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Es war unendlich schwer, es war genau an der Grenze dessen, was man erdulden kann … aber die Kurowskis überstanden auch diesen Schicksalsschlag. Unbegreiflicherweise hatte sogar Erna die Kraft, aus dem Krankenhausbett heraus an der Beerdigung Peters teilzunehmen, obgleich der Arzt von hellem Wahnsinn sprach und Kurowski förmlich anflehte, auf seine Frau einzuwirken oder ihr rigoros das Aufstehen zu verbieten. »Das verstehen Sie nicht, Doktor«, sagte Kurowski und trug Ernas Koffer mit der Unterwäsche, den Schuhen und einem schwarzen Kostüm über den Flur zu ihrem Zimmer. »Man kann uns zu Boden schlagen, man kann uns die Rippen eintreten, ja, man kann uns totprügeln … besiegen lassen wir uns nie! Wenn meine Frau ihren Sohn begraben will, dann will sie das. Das könnte nur der liebe Gott verhindern, aber der tut's nicht!«

Das Begräbnis fand in aller Stille statt. Nur die Familie stand um das Grab, und dazu gehörten auch Heinrich Ellerkrug und Franz Busko. Und noch jemand war da, ungebeten, aber Kurowski jagte ihn nicht fort … ein junger Mann mit zotteligen Haaren, dicker Nickelbrille, einer Jacke im Indianerlook und ausgelatschten Schuhen. Er stand etwas abseits und setzte seine Trompete an die Lippen, als der Sarg in die Grube gelassen wurde.

Er blies einen traurigen Blues, den keiner am Grabe kannte, aber irgendwie gehörte er jetzt dazu, war ein letzter Gruß aus einer Welt, in die sich Peter heimlich geflüchtet hatte, in der er umgekommen war … und keiner hatte es gemerkt bis zu dem Augenblick, wo es zu spät war.

»Wer sind Sie?«, fragte Kurowski später, als die Erde auf den Sarg geworfen war. Busko und die Kinder hatten Erna zum Wagen zurückgeführt, Ellerkrug wartete noch am Grab. Der junge, zottelige, sichtlich ungewaschene Mann grinste und klemmte seine Trompete unter die linke Achsel.

»'ne Abordnung vom Club …«, sagte er.

»Er war oft bei euch?«

»Ja. Immer, wenn er die Schnauze voll hatte.«

»Und er hatte oft die Schnauze voll, was?«

»Nee, normal. Wöchentlich einmal.«

»Hat er über mich gesprochen?«

»Immer – – –«

»Und was hat Peter über mich gesagt?«

»Mein Alter ist ein prima Kerl, hat er gesagt. Das macht mich ja so fertig, daß ich niemals so werden kann wie er. Er erdrückt mich.«

Kurowski senkte den Kopf. Peter, dachte er. Mein Gott, Peter, warum hast du nie was gesagt? Wir hätten doch über alles sprechen können … Diese Probleme sind doch so einfach. Aber nee, immer mit'n Kopf durch die Wände, nach bester Kurowski-Art … bis zuletzt …

»Ich danke Ihnen –«, sagte er leise. »Brauchen Sie Geld?«

»Nee! Wofür?«

»Zum Beispiel für ein Paar neue Schuhe.«

»Die? Auf denen laufe ich noch hundert Jahre …« Der junge Mann tippte an die Stirn, was ein freundlicher Gruß war, und ging zur anderen Seite weg. Kurowski starrte ihm nach. Das war die Welt meines Sohnes, dachte er schmerzhaft. Ich habe ein Millionenvermögen erarbeitet, und er lebte wie ein Bettler. Warum bloß, warum? Weil mein Schatten für ihn zu schwer war? Gibt es so etwas?

Er ging noch einmal zum Grab zurück und blickte auf den Sarg hinunter, der halb mit Erde bedeckt war. Ellerkrug trat neben Kurowski und legte ihm den Arm um die Schulter.

»Du bist nicht der einzige, der erste oder der letzte, der ein Kind verliert –«, sagte er mit belegter Stimme. »In jeder Stunde sterben Tausende von Kindern. Und viele sinnloser als Peter. In ein paar Monaten ist Ludwig fertiger Arzt … und Inge macht im Frühjahr ihr Abitur und studiert Pädagogik. Und Erna ist da, Emil … nimm dir ein Beispiel an ihr. Diese Haltung – – –«

»Sie ist versteinert, Heinrich. Ich habe Angst um sie.« Kurowski wandte sich ab. Er hakte sich bei Ellerkrug unter, ein alter Mann, der Halt sucht und bei jedem Schritt erst den Boden vor sich abtastet. Und dabei war er erst 54 Jahre …

»Dann nimm sie und verreise mit ihr … in den Süden, Ewald, leg sie ans blaue Mittelmeer, laß sie unter Palmen träumen, fang endlich an, dein Leben zu genießen, friß deine Millionen auf – was du gar nicht mehr kannst – hol Erna heraus aus dem Panzer, der Kurowski heißt … verdammt, Ewald, was ein Mann im Leben schaffen kann, hast du getan, nun ruh dich etwas aus …«

