17
»Was haben Sie für eine Theorie über die Geschehnisse?« fragte ich, als wir gegessen hatten. »Ich meine, soweit ich weiß, war Elaine bis zum Abend des neunten Januar in Santa Teresa. Das war ein Montag. Ich habe ihre Spur vom Apartment bis zum Flughafen verfolgt, und ich habe einen Zeugen, der gesehen hat, wie sie ins Flugzeug stieg. Ich habe noch jemand anderen, der behauptet, sie sei in Miami angekommen und durch Fort Lauderdale nach Boca gefahren. Und diese Person schwört, Elaine sei kurz in Boca gewesen und dann wieder weggefahren, und man habe zuletzt aus Sarasota von ihr gehört, wo sie angeblich bei Freunden wohnt. Ich habe Schwierigkeiten damit, diese letzte Behauptung zu glauben, aber das wurde mir gesagt. Wann könnte Beverly sie umgebracht haben und wo?«
»Vielleicht ist sie ihr nach Florida gefolgt. Sie war gleich nach Neujahr unterwegs auf einer ihrer Sauftouren. Sie war zehn Tage lang weg und kam als Wrack wieder. Ich habe sie noch nie in so schlechter Verfassung gesehen. Sie wollte nichts darüber sagen, wo sie gewesen oder was geschehen war. Ich hatte in der Woche ein Geschäft in New York abzuschließen, also beruhigte ich sie und fuhr dann. Ich war bis zum darauffolgenden Freitag nicht mehr in der Stadt. Sie kann sonstwo gewesen sein, während ich fort war. Angenommen, sie folgte Elaine nach Florida und brachte sie bei der erstbesten Gelegenheit um? Anschließend fliegt sie nach Hause, und niemand hat etwas davon mitbekommen.«
»Ich kann nicht glauben, daß Ihnen damit ernst ist«, meinte ich. »Haben Sie irgendeinen Beweis? Haben Sie etwas, das Beverly auch nur oberflächlich mit Elaines Verschwinden in Verbindung bringt?«
Er schüttelte den Kopf. »Hören Sie, ich weiß, daß ich hier auch nur im dunkeln tappe, und ich könnte total danebenliegen. Ich hoffe verdammt, daß dem so ist. Wahrscheinlich hätte ich gar nichts sagen sollen...«
Ich fühlte, wie ich nervös wurde bei dem Versuch, einen Sinn in das zu bringen, was er gesagt hatte. »Warum hätte Beverly mich engagieren sollen, wenn sie Elaine getötet hat?«
»Vielleicht wollte sie, daß alles korrekt aussieht. Diese Sache mit dem Erbe des Cousins war rechtsgültig. Der Bescheid ist mit der Post gekommen, und was sollte sie nun machen? Angenommen, sie weiß, daß Elaine in einem Paar Schuhe aus Beton auf dem Grunde des Meeres spazierengeht. Sie muß die üblichen Schritte unternehmen, oder? Sie kann die Situation nicht ignorieren, weil sich jemand wundern könnte, warum sie nicht mehr Anteilnahme zeigt. Also fährt sie hierher und engagiert Sie.«
Ich sah ihn skeptisch an. »Allerdings gerät sie in Panik, als ich sage, ich werde zur Polizei gehen.«
»Genau. Und dann denkt sie sich, sie sollte sich besser absichern, und redet deshalb mit mir.«
Ich leerte mein Glas Martini und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Es war sehr sorgfältig entwickelt, und das gefiel mir nicht. Dennoch mußte ich zugeben, daß es möglich schien. Mit meinem Glas zog ich konzentrische Kreise auf die Tischoberfläche. Ich dachte an den Einbruch in Tillies Wohnung. »Wo war sie Mittwoch nacht?«
Verdutzt sah er mich an. »Ich weiß nicht. Was meinen Sie damit?«
»Ich frage mich, wo sie am Mittwochabend und am frühen Donnerstagmorgen dieser Woche war. War sie mit Ihnen zusammen?«
Er runzelte die Stirn. »Nein. Montagabend bin ich nach Atlanta geflogen und gestern erst wiedergekommen. Worum geht’s denn?«
Ich dachte, im Moment sollte ich die Einzelheiten noch für mich behalten und zuckte die Achseln. »Es gab hier einen Vorfall. Haben Sie an einem dieser Tage aus Atlanta angerufen?«
»Ich habe sie überhaupt nicht angerufen. Früher haben wir das immer gemacht, wenn ich auf Geschäftsreise war. Haben lange Ferngespräche hin und zurück geführt. Heute ist es eine Erleichterung, fort zu sein.« Er nahm einen Schluck von seinem Drink und beobachtete mich über den Rand seines Glases hinweg. »Sie glauben gar nichts von alldem, oder?«
»Es ist völlig egal, was ich glaube«, erwiderte ich. »Ich versuche herauszufinden, was wahr ist. Bisher ist alles Spekulation.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich habe keine konkreten Beweise, aber ich hatte das Gefühl, ich müßte es jemandem erzählen. Es hat mich total verwirrt.«
»Ich werde Ihnen sagen, was mich verwirrt«, sagte ich. »Wie können Sie mit jemandem zusammenleben, den Sie des Mordes verdächtigen?«
Er starrte einen Moment lang auf den Tisch, und das Lächeln war, als es wieder erschien, mit der alten Arroganz gefärbt. Ich dachte, er würde mir antworten, aber das Schweigen dehnte sich, und schließlich steckte er sich einfach eine weitere Zigarette an und winkte der Bedienung zum Bezahlen.
Am Nachmittag rief ich Jonah an. Die Begegnung mit Aubrey Danziger hatte mich deprimiert, und die beiden Martinis zum Lunch hatten einen nagenden Schmerz zwischen den Augen hinterlassen. Ich brauchte Sonne und Luft und Bewegung.
