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Ich las mir alles schnell durch, um erst einmal einen Überblick zu bekommen. Dann fing ich noch mal an und notierte mir die Details, die mich interessierten. Die offizielle Version der Geschichte, soweit sie mir bekannt war, und die Befragungen von Leonard Grice, seiner Schwester Lily, Nachbarn, dem Einsatzleiter der Feuerwehr und dem zuerst am Tatort eingetroffenen Polizisten hatten im großen und ganzen nicht mehr ergeben, als ich selbst schon wußte: Leonard und Marty sollten mit Leonards verwitweter Schwester, Mrs. Howe, zu ihrem traditionellen Dienstagabend-Essen ausgehen. Marty fühlte sich nicht gut und sagte in letzter Minute ab. Leonard und Lily gingen wie geplant aus und kehrten gegen neun Uhr abends zu den Howes zurück. Zu dem Zeitpunkt riefen sie Marty an, um Bescheid zu sagen, daß sie wieder zu Hause waren. Sowohl Mr. Grice als auch seine Schwester sprachen mit Marty, die schließlich das Gespräch beendete, um auf ein Klopfen an der Tür zu reagieren. Laut Lily und Leonard hatten sie noch eine Tasse Kaffee getrunken und ein bißchen geplaudert. Um ungefähr zehn Uhr verließ er sie und kam zirka zwanzig Minuten später in der Via Madrina an, um festzustellen, daß sein Haus niedergebrannt war. Zu diesem Zeitpunkt war das Feuer unter Kontrolle, und man holte die Leiche seiner Frau aus dem teilweise zerstörten Gebäude. Er brach zusammen und wurde von anwesenden Medizinstudenten wieder zu Bewußtsein gebracht. Tillie Ahlberg war es gewesen, die den Rauch entdeckt hatte und um 21.55 Uhr Alarm gab. Sofort rückten zwei Einheiten an, aber aufgrund der Ausbreitung des Feuers war der Zugang durch die Vordertür nicht möglich. Die Feuerwehrmänner hatten die hintere Tür aufgebrochen und das Feuer nach ungefähr dreißig Minuten gelöscht. Die Leiche war am Eingang gefunden und zur Leichenhalle gebracht worden.
Die endgültige Identifizierung gelang durch Röntgenaufnahmen des kompletten Gebisses, die Martys Hauszahnarzt zur Verfügung gestellt hatte, und durch die Untersuchung des Mageninhalts. Sie hatte offensichtlich Leonard am Telefon gegenüber geäußert, daß sie sich eine Dose Tomatensuppe und ein Thunfischsandwich gemacht hatte. Die leeren Dosen waren im Küchenabfall gefunden worden. Den Zeitpunkt des Todes hatte man mehr oder weniger genau festgelegt auf die kurze Spanne zwischen dem Telefongespräch und dem Moment, in dem der Alarm einging.
Ich las mir den Autopsiebericht durch und faßte im Kopf eine Menge technischer Einzelheiten zusammen. Der Pathologe hatte keinen Kohlenstaub in den Atemwegen oder den Lungen festgestellt, und es hatte auch kein Kohlenmonoxyd im Blut oder in anderem Gewebe gegeben. Damit stand fest, daß sie tot gewesen war, bevor das Feuer ausbrach. Zusätzlich durchgeführte Labortests hatten weder Alkohol noch Chloroform, Drogen oder Gift im Körper gefunden. Die Todesursache wurde auf mehrfachen Schädelbruch zurückgeführt, der vermutlich durch wiederholte Schläge mit einem stumpfen Gegenstand hervorgerufen worden war. Aufgrund der Art der Verletzungen schätzte der Pathologe die Breite des Gegenstandes auf zehn bis zwölf Zentimeter und vermutete einen großen, mit viel Kraft angewandten Schraubenschlüssel, einen Baseballschläger oder eine Art Keule, vielleicht aus Metall. Die Mordwaffe war nie gefunden worden. Es sei denn, natürlich, es war ein großes altes Brett gewesen, das im Feuer verbrannt war; es gab jedoch keinen Hinweis, der diese Vermutung stützen konnte.
