23
Wie es meine Gewohnheit ist, machte ich einen schnellen Rundgang in der Wohnung, während Tillie die Cops holte. Ich hatte ihr eingeschärft, meinen Namen herauszuhalten, weil ich nicht aufgehalten werden und eine von Lieutenant Dolans berühmten Blitzbefragungen mitmachen wollte. Ich hatte bereits Ärger mit der California Fidelity, und ich konnte Dolan nicht auch noch verkraften. Die Wohnung roch so faulig, daß ich dachte, Tillie würde keine Schwierigkeiten damit haben, zu erklären, was sie dazu gebracht hatte, hochzukommen und nachzuschauen.
Man brauchte kein Sherlock Holmes zu sein, um auf den Gedanken zu kommen, daß Pat Usher hier gewohnt hatte. Sie hatte keinen Versuch gemacht, ihre Anwesenheit zu vertuschen. Das gazeartige Gewand, das ich in Boca Raton an ihr gesehen hatte, war jetzt nachlässig über Elaines ungemachtes Bett geworfen. Offensichtlich hatte sie sich an allem, was sie brauchte, bedient — Lebensmittel, Kleidung, Kosmetik. Überall standen schmutziges Geschirr, randvolle Aschenbecher, und aus der braunen Papiertüte mit ihrer ordentlich umgeschlagenen Kante quoll der Abfall. Die Spurensicherung würde ihren Spaß an dieser Wohnung haben, aber was mich am meisten interessierte, war das kleine Zimmer. Alle Schreibtischschubladen waren geöffnet worden, ihr Inhalt in Raserei überall verteilt, die Aktenhefter in der Mitte durchgerissen. Es sah nach Pat Ushers üblicher Wut und Ungeduld aus. Ich fragte mich, was sie gesucht und ob sie es gefunden hatte. Ich rührte nichts an. Es waren vielleicht fünf Minuten vergangen, seit Tillie runtergegangen war, und ich dachte, ich sollte besser verschwinden. Ich wollte nicht mehr in der Nähe sein, wenn die Schwarzweißen auf ihre schrille Art in Sicht kamen.
Ich stoppte am Eingang und sah auf Wim hinunter. Er lag mit dem Gesicht nach unten, eine Hand unter die Wange gelegt, als hätte er vorgehabt, ein Nickerchen zu machen. Sein Fleisch war geschwollen, die Haut verdunkelt. Das Einschußloch war so sauber wie die Öse für einen Schnürriemen. Die Waffe war möglicherweise eine .22er gewesen — in der Regel keine tödliche Waffe, aber laß eine Kugel in einem menschlichen Schädel herumsausen, und sie kann ein Gehirn in Nullkommanichts in Rührei verwandeln. Armer Wim. Ich fragte mich, warum sie ihn getötet hatte. Ich hatte keinerlei Zweifel, daß es Pat gewesen war. Hatte sie auch Marty Grice ermordet? Die Autopsie hatte keine Schußwunden ergeben, nur wiederholte Schläge mit einem nicht identifizierten stumpfen Gegenstand. Was war das für eine Waffe gewesen, und wo war sie?
Mit dem Aufzug fuhr ich hinunter und verließ das Gebäude, ohne noch mal mit Tillie zu sprechen. Ich schloß den Wagen auf und stieg ein, als mir plötzlich das Papierknistern in meiner Jeanstasche auffiel. Ich zog das Bündel Rechnungen heraus, das Tillie mir gegeben hatte, und ein unwillkürliches »Ooohh« entschlüpfte mir. Gerade hatte mir gedämmert, was Pat Usher da oben gesucht haben könnte. Elaines Reisepaß. Als ich die Wohnung das zweite Mal durchsucht hatte, war er mir zugefallen, und ich hatte ihn in meine hintere Jeanstasche gesteckt. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn mit ins Büro genommen zu haben, also mußte er irgendwo in meiner Wohnung liegen. War Pat eingebrochen, um ihn zu suchen? Wenn sie ihn gefunden hatte, saß sie wahrscheinlich schon in einem Flugzeug Richtung Ende der Welt. Andererseits hatte Leonard das Geld von der Versicherung noch nicht kassiert, also waren die beiden vielleicht noch irgendwo in der Stadt.