»Wollen Sie zum Schießplatz fahren und schießen?« fragte ich, als er den Hörer abnahm.
»Wo sind Sie?«
»Ich bin im Büro, aber bereits auf dem Sprung nach Hause, um ein bißchen Munition abzuholen.«
»Kommen Sie vorbei und holen mich ab«, meinte er.
Ich lächelte, als ich den Hörer auflegte. Gut.
Die Wolken hingen über den Hügeln wie die kleinen weißen Rauchwölkchen, die riesige altmodische Puffpuff-Lokomotiven hinter sich herziehen. Wir nahmen die alte Straße über den Paß, und mein VW beschwerte sich in höchsten Tönen, bis ich vom dritten in den zweiten und schließlich in den ersten Gang schaltete. Der Weg wand sich durch Salbei und Bergflieder hinauf. Beim Näherkommen teilte sich das dunkle Grün der entfernten Vegetation in unscheinbare Sträucher auf, die hartnäckig an den Hängen klebten. Es gab nur sehr wenige Bäume. Auf der rechten Seite waren steile Flächen kalifornischen Buchweizens zu sehen, die mit den hellen, kleinen, orangefarbenen Gesichtern der Gauklerblume und dem Knallrosa der stacheligen Flammenblume durchsetzt waren. Der Giftbaum blühte, und sein üppiges Wachstum erdrückte beinahe die silbrigen Blätter des Beifußes, der an seiner Seite sproß und sein Gegengift ist.
Als wir den Gipfel erreichten, schaute ich nach links. Hier waren wir in einer Höhe von ungefähr achthundert Metern, und das Meer schien in der Ferne zu schweben wie ein grauer Nebel, der mit dem Grau des Himmels verschmilzt. Die Küste erstreckte sich, soweit das Auge blicken konnte, und die Stadt Santa Teresa wirkte wie eine unwirkliche Luftaufnahme. Aus dieser Perspektive schien die Hügelkette im Pazifik einzutauchen und in vier schroffen Bergspitzen wieder aufzusteigen, die die küstennahen Inseln bildeten. Die Sonne war heiß hier oben, und die ätherischen Öle, die das Unterholz ausströmte, würzten die windstille Luft mit Kampfergeruch. Gelegentlich gab es Menzieserdbeerbäume am Hang, die noch immer zu den kärglichen, unförmigen schwarzen Gebilden verformt waren, zu denen sie das Feuer gemacht hatte, das vor zwei Jahren hier durchgefegt war. Alles, was hier oben wächst, scheint sich danach zu sehnen, brennen zu dürfen; Samenkapseln platzen nur bei äußerster Hitze und keimen dann, wenn der Regen wiederkommt. Das ist kein Zyklus, der menschlicher Einmischung viel Raum gewährt.
Die schmale Straße zum Schießplatz bog auf der Hügelkuppe nach links ab und kletterte in einem rechteckigen Winkel weiter durch riesige Sandsteinblöcke, die so leicht und künstlich aussahen wie bei einer Filmkulisse. Ich fuhr auf den staubigen und steinigen Parkplatz. Jonah und ich stiegen aus dem Wagen und nahmen die Waffen und die Munition vom Rücksitz. Ich glaube, wir hatten auf der ganzen dreißigminütigen Fahrt keine sechs Worte gewechselt, aber die Stille war erholsam.
Wir zahlten den Eintritt und steckten uns kleine Schaumgummipfropfen in die Ohren, um die Geräusche zu dämpfen. Ich hatte mir außerdem noch ein Paar Kopfhörer mitgebracht, wie Ohrenschützer, als zusätzliche Sicherheit. Mein Gehör hatte bereits Schaden genommen, hoffentlich keinen bleibenden. Wenn die Stöpsel richtig saßen, konnte ich hören, wie die Luft in meiner Nase ein- und ausströmte, ein Phänomen, dem ich normalerweise nicht viel Aufmerksamkeit schenke. Ich mochte die Ruhe. Wenn ich bis zu ihrem Kern durchdrang, konnte ich mein eigenes Herz hören, als würde jemand zwei Stockwerke tiefer an eine Gipswand klopfen.
Wir gingen zum Schießstand hoch. Das Dach über uns erstreckte sich wie bei einem Wagenunterstand noch fünfzehn Fuß zu jeder Seite. Nur ein Mann schoß, und er hatte eine H & K .45er Wettkampfpistole, die Jonah vom ersten Augenblick an faszinierte. Die beiden sprachen über justierbaren Abzug und justierbare Visiere, während ich acht Patronen ins Magazin meiner kleinen Waffe einsetzte. Diese namenlose Halbautomatik hatte ich von der sehr anständigen unverheirateten Tante geerbt, die mich aufgezogen hatte, nachdem meine Eltern gestorben waren. Sie lehrte mich Stricken und Häkeln, als ich sechs war, und als ich acht war, brachte sie mich hier hoch und lehrte mich das Scheibenschießen. Dabei stützte sie meine Arme auf einem hölzernen Bügelbrett ab, das sie im Kofferraum ihres Wagens aufbewahrte. Ich hatte mich in den Geruch des Schießpulvers verliebt, als ich die erste Zeit bei ihr wohnte. Ich hatte draußen auf ihrer Verandatreppe aus Beton gesessen und hatte einen Streifen Zündplättchen und einen Hammer. Geduldig klopfte ich solange, bis jedes seine Ladung Duft hervorgestoßen hatte. Hinterher waren die Verandastufen voller Fetzen roten Papiers und grauer Flecken verbrannten Pulvers von der Größe der Schnallenlöcher in einem Gürtel. Ich glaube, nach zwei Jahren unausgesetzten Hämmerns entschied sie, daß sie mich ebensogut im Umgang mit richtigen Knarren trainieren könnte.