Die Brandstiftungsspezialisten schienen überhaupt keine Zweifel zu haben, daß das Feuer vorsätzlich gelegt worden war. Labortests hatten Kerosinspuren auf dem Fußboden nachgewiesen. Die verkohlten Muster im ganzen Haus hatten diese Vermutung bestätigt. Sie hatten dieselben schwarzen Spritzflecken und dieselben Spuren von Flüssigkeit gesehen, die ich entdeckt hatte, als ich das Haus untersucht hatte. Außerdem hatten sie einige raffinierte Methoden angewandt, um die Stelle des Feuerausbruchs und seinen Verlauf nachzuweisen. Leonard Grice war nach dem Kerosin gefragt worden, und er sagte, er habe eine Menge im Keller aufbewahrt; er und Marty hätten es bei ihren Campingausflügen für zwei Lampen und einen Kocher benutzt. Das begründete, warum der Eindringling Zugang zu brennbarer Flüssigkeit gehabt hatte. Es sah so aus, als sei der Einbrecher zwar mit einer Waffe in der Hand gekommen, aber ohne den Plan, das Haus niederzubrennen. Das Feuer war offensichtlich ein nachträglicher Einfall, ein hastig ausgedachter Plan, um zu vertuschen, daß Marty Grice erschlagen worden war. Bisher deutete nichts darauf hin, daß jemand gewußt hatte, daß sie da sein würde. Folglich war es den Cops schwergefallen, von einem im voraus geplanten Mord auszugehen.
Es gab keinen Hinweis auf eine vorher angebrachte Zeitzündervorrichtung, wodurch die Möglichkeit ausgeschlossen wurde, daß Grice das Feuer präpariert hatte, bevor er das Haus verließ. Grices Neffe, Mike, war befragt und entlastet worden. Er war von zahlreichen neutralen Zeugen im entscheidenden Zeitraum, den die Experten als Ausbruchstermin des Feuers ansahen, in einem Laden namens The Clockworks in Santa Teresa City gesehen worden. Es gab keine anderen Verdächtigungen und keine weiteren Zeugen. Jeder andere eindeutige Beweis einschließlich der Fingerabdrücke war vom Feuer zerstört worden. Elaine Boldts Name war auf einer Liste von Personen, die befragt werden sollten, und es gab eine Notiz, daß Lieutenant Dolan sie am fünften telefonisch gesprochen hatte. Er hatte mit ihr verabredet, daß sie am zehnten Januar vorbeikommen sollte, aber sie war nie erschienen. Nach meinen Informationen verließ sie die Stadt Richtung Florida am Abend vorher.
Eine Eintragung, die in der Mitte eines getippten Berichts erschien, interessierte mich beträchtlich. Laut eines Deputy im Police Department war am Abend des Mordes um 21.06 Uhr ein Anruf eingegangen, der durchaus von Marty Grice hätte stammen können. Der Anrufer war weiblich und in Panik gewesen und hatte einen Hilfeschrei ausgestoßen, bevor die Leitung erstarb. Da der Anruf bei der Polizeiwache und nicht über 911 eingegangen war, hatte der Deputy keine Möglichkeit gehabt, den Ursprung des Anrufs festzustellen. Er hatte jedoch eine Notiz darüber angefertigt, und Dolan davon erzählt, als der Mord bekannt wurde. Er hatte es in seinen Bericht aufgenommen. Er hatte Grice auch darüber befragt. Wenn es Marty gewesen war, warum hätte sie die Wache anrufen sollen statt 911 zu wählen? Leonard hatte daraufhingewiesen, daß er und Marty einen Anrufbeantworter hatten, der über eine Schnellwählfunktion verfügte. Sie hatte sowohl die Nummer der Polizei- wie auch die der Feuerwache eingegeben. Der Apparat wurde unbeschädigt auf einem Tisch im hinteren Teil des Flurs gefunden. Die Nummern waren säuberlich in das Inhaltsverzeichnis geschrieben. Es schien, als wäre Marty vor dem Angriff gewarnt gewesen und hätte es geschafft, ans Telefon zu kommen und zumindest einen Notruf zu versuchen, bevor sie getötet wurde. Wenn tatsächlich sie es war, die diesen Anruf getätigt hatte, dann war der Zeitpunkt ihres Todes auf 21.06 Uhr oder kurz danach festgelegt.