Ich ließ den Wagen an und fuhr los, entschlossen, aus der Gegend zu verschwinden, bevor die Cops auftauchten. Verbissen dachte ich nach. Pat und Leonard mußten zuerst Marty ausgeschaltet haben, dann hatten sie Elaine Boldt erledigt, vielleicht, weil sie dahintergekommen war, was passierte. Auf jeden Fall muß ihnen ihr Tod völlig neue Möglichkeiten eröffnet haben. Sie hatten nun Zugang zu ihrem Eigentum und allen ihren Bankkonten erlangt und bedienten sich aus ihrem Guthaben, während Leonard die erforderlichen sechs Monate abwartete, um Martys Nachlaß einzustreichen. Die Auszahlung daraus war vielleicht nicht besonders groß, aber zusammen mit Elaine Boldts Vermögen wuchs der Profit. Wenn Leonard einmal die alleinigen Besitzrechte an dem Eigentum an der Via Madrina erlangt hatte, konnte er es für hundertfünfzehntausend verkaufen. Wahrscheinlich war das Grundstück ohne das Haus sowieso noch mehr wert. In der Zwischenzeit mußte er nun den gramgebeugten Gatten spielen und Desinteresse an dem Fortgang der Dinge heucheln. Dadurch sammelte er nicht nur Sympathien, sondern lenkte die Aufmerksamkeit von seiner wirklichen Motivation ab, die von Anfang an finanzieller Art gewesen war. Der Plan hätte reibungslos funktionieren können, wenn nicht Beverly Danziger aufgetaucht wäre und eine Routineunterschrift unter ein unwichtiges Dokument gebraucht hätte. Pats Behauptung, Elaine sei mit Freunden in Sarasota, würde keiner genaueren Nachforschung standhalten, weil Elaines Aufenthalt nicht wirklich begründet werden konnte. Aber wie sollte ich jemals irgend etwas davon beweisen? Ich spekulierte wie verrückt und stellte hier und da wahrscheinlich ein paar falsche Vermutungen an. Aber selbst wenn ich alles genau vor der Nase hätte, müßte ich irgendeinen konkreten Beweis haben, den ich mit zur Polizei nehmen konnte.
In der Zwischenzeit hatte Leonard mir erfolgreich den Weg blockiert und hielt mich im Zaum, zumindest, was die Versicherungsgesellschaft anging. Ich wagte nicht, zurückzufahren und ihn nochmals zu befragen, und ich wußte, daß ich besser mit allen Befragungen dieser Welt vorsichtig sein sollte. Jede Spur, die ich verfolgte, würde aus seiner Sicht als Verleumdung, Belästigung oder Diffamierung interpretiert werden. Wo hatte ich mich da hineinmanövriert? Leonard Grice und Pat Usher würden meine Nachforschungen abblocken müssen, oder das ganze Unternehmen würde einstürzen und sie unter sich begraben.
An einem Baumarkt machte ich halt und kaufte eine Fensterscheibe, dann fuhr ich nach Hause. Ich mußte Elaines Reisepaß finden. Ich durchsuchte die Abfalltüten, schaute hinter Sofakissen und unter Möbel und in all die anderen Verstecke, in die ich Krimskrams zu stecken pflege. Ich erinnerte mich nicht, ihn abgeheftet zu haben, und es war mir nicht in den Sinn gekommen, ihn zu verstecken. Ich wußte, daß ich ihn nicht weggeworfen hatte, was hieß, daß er hier irgendwo sein mußte. So blieb ich dort stehen, machte eine 3 60-Grad-Drehung und suchte jede Ecke des Zimmers ab — Schreibtischplatte, Bücherregal, Kaffeetischchen, die kleine Theke, die die Kochnische abteilt.
Ich ging zum Wagen hinaus und sah ins Handschuhfach, in den Kartenköcher, hinter die Sitze, hinter die Sonnenblende, in die Aktentasche, die Jackentasche — Scheiße. Zurück in die Wohnung und noch mal von vorn. Wo hatte ich das verdammte Ding hingelegt? Er könnte im Büro sein. Ich entschied mich, es da noch mal zu versuchen, nachdem CF geschlossen hatte und Andy Montycka nach Hause gegangen war. Mein Gott, was wußte der schon? Ich hatte angefangen, die Knoten zu entwirren, und ich konnte nur hoffen, fertigzuwerden, bevor er nervös wurde und die Forderung auszahlte.