Jonah hatte seine Colts mitgebracht, und ich schoß mit jedem ein paar Runden, aber für mich waren sie zu große Kaliber. Der Walnußgriff des Trooper fühlte sich wie ein dickes Stück versteinerten Holzes an, und die Vier-Inch-Trommel machte das Zielen zur Qual. Die Waffe schlug in meiner Hand zurück wie ein schneller, automatischer Tritt, wenn der Doktor einem vors Knie klopft. Und jedes Mal, wenn die Waffe zurückschlug, wurde mir eine Wolke Schießpulver ins Gesicht geblasen. Mit dem Python kam ich ein bißchen besser zurecht, aber es war nach wie vor ein unverkennbares, vertrautes Vergnügen, meine .32er wieder zu nehmen — wie Händchenhalten mit einem alten Freund.
Um fünf packten wir unsere Ausrüstung zusammen und fuhren zu der alten Postkutschen-Taverne, die in einer schattigen Senke nicht weit entfernt vom Schießplatz liegt. Wir bestellten Bier und Brot und gebackene Bohnen und redeten über nichts Spezielles.
»Wie läuft’s mit Ihrem Fall?« fragte er mich. »Haben Sie schon was ausfindig gemacht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab da ein paar Sachen, über die ich irgendwann gern mal mit Ihnen sprechen würde, aber nicht im Moment.«
»Sie hören sich kaputt an«, meinte er.
»Ich lächelte. »So was tu ich mir immer an. Ich will schnelle Resultate. Wenn ich die Sache nicht in zwei Tagen aufgedeckt habe, werde ich deprimiert. Was ist mit Ihnen? Geht’s Ihnen gut?«
Er zuckte die Achseln. »Ich vermisse meine Kinder. Gewöhnlich habe ich die Samstage mit ihnen verbracht. Es war schön, daß Sie angerufen haben. So hatte ich etwas zu tun, außer Trübsal blasen.«
»Ja, Sie können mich beim Trübsalblasen beobachten«, sagte ich.
Er tätschelte mir die Hand, die auf dem Tisch lag, und drückte sie leicht. Die Geste war kurz und mitfühlend, und ich drückte zurück.
Um halb acht oder so brachte ich ihn zu seiner Wohnung zurück und fuhr nach Hause. Ich war es leid, über Elaine Boldt zu grübeln, also setzte ich mich auf die Couch, säuberte meine Waffe, sog den Geruch des Öls ein und fand es entspannend, alles zu zerlegen und abzuwischen und wieder zusammenzusetzen. Danach zog ich meine Sachen aus, wickelte mich in meine Decke und las in einem Buch über Fingerabdrucktechniken, bis ich einschlief.
Am Montag morgen hielt ich auf dem Weg ins Büro bei Santa Teresa Travel an und unterhielt mich mit einer Angestellten namens Lupe, die wie eine interessante Mischung aus Chicano und Schwarzer aussah, dünn wie eine Katze. Sie war Mitte Zwanzig und hatte eine gelbbraune Hautfarbe und dunkles krauses Haar mit einem leichten Goldton, das ihr kurz um den Kopf herum geschnitten war. Sie trug eine kleine, rechteckige Brille und einen schicken, marineblauen Hosenanzug mit einem gestreiften Schlips. Ich zeigte ihr die Durchschriften des Tickets und erzählte ihr, wonach ich suchte. Meine Vermutung war richtig. Elaine war in den letzten paar Jahren eine regelmäßige Kundin bei ihnen gewesen. Trotzdem schien Lupe über die Durchschriften verwirrt zu sein. Sie zog die Brille tief auf die Nase und schaute mich an. Ihre Augen waren matt goldfarben wie die eines Lemuren, und sie gaben ihrem Gesicht etwas Exotisches. Volle Lippen, kleine gerade Nase. Ihre Fingernägel waren lang und gebogen und wirkten hart wie Horn. Vielleicht war sie in einem früheren Leben eine Art Höhlentier gewesen. Nachdenklich schob sie die Brille wieder in die richtige Stellung.
»Tja, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, begann sie. »Sie hat ihre Tickets immer über uns gekauft, aber dieses ist am Flughafen ausgestellt worden.« Sie berührte eine Ecke des Durchschlags und drehte das Ticket so, daß ich es lesen konnte. Das erinnerte mich an die Lehrer in der Grundschule, die es immer irgendwie schafften, ein Bilderbuch zu lesen, während sie es nach vorn und zur Seite gerichtet hielten. »Diese Ziffern bedeuten, daß es von der Fluggesellschaft ausgestellt und mit Kreditkarte bezahlt wurde.«
»Welche Sorte Kreditkarte?«
»American Express. Die hat sie gewöhnlich für Reisen benutzt, aber ich sage Ihnen, was merkwürdig ist. Sie hatte Reservierungen vornehmen lassen, für den... einen Moment. Ich schau mal nach.« Lupe tippte einige Zahlen in ihr Computer-Terminal, und ihre Nägel vollführten einen Steptanz auf den Tasten. Der Computer spuckte Zeile um Zeile grüner, druckähnlicher Leuchtzeichen aus. Sie studierte den Bildschirm.