Einen Moment lang hegte ich die flüchtige Hoffnung, daß Leonard Grice trotzdem darin verwickelt war. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte die Polizei schließlich nur Lilys Wort für die Tatsache, daß er zu dieser Zeit noch in ihrer Wohnung war. Ich überlegte, daß er vielleicht früher nach Hause gekommen war, Marty umgebracht, das Feuer gelegt und einen Block weiter den geeigneten Moment abgewartet hatte, um einzutreffen. Wenn er und seine Schwester unter einer Decke steckten, konnten sie hinterher beide einfach behaupten, er sei bei ihr gewesen. Diesmal hatte ich kein Glück. Nach drei weiteren Befragungen folgte ein kleiner Absatz über ein Gespräch, das Dolan mit Lilys Nachbarn hatte, die unerwartet vorbeigekommen waren, um ein Geburtstagsgeschenk zu überreichen. Der Ehemann und seine Frau sagten unabhängig voneinander aus, Leonard sei dagewesen und nicht vor zirka zehn Uhr nach Hause gefahren. Sie erinnerten sich an die Zeit, weil sie versucht hatten, ihn zu einer Fernsehsendung zu überreden, die um zehn anfing. Sie stellte sich als eine Wiederholung heraus, und da er sowieso gern zu seiner Frau nach Hause wollte, ging er.
Tja, Scheiße, dachte ich.
Also, warum machte mich das so verdrießlich? Ah, klar, weil ich wollte, daß Leonard Grice schuldig war. Mord, Anstiftung zum Mord, Beihilfe zum Mord. Ich mochte den Gedanken um der Ordnung willen — aus statistischen Zwecken zumindest. Kalifornien hat jährlich über dreitausend Mordopfer, und davon werden ganze zwei Drittel von Freunden, Bekannten oder Verwandten umgebracht. Da fragt man sich, ob man in diesem Staat als freundloses Waisenkind nicht besser dran ist. Tatsache ist, wenn ein Mord geschehen ist, sind die Chancen gut, daß jemand Liebes und Teures seine Finger im Spiel hatte.
Ich dachte darüber nach und sträubte mich dagegen, den Gedanken aufzugeben. Könnte Grice jemanden damit beauftragt haben, seine Frau zu töten? Die Möglichkeit bestand natürlich immer, aber es war schwer ersichtlich, was er dadurch gewann. Die Polizei, die ja auch nicht nur aus ignoranten Hampelmännern besteht, hatte diese Spur ebenfalls verfolgt, aber es war nichts dabei herausgekommen. Keine unerklärlichen Gelder, keine Treffen mit verdächtigen Gestalten, kein deutliches Motiv, kein sichtbarer Nutzen.
Was mich wieder zu Elaine Boldt führte. Könnte sie in Marty Grices Tod verstrickt sein? Alles, was ich bisher über sie wußte, schrie ein laut schallendes »Nein«. Es gab tatsächlich keinerlei Hinweis darauf, daß sie Leonard auf romantische oder irgendeine andere Art verbunden war, außer als eine gelegentliche Bridge-Partnerin. Ich glaube eigentlich nicht daran, daß Marty Grice getötet worden war, weil sie einen kleinen Schlemm verpfuscht hatte, aber bei Bridge-Spielern kann man nie wissen. Wim Hoover hatte erwähnt, daß Elaine und Beverly Weihnachten eines Mannes wegen gestritten hatten, aber es war schwierig, sich die beiden in einem Ringkampf um Leonard Grice vorzustellen. Ich kam immer wieder auf dieselbe Vermutung zurück — daß Elaine etwas wußte oder etwas gesehen hatte, was mit dem Mord in Verbindung stand, und die Stadt verlassen hatte, um der genauen Befragung durch die Polizei von Santa Teresa zu entgehen.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit den Fotografien zu und schaltete vorher sorgfältig mein Gehirn ab. Ich mußte wissen, wie die Dinge ausgesehen hatten, und konnte mir keine emotionale Reaktion erlauben. Gewaltsamer Tod ist abstoßend. Mein erster Impuls ist jedesmal, mich abzuwenden, meine Seele vor dem Anblick zu schützen, aber dies war der einzige greifbare Bericht von diesem Geschehen, und den mußte ich selbst sehen. Kühlen Blickes schaute ich mir die erste Schwarz-Weiß-Fotografie an. Die Farbfotos würden noch schlimmer sein, und ich zog es vor, mit den »leichteren« anzufangen.