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach eins, und der Schlosser sollte um vier kommen. Ich setzte mich an den Schreibtisch und zog die Akte über Elaine Boldt hervor. Vielleicht gab es ja etwas, das ich übersehen hatte. Ich versah meinen Angelhaken mit einem Köder und begann aufs Geratewohl zu suchen. Ich hatte das Gefühl, daß ich meine Notizen schon hundertmal durchgesehen hatte, und ich konnte nicht glauben, daß etwas Neues auftauchen würde. Wieder ging ich zurück und las jeden Bericht, den ich hatte. Ich befestigte alle meine Karteikarten an der Pinnwand, zuerst in ihrer Reihenfolge, dann wahllos, um zu sehen, ob sich Widersprüche ergaben. Das ganze Material, das Jonah mir aus den Mordkommissionsakten fotokopiert hatte, las ich noch einmal, und ich studierte die glänzenden 8x10-Fotos vom Tatort, bis ich jede Einzelheit auswendig kannte. Wie war Marty getötet worden? Ein »stumpfer Gegenstand« konnte so ziemlich alles bedeuten.
Eine Menge Sachen störten mich — unwichtige Fragen brummten mir wie ein Schwarm Stechmücken im Hinterkopf herum. Inzwischen glaubte ich, daß Elaine, wenn sie tot war, ziemlich früh getötet worden sein mußte. Noch hatte ich keinen Beweis, aber ich vermutete, daß Pat Usher sich als Elaine ausgegeben und die ganze Scheinabreise nach Florida als Trick inszeniert hatte. So hatte sie eine falsche Spur gelegt, um die Vorstellung zu erwecken, daß Elaine lebte, es ihr gut ging und sie auf dem Weg aus der Stadt war, als sie in Wirklichkeit schon nicht mehr lebte. Aber wenn sie in Santa Teresa umgebracht worden war, wo war die Leiche? Sich einer Leiche zu entledigen, ist ein nicht zu unterschätzendes Kunststück. Schleudere sie ins Meer, und sie schwemmt auf und treibt gleich zurück. Wirf sie in den Wald, und ein Jogger wird um sechs Uhr morgens drüber stolpern. Was kann man sonst noch damit anfangen? Man beerdigt sie. Vielleicht war die Leiche in Grices Keller verborgen. Ich erinnerte mich an den Beton dort unten — aufgesprungener Beton und festgestampfte Erde — und ich dachte, ja, das könnte erklären, warum Leonard keine Aufräumtruppe reingelassen hatte. Als ich das Haus der Grices zum ersten Mal durchsucht hatte, war ich einfach nur dankbar für mein Glück gewesen, aber selbst damals klang es fast schon zu gut, um wahr zu sein. Vielleicht hatte Leonard vermeiden wollen, daß diese Zerstörungsexperten da unten herumklopften.
Pat Usher störte mich auch. Jonah hatte keine Möglichkeit gehabt, sie durchs National Crime Information Center checken zu lassen, weil der Computer nicht funktionierte. Inzwischen war er nach Idaho unterwegs, aber vielleicht konnte ich Spillman den Namen eingeben lassen, um zu sehen, was dabei herauskam. Ich glaubte nicht, daß Pat Usher ihr richtiger Name war, aber er könnte sich als Deckname heraussteilen — wenn sie ein Strafregister hatte, was zu diesem Zeitpunkt unwahrscheinlich war. Ich nahm einen Block heraus und machte mir eine Notiz. Vielleicht konnte ich durch eine wohlüberlegte Rückverfolgung der Spuren herausfinden, wer sie war und wie sie mit Leonard Grice in Verbindung gekommen war.
Ich ging den neuen Stapel von Elaines Rechnungen durch, den Tillie mir gegeben hatte, und sortierte die paar Reklameschreiben aus. Eine Terminerinnerung von einem Zahnarzt aus der Nachbarschaft legte ich zur Seite. Elaine Boldt besaß keinen Führerschein, und ich wußte, daß sie Geschäfte besuchte, die sie von ihrer Wohnung aus zu Fuß erreichen konnte. Ich erinnerte mich, daß in dem ersten Stoß Rechnungen, den ich gesehen hatte, eine Rechnung von demselben Zahnarzt gewesen war. John Pickett, D. D. S., Inc. Wo war er mir schon einmal begegnet? Ich blätterte wieder das Material aus der Mordakte durch und überflog jede einzelne Seite. Aha. Kein Wunder, daß der Name mich an etwas erinnerte. Er war der Zahnarzt, der die Rundum-Röntgenaufnahme des Gebisses erstellt hatte, die zur Identifizierung von Marty Grice benutzt worden war. Es klopfte an der Tür, und ich sah überrascht auf. Es war bereits vier Uhr.