»Noch ein Jahr, Heinrich.« Kurowski blieb stehen. Erna war schon in den großen Wagen gestiegen. Ludwig saß hinter dem Steuer, Inge, groß, schlank, goldblond, das vergrößerte Abbild ihrer Mutter, stand neben der offenen Fondtür und wartete auf den Vater. »Wenn Ludwig seinen Doktor hat und Inge auf der Universität ist, lasse ich es langsamer gehen.« Er hielt Ellerkrug am Ärmel fest. »Du, ich muß dir etwas sagen …«

»Heraus damit.«

»Ich habe wie ein Irrer geschuftet wegen Peter.« Kurowski schluckte, er war dem Weinen nahe. »Ich habe gewußt, daß er als einziger auf der Strecke bleibt, und für ihn wollte ich soviel zur Seite legen, daß er davon hätte leben können … ein unsichtbares Gnadenbrot.«

»Vielleicht hat er es doch gemerkt?«

»Möglich. Ich fühle mich schuldig, Heinrich.«

»Blödsinn! Laß bloß so etwas nicht in dir aufkommen! Schuldig! Man kann einen Menschen nur bis zu einer gewissen Grenze beherrschen, auch als Vater. Jeder Mensch ist eine eigene Persönlichkeit, und die wird eines Tages deutlich.«

»In einer Morphiumspritze –«, sagte Kurowski dumpf.

»Auch darin. Der Mensch wird immer das größte Rätsel bleiben, das Gott bei der Schöpfung hinterlassen hat – – –«

Sie kamen zum Wagen, und Inge umarmte weinend ihren Vater.

»Es ist gut, Ingelein«, sagte Kurowski und klopfte ihr den Rücken. »Es ist ja gut. Ist ja vorbei. Wein nicht. Wir müssen jetzt um so fester zusammenhalten, schon wegen Mutter.«

Er stieg ein, legte den Arm um Erna, drückte sie an sich und streichelte ihr kaltes Gesicht. In schneller Fahrt verließen sie den Friedhof.

Es blieb etwas in Kurowski zurück, auch wenn es keiner sah und er selbst es nicht wahrhaben wollte. Er konnte es nicht erklären, er hatte keinen Namen dafür, aber es lag in ihm wie ein eiserner Klotz, umklammerte sein Herz und raubte ihm den Schlaf.

Erna merkte es nicht, wie er oft erst gegen Morgen einschlief und die ganze Nacht herumlag, nicht grübelnd, sondern einfach so schrecklich nüchtern wach, ein Wachsein, das nichts ausfüllte. Er ging in sein Büro, er hielt seine Sitzungen ab, er entwarf Franz Busko die Parteireden, er vergrößerte die ›Westschuh‹ zum größten Schuhkonzern Europas … und dabei wurde er immer stiller, immer menschenscheuer, kroch in sich hinein wie eine Schildkröte unter ihren Panzer.

Kurowski zog um. Er kaufte sich eine Villa mit einem großen Park, einen richtigen Herrensitz, und er tat es nur, um darin herumzugehen und sich zu sagen: Aus dem kleinen Schuhmachermeister Kurowski aus Adamsverdruß ist der Besitzer eines Schlosses geworden, wie es früher bei uns nur die Adeligen und Großgrundbesitzer hatten. Aber wozu das alles, wozu? Was mir schmeckt, darf ich nicht mehr essen, wegen des Blutzuckers … den schönsten Wein muß ich stehenlassen, wegen der Leber … ich kann auf keinen Berg mehr klettern, wegen des Herzens, und ich kann nicht mehr im Schnee wandern, wegen des Rheumas … aber ich habe ein Schloß, ein Millionenbankkonto, ich habe viertausend Angestellte und Arbeiter, ich trage das Bundesverdienstkreuz I. Klasse (Franz Busko übrigens auch), ich bin im Ausschuß der deutschen Wirtschaft und sitze in zwölf Aufsichtsräten, ich werde mit jedem Tag reicher, ohne noch etwas dafür zu tun … und kann doch nichts anderes machen, als durch meinen Park laufen, die Zeitung lesen, vor dem Fenster sitzen, mit Erna Karten spielen, ab und zu die Praxis meines Sohnes Dr. Ludwig Kurowski besuchen oder zuhören, wie die Studienassessorin Inge Kurowski neue Lehrmethoden verteidigt, die ich für Unsinn halte.

Das Leben ist uninteressant geworden, es hat keine Spannungen mehr, es lebt sich so dahin …

An einem Maitag flogen Erna und Ewald Kurowski nach Meran zur Kur.

Sieben Tage später, bei einem Spaziergang über eine Almwiese, verzückt vom Anblick der im blauen Licht schimmernden Berge, fiel Kurowski plötzlich um. Er lag im Gras wie eine Puppe, der man die Glieder ausgerenkt hatte.