Jonah räusperte sich. Ich blickte auf.
»Ich muß jetzt ins Bett«, meinte er. »Ich bin kaputt.«
»Schon?« Ich sah auf meine Uhr und war überrascht. Es war Viertel vor elf. Ich hatte seit über zwei Stunden bewegungslos dagesessen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hatte keine Ahnung, daß ich schon so lange hier bin.«
»Schon gut. Ich bin heute morgen um fünf Uhr aufgestanden, um mich fit zu machen, und brauche jetzt ein Schläfchen. Sie können das Zeug mitnehmen, wenn Sie wollen. Sollte Sie Dolan jemals damit erwischen, werde ich natürlich alles abstreiten und Sie den Wölfen zum Fraß vorwerfen, aber mal davon abgesehen hoffe ich, es hilft Ihnen.«
»Danke. Es hat mir jetzt schon geholfen.« Ich steckte erst die Fotografien und Berichte in einen großen braunen Umschlag, und den dann wiederum in meine Handtasche.
Verstört fuhr ich nach Hause. Selbst jetzt hatte ich noch das in mein Gedächtnis eingegrabene Bild von Martys Leiche vor Augen: ihre durch das Verkohlen verschwommenen Züge, den offenen Mund und wie sie in einem Ring aus Asche lag, der aussah wie ein Haufen graues Konfetti. Die Hitze hatte ihre Armsehnen zusammengezogen und die Fäuste in eine Art Boxhaltung gebracht. Es war ihr letzter Kampf gewesen, und sie hatte ihn verloren, aber ich glaube nicht, daß er schon vorbei war.
Ich wischte das Bild beiseite und ging noch mal durch, was ich bisher erfahren hatte. Eine kleine Einzelheit beschäftigte mich noch. War es möglich, daß May Snyder recht hatte, als sie von dem hämmernden Peng-peng-peng an jenem Abend sprach? Wenn ja, was um alles in der Welt könnte das gewesen sein?
Fast wieder zu Hause angekommen, fiel mir die Hütte auf Grices Hof wieder ein. Ich stieg auf die Bremse und drehte hart links ab, Richtung Stadtmitte.
Die Via Madrina war dunkel, weil sie von italienischen Pinien überschattet wurde. Um diese Zeit gab es nicht mehr viel Verkehr. Der Nachthimmel war diesig, und obwohl Vollmond war, wurde das durchsickernde Licht teilweise von der Wohnanlage nebenan verdeckt. Ich parkte und nahm eine Minitaschenlampe aus dem Handschuhfach. Dann zog ich ein Paar Gummihandschuhe an, schloß den Wagen ab und ging Grices Eingangsweg hinauf. Ich lief um das Haus herum. Meine Tennisschuhe verursachten keinerlei Geräusch auf dem Beton.
In meiner Jackentasche fühlte ich den Dietrich, der wie eine abgeflachte Mandoline aus Metall geformt war. Ich hatte ein Set, bestehend aus fünf Schlüsseln an einem Schlüsselring, bei mir und ein zweites, ausgefeilteres in einem hübschen Lederetui zu Hause. Ich hatte sie von einem nicht ortsansässigen Einbrecher, der zur Zeit zehn Monate im Landesgefängnis absaß. Als er das letzte Mal erwischt worden war, hatte er mich engagiert, um ein Auge auf seine Frau zu halten, von der er dachte, daß sie ihn mit dem Typen von nebenan betrüge. Tatsächlich war aber gar nichts gelaufen. Er war so dankbar über die frohe Nachricht, daß er mir die Dietriche schenkte und mich den Umgang mit ihnen lehrte. Er hatte mir auch etwas Bargeld gezahlt, aber dann stellte sich heraus, daß er es gestohlen hatte, und er mußte es zurückfordern, nachdem das Gericht ihm die Wiedergutmachung auferlegt hatte.