»Es war vorgesehen, daß sie am dritten Februar aus L. A. fliegt, erster Klasse, und der Rückflug am dritten August stattfindet, und für diese Tickets wurde bereits bezahlt.«
»Ich hörte, daß sie sehr spontan abgefahren ist«, meinte ich. »Wenn sie die Reservierung am Wochenende vornehmen lassen wollte, mußte sie das doch über die Fluggesellschaften machen, oder?«
»Klar, aber sie hätte die Tickets, die sie bereits hatte, nicht einfach vergessen. Warten Sie einen Moment, und ich werde nachsehen, ob sie sie jemals abgeholt hat. Sie hätte sie Umtauschen können.«
Sie stand auf, ging zu einem Aktenschrank an der gegenüberliegenden Wand und ging einige Akten durch. Dann zog sie ein Paket heraus und überreichte es mir. Es war eine Sammlung Tickets und ein Reiseplan, die in einem Reiseumschlag der Agentur steckten. Elaines Name war ordentlich auf die Vorderseite getippt.
»Das ist ein Wert von tausend Dollars in Tickets«, erläuterte Lupe. »Man sollte meinen, sie hätte uns angerufen und sie gegen Bargeld eingetauscht, nachdem sie in Boca angekommen war.«
Ich fühlte ein Frösteln. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie da ankam«, meinte ich. Eine ganze Minute lang saß ich mit den nicht benutzten Tickets in der Hand da. Was sollte das? Ich griff in meine Tasche und zog den original TWA-Umschlag hervor, den mir Julia Ochsner geschickt hatte. Auf der Rückseite waren die vier Gepäckscheine mit den aufeinanderfolgenden Nummern, die immer noch fest an ihrer Stelle hafteten. Lupe sah mir zu.
Ich dachte an meinen eigenen kurzen Flug nach Miami, und wie ich um Viertel vor fünf morgens aus dem Flugzeug gestiegen und an den Schränken mit der Glasfront vorbeigegangen war, in denen die verlorengegangenen Koffer gestapelt waren.
»Ich möchte, daß Sie Miami International für mich anrufen«, sagte ich langsam. »Geben wir eine Verlustanzeige auf und warten wir, ob was dabei herauskommt.«
»Haben Sie Taschen verloren?«
»Ja, vier Stück. Rotes Leder mit grauer Stoffeinfassung. Feste Seiten, abgestufte Größen, und ich vermute, daß eine davon eine Umhängetasche ist. Hier sind die Gepäckscheine dafür.« Ich schob den Umschlag über den Tisch, und sie schrieb sich die Nummern auf.
Dann gab ich ihr meine Karte, und sie sagte, sie würde sich melden, sobald sie etwas gehört habe.
»Eine Frage noch«, sagte ich. »War der Flug, den sie genommen hat, nonstop?«
Lupe schaute auf den Durchschlag und schüttelte den Kopf. »Ins Schwarze. Sie hatte einen Zwischenstop mit Umsteigen in St. Louis.«
»Danke.« Als ich zum Büro kam, blinkte das Nachrichtenlicht an meinem Anrufbeantworter. Ich drückte auf den Rücklaufknopf.
Es war mein Punk-Freund Mike. »Heh, Kinsey? O Scheiße, ein Band. Na ja, auch egal. Ich ruf Sie dann später noch mal an, okay? Ach so. Hier ist Mike, und da gibt’s einfach etwas, worüber ich mich mit Ihnen unterhalten möchte, aber jetzt habe ich Schule. Jedenfalls ruf ich dann später noch mal an, okay? Bye.«
Ich machte mir eine Notiz. Die Zeituhr am Band zeigte an, daß er um 7.42 Uhr morgens angerufen hatte. Vielleicht würde er es nachmittags noch mal versuchen. Ich wünschte, er hätte mir eine Nummer hinterlassen.
Ich rief Jonah an und erzählte ihm von Elaines Zwischenlandung. »Könnten Sie ihre Beschreibung innerhalb der Polizei von St. Louis verbreiten?«
»Klar. Glauben Sie, sie ist da?«
»Ich hoffe.«
Ich hatte vorgehabt, noch ein Weilchen mit ihm zu plaudern, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr dazu. Es klopfte kurz, und die Bürotür flog auf. Beverly Danziger stand auf der Türschwelle, und sie sah sauer aus. Ich sagte Jonah, ich würde mich wieder melden, legte auf und wandte meine Aufmerksamkeit Beverly zu.
»Du gottverdammte Schlampe!« Sie knallte die Tür hinter sich zu. Ihre Augen funkelten.
Irgendwie begeistert es mich nicht gerade, so angesprochen zu werden. Ich fühlte, wie mir die Hitze in die Wangen schoß und automatisch Wut in mir aufstieg. Ich überlegte, ob sie mich zu einem Nahkampf herausfordern würde. Ich schenkte ihr ein langsames Lächeln, nur um ihr zu zeigen, daß mich ihre Mätzchen nicht beeindruckten.
»Was gibt’s für Probleme, Beverly?« Selbst in meinen Ohren klang das sehr klugscheißerisch, und ich dachte, ich sollte besser nach etwas suchen, mit dem ich mich wehren könnte, wenn sie sich über den Schreibtisch auf mich stürzte. Alles, was ich erspähte, war ein Bleistift, der nicht angespitzt war, und ein Rolodex.
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Warum, zum Teufel, hast du dich mit Aubrey getroffen? Wie konntest du es wagen! Verdammt, wie konntest du nur!!«
»Ich habe mich nicht mit Aubrey getroffen. Er hat mich aufgesucht.«
»Ich habe dich engagiert. Ich. Du hattest kein Recht, mit ihm zu reden, und kein Recht, meine Angelegenheiten hinter meinem Rücken zu besprechen! Weißt du, was ich tun werde? Ich werde dich dafür verklagen!«
Ich hatte keine Angst davor, daß sie mich verklagt. Ich hatte Angst, sie würde eine Schere aus der Tasche ziehen und mich wie Flicken für eine Patchworkdecke zerschneiden.
