13

Es dauerte zwei Stunden, bis einem jungen Mann, der auf einem Motorrad die Straße herunterknatterte, der zwischen den Büschen parkende Wagen auffiel. Die Reifenabdrücke führten geradewegs und ohne Bremsspuren in das Hügelgelände, und was mindestens sechzig Autofahrer, die diese Stelle passiert hatten, nicht bemerkten, sah der junge Mann sofort: Hier hatte niemand einen Wagen abseits der Straße geparkt, sondern der Mercedes war ausgebrochen und erst durch einen Baumstamm zum Halten gebracht worden.

Der Motorradfahrer hielt an, stieg ab und rannte zu dem etwas schräg liegenden Wagen. Noch bevor er die Tür an der Fahrerseite aufriß, wußte er, daß der so friedlich hinter dem Steuer schlafende Mann nicht mehr lebte. Als ruhe er sich aus – und Ruhe hatte Paskuleit wirklich nötig gehabt –, saß Julius Paskuleit in seinem schönen, neuen Wagen, die Hände noch um das Lenkrad gekrallt, den Kopf zur Seite, die Augen geschlossen. Ein friedlicher Ausdruck lag über seinem Gesicht, eine völlige Entspannung … es war das erstemal, daß er wirklich ohne Pläne für morgen oder übermorgen ausruhte, und dazu war die ewige Ruhe nötig.

Der junge Mann schwang sich wieder auf sein Motorrad, raste zum nächsten Haus, rief die Polizei an und kehrte zu dem Auto im Buschgelände zurück. Dort wartete er, bis ein Streifenwagen, der Notarztwagen und kurz darauf ein Leichenwagen eintrafen und Paskuleit einkreisten. Wie damals in Ostpreußen, als ihn der Bulle anfiel und zuviel Zeit verging, bis er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, was ihm sein Bein kostete, so war auch diesesmal Paskuleit zu spät entdeckt worden. Die Männer des Leichenwagens hoben ihn vom Sitz, legten ihn in einen engen Zinksarg und schoben ihn in den schwarzen Transporter. Der Notarzt fertigte einen provisorischen Bericht aus, in dem stand: ›Todesursache unklar. Wahrscheinlich Herzversagen. Keine Anzeichen von äußerer Gewaltanwendung.‹ Aber der Zusatz ›unklar‹ genügte, Paskuleits Leiche zu beschlagnahmen und nach Kaiserslautern in die gerichtsmedizinische Abteilung zu bringen. Von dort rief man in Leverkusen an. Franz Busko war am Telefon, er bereitete seinen Auszug aus der Familie Kurowski vor, hatte eine schöne Wohnung bekommen in einem Neubau und kandidierte für den Posten des Landrates. Er hatte einen vorzüglichen Kontakt zu den englischen Besatzungsbehörden, trank mit den Kontrolloffizieren schottischen Whisky und Gin und galt – da er nie Soldat und Parteigenosse gewesen war – als einer der seltenen Deutschen, mit denen man einen neuen Staat aufbauen konnte. Er fand überall offene Türen, sagte seine von Paskuleit einstudierten liberalen und christlichen Parolen auf und wurde so etwas wie der ›neue Geist‹ nach der finsteren braunen Schreckensherrschaft.

Busko verstand erst gar nicht, was der Beamte der Staatsanwaltschaft in Kaiserslautern sagte. »Herr Paskuleit?« fragte er zurück und stierte wie leergeblasen gegen die tapezierte Wand. Streublümchen auf rosa Grund … Erna mochte dieses Muster besonders gern, es erinnerte an die Küche in Adamsverdruß. Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Was ist mit Herrn Paskuleit? Tot? Sie sind wohl verrückt?! Unser Meester ist tot? Det jibt et doch jarnich.« Er fiel wieder in seinen alten Tonfall … das Entsetzen ließ die in den letzten Monaten eingedrillte hochdeutsche Sprache vergessen. »Sie machen keene Witze, wa? Von der Staatsanwaltschaft sind Se? Kaiserslautern? Mann, ick bin der zukünftige Landrat und Parteisekretär der … Ja, ick vastehe! Tot im Auto! Unser Meester? Danke …«

