen, griffbereit. Ich bin ein Feigling, nicht wahr?«

»Der Mensch ist schwach«, sagte Pfarrer Heydicke ausweichend. »Aber es ist gut, daß Sie den Weg zu mir gefunden haben. Wann wird der Russe angreifen?«

»Das weiß wirklich keiner.« Baum stand auf. Es war zwei Uhr morgens, und es bestand keine Gefahr, daß man ihn um diese Zeit und bei diesem Schneetreiben aus dem Pfarrhaus kommen sehen würde. »Ich habe Telefon, Herr Pfarrer. Rufen Sie bitte jeden Tag zweimal an … Wenn's soweit ist, können Sie ja die Glocken läuten. Ich warte nur auf den Befehl der Kreisleitung …«

Das neue Jahr begann mit klirrendem Frost, aber einem klaren Himmel. Die Familie Kurowski, die um Mitternacht mit Gläsern voll heißem Tee und einem Schuß Korn darin an den Fenstern stand, umarmte sich, küßte sich und sagte das »Ein gutes neues Jahr« wie ein Gebet.

»Es ist so still …« sagte Opa Joachim später zu Paskuleit. Die Kinder waren im Bett, Oma Berta war im Sessel eingeschlafen, Erna Kurowski strickte an einem dicken Schal für den vierjährigen Peter. »Das gefällt mir gar nicht.«

»Erst ist's dir zu laut, dann zu leise – du weißt auch nicht, was du willst«, sagte Paskuleit.

»Du warst nie im Krieg!« schrie Kurowski. Das neue Jahr sollte sehen, daß er noch immer mit seinen 72 Jahren der ›Brüll-Jochen‹ war. »Im Kriege ist es immer am gefährlichsten, wenn es still ist! Was sagt man draußen?«

»Nichts.« Paskuleit dachte an den verhafteten Hans Kampken. Man hatte ihn in Allenstein erschossen, wie erwartet. Wegen Wehrkraftzersetzung. Ein Sondergericht hatte ihn gar nicht erst angehört, das Urteil gefällt und innerhalb einer Stunde vollstrecken lassen. Ein Viehhändler aus Allenstein, der es von seinem Schwager wußte, der Schmied bei der Division war, berichtete nur guten Freunden, Kampken habe kurz vor dem Kommando »Feuer!« noch geschrien: »Euch wird die Wahrheit noch den Arsch aufreißen!« Dann trafen ihn vierzehn Kugeln, alle in die Brust. Man hatte gute Schützen in das Exekutionskommando genommen.

»Irgend etwas muß man doch sagen!« knurrte Kurowski eigensinnig.

»Die Kartoffelernte wird schlecht …«

Opa Jochen starrte Paskuleit an, überlegte, ob er am ersten Tag des neuen Jahres einen Krawall machen sollte, winkte dann großzügig ab und ging ins Bett. Oma Berta nahm er mit … er knuffte sie in die Seite, um sie aufzuwecken, sie quiekte, rappelte sich aus dem Lehnsessel und tappte ihrem Mann nach. Paskuleit und Erna waren allein.

»Morgen belade ich die beiden Wagen«, sagte er. »Den großen Leiterwagen und die Kutsche. Du hast doch alles gepackt?«

»Bis auf das Nötigste.« Erna Kurowski sah ihren Schwager mit weit aufgerissenen Augen an. »Du weißt mehr, als du sagst, Julius.«

»Ich werde auf keinen Fall warten, bis man uns amtlich zur Räumung auffordert.«

»Aber wir haben doch nur zwei Pferde … für den Leiterwagen.«

»Ich habe vor vier Tagen in Ortelsburg zwei Pferde gekauft … gegen zehn Häute Leder. Morgen hole ich sie ab. Und in Deutschwalde steht ein Traktor, den habe ich auch gekauft. Er hat dein Klavier gekostet …«

»Das Klavier?« Erna warf den Schal weg. »Julius, du kannst doch nicht einfach Ewalds Klavier gegen einen Traktor eintauschen!«

»Willst du's auf dem Buckel mitschleppen, bis Berlin vielleicht oder bis Kolberg?«

»Aber wenn Ewald …«

»Dein Mann hätte nichts anders getan! Mit 'nem Klavier kannste nicht über die Straßen rollen, aber mit 'nem Traktor! Ein Traktor kann unser Leben bedeuten … oder willst du hier sitzen und ›An Elise‹ spielen, wenn der Russe vor der Tür steht?! Mein Gott, ich könnte die Wand hoch gehen vor Freude, daß wir 'nen Traktor haben, und du meckerst 'rum!«

Paskuleit trat ans Fenster. Die Nacht zum 1. Januar 1945 war so schön, wie eine Neujahrsnacht sein soll. Ein weiter Himmel, ein Meer von Sternen. Und glitzernder Schnee über dem Land.