Inzwischen beugte sie sich über meinen Schreibtisch und stach mir einen spitzen Zeigefinger ins Gesicht. Aus ihrem Mund schienen Sprechblasen zu kommen wie in einem Comic. Sie schob das Kinn vor. Ihre Wangen waren rosa, und in der Ecke des Mundes sammelten sich Blasen. Ich hätte ihr nur zu gern die Seele aus dem Leib gedroschen, aber ich dachte, das sei nicht so klug. Sie schnappte nach Luft, und ihre Brust dehnte sich. Und dann fing ihr Mund an zu zittern, und die glühenden blauen Augen füllten sich mit Tränen. Sie schluchzte einmal. Sie ließ die Handtasche fallen und schlug sich beide Hände vors Gesicht wie ein Kind. War diese Frau verrückt oder was?
»Setzen Sie sich«, sagte ich. »Rauchen Sie erst mal eine. Was ist los?«
Ich blickte auf den Aschenbecher. Aubreys verräterischer Haufen zerfledderten Tabaks und ein Fetzen schwarzen Papiers lagen immer noch in meinem Aschenbecher. Diskret nahm ich ihn beiseite und leerte den Inhalt in meinen Abfalleimer. Sie setzte sich abrupt hin. Ihr Ärger war verflogen, an seine Stelle war ein tiefsitzender Kummer getreten. Es tut mir leid, mich selbst als unberührt schildern zu müssen. Ich kann eben ein kaltherziges kleines Biest sein.
Während sie heulte, machte ich Kaffee. Die Bürotür öffnete sich einen Spalt breit. Vera lugte herein und stellte Blickkontakt zu mir her. Offensichtlich hatte sie den Radau gehört und wollte sichergehen, daß alles in Ordnung war. Ich hob die Augenbrauen zu einem schnellen Zucken, und sie verschwand. Beverly fischte ein Kleenex hervor und preßte es sich erst auf die Nase und dann auf die Augen, als wollte sie die letzten paar Tränen herausholen. Ihr Porzellanteint war nun gesprenkelt, und die glänzenden schwarzen Haare hatten ein strähniges Aussehen angenommen, wie ein Pelzmuff, der im Regen vergessen worden war.
»Tut mir leid«, stieß sie hervor. »Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen. Er macht mich verrückt. Er bringt mich noch zum Wahnsinn. Er ist so ein Scheißkerl. Ich hasse ihn einfach wie die Pest!«
»Immer mit der Ruhe, Beverly. Wollen Sie einen Kaffee?«
Sie nickte. Sie nahm eine Puderdose aus der Tasche, kontrollierte ihr Augen-Make-up und wischte sich mit einem um den Finger gewickelten Kleenex ein Rinnsal Wimperntusche weg. Dann steckte sie die Puderdose ein und putzte sich die Nase, ohne ein Geräusch dabei zu machen. Es war einfach eine Art Preßvorgang. Sie öffnete die Tasche wieder und suchte nach Zigaretten und Feuer. Ihre Hände zitterten, aber in dem Moment, in dem sie die Zigarette angesteckt hatte, schien alle Spannung aus ihrem Körper zu weichen. Sie inhalierte so tief, als würde sie vor einer Operation Äther einatmen. Ich wünschte, Zigaretten würden mir auch so guttun. Jedesmal, wenn ich mal einen Zug genommen habe, hatte mein Mund nach einer Mischung aus verbrannten Ästen und faulen Eiern geschmeckt. Und mein Atem muß ungefähr genauso gut gerochen haben, da bin ich sicher. Mein Büro sah jetzt aus, als wäre Nebel hereingerollt.
Hoffnungslos schüttelte sie den Kopf. »Sie haben ja keine Ahnung, was ich mitgemacht habe«, meinte sie.
»Hören Sie«, sagte ich, »nur, um das klarzustellen — «
»Ich weiß, daß Sie nichts getan haben. Es ist nicht Ihr Fehler.« Ihre Augen füllten sich kurz mit Tränen. »Ich sollte mittlerweile daran gewöhnt sein, denke ich.«
»Gewöhnt sein woran?«
Sie fing an, das Kleenex in ihrem Schoß zu falten. Langsam begann sie ihre Schilderung, dabei ständig um Beherrschung ringend. Die Sätze wurden von Schweigen und kleinen summenden Geräuschen unterbrochen, wenn ihr die Tränen die Stimme erstickten. »Er... hm... geht zu allen möglichen Leuten. Und er erzählt ihnen... äh... daß ich trinke, und manchmal behauptet er, ich sei eine Nymphomanin, oder er sagt, ich würde mit Elektroschocks behandelt. Was ihm gerade einfällt. Wovon er denkt, daß es mir den größten Schaden zufügen könnte.«
Ich war mir nicht sicher, was ich damit anfangen sollte. Er hatte mir gesagt, sie sei Alkoholikerin. Er hatte mir gesagt, sie ginge auf dreitägige Sauftouren. Er hatte mir gesagt, sie habe ihn mit einer Schere angegriffen und möglicherweise ihre Schwester umgebracht, aus Rache für eine Affäre, die er mit ihr gehabt hatte. Jetzt saß sie hier, weinte sich das kleine Herz aus dem Leib und behauptete, daß er der Urheber all dieses verrückten, pathologischen Zeugs war. Wem von beiden sollte ich nun glauben?
Sie riß sich zusammen und gönnte ihrer Nase den bekannten geräuschlosen Druck. Sie schaute mich an. Das Weiße ihrer Augen war nun rosa gefärbt.
»Hat er Ihnen nicht so etwas erzählt?« fragte sie.