Er legte auf, setzte sich auf den Stuhl vor das Telefon und brauchte eine Zeit, bis er fähig war, klar zu denken. Zum erstenmal spürte er das Gefühl völliger Verlassenheit und eines nicht mehr zu unterdrückenden Schmerzes. Als sein Vater starb, an einer Lungenentzündung, war er zehn Jahre und hatte geheult. Als die Mutter starb, an einer Lungenembolie, war er siebzehn Jahre und hatte es mannhaft ertragen. Aber das hier schlug ihn nieder. Für Busko war Paskuleit einfach alles gewesen, Vater, Mutter, Meister, die Heimat, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft, es war ihm undenkbar geworden, ein Leben ohne Paskuleit zu führen … und da fährt der Meister weg nach Pirmasens zu seinem Freund Ellerkrug und stirbt allein, von allen verlassen, neben der Landstraße. Für Franz Busko war die Welt auseinandergerissen. Sie konnte zwar wieder geflickt werden, aber die Risse blieben für immer sichtbar. Es war von da an nur eine gekittete Welt.

Erna Kurowski und die Kinder begriffen den Tod Paskuleits ebensowenig wie Busko. Sie fuhren alle schon eine Stunde später mit dem Zug nach Pirmasens, nachdem sie an die Ladentür ein Schild gehängt hatten: ›Vorübergehend geschlossen‹.

Hübner von der Konkurrenz entdeckte das Schild als erster und rief sofort Runzenmann an. »Alles Käse!« schrie Runzenmann vor Freude. »Sie sind pleite! Es mußte so kommen, ich hab es geahnt. Dieser Paskuleit mit seinem Ehrlichkeitstick! Ich wette … nächste Woche erfahren wir vom Verband, daß er einen rauschenden Konkurs gebaut hat. Er wird froh sein, wenn wir ihm seinen Laden abkaufen!«

»Daran habe ich auch gedacht und sofort angerufen!« Hübner lachte fett. »Geht keiner an den Apparat.«

»Sag ich's nicht? Faul bis in die letzte Wurzel. Abwarten, Hübner … in einer Woche ist Paskuleit so reif, daß er jedes Angebot akzeptiert.«

In Pirmasens holte Heinrich Ellerkrug die Familie Kurowski vom Bahnhof ab und fuhr sie sofort nach Kaiserslautern in das gerichtsmedizinische Institut. Franz Busko, lang, dürr, in seinem schwarzen Anzug noch trauriger aussehend als Don Quichotte, hatte einen Koffer bei sich, ein uraltes Ding mit verrosteten Schlössern. Als er Ellerkrugs fragenden Blick sah, sagte er:

»Da is die Lederschürze vom Meester drin. Wenn ick mal sterbe, hat er jesagt, bindste mir die um, Franz, verstanden? Ick will in meener Schürze bejraben werden. Ick war'n Schuster und als Schuster will ick vor meenen Herrgott treten.« Busko standen die Tränen in den Augen, er wischte sie mit dem Handrücken weg, aber das Zittern seiner Lippen konnte er nicht wegwischen. »Ich erfüll ihm den letzten Wunsch, det is doch klar …«

»Du mußt jetzt ganz tapfer und stark sein, Erna«, sagte Ellerkrug zu Erna Kurowski, als sie nach Kaiserslautern fuhren. »Jetzt hast du alles allein zu tragen … drei Kinder, die Werkstatt, das Geschäft und den Franz. Und der Ewald ist nun seit vier Jahren vermißt; wer in Gefangenschaft ist, hat längst geschrieben … Erna …«

Sie nickte und legte Ellerkrug die Hand auf den Arm. Eine kleine, aber harte, an Arbeit gewöhnte Hand. »Ich weiß, was du sagen willst, Heinrich«, sagte sie. »Es wird Zeit, daß wir uns das mit uns beiden überlegen.«

»Ich bin immer für dich da, Erna. Immer. Das weißt du. Jeden Tag … du brauchst nur Ja zu sagen. Denk vor allem an die drei Kinder.«

»Und wenn Ewald doch noch wiederkommt?«

»Nach menschlichem Ermessen, Erna, ist das ausgeschlossen.«

»Aber wie klein ist dieses menschliche Ermessen, Heinrich … Bleib weiter unser Freund.«