Ich schaute durch den kleinen Türspion und öffnete die Tür. Die Schlosserin war noch jung, vielleicht zweiundzwanzig. Sie ließ ein Lächeln aufblitzen, das ihre schönen weißen Zähne zur Geltung brachte.
»Guten Tag«, grüßte sie. »Ich bin Becky. Bin ich hier richtig? Ich hab es vorn schon versucht, und der alte Mann meinte, daß Sie mich wahrscheinlich bestellt haben.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte ich. »Kommen Sie rein.«
Sie war größer als ich, sehr dünn, und hatte lange nackte Arme und Blue Jeans, die ihr von den schmalen Hüften herabhingen. Ein Zimmermannsgürtel war um ihre Taille geschlungen, von dem ein Hammer wie eine Waffe im Halfter herabhing. Ihre blonden Haare waren kurzgeschnitten und hatten vorn eine jungenhafte Tolle. Sommersprossen, blaue Augen, helle Wimpern, kein Make-up, die ganze Schlaksigkeit einer Heranwachsenden. Sie besaß eine sportliche, unerschütterliche Schönheit, und sie roch nach Ivory-Seife.
Ich ging ins Badezimmer. »Das Fenster ist hier. Ich möchte eine Art Sicherheitsschloß aus Schwermetall installiert haben, das nicht aufgebrochen werden kann.«
Ihre Augen leuchteten auf, als sie den Schnitt in der Scheibe bemerkte. »Oh, nicht übel. Saubere Arbeit, puh. Wollen Sie an den anderen Fenstern auch neue Schlösser haben oder nur hier?«
»Ich möchte überall neue Schlösser, den Schreibtisch eingeschlossen. Können Sie den Absteller wieder spannen?«
»Klar. Ich kann alles machen, was Sie wollen. Wenn Sie eine Scheibe haben, kann ich auch das Fenster neu verglasen. Ich mache so etwas unheimlich gerne.«
Ich ging und ließ sie die schweren Metallschlösser anbringen. Verspätet raffte ich etliche Teile schmutziger Wäsche zusammen, die über mein Wohnzimmer verteilt waren. Es geht nichts über den stummen Blick eines Außenstehenden, um sich über die eigene Umgebung bewußt zu werden. Zwei Strandtücher, ein Sweatshirt, und ein dunkles Sommerkleid aus Baumwolle schmiß ich auf das andere Zeug in der Waschmaschine. Ich neige sowieso dazu, meine Waschmaschine als Korb für schmutzige Wäsche zu benutzen, da ich etwas in Raumnot bin. Ich leerte einen Becher Waschmittel hinein und stellte den Kurzwaschgang ein. Ich war nahe daran, die Tür wieder zuzudrücken, als ich Elaines Reisepaß entdeckte, der aus der hinteren Hosentasche einer Blue Jeans hervorlugte. Ich muß meine Überraschung wohl geäußert haben, denn Becky steckte den Kopf durch die Badezimmertür.
»Haben Sie mich gerufen?«
»Nein, schon in Ordnung. Ich hab bloß eben etwas gefunden, das ich schon gesucht hatte.«
»Ach so. Okay. Schön für Sie.« Sie ging wieder an die Arbeit. Ich legte den Reisepaß in die hinterste Ecke der untersten Schreibtischschublade und schloß sie ab. Gott sei Dank, daß ich den Reisepaß habe, dachte ich. Gott sei Dank, daß er wieder aufgetaucht ist. Er war wie ein Talisman, ein gutes Omen. Hocherfreut entschied ich mich, meine Notizen mal wieder zu tippen, also zog ich meine kleine Reiseschreibmaschine hervor und fing damit an. Ich hörte, wie Becky mit dem Fenster herummachte, und ein paar Minuten später steckte sie wieder den Kopf aus der Badezimmertür.
»Äh, Kinsey? Dieses Ding ist total vermurkst. Soll ich es reparieren?«
»Klar, warum nicht?« sagte ich. »Wenn das Fenster wieder richtig funktioniert, habe ich noch ein paar andere Dinge, um die Sie sich kümmern können.«
»Oh, prima«, meinte sie und verschwand wieder.