»Ich glaube, er war einfach beunruhigt über Elaine«, erwiderte ich und versuchte auszuweichen, bis ich entscheiden konnte, was ich tun sollte. »Wir haben wirklich nichts Persönliches besprochen, also brauchen Sie sich deshalb keine Sorgen zu machen. Wie haben Sie herausgefunden, daß er hier war?«
»Irgend etwas kam in einem Gespräch heraus«, antwortete sie. »Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was es war. So geht er mit solchen Dingen um. Er gibt mir diese Anhaltspunkte. Er läßt Beweise herumliegen und wartet darauf, daß ich sie entdecke. Und wenn ich nicht zufällig darüber stolpere, stößt er mich genau drauf, und dann lehnt er sich zurück und heuchelt Zerknirschtheit und Erstaunen.«
Beinahe hätte ich gesagt: »Wie bei seiner Affäre mit Elaine«, aber plötzlich kam mir der Gedanke, daß es möglicherweise gar nicht stimmte, oder wenn es stimmte, daß sie möglicherweise doch nichts davon wußte. »Zum Beispiel?« fragte ich.
»Er hatte eine Affäre mit Elaine. Er hat mit meiner einzigen Schwester herumgebumst. Mein Gott, ich kann’s nicht fassen, daß er mir das angetan hat. Ich hatte keinerlei Zweifel, daß sie es getan hat. Sie war immer schon eifersüchtig. Sie hätte alles genommen, was sie kriegen konnte. Aber er. Ich fühlte mich so verarscht. Er ging hin und vögelte sie, kaum, daß Max tot war, und ich war so ein Esel, daß ich es jahrelang nicht herausgefunden habe! Ich habe Jahre dafür gebraucht.«
Sie ließ eines dieser sprudelnden Lachen hören, das aber mehr voll Hysterie als voll Heiterkeit war. »Armer Aubrey. Er muß mit seiner Weisheit fast am Ende gewesen sein, bei dem Versuch, mich das herausfinden zu lassen. Schließlich kam er mit dieser absurden Geschichte über das Finanzamt an, das seine Steuern prüfen will. Ich sagte ihm, der Buchhalter könne sich darum kümmern, aber er meinte, Harvey wolle, daß wir die alten Schecks und Kreditkartenquittungen durchgingen. Also machte ich es, wie ein Kasper, und da war’s.«
»Warum sind Sie nicht gegangen?« fragte ich. »Ich verstehe nicht, wie Sie in solch einer Beziehung bleiben können.« Ich sage immer dasselbe. Jedesmal, wenn ich so eine Geschichte höre. Trunkenheit, Schläge, Untreue und Beschimpfungen. Ich krieg’s einfach nicht in den Kopf. Warum lassen sich Leute so etwas gefallen? Ich hatte es Aubrey gesagt, also dachte ich, ich könnte es ihr genausogut sagen. Diese Ehe war ein Chaos, und, ungeachtet der Wahrheit, waren diese beiden Menschen unglücklich. War Unglück der springende Punkt?
»Oh, ich weiß nicht. Zum Teil wegen des Geldes, denke ich«, meinte sie.
»Scheiß auf das Geld. Dies ist ein Staat, in dem es Gütertrennung gibt.«
»Genau das meine ich«, entgegnete sie. »Er würde mit der Hälfte meines ganzen Besitzes davonkommen, und das kommt mir einfach unfair vor.«
Verdutzt sah ich sie an. »Das ist Ihr Geld?«
»Aber natürlich ist es meins«, erwiderte sie, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Er hat Ihnen erzählt, es sei seins, nicht?«
Ich zuckte unbehaglich die Achseln. »Mehr oder weniger. Er hat mir gesagt, er bringe Grundstücksgesellschaften zusammen.«
Einen Augenblick lang war sie überrascht, dann lachte sie.
Sie begann zu husten und klopfte sich auf die Brust. Dann drückte sie ihre Zigarette aus, indem sie auf dem Boden des Aschenbechers herumstocherte. Rauch kam aus ihren Nasenlöchern, als hätte ihr Gehirn Feuer gefangen. Sie schüttelte den Kopf, und das Lächeln verschwand. »Tut mir leid, aber der war mir neu. Was hat er sonst noch gesagt?«
Protestierend hielt ich eine Hand hoch. »Heh«, sagte ich. »Das reicht. Ich möchte dieses Spiel nicht mitspielen. Ich kenne Ihre Probleme nicht, und es ist mir egal...«
»Sie haben ja recht, Sie haben ja recht. Mein Gott, wir müssen wie Idioten auf Sie wirken. Es tut mir leid, daß Sie da hineingezogen wurden. Es ist nicht Ihre Sache. Es ist meine. Wieviel schulde ich Ihnen für Ihre Zeit?« Sie wühlte in der Handtasche nach ihrem Scheckbuch und dem tollen Füller- und Kugelschreiberset aus Rosenholz.
Ich fühlte meine Wut wieder ansteigen. »Ich will kein Geld von Ihnen. Seien Sie nicht albern. Warum geben Sie mir zur Abwechslung nicht mal ein paar ehrliche Antworten?«
Sie blinzelte mich an, und die porzellanblauen Augen wurden glasig wie Eis auf dem Teich. »Worauf?«
»Elaines Nachbar behauptet, Sie seien zu Weihnachten hier gewesen und hätten mit Elaine dicken Krach gehabt. Sie haben mir gesagt, Sie hätten sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Also, wie war es?«
Sie hielt mich hin, langte nach einer Zigarette, um Zeit zu haben, eine Antwort zu formulieren.
