10
Es war nun fast drei Uhr, und ich fühlte mich total erschöpft. Seit zwei Uhr nachts war ich bereits auf den Beinen, mit Ausnahme des kleinen Schläfchens bei Morgengrauen, bevor mich der Anruf von Mrs. Ochsner geweckt hatte. Ich konnte das Büro nicht schon wieder sehen, deshalb fuhr ich zu meinem Apartment und zog mir die Joggingsachen an. Wenn ich hier das Wort Apartment benutze, dann in seinem weitesten Sinne. Ich lebe nämlich in einer umgewandelten Garage, die vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter groß ist, aber zu Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad, Abstellkammer und Wäscheraum hergerichtet wurde. Ich habe schon immer gern in kleinen Räumen gewohnt. Als Kind, direkt nachdem meine Eltern ums Leben gekommen waren, verbrachte ich meine freie Zeit in einem Pappkarton, den ich mit Kissen ausgekleidet hatte. Das war mein Segelschiff auf dem Weg zu neuen Ufern. Man braucht keinen Analytiker, um diese Ausflüge zu interpretieren, aber diese Vorliebe hat sich bis ins Erwachsenenalter gehalten und äußert sich heute in allen möglichen Beziehungen. Ich fahre kleine Autos und bevorzuge überhaupt »Kleinheit« in jeder Form, so daß diese Wohnung genau zu mir paßt. Für zweihundert Dollar im Monat habe ich alles, was ich brauche, einschließlich eines höflichen, einundachtzigjährigen Vermieters namens Henry Pitts.
Als ich nun auf dem Weg nach draußen bei ihm durchs Fenster schaute, sah ich ihn in der Küche beim Ausrollen eines Blätterteigs. Früher war er Bäcker von Beruf gewesen, und jetzt besserte er seine Rente auf, indem er Brote und Kuchen herstellte und sie an Geschäftsleute in der Umgegend verkaufte oder eintauschte. Ich klopfte an die Scheibe, und er winkte mich hinein. Henry ist das, was ich gern als achtzigjährige »Verführung« bezeichne, groß und schlank mit kurzgeschorenem weißem Haar und veilchenblauen Augen, die voller Neugierde sind. Das Alter hat ihn zu einem konzentrierten Durch-und-Durch-Mann verdichtet, teilnahmsvoll und klug und verschroben. Ich könnte nicht sagen, daß er mit den Jahren mit einer besonderen Lebensklugheit ausgestattet wurde oder daß er von irgendeiner speziellen Weisheit, dem Zweiten Gesicht, außergewöhnlicher Tiefgründigkeit oder Scharfsinnigkeit erfüllt sei. Ich meine das, um diese Sache nicht überzubewerten. Er war schon clever, als er damals angefangen hatte, und das Alter hatte daran kein bißchen geändert. Trotz unserer fünfzig Jahre Altersunterschied hatte seine Haltung mir gegenüber nichts von einem Gelehrten, und meine Haltung ihm gegenüber (wie ich hoffe) nichts Forderndes. Wir beobachteten einander einfach über dieses halbe Jahrhundert hinweg mit einem beträchtlichen, vitalen, sexuellen Interesse, das keiner von uns auch nur im Traum auszuleben gedachte.
An diesem Tag trug er ein rotes Tuch im Piratenstil um den Kopf gewickelt. Seine braungebrannten Unterarme waren nackt und mehlbestäubt, die Finger lang und flink wie die eines Affen, als er jetzt den Teig packte und ihn halb wendete. Er benutzte ein Stück Rohr als Teigrolle, das er zwischendurch mit Mehl bestäubte. Mit viel Geschick brachte er den Teig in eine rechteckige Form.
Ich ließ mich auf einem hölzernen Hocker nieder und öffnete meine Schuhe. »Machst du Napoleons?«
Er nickte. »Ich beliefere eine Teegesellschaft bei jemandem hier in der Straße. Was hast du vor, abgesehen von einem Lauf?«
Ich klärte ihn kurz über meine Suche nach Elaine Boldt auf, während er den Teig in Drittel teilte, einschlug und in den Kühlschrank zurücklegte. Als ich zu der Stelle über Marty Grice kam, bemerkte ich, wie er die Augenbrauen hochzog.
