25

Da saß ich nun, während sich eine unglaublich schmerzhafte, wahrscheinlich bleibende Beule auf meinem Knie bildete, und versuchte mir darüber klarzuwerden, was ich jetzt machen sollte. Ich wollte den Ort des Geschehens nicht jetzt, da ich den Feind im Visier hatte, verlassen. Meilenweit gab es kein öffentliches Telefon, und wen hätte ich auch schon anrufen sollen? Ich dachte daran, aus dem Wagen zu steigen und zum Haus hochzukriechen, aber ich habe mit dieser Art Unternehmungen noch nie gute Resultate erzielt. Niemals stehen die Fenster dort offen, wo man sie offen haben will. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen es mir gelang zu lauschen, war das Thema jedesmal völlig unwichtig gewesen. Die Leute sitzen eben nicht einfach herum und sprechen über die entscheidenden Details ihrer kürzlich begangenen Verbrechen. Späht man über das Fensterbrett, hat man gute Chancen, den Tätern beim Mensch-ärgere-dich-nicht zuzusehen. Ich habe noch nie Leute gesehen, die gerade dabei waren, die Leiche zu zerstückeln oder die Beute aus dem Bankraub aufzuteilen. Ich entschied, im Wagen sitzenzubleiben und zu warten.

Nichts ist mehr verdächtig als jemand, der in einer Wohngegend allein in einem abgestellten Auto sitzt. Mit ein bißchen Glück würde mich ein besorgter Hausbesitzer entdecken und die Polizei rufen, und dann könnte ich eine nette Unterhaltung mit ’nem Typen in Uniform führen. Ich überlegte mir eine gekürzte Version des Mordkomplotts, die ich zu gegebener Zeit kurz und bündig erzählen konnte. Das Haus war ruhig. Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten gingen vorüber, und die zunehmende Dunkelheit verwandelte die Sicht allmählich zu Brei. In allen Häusern die Straße hinauf und hinunter gingen die Lichter an, auch bei Lily Howe. Jemand parfümierte die Gegend mit Barbecueduft. Ich war hungrig, und ich mußte pinkeln, konnte mich aber nicht entscheiden, ob ich es riskieren sollte, mich hinter jemandes Busch zu hocken. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich unter Penisneid leide, aber in Momenten wie diesem sehne ich mich nach den anatomischen Vorteilen.

Um 21.23 Uhr öffnete sich Lilys Eingangstür, und Leonard und Marty kamen heraus. Ich lehnte mich vor und schielte hinaus. Es gab keine Verabschiedung. Die beiden stiegen ins Auto, knallten die Türen zu und fuhren rückwärts aus der Einfahrt. Ich wartete, bis ihr Wagen verschwunden war und ging dann aufs Haus zu. Das Verandalicht war ausgeschaltet worden. Ich klopfte. Einen Moment lang war es still, dann hörte ich, wie die Kette eingehakt wurde. Lily hatte ihre Anleitungen zur Verhütung von Vergewaltigungen gelesen. Gut für sie.

»Wer ist da?« kam die gedämpfte Stimme von drinnen.

Ich senkte meine Stimme zu einem Flüstern. »Ich bin’s. Ich habe meine Handtasche vergessen.«

Die Einbrecherkette wurde zurückgezogen, und Lily öffnete die Tür einen Spalt breit. Ich drückte so schnell dagegen, daß ihr die Tür fast die Nase gebrochen hätte. Es gab einen Schlag, und sie schrie auf, aber bis dahin hatte ich die Tür schon hinter mir geschlossen.

»Wir müssen miteinander reden«, sagte ich.

Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht, und ihr waren Tränen in die Augen gestiegen, aber nicht aufgrund eines Schadens, den ich ihr zugefügt hatte, sondern weil sie sehr aufgewühlt war. »Sie hat gesagt, daß sie mich umbringt, wenn ich etwas sage.«

»Sie wird Sie auf jeden Fall umbringen, Sie Dummkopf. Was glauben Sie denn — daß sie fortgehen und Sie hierlassen, damit Sie sich verplappern? Hat sie Ihnen erzählt, was sie mit Wim Hoover gemacht hat? Sie hat ihm eine Kugel genau hinters Ohr gesetzt. Sie sind Hundefutter. Sie haben keine Chance.«

Lily erblaßte. Ein Schluchzer brach an die Oberfläche wie eine Luftblase vom Grunde eines Sees, aber dann schien sie sich zusammenzureißen. Sie schloß die Augen und schüttelte den Kopf wie ein Gefangener im Angesicht der Folterbank. Es war ihr gleich, was ich ihr antat, sie würde jedenfalls nicht reden.