Ich drängte sie. »Los, Beverly. Sagen Sie mir einfach die Wahrheit. Waren Sie hier oder nicht?«
Sie nahm eine Streichholzschachtel, zog ein Streichholz heraus und strich es wiederholt erfolglos über die Reibfläche. Sie warf dieses, offenbar eine Niete, in den Aschenbecher und nahm ein zweites Streichholz heraus. Diesmal brachte sie es fertig, ihre Zigarette zu entzünden. »Ich bin hergekommen«, sagte sie vorsichtig. Sie klopfte die brennende Zigarette auf den Rand des Aschenbechers, als wollte sie Asche entfernen, wo noch gar keine war.
Wenn sie noch mehr Scheiß mit dieser Zigarette machte, würde ich einen Schreikrampf bekommen. »Haben Sie sich mit ihr gestritten oder nicht?«
Sie schlug wieder den offiziellen Ton an, und ihr Mund verzog sich geziert. »Kinsey, ich hatte gerade die Sache mit der Affäre herausgefunden. Natürlich haben wir uns gestritten. Genau das hatte Aubrey ja bezweckt, da bin ich sicher. Was hätten Sie denn getan?«
»Was macht das für einen Unterschied? Ich bin nicht mit ihm verheiratet, also wen schert es, verdammt noch mal, was ich getan hätte! Ich will wissen, warum Sie mich belogen haben.«
Sie starrte auf den Tisch. Ein störrischer Ausdruck kam auf ihr Gesicht.
Ich versuchte es auf eine andere Tour. »Warum haben Sie mich zurückgepfiffen? Warum wollten Sie nicht, daß ich die Polizei benachrichtige?«
Sie rauchte einen Moment lang, und ich dachte schon, sie hätte nicht vor, diese Frage zu beantworten. »Ich hatte Angst, daß er etwas getan haben könnte.«
Ich starrte sie an.
Sie bemerkte meinen Blick und beugte sich ernst vor.
»Er ist verrückt. Er ist ein wirklich verrückter Mann, und ich hatte Angst, daß er... ich weiß nicht... ich nehme an, ich hatte Angst, er hat sie umgebracht.«
»Um so mehr ein Grund, die Polizei zu rufen. Oder?«
»Sie verstehen mich nicht. Ich hätte die Polizei nicht auf diese Sache ansetzen können. Deshalb vor allem habe ich Sie engagiert. Als diese ganze Geschichte mit der Erbschaft losging, habe ich mir gar nichts dabei gedacht. Es war so eine unbedeutende Sache. Ich hatte einfach angenommen, sie würde das Papier unterschreiben und dem Anwalt schicken. Und dann, als mir klar wurde, daß niemand etwas von ihr gehört hatte, kam mir in den Sinn, daß etwas daran faul sein könnte. Was genau, wußte ich wohl auch nicht.«
»Aber als ich erwähnte, daß sie tot sein könnte, fiel der Groschen, richtig?« Ich klang gelangweilt. Ich klang auch verächtlich.
Unbehaglich rutschte sie hin und her. »Vorher. Ich glaube, ich hatte es nur einfach nie richtig in Worte gefaßt, bevor Sie es aussprachen, und dann wurde mir klar, daß ich die Situation besser noch einmal neu durchdenken sollte, bevor ich in etwas einwilligte.«
»Wie kommen Sie darauf, daß Aubrey damit zu tun hat?«
»An jenem Tag... als ich hierherkam, und Elaine und ich die Aussprache hatten... da hat sie mir gesagt, daß die Affäre schon seit Jahren dauerte. Endlich hatte sie herausgefunden, daß Aubrey ein Psychopath war, und sie wollte versuchen, die Sache abzubrechen.« Sie hielt inne, und die blauen Augen schauten zu mir auf. »Sie verstehen das mit Aubrey noch nicht. Sie wissen nicht, wie er ist. Man verläßt ihn nicht einfach. Man bricht das nicht einfach ab. Ich habe selbst damit gedroht. Glauben Sie nicht, das wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Aber ich habe es nie getan. Ich weiß nicht, was er täte, aber ich könnte niemals von ihm loskommen. Niemals. Er würde mir bis ans Ende der Welt folgen und mich zurückholen, bloß, daß er mich dann wirklich dafür bezahlen ließe.«
»Bev, ich muß Ihnen sagen, ich hab da meine Schwierigkeiten«, sagte ich.
»Das kommt, weil Sie darauf reingefallen sind. Er kam hier angetanzt, und er hat seine Nummer für Sie abgezogen. Er hat Sie prima reingelegt, und jetzt können Sie sich’s nicht eingestehen, daß er es geschafft hat. Er hat das schon öfters gemacht. Er macht es mit jedem. Dieser Mann ist objektiv geisteskrank. Bis Reagan Gouverneur wurde, war er jahrelang in Camarillo gewesen. Erinnern Sie sich? Reagan kürzte den Staatshaushalt und setzte alle auf die Straße. Zu diesem Zeitpunkt kam Aubrey Danziger nach Hause, und seitdem ist mein Leben eine Hölle.«
Ich nahm einen Bleistift und klopfte auf den Rand des Schreibtischs, dann warf ich ihn zur Seite. »Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Ich will Elaine finden. Das ist alles, was ich will. Ich bin wie ein junger Terrier. Jemand sagt mir, was ich tun soll, und das wird dann getan. Diese verdammte Sache würde mich bis ins Grab verfolgen. Ich werde herausfinden, was mit ihr geschehen ist und wo sie all die Monate war. Und Sie sollten besser beten, daß die Spur nicht zu Ihnen zurückführt.«
Sie stand auf. Sie nahm ihre Tasche und lehnte sich über den Schreibtisch. »Und Sie sollten besser beten, daß die Spur nicht zu Aubrey zurückführt, meine Liebe!« zischte sie.