»Laß die Finger davon. Hör auf mich, und überlasse die Sache den Beamten vom Morddezernat. Du mußt ein Narr sein, wenn du dich da reinziehen läßt.«
»Aber was ist, wenn sie gesehen hat, wer Marty umbrachte? Was, wenn das der Grund für ihr Verschwinden war?«
»Dann soll sie mit diesen Informationen herausrücken. Das ist nicht deine Sache. Wenn Lieutenant Dolan dich dabei erwischt, wie du ihm in seinen Fall pfuschst, kriegt er dich am Arsch.«
»In der Tat, das stimmt«, räumte ich reumütig ein. »Aber wie soll ich sonst weitermachen? Ich weiß nicht mehr, wo ich suchen soll.«
»Wer sagt eigentlich, daß sie verschwunden ist? Warum glaubst du nicht, daß sie irgendwo in Sarasota am Strand sitzt und Gin-Tonic schlürft?«
»Weil dann jemand etwas von ihr gehört hätte. Ich glaube, daß ich zwar nicht weiß, ob sie etwas Besonderes vorhat oder vielleicht selbst in Schwierigkeiten steckt. Aber solange sie nicht auftaucht, werde ich auf Büsche klopfen und Trommeln rühren und versuchen sie zu finden.«
»Eine Pseudo-Aufgabe«, sagte er. »Du jagst deinen eigenen Schwanz.«
»Nun, das mag richtig sein, aber ich muß etwas tun.«
Henry sah mich skeptisch an. Er öffnete einen Sack Zucker und wog einen Haufen ab. »Du brauchst einen Hund.«
»Nein, brauche ich nicht. Und was soll das damit zu tun haben? Ich hasse Hunde.«
»Du brauchst Schutz. Diese Geschichte am Strand wäre nicht geschehen, hättest du einen Dobermann gehabt.«
Das nun wieder. Mein Gott, sogar meine Berührung mit dem Tod vor kurzem hatte in einer Abfalltonne stattgefunden... ein kleiner, gemütlicher Ort und ich als schluchzendes Kind darin.
»Ich habe über diesen Kram heute noch nachgedacht, und soll ich dir etwas sagen? All dieses Gerede über die Frau als Pflegerin und Näherin ist Blödsinn. Männer stellen uns ruhig, indem sie uns mit Konsumgütern überhäufen. Wenn mich heute wieder jemand verfolgen würde, ich würde es wieder tun, nur daß ich diesmal wohl nicht zögern würde.«
Henry schien nicht sehr beeindruckt. »Schade, daß du das sagst. Hoffentlich ist das nicht deine neue Linie.«
»Ich meine es ernst. Ich habe es satt, mich hilflos und ängstlich zu fühlen«, sagte ich.
Henry blies seine Wangen auf und stieß einen verächtlichen Pfiff aus, während er mich gelangweilt ansah. Große Worte, sagte seine Miene, aber mir kannst du nichts vormachen. Er schlug ein Ei auf der Arbeitsplatte auf und öffnete es mit einer Hand. Durch die Finger ließ er das Eiweiß langsam in eine Tasse laufen. Er legte das Eigelb in eine Schale, nahm ein weiteres Ei und wiederholte den Vorgang. Seine Augen waren auf mich geheftet.
Er meinte: »Also los, verteidige dich. Wer sollte schon etwas dagegen haben? Aber du kannst die Scheißrhetorik weglassen. Töten ist töten. Schau dir lieber genau an, was du getan hast.«
»Ich weiß«, sagte ich wenig energisch. Der Ausdruck in seinen Augen machte mich verlegen, und auf seine Tonart war ich auch nicht besonders scharf. »Sieh mal, vielleicht habe ich mich noch nicht genug damit auseinandergesetzt. Ich will eben einfach kein Opfer mehr sein. Mir reicht’s.«
Henry hielt die Schale mit den Armen umschlungen und verquirlte die Eier mit routinierter Leichtigkeit. Wenn ich das mache, schwappen die Eier immer über den Rand.