»Verdammt noch mal! Sagen Sie mir, was hier gespielt wird!«

Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, und ich bekam einen plötzlichen Eindruck davon, wie sie als Kind gewesen sein mußte. Leonards Schwester wußte, wie man mit einem Großmaul wie mir umzugehen hatte. Sie wurde störrisch und teilnahmslos, eine defensive Haltung, die sie offensichtlich im Laufe der Jahre als eine Abwehrmöglichkeit perfektioniert hatte. Sie ging einfach auf Distanz, zog sich in sich selbst zurück wie eine Molluske. Sie muß als Kind regelmäßig bedroht worden sein, mit allem; angefangen von Tetanusspritzen, wenn sie sich nicht nach jedem Pinkeln die Hände wusch, bis hin zum Polizeigewahrsam, wenn sie nicht nach beiden Seiten sah, bevor sie die Straße überquerte. Anstatt die Regeln zu lernen, hatte sie gelernt, sich zu entziehen.

Zu meiner Überraschung ging sie auf einen der türkisfarbenen Sessel zu und setzte sich ohne ein weiteres Wort hin. Sie nahm die Fernbedienung, schaltete den Fernsehapparat an und ging sechs Kanäle durch, bis sie die Slapstickserie gefunden hatte, die sie sehen wollte. Sie war dabei, mich abzuschalten. Ich ging zu dem Sessel hinüber, hockte mich neben sie und redete ernsthaft auf sie ein, während sie ihr Gesicht dem Bildschirm zugewandt hielt. Sie beobachtete gespannt, wie eine dralle Platinblondine in einem Kettenhemd sich anschickte, einen Geburtstagskuchen zuzubereiten.

»Mrs. Howe, ich bin mir nicht sicher, ob Sie verstanden haben, was hier vor sich geht. Ihre Schwägerin hat zwei Menschen umgebracht, und niemand außer uns scheint sich dessen bewußt zu sein.«

In einer großen Wolke staubte das Mehl hoch und ließ das Speckgesicht der Blondine verschwinden. Beschränkt wie sie war, hatte sie offensichtlich Backpulver und Hefe benutzt und das trockene Mehl so zur Explosion gebracht. Die Spur für Gelächter wurde auf »übermütig« gedreht. Oh, was für ein Weib! Was war sie doch für ein kleines Dummchen! Lily lächelte leicht. Vielleicht fühlte sie sich an eigene Backkatastrophen erinnert.

Ich berührte ihren Arm. »Wir haben nicht mehr viel Zeit, Lil, und wissen Sie auch, warum nicht? Ich glaube, Marty Grice wird kehrtmachen und uns ebenfalls ermorden. Sie muß.«

Keine Reaktion. Vielleicht war das, was ich sagte, für sie genauso wenig Realität wie für diese Idiotin mit dem Geburtstagskuchen. Die war jetzt dabei, Eier aufzuschlagen, und ihr Gesicht wurde mit Eigelb bespritzt. Hier wurden einfache Gesetzmäßigkeiten der Natur verletzt, um sie zur Zielscheibe des Spottes zu machen. Nun kommt der Ehemann herein. Angesichts des Chaos, das sie angerichtet hat, fällt ihm die Kinnlade herunter. Neue Lachkrämpfe brachen aus. Ich fragte mich, ob ich jemals im Leben dermaßen über etwas gelacht hatte.

Ich fragte: »Wo sind sie gerade hingefahren? Verlassen sie die Stadt?«

Lily lachte laut. Die Blondine hatte die Backschüssel auf dem Kopf ihres Mannes entleert. Sie zeigte es ihm. Ein paar Takte der blöden Titelmelodie der Show wurden gespielt, und der Sender schwenkte auf Werbung um. Ich langte hinüber und stellte den Ton ab. Lautlos rutschte ein Hund auf der Jagd nach einer Dose gehackter Leber über das Linoleum.