Ich hörte ein lautes, reißendes Geräusch, als sie den Fensterrahmen wegstemmte. Es war beunruhigend. Dieser ganze Pep und Enthusiasmus. Ich dachte, ich hätte etwas splittern hören.
»Keine Sorge wegen der Geräusche«, rief sie heraus. »Ich habe mal zugesehen, wie mein Dad so was gemacht hat, und es ist ein Klacks.«
Einen Moment später ging sie vorsichtig auf Zehenspitzen durchs Zimmer und legte sich einen Finger an die Lippen. »Tut mir leid, daß ich Sie bei der Arbeit störe. Ich muß zum Wagen runter und ein Stück Schnur holen. Machen Sie einfach weiter«, murmelte sie. Sie sprach in einem heiseren Flüstern, als ob es weniger lästig wäre, wenn sie leiser sprach.
Ich wandte meine Augen gen Himmel und fuhr fort zu tippen. Drei Minuten später kam sie wieder an die Eingangstür und klopfte. Ich mußte aufstehen, um sie hereinzulassen. Wieder entschuldigte sie sich kurz und ging ins Bad zurück, wo sie ihrer Arbeit nachging. Ich schrieb einen Begleitbrief für Julia und vervollständigte meine Rechnung. Becky hielt sich im Nebenraum auf und machte peng-peng-peng mit ihrem zuverlässigen Hammer.
Nach ein paar Minuten erschien sie wieder. »Fertig. Wollen Sie es mal ausprobieren?«
»Einen Moment noch«, erwiderte ich. Ich tippte den Briefumschlag fertig, stand auf und ging ins Bad. Ich fragte mich, ob es so wäre, wenn man ein kleines Kind im Haus hat. Geräusche, Unterbrechungen, das ständige Bemühen um Aufmerksamkeit. Schon eine durchschnittliche Mutter kann mich in Erstaunen versetzen. Mein Gott, was für eine Seelenruhe.
»Schauen Sie«, grinste sie glücklich. Sie stellte das Fenster hoch. Vorher war das, als würde man ein Gewicht von fünfzig Pfund anheben. Auf halbem Weg blieb es dann stecken, kreischte und flog unerwartet hoch, wobei das Glas beinahe zersprang, wenn es vor den Rahmen knallte. Um das Fenster hinunterzuziehen, mußte ich mich praktisch mit beiden Händen daranhängen und es Stück für Stück runterholen. Die meiste Zeit hatte ich es einfach geschlossen gelassen. Jetzt glitt es ohne Störung hinauf.
Sie machte einen Schritt zurück, damit ich es probieren konnte. Ich langte hinüber und zog es hinab, war aber offensichtlich nicht genügend auf die Verbesserung vorbereitet, denn das Fenster kippte so schnell hinunter, daß es mit seinem ganzen Gewicht gegen die Pfosten in der Wand knallte.
Becky lachte. »Ich hab Ihnen doch gesagt, daß es funktioniert.«
Ich starrte erst sie, dann den Fensterrahmen an. Zwei Gedanken waren mir gleichzeitig durch den Kopf geschossen. Ich dachte an Dr. Pickett und die Zahnröntgenbilder und an May Snyders Behauptung, sie habe an dem Abend, als Marty gestorben war, jemanden peng-peng-peng machen hören.
»Ich muß weg«, stieß ich hervor. »Sind Sie so ziemlich fertig?«
Sie lachte wieder; diese unbehagliche, falsche Heiterkeit, die hervorsprudelt, wenn man denkt, daß man es mit jemandem zu tun hat, der einen auf den Arm nimmt. »Äh, nein. Ich dachte, Sie hätten gesagt, daß Sie noch andere Dinge erledigt haben wollten.«
»Morgen. Oder vielleicht übermorgen«, sagte ich. Ich ging mit ihr zur Tür und langte nach meiner Handtasche.
Becky ließ sich widerstandslos herumschieben.
»Habe ich was Falsches gesagt?« fragte sie.