»Wann warst du jemals Opfer? Du mußt dich vor mir nicht rechtfertigen. Was du getan hast, hast du getan. Versuche jetzt bloß nicht, es in einen philosophischen Grundsatz zu verwandeln, das klingt nämlich nicht sehr wahrscheinlich. Es ist ja nicht so, daß du nach monatelanger Erwägung der Fakten eine vernünftige Entscheidung getroffen hättest. Du hast in der Hitze des Gefechts jemanden getötet. Das ist nicht der Ausgangspunkt für eine politische Kampagne, und es bedeutet auch keinen grundlegenden Geisteswandel bei dir.«
Versuchsweise lächelte ich ihn an. »Ich bin doch immer noch ein guter Mensch, nicht wahr?« Ich mochte diesen ernsten Ton nicht. Ich hatte ihm zeigen wollen, daß ich erwachsen war und mit der Realität fertig wurde. Bis zu dem Moment, in dem ich das aussprach, hatte ich nicht gewußt, daß ich so unsicher war.
Er lächelte nicht zurück. Seine Augen ruhten einen Moment lang auf meinem Gesicht und schweiften dann zu den Eiern zurück. »Was du getan hast, ändert nichts daran, Kinsey, aber du mußt ehrlich bleiben. Jemandem das Hirn rauszupusten, kann man nicht einfach wegwischen. Und man kann es nicht in eine intellektuelle Haltung verwandeln.«
»Nein, kann man nicht«, sagte ich unbehaglich. Für einen kurzen Moment schoß mir das Bild des Gesichtes durch den Kopf, das in die Mülltonne geschaut hatte, bevor ich abdrückte. Aufgrund einer bemerkenswerten Verzerrung hätte ich schwören können, daß ich gesehen hatte, wie die erste Kugel das Fleisch wie Gummi gedehnt hatte, bevor sie durchschlug. Ich schüttelte diese Vorstellung ab und sprang auf die Füße. »Ich muß jetzt laufen«, meinte ich mit einem unguten Gefühl.
Ich verließ die Küche, ohne mich noch einmal umzuschauen, doch ich wußte, was für ein Ausdruck auf Henrys Gesicht lag: Wachsamkeit und Kummer und Schmerz.
Als ich draußen war, mußte ich die ganze Sache aus dem Gedächtnis streichen. Das Thema kam wieder in seine eigene kleine Schachtel. Ich machte schnell ein paar Dehnungsübungen und konzentrierte mich dabei auf meine Kniesehnen. Um ein großartiges Aufwärmprogramm zu rechtfertigen, renne ich weder schnell noch weit genug. Andere Jogger würden sicherlich über diesen Punkt streiten und Verletzungen zitieren, die aus einer ungenügenden Dehnung vor dem Lauf resultieren; aber ich finde das Training auch ohne die vorherigen Verrenkungen schon abscheulich genug. Eine Zeitlang habe ich es versucht. Pflichtbewußt lag ich auf dem Rücken im Gras und hatte ein Bein lang ausgestreckt und das andere seitlich Richtung Taille gezogen, als wäre meine Hüfte gebrochen. Hinterher konnte ich nie aufstehen, ohne mich wie ein Käfer abzustrampeln. Schließlich beschloß ich, daß es eine mögliche Muskelzerrung wert war, auf die Demütigungen zu verzichten. Ich habe mich beim Laufen noch nie verletzt. Ich war auch noch nie davon begeistert. Immer noch warte ich auf die vielzitierte »Euphorie«, die offensichtlich jeden außer mich erfaßt. In flotter Gangart steuerte ich den Boulevard an und hielt mir den Kopf frei.
Normalerweise schaffe ich drei Meilen, indem ich den Radweg am Strand entlang nehme. Der Gehweg ist gelegentlich mit seltsamen Zeichnungen markiert, nach denen ich Ausschau halte und so die Viertelmeilen abzähle. Abdrücke irgendeines sagenhaften Vogels, die Spur eines einzelnen, dicken Reifens, die den Beton überquert und im Sand verschwindet. In der Regel gibt es Tramps am Strand; einige, die hier ständig ihr Lager aufgeschlagen haben, andere, die nur auf der Durchreise sind. Ihre Schlafsäcke sind unter den Palmen ausgebreitet wie große grüne Larven oder wie die abgelegten Häute einiger Nachttiere.