»Heh«, drängte ich, »Leonard ist in Schwierigkeiten. Werden Sie ihm helfen oder nicht?«

Sie schaute zu mir hinüber, und ich sah, wie ihre Lippen sich bewegten. Ich beugte mich näher zu ihr.

»Entschuldigung. Wie bitte?«

Die Anstrengung stand ihr im Gesicht geschrieben, und ihre Augen schienen fahrig. Sie beobachtete mich mit der ganzen Konzentration einer Betrunkenen, abhängig und unkontrolliert. »Leonard hat nie jemandem etwas zuleide getan«, meinte sie. »Er hatte keine Ahnung, was sie da tat, bis es zu spät war.«

Ich dachte an Mikes Bericht über die leidenschaftliche Liebe Leonards zu seiner Frau. Ich betrachtete ihn zwar nicht als unschuldiges Opfer dieser ganzen Geschichte, aber ich hielt meine große Klappe. »Solange er etwas weiß, ist er in Gefahr. Wenn Sie mir sagen würden, wohin sie unterwegs sind, könnte ich ihn da rausholen.«

Sie flüsterte: »Bloß nach Los Angeles, bis der neue Reisepaß für Marty ankommt, und dann fliegen sie nach Südamerika.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Vielleicht sehe ich ihn niemals wieder«, sagte sie. »Und wir haben uns immer so nahegestanden. Ich kann ihn nicht hintergehen. Ich kann ihn nicht verraten, verstehen Sie das nicht?«

»Sie versuchen, das Beste für ihn zu tun, Lily. Er wird das verstehen.«

»Es war grauenvoll. Es war ein Alptraum. Als Sie auftauchten, dachte ich, er würde sterben vor Angst. Er hatte beinahe einen Herzanfall, und da kam sie dann zurück. Sie glaubt, Sie hätten Elaines Reisepaß mitgenommen, und sie tobt wegen der Verzögerung. Er fürchtet sie. Er hatte immer schon Angst vor ihren Wutanfällen...«

»Natürlich. Ich fürchte mich selbst vor ihr. Sie ist verrückt. Haben sie die Koffer bei sich im Wagen?«

Jetzt brach sie zusammen und gab klein bei. Die Vorstellung, daß Leonard sie verlassen hatte, schmerzte zu sehr, und das Bild der gepackten Koffer brach ihr das Herz. Es war zu viel. Was spielte schon noch eine Rolle, jetzt, wo er sie verließ?

»Sie sind weggefahren, um zu packen«, erwiderte sie. Ihre Stimme kam keuchend, und ihre Nase hatte zu laufen angefangen. »Deshalb sind sie weg. Ins Motel oben am Paß und dann ins Haus. Sie stritten sich darum, aber sie wollte sie nicht zurücklassen, weil sie ein Beweis wäre.«

»Was zurücklassen?«

»Die... äh... wissen Sie...«

»Die Mordwaffe?«

Lily nickte und nickte. Ich dachte, sie könnte nicht mehr aufhören. Es war, als ob sich Bänder im Nacken gelöst hätten und ihr Kopf nun dazu bestimmt wäre, unaufhörlich zu wak-keln. Sie sah aus wie einer dieser Hunde mit dem lockeren Kopf, die sich manche Leute in das Rückfenster ihres Wagens setzen. »Lily, hören Sie mal zu. Ich möchte, daß Sie die Polizei rufen. Gehen Sie in ein Nachbarhaus und bleiben Sie da, bis jemand kommt. Verstehen Sie? Kommen Sie. Brauchen Sie noch etwas? Einen Pullover, eine Handtasche?« Ich hätte sie am liebsten angeschrien, sich zu beeilen, aber ich wagte es nicht. Mit ihren erschöpften, traurigen Augen schaute sie mich an, und ihr Blick war so vertrauensvoll wie der eines Hundes. Ich half ihr auf die Beine, stellte den Fernseher aus und schaffte sie dann nach draußen. Ich suchte die Straße ab, aber niemand war in Sicht. Ich konnte nicht glauben, daß Leonard zuließ, daß Marty ihr was antat, aber wir wußten ja alle, wer das Kommando hatte. In mancher Hinsicht hatte ich das Gefühl, Zeit zu verschwenden, aber ich mußte sichergehen, daß Lily Howe sich in Sicherheit befand. Wir gingen zu dem ersten Haus, in dem Licht zu sehen war, einem mit Zedernschindeln gedeckten Gebäude zwei Türen weiter.