Es war kühl, und eine lebhafte kleine Brise flüsterte in den Pinienzweigen. Das Haus hinter dem der Grices hatte Leinwandmarkisen, die wie Segel schlugen, und das dumpfe Seufzen des trockenen Grases gab dem ganzen Unternehmen eine unheimliche Kulisse. Ich war sowieso noch nervös, weil ich mir gerade Bilder einer gerösteten Leiche angesehen hatte. Und nun war ich hier, kurz vor einer kleinen Einbruchsnummer, die mich in den Knast bringen und meine Lizenz kosten konnte. Wenn die Nachbarn zu einem Geheul ansetzten, und die Cops auf der Szenerie erschienen, was würde ich sagen? Warum machte ich das überhaupt? Ah ja, weil ich wissen wollte, was sich in diesem winzigen Metallhäuschen befand, und mir keine andere Möglichkeit einfiel, hineinzukommen.
Ich hielt den kleinen Lichtstrahl auf das Vorhängeschloß gerichtet. In der Skizze, die mein Einbrecherfreund mir von einem Schloß wie diesem gemalt hatte, gab es eine flache Haarnadelfeder, die in die Kerben des Bügels eingeklinkt war. Normalerweise betätigt schon die Spitze eines Schlüssels die Feder, folglich war es nur ein Problem herauszufinden, welcher meiner Dietriche den Schnappriegel aufspreizen und so den Mechanismus ausklinken würde. Ehrlich gesagt, hätte ich auch eine Büroklammer mit einer kleinen L-Biegung am Ende versuchen können; aber das war auch die Form des ersten Dietrichs, den ich benutzte, und das Vorhängeschloß rührte sich nicht. Ich versuchte den nächsten Dietrich mit der H-Form an der Spitze. Nix. Ich versuchte den dritten und bewegte ihn vorsichtig. Das Schloß sprang offen in meine Hand. Ich sah auf die Uhr. Eineinhalb Minuten. Ich werde ein wenig eitel in bezug auf diese Dinge.
Die Hüttentür machte ein wimmerndes Geräusch, als ich sie öffnete, und einen Moment lang stand ich da und spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug. Ich hörte hinten auf der Straße ein Motorradgeräusch, aber ich achtete nicht besonders darauf, denn ich hatte gerade Mikes besorgtes Verhältnis zu dem Eigentum seines Onkels begriffen. In der Hütte waren, neben Reihen voll Tontöpfen, dem Handrasenmäher und einer Unkrautharke sechs Regale, vollgestopft mit illegalen Drogen: Steintöpfe voller Reds und Dexies, Nembutalpillen, Rainbows und Sopers... zusammen mit einigen prallen Plastikpäckchen voll Marihuana und Haschisch. Tja, das war fast zu schön, um wahr zu sein. Ich glaubte nicht, daß Leonard Grice der Drogist war, doch ich hätte meinen Kopf darauf verwettet, daß sein Neffe reichlich in dieses kleine, handliche Depot investiert hatte. Ich war so in meine Entdeckung verliebt, daß ich nicht bemerkte, daß er hinter mir stand, bis ihm ein erstauntes »Heh!« entfuhr.
Ich sprang zurück und schnellte herum. Ich mußte einen Schrei unterdrücken. Da stand ich nun, Auge in Auge mit diesem Teenie, und seine grünen Augen leuchteten in der Dunkelheit wie die einer Katze. Er war genauso überrascht, mich hier zu sehen, wie ich, daß er hier war. Glücklicherweise war keiner von uns bewaffnet, sonst hätte es ein schnelles Duell geben können, in dem wir einander eine Menge Schmerzen zugefügt hätten.
»Was tun Sie hier?« rief er. Er klang wütend, als könne er nicht glauben, daß das tatsächlich wahr war. Sein Irokesenschnitt wuchs langsam heraus, und der Wind ließ ihn sich leicht zur Seite neigen wie ein hohes Kornfeld in einer dieser alten Reklamesendungen für Haferflocken. Er trug eine schwarze Motorradlederjacke und einen Ohrring aus Quarz. Seine Stiefel reichten bis zum Knie und waren aus Plastik. Sie hatten ein Muster, das sie aussehen lassen sollte wie die Haut einer Kobra, aber es wirkte mehr wie Schuppenflechte. Es war schwierig, diesen Burschen ernst zu nehmen, doch auf irgendeine merkwürdige Weise tat ich es. Ich schloß die Hüttentür und ließ das Vorhängeschloß einschnappen. Was würde er beweisen können?