Zuerst auf dem Rücken eines Bergbauern, dann mit einem klapprigen Auto, schließlich, vom Bürgermeisteramt aus, mit einem Krankenwagen wurde Kurowski in das Krankenhaus von Meran gebracht. Erna blieb bei ihm, bis er unter dem Sauerstoffzelt lag, bis die Schläuche der Infusionen angeschlossen waren, bis man seinen Kreislauf mit massiven Spritzen unter Kontrolle hatte.

»Ein Apoplex, gnädige Frau«, sagte der Chefarzt, nachdem der erste Kampf um Kurowskis Leben gewonnen war. »Wir wollen alle hoffen, daß er es schafft … aber ich muß Ihnen sagen, daß Ihr Gatte für immer rechtsseitig gelähmt bleibt. Ob er wieder sprechen wird … das ist mit Sicherheit weder zu bejahen noch zu verneinen. Das kann eine reine Willenssache sein.«

»Er wird wollen«, sagte Erna mit einer Tapferkeit, die selbst den viel gewöhnten Chefarzt irritierte. »Ein Kurowski hat einen Willen, der Bäume bricht …«

Nach vier Wochen nahm man das Sauerstoffzelt weg. Kurowski blieb gelähmt, seine Zunge lag wie ein Stück Leder im Gaumen. Aber er konnte schreiben, mit der linken Hand, und er schrieb als erstes auf eine Schulschiefertafel, kritzelig, schräg, rauf und runter, aber doch noch lesbar:

»Erna, ich liebe dich …«

»In zwei Wochen bringen wir dich nach Hause«, sagte sie und küßte ihn auf die Stirn. »Sie haben einen Empfang vorbereitet, der fast schon ein Volksfest wird …«

Und dann war Kurowski wieder in Leverkusen … Franz Busko fuhr ihn in einem Rollstuhl durch den Park und über die Terrasse, die Betriebskapelle spielte zur Begrüßung Märsche, der Werkschor sang Heide- und Heimatlieder, eine Abordnung der Belegschaft überbrachte einen riesigen Blumenkorb, da ein sogenannter Frühstückskorb nicht mehr erlaubt war, und der Betriebsrat marschierte im Gänsemarsch an dem Rollstuhl vorbei und drückte Kurowski die linke, noch brauchbare Hand.

Er nickte nach allen Seiten, man sah, wie er sich freute, und am Abend schrieb er in den Notizblock, der jetzt immer auf seinem Schoß lag:

»Leute, ich war ein Rindvieh. Ich begreife erst jetzt, daß meine Familie größer ist als eine Frau und drei Kinder … Ich bin froh, daß ich lebe. Und wenn ich auch gelähmt bin und ein schiefes Gesicht habe: Ich bin wieder da! Und ich verspreche euch: Ich lasse mich nicht unterkriegen! Verdammt nochmal!«

Ja, – der Ewald Kurowski, Schuhmachermeister aus Adamsverdruß in Ostpreußen, Schuhmillionär und Ehrenpräsident so vieler Vereine, lebt noch immer. Er hat sich nicht unterkriegen lassen. Zwar ist er noch immer gelähmt, aber er kann schon ein paar Sätze sprechen. Mühsam, aber deutlich. Und das erste, das er sprach, so deutlich, daß der MdB in die Hände klatschte und vor Freude zu heulen begann, war: »Franz, du alter Idiot!« Jeden Tag rollt Erna ihn durch den Park seines Besitzes, wiegt seine Nahrung auf der Briefwaage ab und behandelt jeden Bissen, den er zu sich nimmt, wie einen Edelstein. Zweimal im Jahr fährt er in ein Bad, einmal zum Lago Maggiore, einmal nach Ischia … aber die meiste Zeit sitzt er in seinem Rollstuhl, wird herumgefahren, dämmert oft vor sich hin und erinnert sich, und trotz seiner Millionen ist sein Leben wieder so klein und eng wie damals in Adamsverdruß … er ist zufrieden, mit dem, was er hat und was man ihm gibt: Einen Rollstuhl, fünfmal am Tag ein Häppchen Essen, die frische Luft seines Gartens, der Besuch seiner Kinder und Erna … Erna, ohne die sein Leben sinnlos wäre. Der Mittelpunkt seiner Welt. Ein Geschenk, für das man Gott nie danken kann, weil es alle Dankbarkeit übersteigt. Ab und zu kommt auch noch Franz Busko zu Besuch, in einem Staatsmercedes mit Chauffeur, denn er ist jetzt Staatssekretär, ein eleganter Mann mit ergrauten Schläfen, ein Mann von Welt … nur wenn er mit Kurowski allein ist und ihn durch den Garten und über die Wiese rollt, sagt er noch immer:

»Det müssen Se mir jenau erklären, Meester …« Dann rauschen die Birken über ihnen – wie in Adamsverdruß –, und es ist, als ziehe der herbsüße Duft der Kiefern und des Salbeis über die Erde Ostpreußens, und von den Masurischen Seen her käme kreischend und schreiend der den Himmel verdunkelnde Schwarm der Wildgänse.