»Hast du schon einmal daran gedacht, daß wir Adamsverdruß nie wiedersehen werden?« fragte er leise.

»Daran denke ich nicht. Das ist unmöglich.«

»Wenn der Russe hierbleibt?«

»Noch ist er nicht da, Julius.«

»Oder der Pole, weiß man's?«

»Daß du so etwas denken kannst, Julius. Hier ist doch Deutschland.«

»Wie lange noch?«

»Seit ein paar hundert Jahren … und auch weitere Hunderte von Jahren.«

»Oder so lange, bis Rokossowskij und Tschernjakowski uns in die Zange nehmen und zerquetschen. Wer soll Ostpreußen zurückerobern? Unsere ausgelaugten Truppen? Unsere Divisionen, die ihre Munition zählen müssen? Unsere Panzer, die keinen Sprit mehr haben?«

»Du siehst zu schwarz«, sagte Erna Kurowski. »Hast du Goebbels nicht im Radio gehört? 1945 ist das Jahr des Sieges.«

»Das stimmt.« Paskuleit trat vom Fenster zurück. Der weiße, glitzernde Frieden da draußen rührte ihn zu Tränen. »Es fragt sich nur, wer hier siegt …«

Am 12. Januar, am Vormittag, an einem Tag, der vor Frost klirrte und jeder Laut in der Kälte mehrmals zerbrach, brüllte rund um Ostpreußen das Land auf. Ein feuerspeiender Ring schleuderte Tod und Vernichtung auf die deutschen Divisionen, die sich in den eisharten Boden duckten und auf das Anrollen der sowjetischen Armeen warteten. Schon am frühen Nachmittag erkannte man die ungeheure Konzentration und die Stoßrichtungen der roten Fronten. Nicht nur Ostpreußen sollte umklammert werden – Marschall Schukow marschierte in Richtung Berlin, die Armeen Konjews und Petrows rollten Schlesien auf. Bei Baranow in Westgalizien setzten die Sowjets über die Weichsel, und aus diesem Brückenkopf heraus rollten ihre Panzer und brachen die deutsche Mittelfront auf. Das weite Land westlich der Weichsel lag wie ein Tisch da, über den man jetzt eine Decke aus Blut ausbreitete.

Von allen Seiten strömten die Flüchtlinge nach Westen und Norden. In Eydtkau und Goldap, Treuburg und Lyck, Johannisburg und Neidenburg, Deutsch-Eylau und Marienwerder wurden Auffanglager eingerichtet, Tilsit wurde von Flüchtlingstrecks überflutet, aber sie blieben nicht lange, denn schon drei Tage später schoß schwere sowjetische Artillerie in die Stadt. Eine lange Schlange vermummter Menschen, mit Handkarren, Pferdewagen, Traktoren, Kutschen und Schlitten wälzte sich aus dem Protektorat bei Flammberg über die Grenze.

Ortsgruppenleiter Felix Baum rannte wieder durch Adamsverdruß und mahnte zur Ruhe. Die Kreisleitung in Allenstein schrie ihn an, wenn er mehrmals täglich telefonierte und um einen Lagebericht bat. »Sie haben an den Führer zu glauben, an nichts anderes!« brüllte jemand, der sich Lumenski nannte. Baum hatte den Namen nie gehört, aber wer in der Kreisleitung brüllt, hat immer Recht.

Am 16. Januar sah man in der klaren Frostnacht den Feuerschein der Front. Franz Busko, Paskuleits Schustergeselle, hockte oben neben der Glocke im Kirchturm und brüllte herunter, was er sehen konnte. Ein ewiges Donnern lag in der Luft. Wenn man das Radio anstellte, erklang fröhliche Operettenmusik, oder Fanfaren kündeten Sonderberichte an, die immer mit einem Sieg deutscher Truppen irgendwo in Ost und West endeten.