Und dann war sie weg und hinterließ das schwache Aroma von Whisky, den ich gerade in ihrem Atem gerochen hatte.
Ich zerrte meine Schreibmaschine hervor, tippte einen detaillierten Bericht für Julia und führte meine Ausgaben für die letzten paar Tage auf. Ich benötigte Zeit, um zu verarbeiten, was Beverly mir über Aubrey gesagt hatte. Es war wie das Paradoxon von den Eingeborenenstämmen, von denen einer immer lügt und der andere immer die Wahrheit sagt. Wie will man jemals bestimmen, welcher von beiden was tut? Aubrey hatte mir erzählt, Beverly sei wie Mr. Hyde, wenn sie getrunken hatte. Sie hatte mir erzählt, er sei objektiv geisteskrank, aber sie hatte offensichtlich getrunken, als sie das sagte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer von den beiden ehrlich war, und ich wußte auch nicht, wie ich das herausfinden sollte. Ich wußte nicht einmal, ob das eine Rolle spielte. War Elaine Boldt wirklich tot? Es war mir sicherlich mehr als einmal durch den Kopf gegangen, doch ich hatte mir nicht klargemacht, daß Beverly oder Aubrey da mittendrinstecken könnten. Ich hatte in entgegengesetzter Richtung gesucht und irgendwie angenommen, Elaines Verschwinden hinge mit dem Mord an Marty Grice zusammen. Nun würde ich zurückgehen und die Suche neu beginnen müssen.
Zur Mittagszeit fuhr ich nach Hause und machte einen Lauf. Ich wußte, im Moment konnte ich nur Wasser treten, aber auf gewisse Weise mußte ich einfach abwarten. Etwas würde aufbrechen. Irgendeine Information würde ans Licht kommen. In der Zwischenzeit fühlte ich mich angespannt, und das mußte ich abarbeiten. Der Lauf war schlecht und brachte mich in eine miese Stimmung. Ich holte mir am Ende der ersten Meile Seitenstiche. Ich dachte, ich könnte sie abschütteln. Ich versuchte, meine Finger hineinzugraben und die Taille zu kneten, und dachte, bei einem Muskelkrampf müßte das helfen. Keine Chance. Dann versuchte ich, sie Atemzug um Atemzug hinauszustoßen, weiter von der Taille aus knetend. Die Schmerzen wurden nicht schlimmer, aber sie ließen auch nicht nach. Schließlich verlangsamte ich mein Tempo auf einen Gehschritt, bis sie abflauten, doch in dem Moment, in dem ich wieder mit dem Joggen begann, fraß sich der Stich wieder fest und bremste meinen Lauf. Inzwischen hatte ich die Wende erreicht, aber Rennen schien jetzt so sinnlos, daß ich die gesamten eineinhalb Meilen zu meiner Wohnung zurückging und fluchte. Mir war nicht einmal der Schweiß ausgebrochen, und meine Frustration hatte sich verdoppelt, statt sich zu verflüchtigen.
Ich duschte und zog mich wieder an. Ich wollte nicht ins Büro zurück, aber ich zwang mich. Ich würde ganz von vorne anfangen, zum Anfang zurückgehen und neue Linien ins Wasser ziehen müssen, um zu sehen, ob irgendwo einer anbiß. Meine ganze Trickkiste war jetzt so ziemlich aufgebraucht, doch es mußte noch etwas anderes geben.
Als ich ins Büro kam, sah ich das Blinken des Signallichts am Anrufbeantworter. Ich öffnete die Türen, um ein bißchen Luft hereinzulassen, und drückte dann den Rücklaufknopf.
»Hallo, Kinsey. Hier ist Lupe vom Santa Teresa Travel. Es sieht so aus, als hätten Sie auf Ihrer Gepäckfährte den Vogel abgeschossen. Ich habe die Gepäckaufbewahrung von TWA angerufen und den Angestellten nachsehen lassen. Die vier Taschen standen genau da. Er sagte, er könne sie heute nachmittag einem Flugzeug mitgeben, wenn Sie wollen. Würden Sie mich zurückrufen und Bescheid sagen, was Sie tun möchten?«
Ich stoppte das Band, schüttelte beide Fäuste in der Luft und rief mir mit einem fetten Grinsen zu »Na klaaar!« Zuerst rief ich Jonah an und erzählte ihm, was los war. Ich war wie elektrisiert. Das waren die ersten guten Nachrichten für mich, seit ich die Katze gefunden hatte. »Was soll ich machen, Jonah? Werde ich eine Art gerichtlicher Befugnis brauchen, um die Taschen zu öffnen?«
»Scheiß drauf. Schau, du hast die Aufbewahrungsscheine, oder?«
»Klar, sie liegen hier vor mir.«
»Dann flieg nach Florida runter und hol dir die Koffer.«
»Warum soll ich sie nicht einfach herfliegen lassen?«
»Angenommen, sie steckt in einem«, meinte er.
Das beschwor nun allerdings ein Bild, das mir gar nicht gefiel. Ich spürte, wie ich mich wand. »Glaubst du nicht, daß das inzwischen jemand bemerkt hätte? Du weißt schon, ein Geruch... etwas, das heraustropft?«
»Hör mal, wir haben mal eine Leiche gefunden, die sechs Monate im Kofferraum eines Wagens gelegen hatte. Jemand hatte die Hacken in die Kehle einer Hure gehauen, und sie endete als Mumie. Frag mich nicht wie oder warum, aber sie war überhaupt nicht verwest. Sie trocknete einfach aus. Sie sah aus wie eine große Lederpuppe.«
»Vielleicht sollte ich mir ein Flugzeug nehmen«, bemerkte ich.
An diesem Abend gegen zehn Uhr befand ich mich wieder in der Luft.