»Und das Geschäft?«

»Ich schaffe das schon.«

»Die Werkstatt.«

»Ich werde einen Gesellen einstellen.«

»Die Kinder wachsen heran. Ludwig macht in zwei Jahren das Einjährige. Er wird weiter auf dem Gymnasium bleiben, er ist ein begabter Junge. Er wird studieren wollen. Was aus Peter und Inge wird, kann man noch nicht überblicken. Erna … das alles allein zu machen, ist unmöglich! Auch er wollte alles allein machen … nun liegt er da. Ich weiß, es ist jetzt der ungünstigste und dümmste Augenblick … aber, Erna … ich hab dich lieb, das sollst du wissen.«

»Ich weiß es, Heinrich.« Sie drückte seinen Arm und nickte ihm zu. In ihren Augen stand Dankbarkeit, aber es waren die Augen eines ratlosen, ausgesetzten Tieres. »Laß es mich versuchen. Wenn ich es nicht schaffe … ich rufe dich. Bestimmt. Du kennst unseren Spruch …«

»Ja.« Ellerkrug starrte auf das unter ihm wegfliegende Band der Straße. »Paskuleits verdammtes ›Wir lassen uns nicht unterkriegen‹. Es hat ihn untergekriegt. Erna, überleg es dir.«

In Kaiserslautern, im Keller des Instituts für Gerichtsmedizin, durften Erna Kurowski, Franz Busko und Heinrich Ellerkrug zum letztenmal Julius Paskuleit sehen. Man hatte ihn bereits obduziert, aber das sah man von außen nicht. Er trug wieder seinen Anzug, und der verdeckte die breiten Sezierschnitte, die vom Halsansatz bis zum Schambein führten. Von Paskuleit lag nur noch seine Hülle da, innen war er leer wie ein durchlöcherter Eimer. Aber die Ärzte hatten sich dadurch ein Bild seines Sterbens gemacht, und die Staatsanwaltschaft hatte die Leiche bereits zur Beerdigung freigegeben. Die ›Todesursache unklar‹ war geklärt.

Stumm, sich an der Hand haltend standen Ellerkrug und Erna Kurowski vor dem bleichen Körper. Es war Paskuleit, und doch war es nicht Paskuleit … der Tod hatte ihn verändert. Zeit seines Lebens hatte er kein so glattes, entspanntes, geradezu seliges Gesicht gehabt, und wer immer behauptet hatte, Paskuleit sei kein schöner Mann gewesen, sondern so knorrig wie die im Sturm gebogenen Bäume von Masuren, der mußte jetzt Abbitte leisten vor dem Toten. Hier lag ein Mann, der das Leben bezwungen hatte und jetzt, in der ewigen Ruhe, das Recht hatte, majestätisch zu sein.

Franz Busko überstand diesen Anblick nicht. Er mußte sich am Sargrand festhalten, heulte laut, sagte immer wieder schluchzend: »Nee, Meester, nee … warum haste det jetan? Ick hatte de Schwindsucht, und du jehst weg! Meester, ick bejreife det nich …« Und dann packte er den alten Koffer aus Adamsverdruß aus, holte die dreckige, fleckige, geflickte, lederne Schusterschürze heraus, band sie Julius Paskuleit um und war dann nicht mehr fähig, aufrecht zu stehen. Er fiel auf einen Schemel, schlug die Hände vors Gesicht und weinte wie ein Kind.

Erna Kurowski sah den Beamten, der sie in den Keller geführt hatte, bittend an. »Die Kinder …«, sagte sie stockend. »Sie haben so an ihrem Onkel gehangen. Dürfen sie ihn nicht noch einmal sehen?«

»Ich würde es nicht tun.« Der Beamte blickte unschlüssig zu Ellerkrug.

»Sie haben auf dem Treck die Leichen rechts und links an der Straße liegen sehen«, sagte Ellerkrug. »Sie haben miterlebt, wie ihre Oma im Schnee verscharrt wurde. Sie haben gesehen, wie man Säuglinge, steif gefroren wie Bretter, aus den Wagen warf. Das ist eine Generation, die vor keinem Toten zittert oder umfällt.«

»Wenn Sie wollen …« Der Beamte hob die Schultern. »Ich kann Sie nicht daran hindern.«

Erna Kurowski holte die Kinder, die in einem kahlen Vorraum warteten, herein. Hintereinander gingen sie an dem Sarg vorbei und sahen Onkel Paskuleit an. Zuerst Ludwig, der Älteste, er war seinem Vater Ewald am ähnlichsten. Er blieb vor dem Toten stehen, legte seine Hand auf die gefalteten Hände von Onkel Julius und sagte laut: »Ich passe auf Mama auf, Onkel. Das verspreche ich dir.« Dann ging er hinüber zu dem heulenden Busko, legte ihm den Arm um die zuckende Schulter und blieb dort stehen.