An diesem Nachmittag schien die Luft schwer und kühl zu sein, und das Meer war träge. Die Wolkendecke riß langsam auf, aber das sichtbare Stück Himmel war von einem blassen, ausgewaschenen Blau, und es gab keine richtigen Anzeichen von Sonne. Draußen auf dem Wasser hielt ein Motorboot seinen Kurs parallel zum Strand, und der Weg seines Kielwassers schlängelte sich wie ein wirbelndes Silberband hinterher. Die Berge waren auf ihrer landzugewandten Seite dunkelgrün. Aus dieser Entfernung wirkte die niedrig gewachsene Vegetation wie weiches Wildleder, aus dem an den Kammlinien Felsoberflächen hervorschauten, als wäre der Flor hier durch häufigen Gebrauch verschlissen.
Am East Beach machte ich eine Wende und rannte die eineinhalb Meilen zurück. Dann ging ich in den Block zu meinem Apartment, um mich abzukühlen. Im Abkühlen war ich gut. Ich duschte, zog mich wieder an und sprang dann in meinen Wagen, um zu Pam Sharkeys Büro in der Chapel zu fahren. Pam war die Versicherungsvertreterin, die die Policen für Leonard Grice ausgestellt hatte, und ich wollte dieser Sache noch einmal nachgehen, bevor ich sie zu den Akten legte. Ich vertraue Vera, aber ich verlasse mich lieber nicht zu sehr auf die Aussagen der Menschen. Vielleicht hatte Grice ja eine Riesenpolice von einer anderen Gesellschaft kassiert. Man kann nie wissen.
Das Valdez-Gebäude liegt an der Ecke Chapel und Feria, das ist das spanische Wort für »Jahrmarkt«. Das weiß ich nur, weil ich es nachgeschlagen habe. Ich habe mal daran gedacht, einen Spanischkurs zu besuchen, aber bisher habe ich es noch nicht geschafft. Ich kann taco und gracias sagen, aber ich kenne kaum ein Verb. Das Valdez ist typisch für die Architektur dieser Stadt: zwei Stockwerke, weiß verputzt, rotes Ziegeldach, große Rundbögen, Fenster mit schmiedeeisernen Gittern davor. Die Markisen sind azurblau, und die Landschaft drumherum besteht aus kleinen, perfekten Rasenstücken. Palmen zieren den Hof, und ein Springbrunnen ist gekrönt mit einem kleinen, nackten Jungen, der etwas Schlimmes mit einem Fisch tut.
Pam Sharkeys Büro ist im ersten Stockwerk und besteht aus dem gleichen Zellennetz wie das der California Fidelity. Nichts architektonisch Neues für das Versicherungsgewerbe heutzutage. Sie müssen sich fühlen, als erledigten sie ihre Geschäfte in einer Reihe von Laufställen. Die Gesellschaft, für die sie arbeitet, Lambeth und Creek, ist eine unabhängige Agentur, die für eine Anzahl von Gesellschaften, CF eingeschlossen, Policen ausschreibt. Ich hatte erst einmal mit Pam zu tun gehabt, als ich einem Ehemann auf Abwegen nachspionierte. Seine Frau, meine Klientin, war dabei, sich von ihm scheiden zu lassen und hoffte auf Beweise für seine Verführungskünste, um sie bei der Verhandlung gegen ihn zu verwenden. Pam hatte mir das übelgenommen, nicht weil ich ihre Affäre mit dem Mann aufgedeckt hatte, sondern weil ich zwei andere Frauen, die zur gleichen Zeit mit ihm zu tun hatten, zutage gefördert hatte. Natürlich ist nichts darüber vor Gericht zur Sprache gekommen, aber ihr Name stand in meinem Bericht. Sie hatte mir nie verziehen, daß ich zuviel wußte. Santa Teresa ist eine kleine Stadt, und wir laufen uns von Zeit zu Zeit über den Weg. Wir sind freundlich zueinander, aber die Höflichkeiten werden unterhöhlt von Groll auf ihrer Seite und heimlichem Amüsement auf meiner.