Ich klingelte. Ein Mann öffnete die Tür; ich schob sie hinein und erklärte, daß es Schwierigkeiten gäbe und sie Hilfe benötigte. Ich drängte Lily, die Cops zu rufen und ging dann. Ich war mir nicht sicher, ob sie es machen würde oder nicht.

Ich stieg in meinen Wagen, fuhr mit quietschenden Reifen an und verbrannte noch Gummi, als ich zwei Blocks weiter um die Ecke schlitterte. Ich fuhr sehr angespannt, überfuhr Stopschilder und umging den Verkehr, wo ich nur konnte. Ich mußte vor ihnen am Haus sein. An einer Ampel mußte ich stehenbleiben. Die Zeit nutzte ich, um auf der Suche nach der Taschenlampe mein Handschuhfach zu durchwühlen. Ich nahm sie heraus und checkte die Batterien. Sie schienen okay zu sein. Das Signal schaltete auf Grün, und ich fuhr wieder an.

Zu spät wurde mir klar, daß meine Waffe immer noch im Aktenschrank im Büro eingeschlossen war. Ich ging voll in die Bremsen und fuhr zurück, um sie zu holen, aber ich hatte keine Zeit. Wenn sie zuerst ins Motel gefahren waren, gepackt, bezahlt und den Wagen vollgeladen hatten, hätte ich vielleicht Zeit, die Mordwaffe vor ihnen zu bekommen. Wenn sie mir zuvorgekommen waren, würde ich auf der Stelle zu Tillie gehen und die Polizei rufen. Ich hatte nicht die Absicht, es ganz allein mit Marty Grice aufzunehmen.

Ich fühlte einen satten Adrenalinstoß. Meine Nervenzellen vibrierten und schlossen dann mit einem Freudensprung einen Gedankenkreis. Die Antwort auf eine alte Frage schoß mir in den Kopf, und plötzlich wußte ich, wie sie die Sache mit dem Mageninhalt gemanagt hatten. Marty hatte Elaines Küchenabfall gestohlen. Nichts leichter als das. Die braune Einkaufstüte, die Mike im Flur gesehen hatte, war Elaine Boldts Müll gewesen. Sie enthielt die leere Thunfisch- und die Suppendose, die an jenem Tag Elaines Abendessen enthalten hatten. Marty hatte stundenlang Zeit für die Durchführung gehabt. Ich konnte mir das Szenarium so bildlich vorstellen, als hätte ich hellseherische Fähigkeiten. Leonard geht mit Lily zum Essen aus, und Marty ruft Elaine an und lädt sie unter einem beliebigen Vorwand zu sich ein. Elaine kommt vorbei und wird irgendwann so lange ins Gesicht geschlagen, bis sie stirbt. Sobald es dunkel ist, nimmt Marty die Schlüssel und geht zu Elaines Wohnung. Sie holt den Küchenabfall heraus, nimmt ihn mit nach Hause und läßt ihn einen Moment lang im Flur stehen, während sie hinunter in den Keller geht und das Kerosin holt. Da erscheint Mike, öffnet die Eingangstür und schließt sie wieder, als er merkt, daß etwas Schreckliches passiert sein muß. Marty übergießt die ganze Wohnung mit Kerosin und setzt sich. Wie abgemacht wartet sie auf Leonards Anruf um neun und erzählt ihm am Telefon, was Elaine gegessen hat, damit er das später der Polizei gegenüber erwähnen konnte. Ein Thunfisch-Sandwich und Tomatensuppe. Vielleicht hatte Marty die Überreste auf ihr eigenes Küchenregal gestellt, damit alles übereinstimmte und korrekt aussah. Marty entzündete das Feuer und schlüpfte dann in Elaines Wohnung, wo sie sich bis zu ihrem Flug nach Florida am folgenden Montag bequem versteckt hielt. Meine Vermutung war, daß sie sich die Haare gefärbt hatte, bevor sie flog. Und das feine, graubraune Haarbüschel, das ich bei meiner ersten Durchsuchung in dem Abfallkorb in Elaines Bad gefunden hatte, war tatsächlich wohl ein zusätzlicher Beweis dafür, daß Marty Grice dort gewesen war.