Peter und die kleine Inge sahen den Toten mit weiten Augen an. Daß Onkel Julius tot war, begriffen sie, sie hatten den Tod in nächster Nähe miterlebt, hundertfachen Tod, aber es ist etwas anderes, jemand Unbekanntes sterben zu sehen, als plötzlich vor dem bleichen Körper zu stehen, der für sie eigentlich unsterblich gewesen war.

»Wir werden immer bei Mama bleiben«, sagte auch Peter. Sein Kindergesicht bekam plötzlich etwas erstaunlich Erwachsenes. »Hab keine Angst, Onkel Julius.« Und die kleine Inge sagte: »Auf Wiedersehen, Onkel Julius. Wenn du Oma und Opa siehst, grüß sie schön …«

Es war der Moment, wo auch der starke Heinrich Ellerkrug zu weinen begann und Erna Kurowski sich schutzsuchend an ihn lehnte.

Alles kann überwunden werden, auch der Tod eines Julius Paskuleit.

Tröstend war, daß er nicht gelitten hatte. Der Arzt hatte es Erna erklärt: »Um es verständlich auszudrücken« – sagte er – »sein Tod war völlig schmerzfrei. Eine wichtige Ader zu seinem Herzen platzte, und wie man ein Licht ausdreht, so kam der Tod. Es war ein Sekundentod. Er hat nichts gespürt, außer vielleicht ein leichtes Unwohlsein und einen Stich. Die Obduktion hat ein ganz klares Bild ergeben.«

Nach dem Begräbnis in Leverkusen, bei dem auch die Konkurrenten Hübner und Runzenmann erschienen und sogar einen Kranz opferten, machte Erna Kurowski ihren Schuhladen wieder auf, und Franz Busko gelang es durch seine Partei, zwei Schuhmachergesellen zum Eintritt in die Werkstatt zu bewegen.

Das Geschäft lief weiter. Runzenmann, der nach einer Schonfrist von 14 Tagen aufkreuzte und Erna ein Angebot zum Kauf machte, mußte sich sagen lassen, daß die Fa. ›Westschuh‹ jetzt zu 45 % einer Schuhfabrik in Pirmasens gehöre und statt einzugehen sogar expandieren wolle.

Runzenmann brauchte gar nicht nach dem Namen der Fabrik zu fragen … verstört lief er zu seinem Kollegen Hübner und sagte: »Wir sollten uns in Freundschaft mit den Kurowskis arrangieren … Kampf hat keinen Sinn mehr. Hinter denen stehen Kapital und Partei. Aus, mein Lieber.«

Jede Woche einmal war jetzt Ellerkrug in Leverkusen und sah nach, ob Erna sich nicht überarbeitete. Franz Busko war ausgezogen, bewohnte seine Neubauetage, hielt Wahlreden – die ihm jetzt Ellerkrug schrieb –, besprach das fernere Schicksal Deutschlands mit Kurt Schumacher und Konrad Adenauer, Dr. Maier und Theodor Heuss, war viel auf Reisen und pflegte seine Verbindungen zu den Briten. Er lernte sogar in Abendkursen Englisch, und als er nach zwanzig Stunden ein paar vollständige Sätze sprechen konnte, ging er zum Friedhof, stellte sich an Paskuleits Grab und sagte: »Jetzt paß mal uff, Meester, det hättste nie jeglaubt: I have a coat … Na, da biste platt!«