»Es wird Zeit«, sagte Pfarrer Heydicke zu den Adamsverdrussern, die vor der Kirche standen. Auch Ortsbauernführer Lusken mit der gelähmten Juliane Brakau im Rollstuhl war gekommen. In der Kirche, vor dem Altar, saß Felix Baum, hilflos, mit gefalteten Händen, in einer Parteileiter-Uniform, die ihm in den letzten Tagen zu groß geworden war.

Von der Kreisleitung war kein Befehl mehr gekommen. So oft er anrief, man nahm den Hörer nicht mehr ab. Schließlich ertönte nur noch das Besetztzeichen. »Sie haben uns vergessen …«, sagte er mit starren, ungläubigen Augen, als sich Paskuleit – eben ihn setzte. »Die Schweine haben uns vergessen! Bei Klein-Grieben stehen schon russische Panzer an der Grenze. Und die spielen noch immer Operetten und Goebbels hat gestern gesprochen …« Er weinte plötzlich, zog seinen Uniformrock aus, warf ihn vor den Altar auf die Stufen und lehnte sich wie ein Kind an Paskuleit.

»Ich glaube nicht, daß Gott deine Mistuniform als Stiftung annimmt«, sagte Paskuleit und schob Baum von sich. »Es ist immerhin gut, daß du Rindvieh jetzt wach wirst! Wo ist denn dein Führer?«

»In Berlin …«

»Und der Endsieg?«

»Wenn wir in Sicherheit sind, kannst du mich hundertmal in den Arsch treten, Julius.«

»Wenn wir überhaupt hier rauskommen. Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht? Wohin denn?«

»Keine Ahnung.«

»Aber ich. Wir ziehen zuerst nach Westen. Ortelsburg, Hohenstein, Osterode, Saalfeld, Marienburg. Nach Danzig! Und dann ab nach Pommern. Immer an der Küste lang … wenn uns vorher keiner mitnimmt. Es wird doch noch Züge in den Westen geben …«

»Und die ganzen Klamotten? Die Pferde, Wagen, Möbel, Betten, Herde, das Geschirr …«

»Es wäre zu schön, wenn wir's retten könnten. Wir nehmen's mit … aber glaubst du wirklich, wir kommen damit bis an die Elbe? Die russischen Panzer sind schneller als ein Zugochse. Und die Straßen sind vereist …«

Am Nachmittag sammelte sich Adamsverdruß zum Abmarsch. Vor der Kirche fuhren sie auf, Wagen neben Wagen, mit Pferden oder Ochsen bespannt, mit Traktoren oder auch nur Kühen, die störrisch im ungewohnten Joch trampelten. Paskuleit fuhr seinen gegen das Klavier eingetauschten Traktor und zog den Miststreuwagen. In ihm saß in einem Haufen Stroh und von Möbeln umgeben, als müsse man sie festklemmen, Oma Berta. Großvater Jochen hockte auf dem Fuhrsitz des Leiterwagens und lenkte die beiden Pferde, die Paskuleit in Ortelsburg gegen zehn Lederhäute gehandelt hatte. Im Wagen stapelte sich der Hausrat der Kurowskis und die halbe Schuhmacherwerkstatt, alle Werkzeuge und Geräte, der Herd, Töpfe, Federbetten, Decken und eine Eckbank, auf die Opa Jochen nicht verzichten wollte. Sie war 1871 zur Reichsgründung geschnitzt worden. Erna Kurowski saß auf dem Bock der Kutsche, hinter sich, dick in Decken vermummt, die Kinder. Franz Busko, der Geselle, war als Verbindungsmann eingeteilt … er sollte da helfen, wo es nötig war.

Es begann sanft und lautlos zu schneien, als Pfarrer Heydicke die Leute von Adamsverdruß segnete. »Gott mit euch!« sagte er, schlug das Kreuz, kletterte auf seinen Bauernwagen und fuhr an. Er übernahm die Spitze, ihm folgte Paskuleit, dann die Familie Kurowski. Der große Treck begann.