Ich kam an dem Haus der Grices an, hielt auf der anderen Straßenseite und nahm mir einen Moment Zeit, das Haus und den Hof zu studieren. In der Dunkelheit war der Feuerschaden zwar unsichtbar, aber noch strömte das Haus diese Aura von Ruin und Verlassenheit aus. Draußen gab es kein Zeichen von dem Wagen. Nirgendwo im Haus Licht. Keine Fußgänger auf der Straße.

Ich ließ den Schlüssel im Zündschloß stecken, stieg aus dem Wagen und ließ die Tür angelehnt. Ich wollte in der Lage sein, ohne viel Herumfummelei wieder hineinzuspringen und loszufahren, falls es nötig werden sollte. Ich öffnete den Kofferraum und nahm das Werkzeug heraus, das ich zu brauchen glaubte. Nachdem ich festgestellt hatte, daß niemand kam, überquerte ich die Straße und lief durch den Seitenhof der Grices.

Leise ging ich den Weg entlang und suchte im Vorbeigehen die Fenster ab. Die meisten der Fenster, die sich auf der Stirnseite des Hauses befanden, waren durch das Feuer herausgebrochen und anschließend mit Brettern vernagelt worden, doch nahe der Rückseite waren noch zwei unversehrte. Ich suchte mir eins aus und brach es auf. Es war stockduster, und in der Nachbarschaft war es still, bis auf die im Gras zirpenden Grillen. Ich wußte, ich sollte mir einen Fluchtweg offenhalten, doch das konnte ich nicht riskieren. Wenn die beiden auftauchten, würde ihnen jedes offene Fenster und jede offene Tür auffallen. Ich mußte eben einfach schnell arbeiten und darauf hoffen, daß meine Vermutung bezüglich der Mordwaffe stimmte. Ich hatte keine Zeit für Fehler.

Ich kletterte in die Küche und zog das Fenster zu. Auf dem Fußboden knackte das zerbrochene Glas, als ich weiterging. Meine Taschenlampe leuchtete über geschwärzte Türrahmen und rußgefärbte Wände, in einen Flur voll dichter Dunkelheit. Ich hielt den Atem an und lauschte. Die Stille war einheitlich, eindimensional. Der Strom war abgestellt worden, und ich vermißte das leise Summen der Geräte. Kein Kühlschrank, keine Heizung, keine Wanduhr, kein Warmwasserbereiter, der aus dem anderen Raum tickte. Undeutlich kam mir die Redensart von der Grabesstille in den Sinn, aber ich schob sie beiseite. Ich ging weiter und erschreckte mich, als eine Glasscherbe unter meinem Fuß zerbrach. Ging da oben jemand herum? Ich schwenkte das Licht über die Decke. Halb erwartete ich, daß Fußabdrücke als sichtbare Vertiefungen dort auftauchen würden. Die Vorstellung hatte primitiven, comicmäßigen Charakter, wie jedes Kind bezeugen kann. Ich bewegte mich wieder. Weiter weg war eine Lichtquelle, ein blasser Schein fiel vom Haus nebenan ein. Ich blieb an dem Fenster stehen, das direkt auf das Wohnzimmer über den Weg hinausging. Mr. Snyder schaute sich eine Fernsehshow an. Geräuschlos flackerten die Bilder. Das einzige andere Fenster auf dieser Seite des Hauses war ein kleines, gleich neben der Küche auf der Rückseite. Ich hatte jetzt eine Theorie über das Klopfen, das May Snyder an jenem Abend gehört hatte, und ich war im Begriff, sie zu überprüfen. Ich schaute zu dem Raum, in dem sie schlief, aber er war schon dunkel. Ich fragte mich, ob es das war, was ein hohes Alter ausmachte — mehr und mehr Stunden zu schlafen, bis man sich eines Tages einfach nicht mehr die Mühe macht, wachzuwerden.