Pam ist winzig, ein struppiger kleiner Chihuahua von einem Menschen. Sie ist die einzige Frau, die ich kenne, die behauptet, sie sei zehn Jahre älter, als sie wirklich ist, damit jeder ihr sagt, wie jung sie aussieht. Folglich schwört sie, sie sei achtunddreißig. Ihr Gesicht ist klein, die Haut dunkel. Sie trägt fingerdickes Make-up in verschiedenen Schattierungen auf, ein vergeblicher Versuch, »Stufen« auf ihre Wangen zu zaubern. Ich habe da Neuigkeiten für sie: Es gibt keine Möglichkeit, Säcke unter den Augen durch den geschickten Gebrauch von »Abdeckung« zu vertuschen. Jeder, der ein bißchen Hirn hat, kann von fast allen Winkeln aus die Säcke genau dort sitzen sehen, nur daß sie dann gespenstisch weiß statt grau aussehen. Wer läßt sich davon an der Nase herumführen? Warum nicht auf den dunklen Ringen bestehen, und dann wenigstens exotisch und weltklug aussehen... Anna Magnani, Jeanne Moreau, Simone Signoret vielleicht. Pam hatte sich außerdem kürzlich eine Dauerwelle zugelegt, so daß ihre hellbraunen Haare jetzt kraus und zerzaust aussahen, ein Stil, der offensichtlich als »Schlafzimmer-Look« bezeichnet wurde. An diesem Tag War sie im Jagdstil zurechtgemacht: Reitjacke, braune Knickerbocker, rosa Strümpfe und flache Schuhe mit Schnallen. Die einzige Jagd, auf die sie ging, war allerdings in den Single-Bars. Dort sackte sie sich Eine-Nacht-Geschichten ein, als wäre die Saison beinahe vorbei und ihr Jagdschein liefe ab. Okay, einen Moment mal. Ich merke, daß ich jetzt unfair werde. Ich mag Pam nicht mehr als sie mich. Jedesmal, wenn ich sie sehe, fühle ich mich klein und gemein — was nicht gerade mein Lieblingseindruck von mir ist. Vielleicht geht sie mir aus dem gleichen Grund aus dem Weg.
Ihre Kabine ist gleich am Anfang, wahrscheinlich ein Statussymbol. Sie sah mich und beschäftigte sich eilig mit Papieren und Akten. Bis ich bei ihr am Schreibtisch angelangt war, hatte sie ein Telefongespräch begonnen. Sie muß mit einem Mann gesprochen haben, weil sie sich sehr kokett benahm. Beim Reden berührte sie sich selbst überall, rollte sich eine Haarlocke um den Finger, überprüfte den Ohrring, strich sich über den Jackenaufschlag. Sie trug eine Reihe goldener Ketten, die ebenfalls geordnet wurden. Manchmal rieb sie sich das Kinn mit der Schlaufe einer Goldkette und stieß ein heiteres, trillerndes Lachen aus, das sie wohl spätnachts geübt hatte. Sie schaute mich an, heuchelte Überraschung und hielt eine Hand hoch, um anzudeuten, daß ich warten müßte.
Sie drehte sich mit ihrem Stuhl von mir weg und beendete das Telefonat mit irgendeiner gemurmelten Intimität. Auf dem Aktenstapel auf dem Schreibtisch lag eine Ausgabe von Cosmopolitan, die Artikel über den G-Punkt, kosmetische Chirurgie bei Brustoperationen und die alltägliche Vergewaltigung durch die Gesellschaft versprach.
Pam legte schließlich auf und drehte sich zu mir zurück, während all die Munterkeit aus ihrem Gesicht verschwand. Es gab keinen Grund, die ganze Show auf mich zu verschwenden. »Kann ich dir behilflich sein, Kinsey?«
»Ich hörte, daß du einige Policen für Leonard und Marty Grice ausgestellt hast.«
»Stimmt.«
Ich lächelte ein wenig. »Kannst du mir den momentanen Stand der Dinge mitteilen?«
Pam brach den Blickkontakt ab und führte schnell eine weitere Fingerprüfung durch: Ohrring, Haare, Revers. Sie nahm eine Schlaufe der Goldkette auf und fuhr mit dem Zeigefinger darin hin und her, daß ich schon Angst bekam, sie würde sich die Haut durchsägen. Sie wollte mir sagen, daß Leonard Grice mich nichts anginge, aber sie wußte auch, daß ich gelegentlich für California Fidelity arbeitete.