»Ich bin neugierig darauf geworden, was du hier hinten machst, also dachte ich, ich schau mal rein.«
»Sie meinen, Sie sind einfach eingebrochen?« sagte er. Seine Stimme hatte dieses jugendliche Springen, das noch von der Pubertät übriggeblieben war, und seine Wangen waren knallro-sa. »Das können Sie nicht tun!«
»Mike, Süßer, ich hab’s gerade getan«, erwiderte ich. »Du steckst ganz schön in der Klemme.«
Mit leerer Miene starrte er mich einem Moment lang an.
»Sie woll’n die Cops holen?«
»Scheiße, ja!«
»Aber was Sie getan haben, ist mindestens genauso gesetzeswidrig wie das hier«, meinte er. Ich merkte, daß er einer von diesen klugen Jungens war, die daran gewöhnt sind, gleichberechtigt mit den Erwachsenen zu diskutieren.
»Ach Mist«, sagte ich, »gib’s dran. Ich werde jetzt nicht mit dir hier draußen stehen und das kalifornische Strafgesetzbuch diskutieren. Du handelst mit Drogen. Die Cops werden sich ’n Dreck drum scheren, was ich hier getan habe. Vielleicht ging ich gerade vorbei und dachte, du würdest selbst hier einbrechen. Du bist aus dem Rennen, Kleiner.«
Sein Blick wurde schlauer, und er änderte die Taktik. »Ja, also, warten Sie doch mal ’n Moment. Machen Sie nicht so schnell. Warum können wir nicht darüber reden?«
»Klar, warum nicht? Was gibt’s?«
Ich konnte förmlich sehen, wie seine Gehirnzellen umdachten und einen neuen Gedanken formten. Er war kein Narr, aber er überraschte mich dennoch mit der Methode, die er wählte. »Untersuchen Sie Tante Martys Tod? Sind Sie deshalb hier?«
Tante Marty. Netter Zug, dachte ich. Ich lächelte kurz.
»Nicht ganz, aber so ähnlich.«
Er schaute erst die Straße hinunter, dann auf die Spitzen seiner Kobrastiefel. »Weil ich da etwas habe... verstehen Sie, so ’ne Art Information darüber.«
»Was für eine Information?«
»Etwas, was ich den Cops nie erzählt habe. Also können wir vielleicht einen Handel abschließen«, meinte er. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und sah mich wieder an. Sein Gesicht war unschuldig, sein Aussehen offen, der Blick in seinen Augen so rein, daß ich ihm mein Erstgeborenes gegeben hätte, wenn ich eins gehabt hätte. Ein ermunterndes Lächeln huschte über sein Gesicht, und ich fragte mich, wieviel Geld er damit machte, das Dope an seine Highschool-Freunde zu verkaufen. Und ich fragte mich, ob er wohl mit einer Kugel im Kopf enden würde, weil er jemanden, der etwas höher in der Rangliste stand, betrogen hatte. Ich war an dem, was er zu sagen hatte, interessiert, und das wußte er. Ich mußte schnellen Frieden mit meiner eigenen Bestechlichkeit schließen, und das war nicht besonders schwierig. In Momenten wie diesem wußte ich, daß ich bereits zu lange im Geschäft war.
»Was für ein Handel?«
»Geben Sie mir bloß Zeit, das Zeugs hier rauszuschaffen, bevor Sie jemandem davon erzählen. Ich wollte es sowieso woanders hinbringen, weil die Schnüffler ein paar Undercover-Agenten an unserer Schule haben, und ich dachte, ich tret mal ein bißchen kürzer, bis die Luft rein ist.«
Wir reden hier nicht über dauerhafte Besserung, Leute. Wir reden über den simplen Nutzen, aber zumindest wollte der Kleine mich nicht reinlegen... nicht allzu sehr, jedenfalls.
Wir schauten uns an, und etwas veränderte sich. Ich wußte, ich hätte schreien und stampfen und ihm drohen können. Ich wußte, ich hätte fromm und moralisch und mißbilligend sein können, und es hätte kein bißchen geändert. Er kannte den Stand der Dinge genauso gut wie ich, und was wir einander anzubieten hatten, könnte für beide ein ganz gutes Geschäft werden.
»In Ordnung, du hast gewonnen«, sagte ich.
»Lassen Sie uns irgendwohin gehen und reden«, schlug er vor. »Ich frier mir die Eier ab.«
Mich ärgerte die Erkenntnis, daß ich angefangen hatte, ihn einfach ein ganz kleines bißchen zu mögen.