Ich fuhr mit den Fingern über den Fensterrahmen und ließ das Licht über die vom Feuer verzogene Farbe scheinen, ein faltiges und runzliges Weiß, wie tote Haut. Ich konnte erkennen, wo das Holz vorher zerstört worden war. Ich konnte erkennen, wo es mit Nägeln wieder befestigt worden war: peng-peng-peng. Ich stellte die Taschenlampe auf dem Fensterbrett ab. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich die Taschenlampe im richtigen Winkel angebracht hatte, so daß ich sehen konnte, was ich machte, und gleichzeitig beide Hände zum Arbeiten frei hatte. Ich schob die schmale Krümmung des Brecheisens in den Fensterrahmen und stemmte ihn mit einem so ohrenbetäubenden Krach auf, daß mein Herz einen Sprung machte. Nach meiner Auffassung war Elaine mit einem Schiebefenstergewicht getötet worden, das wieder in den Fensterrahmen zurückgesteckt und festgenagelt worden war. Die Ahnung war mir bei einem dieser Aha-Effekte gekommen, als ich die Gewichte in meinem eigenen Badezimmerfenster dumpf gegen die Pfosten hatte schlagen hören.

Das war nett. Das hatte eine gewisse häusliche Ordentlichkeit an sich, die Marty gemocht haben mußte. Wenn das Haus an jenem Abend total abgebrannt wäre, wer hätte das dann jemals herausfinden sollen? Die Bulldozer hätten das, was vom Haus übriggeblieben wäre, niedergemäht, den Schutt in Tieflader gepackt und zur Müllkippe gebracht. Wer sollte sogar jetzt, so ruhig wie alles war, etwas davon wissen? Deswegen war es dumm von ihr, zurückzukommen, um sie zu holen. Warum ließ sie sie nicht einfach da, wo sie war? Sie war in Panik getrieben worden und wahrscheinlich darauf bedacht, jegliche Zweifel auszuräumen, damit sie sich sicher fühlen konnte, wohin sie auch ging. Vielleicht konnte man sie kriegen, aber was konnte man ihr schon beweisen? Wahrscheinlich war die Mordwaffe voll mit ihren Fingerabdrücken. Vielleicht hatte sie noch Haarsträhnen von Elaine an sich, oder Stückchen zersplitterter Zähne oder Knochen, mikroskopische Fleischpartikelchen. Ich fragte mich, was sie mit diesem gräßlichen Stück vorhatte. Es vielleicht irgendwo vergraben... es am Ende eines Piers wegschleudern. Ich quetschte einen großen Schraubenzieher in den engen Spalt zwischen der Einfassung und dem Holzstreifen, der sie fixierte. Fensterteile mußten Namen haben, dachte ich, aber ich wußte nicht, wie sie lauteten. Ich imitierte einfach Beckys Zimmermannsarbeit. Das Resultat war das gleiche. Ich hatte den Rahmen abmontiert und so die beiden Gewichtspaare freigelegt, einschließlich der Schnur, die sie verband, und den Rollen, die das Heben und Senken des Rahmens regulierten. Bemüht, nichts anzufassen, zog ich die beiden Paare hervor, vier Gewichte zusammen. Scheiße, auf diesen Dingern würden keine Fingerabdrücke zu sehen sein. Das Metall war mit einem dünnen Film aus Sägemehl und Ruß überzogen. Die Feuchtigkeit in der Wand hatte so viel Rost hervorgebracht, daß sicherlich alle versteckten Fingerabdrücke jetzt ausgelöscht waren. Es war auch nicht gerade eine große Hilfe, daß ein halbes Jahr vergangen war. Bei einer mikroskopischen Untersuchung würden noch Flecken getrockneten Blutes zum Vorschein kommen, aber ich war nicht sicher, was sonst noch. Ich leuchtete mit der Taschenlampe den Rahmen entlang. Am Ende waren zwei schimmernde, blonde Haare mit ein paar dunkelbraunen verknotet. Ich konnte fühlen, wie sich mein Mund vor Ekel zusammenzog.

Ich führte ein schmales Plastiktütchen über das Ende und befestigte es mit Klebeband. Dann schob ich die Klinge aus dem Allzweckmesser, das ich mitgebracht hatte, und durchtrennte die Schnüre. Versehentlich schlugen die Gewichte aneinander, als ich sie in eine große Plastiktüte gleiten ließ. Lieutenant Dolan und sein treues Team von der Spurensicherung würden Anfälle bekommen, wenn sie sehen könnten, wie grob ich mit Beweismaterial umging, aber ich hatte keine Wahl. Zusammen mit dem Rest meines Werkzeugs packte ich das Allzweckmesser in die Plastiktüte. Bei jeder meiner Bewegungen raschelte das Plastik — weshalb ich Leonard und Marty erst hörte, als sie bereits die Hintertreppe erreicht hatten.