»Wo liegt das Problem?«
»Kein Problem«, meinte ich. »Vera Lipton macht sich Gedanken über den Anspruch aus dem Feuerschaden, und ich muß wissen, ob es noch andere gültige Policen gab.«
»Einen Moment mal, ja? Leonard Grice ist ein sehr lieber Mann, und er hat ein schreckliches halbes Jahr durchgemacht. Wenn California Fidelity vorhat, ihm Schwierigkeiten zu machen, dann sollte sich Vera besser direkt an mich wenden.«
»Wer hat denn was von Schwierigkeiten gesagt? Vera kann den Anspruch nicht bearbeiten, solange der Schadensnachweis nicht da ist.«
»Das versteht sich von selbst, Kinsey«, erwiderte sie. »Ich weiß immer noch nicht, was das mit dir zu tun hat.«
Ich fühlte, wie mir das Lächeln im Gesicht gefror. Ich lehnte mich vor, die linke Hand flach auf dem Schreibtisch, die rechte in die Hüften gestützt. Ich hielt die Zeit für gekommen, unsere Beziehung klarzustellen.
»Nicht, daß es dich irgend etwas anginge, Pam, aber ich bin mitten in einer großen Untersuchung, die hiermit zu tun hat. Du mußt mir nicht behilflich sein, doch dann werde ich hingehen und dem Geschäftsführer hier eine gerichtliche Verfügung präsentieren, und dann wird jemand so schwer wie eine Tonne Briketts auf dich runterknallen wegen der ganzen Schwierigkeiten, die du verursachen wirst. Also, willst du nun auf diese Art weitermachen, oder was ist?«
Unter ihrem dicken Make-up zeigten sich Spuren von Sonnenbräune. »Hoffentlich glaubst du nicht, daß du mich einschüchtern kannst«, sagte sie.
»Überhaupt nicht.« Ich hielt den Mund und ließ sie die Drohung verdauen. Ich dachte, daß es ziemlich gut geklungen hatte.
Sie nahm einen Stapel Papier auf und klopfte ihn auf den Schreibtisch, während sie die Ränder in eine Linie brachte. »Leonard Grice war durch die California-Fidelity-Lebens- und die California-Fidelity-Unfallversicherung versichert. Er erhielt zweitausendfünfhundert Dollar für die Lebensversicherung, und er wird fünfundzwanzigtausend für den Brandschaden an seinem Haus bekommen. Der Inhalt war nicht versichert.«
»Warum nur fünfundzwanzigtausend für das Haus? Ich dachte, es sei über hundert Riesen wert? Er wird nicht einmal genug Geld haben, um die Reparaturen ausführen zu lassen, oder?«
»Als er das Haus 1962 kaufte, war es fünfundzwanzigtausend wert, und dafür hat er es versichern lassen. Er hat den Umfang niemals vergrößert, und er hat auch keine andere Police abgeschlossen. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, was er mit dem Haus noch anfangen könnte. Es ist ein totaler Verlust, und das hat ihm wohl auch das Genick gebrochen.«
Nun, da sie es mir gesagt hatte, fühlte ich mich schuldig wegen dem ganzen Machoscheiß, den ich ihr zugemutet hatte.
»Danke. Das war eine große Hilfe«, sagte ich. »Ach... übrigens, Vera läßt dich fragen, ob du Interesse daran hast, einen ungebundenen Luftfahrtingenieur mit Knete kennenzulernen.«
Ein herrlicher Ausdruck der Ungewißheit huschte über ihr Gesicht: Zweifel, sexuelles Verlangen, Gier. Bot ich ihr da eine Torte oder einen dicken braunen Haufen auf dem Silbertablett an? Ich wußte, was in ihrem Kopf vorging. In Santa Teresa ist ein alleinstehender Mann vielleicht zehn Tage auf dem Markt, bevor ihn sich eine geschnappt hat.
Sie warf mir einen skeptischen Blick zu. »Was stimmt denn nicht mit ihm? Warum hast du ihn nicht schon genommen?«
»Ich bin gerade einer Beziehung entflohen«, erwiderte ich, »ich bin auf dem Rückzug.« Was stimmte.
»Vielleicht klingel ich mal bei Vera durch«, sagte sie schwach.
»Prima. Nochmals vielen Dank für die Informationen«, sagte ich und winkte ihr zu, als ich ihren Schreibtisch verließ. Bei meinem Glück würde sie sich wahrscheinlich in diesen Typen verlieben und mich zur Brautjungfer wählen. Dann müßte ich eines dieser blöden Kleider mit Riesenvolant um die Hüften tragen. Als ich mich nach ihr umschaute, schien sie geschrumpft zu sein, und ich fühlte einen Stich. Sie war gar nicht so übel.