So ging ein ganzes Jahr vorbei. Erna Kurowski wurde immer unsicherer … über das Rote Kreuz erfuhr sie, daß Ewald Kurowski als tot anzusehen sei, man mache ihr den Vorschlag, schon wegen des Geschäfts, Kurowski für tot erklären zu lassen. Ellerkrug las den Brief und sagte nichts dazu, aber Erna verstand ihn auch so. Sie begann, realistisch zu denken, und sie sprach darüber mit ihrem Mann, der immer bei ihr war … als großes, gerahmtes Bild neben dem Bett auf dem Nachttisch. Der Unteroffizier Kurowski, die letzte Aufnahme im letzten Urlaub … ein fröhlicher, kräftiger Mann mit wasserblauen, verliebten Augen. »Ich werde Heinrich heiraten, Ewald –« sagte sie im November 1949. Über dem Geschäft waren zwei Etagen des zerbombten Hauses aufgebaut worden, die erste Etage bewohnten nun die Kurowskis, in der zweiten lebte ein Studienrat von Ludwigs Gymnasium, was sich als sehr fördernd auf die Zensuren auswirkte. Einen Teil des Geldes zum Ausbau hatte Ellerkrug gegeben … zinsloses Darlehen. Das Leben schritt weiter, und es wurde schöner und liebenswerter, erfolgreich und anspruchsvoller.

Busko war Landrat geworden … wenn es jemals wieder eine selbständige deutsche Regierung geben würde, war ihm ein Platz im Parlament oder in einem Ministerium sicher, das hatte die Partei ihm versprochen. Als ›Mann der ersten Stunde‹ hatte er schon so etwas wie einen Mythos … aber die Reden schrieb ihm immer noch Heinrich Ellerkrug.

»Die Kinder brauchen einen Vater, Ewald –«, sagte Erna zu dem Bild. »Ludwig wird flegelig, Peter hat Schwierigkeiten in Latein und Mathematik, und Inge wird einmal ein hübsches Mädchen, auf das man verdammt aufpassen muß. Und dazu der Laden, die Werkstatt, nächstes Jahr will Heinrich zwei Filialen gründen … es wird zuviel, Ewald. Laß mich Heinrich heiraten … er hat wirklich geduldig gewartet.«

Es war der 15. November 1949, ein grauer, nebeliger, feuchter Herbsttag, als sich Erna ein neues Kleid anzog, das Ellerkrug ihr geschenkt hatte und das er ›Cocktail-Kleid‹ nannte. Es hatte Goldfäden, war ziemlich tief ausgeschnitten, ließ die Ansätze von Ernas schönen, runden Brüsten sehen und verwandelte sie in eine selbst ihr fremde Schönheit. Ellerkrug wollte sie um halb acht Uhr abholen, mit ihr nach Köln ins Theater fahren – das Schauspielhaus spielte jetzt notdürftig auf der Bühne der Universitätsaula – und dann in einem guten Lokal am Rhein mit ihr feudal essen gehen. Sie freute sich auf diesen Abend, und sie wußte, daß an diesem 15. November zwischen ihr und Ellerkrug die Entscheidung fiel. Sie war bereit, Ja zu sagen.

Kurz nach 19 Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Erna band einen Schal um die neue Frisur, zog das Cocktailkleid gerade und öffnete. »Du bist pünktlich, Heinrich!« wollte sie sagen, aber jeder Laut blieb ihr in der Kehle stecken.

Draußen im Hausflur stand ein fremder Mann. Nach vorn gebückt, elend, auf einen Stock gestützt, ein alter Wehrmachtsmantel umschlodderte ihn, dicke, schmutzige Stiefel, von denen der Regen tropfte, schienen den ganzen Körper zu tragen. Auf dem kahlgeschorenen Kopf saß verloren, fast lächerlich eine Schirmmütze, viel zu klein, durchnäßt, das Wasser lief aus ihr über das bleiche Gesicht und durch die Stoppeln eines graumelierten Bartes.

»Guten Abend …«, sagte der Mann. Er nahm seine Mütze ab wie ein Bettler. Auch die Stoppeln auf seinem Schädel waren grau. »Da bin ich wieder, Erna …«

»Ewald …«, stammelte Erna Kurowski. Und dann lauter, wie ein Aufschrei: »Ewald!!« Sie breitete die Arme aus, fiel nach vorn und stürzte in den nassen, weiten, alten, dreckigen Soldatenmantel.

Aus ihren Zimmern rannten die Kinder, als erster Ludwig, eine Eisenstange in der Hand. Sprachlos, verwirrt starrten sie auf den fremden Mann, den ihre Mutter umarmte und dessen vom Wetter zernarbtes Gesicht sie küßte.