»Wir werden morgen darüber reden«, erwiderte ich. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar für die Hilfe.«
Ich fuhr wieder in Elaines Viertel und kreiste dort im Block, um Dr. Picketts Praxis in der Arbol zu finden. Ich hatte sie vorher schon einmal gesehen; eines dieser einstöckigen holzverschalten Häuschen, die hier in der Gegend mal so vorherrschend waren. Die meisten sind in Filialen von Grundstücksgesellschaften und Antiquitätenläden umgewandelt worden, die aussehen wie ein kleines, überfülltes Wohnzimmer mit einem außen vorgehängten Schild.
Dr. Pickett hatte ein paar Blumenbeete zugepflastert, um einen kleinen Parkplatz zu schaffen. Da hinten stand nur ein Wagen: ein 1972er Buick mit einem Ziemummernschild mit der Aufschrift: Prothes. Ich hielt daneben, schloß meinen Wagen ab und ging ums Haus herum nach vorn und zur Veranda hoch. Das Schild an der Tür sagte Bitte Eintreten, also tat ich es.
Das Innere erinnerte mich deutlich an meine Grundschule: lackierte Holzfußböden und der Geruch nach Gemüsesuppe. Hinten in der Küche hörte ich jemanden herumklappern. Dort lief ein Radio, das auf einen Country-Music-Sender eingestellt war. Ein verschrammter hölzerner Schreibtisch stand quer im Eingangsflur. Darauf befanden sich eine kleine Klingel und ein Schild mit den Worten Bitte Läuten. Ich schlug leicht auf die Glocke.
Zu meiner Rechten befand sich ein Wartezimmer, das mit modernen Plastiksofas und niedrigen Furnierholztischen im dänischen Stil möbliert war. Die Zeitschriften waren sorgfältig in einer Reihe aufgestellt, aber die Abonnements waren wohl abgelaufen. Ich entdeckte eine Li/e-Ausgabe, auf deren Titelbild das »Starlet Janice Rule« abgebildet war. Dr. Picketts Behandlungszimmer war von dem Anmelderaum abgeteilt. Durch die offene Tür konnte ich einen altmodischen Zahnarztstuhl mit einem schwarzen Plastiksitz und ein weißes Spuckbecken aus Porzellan entdecken. Das Instrumententablett war rund und schaukelte offensichtlich an einem Metallarm. Weißes Papier deckte die Oberfläche ab wie ein Platzdeckchen, und die Instrumente waren darauf aufgereiht wie Sachen aus einem Zahnheilkundemuseum. Ich war regelrecht begeistert, daß ich meine Zähne nicht gleich jetzt behandeln lassen mußte.
Entlang der Wand zu meiner Linken standen einige abgenutzte Holzaktenschränke. Unbeaufsichtigt. Ich spürte, wie es mir in den Fingern juckte. Pflichtbewußt läutete ich noch einmal die Glocke, aber die Countrymusic heulte immer weiter. Ich kannte das Lied, und dieser Text bricht mir seit jeher das Herz.
Auf der Vorderseite eines jeden Aktenschrankes befanden sich kleine Blechrahmen, in die handgeschriebene weiße Kärtchen geschoben worden waren. A-C stand auf dem ersten. D-F stand auf dem nächsten. Diese alten Aktenschränke kann man nämlich nicht abschließen. Also, manchmal schon, aber diese hier nicht. Außerdem würde ich mir eine ziemlich lange Lügengeschichte ausdenken müssen, dachte ich. Und ich könnte auf der falschen Spur sein, dann würde ich bloß jedermanns Zeit, einschließlich meiner eigenen, verschwenden. Ich zögerte nur noch, weil die Gerichte sich manchmal wirklich anstellen, wenn es um die moralische Integrität der Beweisstücke geht. Man sollte also nicht herumlaufen und Informationen stehlen, von denen man hofft, daß man sie später als die »Beweisstücke A u. B der Anklage« anpreisen könnte. Es sind die Cops, von denen erwartet wird, daß sie all dieses Zeug heranschaffen, es etikettieren und beschriften und peinlich genau Buch darüber führen, wer Zugang dazu hatte und wo es gewesen ist. Beweiskette, nennt man das. Ich meine, schließlich habe ich den ganzen Quatsch gelesen und kenne mich aus.
Ich rief »Huhuu!« und wartete. Dabei fragte ich mich, ob »huhuu«, so wie »Mama« und »dada« einer der Ausdrücke ist, die in den meisten Sprachen auftauchen. Wenn nicht innerhalb der nächsten zehn Sekunden jemand reagierte, würde ich zum Betrug übergehen.