13

Die Kellertreppe war intakt. Offensichtlich hatte man das Feuer unter Kontrolle gehabt, bevor es bis hierher vordringen konnte. Die Schäden in den oberen Räumen schienen von einer brennbaren Flüssigkeit verursacht worden zu sein, die zumindest für Oberflächenverbrennungen im ganzen Haus gesorgt hatte. Der Strahl meiner Taschenlampe durchdrang die Dunkelheit und erleuchtete einen schmalen Gang voller Sachen, die ich lieber nicht anfassen wollte. Ich erreichte den Fuß der Treppe. Die Decke war ziemlich niedrig. Das Haus war über vierzig Jahre alt, und das Fundament war naß und von Spinnen bevölkert. Die Luft war undurchlässig wie in einem Treibhaus, nur daß hier unten alles tot war und einen sumpfigen Geruch von Feuer und Feuchtigkeit, Verlassenheit und Verwesung absonderte.

Ich leuchtete mit der Lampe die Balken entlang und suchte sie bis zu dem Loch ab, durch welches das Tageslicht einfiel. War der Fußboden durchgebrannt und die Leiche in den Keller gefallen? Ich ging näher heran und streckte den Hals vor, um besser sehen zu können. Für mich sahen die Ränder des Lochs herausgeschnitten aus. Vielleicht hatte der Feuerwehrexperte Proben der Dielen genommen, um Labortests durchzuführen. Zu meiner Linken sah ich den Heizungskessel, ein stummer, flacher, grauer Buckel, von dem aus rußige Leitungen in alle Richtungen abgingen. Der Boden bestand aus festgetretener Erde und rissigem Beton, und der ganze Raum stand voller Plunder. Farbdosen und alte Fensterscheiben waren unter der Treppe gestapelt. In der Ecke gab es ein uraltes verzinktes Waschbecken, dessen Rohre weggerostet waren.

Ich ging an der Wand entlang und stöberte mit der Lampe in Lücken herum, wo achtbeinige Kreaturen entsetzt vor mir wegrannten. Später war ich froh, daß ich so gewissenhaft war, aber in dem Moment wollte ich nur noch so schnell wie möglich da herauskommen. Ein leeres Haus scheint immer Geräusche zu machen, die einen an einen Axtmörder denken lassen, der auf der Suche nach einem Opfer durch die Räumlichkeiten schleicht. Ich richtete die Taschenlampe auf die gegenüberliegende Wand, an der eine Treppe das kleine Stück zu den verriegelten Doppeltüren hinaufführte, die auf den Seitenhof hinausgingen. Obwohl Tageslicht schräg durch die Risse fiel, drang der Geruch frischer Luft nicht so weit herab. Ich wußte, daß die Doppeltüren von außen mit Schlössern versehen waren, aber das Holz war alt und morsch und schien nicht sehr stabil. Nach dem, was Lily Howe gesagt hatte, hatte der Einbrecher sich gar nicht erst mit Aufbrechen und Hineinkommen aufgehalten. Er war einfach zur Vordertür gegangen und hatte geläutet. Hatten sie gekämpft? War er in Panik geraten, als sie die Tür öffnete, und hatte sie sofort getötet? Der Eindringling konnte natürlich auch eine Frau gewesen sein, besonders wenn die Waffe tatsächlich ein Baseballschläger gewesen war. Frauen sind, seit sie an Olympischen Spielen teilnehmen, im Umgang mit Waffen aus dem sportlichen Bereich sehr geschickt geworden; Tod durch Diskus, Speer, Kugel, Pfeil und Bogen, Hockeypuck... unendliche Möglichkeiten, sollte man meinen.

Ich ging zur Treppe zurück und zitterte unwillkürlich angesichts der Dunkelheit in meinem Rücken. Ich nahm zwei Stufen auf einmal und hätte mich beinah selbst ausgeknockt, als ich gegen den Querbalken knallte. Laut vor mich hin fluchend, stürzte ich aus dem Keller und wieder in den Flur, als wäre der Teufel hinter mir her. Etwas Federartiges streifte mein Auge, und als mir klar wurde, daß es sich um einen zierlichen Tausendfüßler handelte, der sich an mir niederließ, machte ich einen dieser unregelmäßigen Quickdance-Schritte und bürstete an meinem Hemd herum, als stünde ich plötzlich in Flammen. Mensch, was man nicht alles für Geld tut, dachte ich wütend. Ich ging zur Hintertür hinaus, verschloß sie hinter mir und setzte mich auf die Verandastufen. Schließlich beruhigte sich mein Atem, aber ich brauchte noch einige Minuten, um meine Haltung wiederzugewinnen.

In der Zwischenzeit hatte ich Gelegenheit, den Hof zu untersuchen. Ich weiß nicht, wonach ich suchte, oder was ich nach einem halben Jahr zu finden glaubte. Es gab nur überwucherte Büsche und Gräser; ein kleiner, durch Wassermangel verkrüppelter Orangenbaum hing voller reifer Früchte, die braun wurden, weil sie niemand pflückte. Die Hütte war eines dieser vorfabrizierten Metalldinger, die man über den Sears-Katalog bestellen und überall aufstellen kann. Verschlossen war sie mit einem richtig schönen, fetten Vorhängeschloß, das ziemlich stabil aussah. Ich ging quer über den Hof, um es mir genauer anzusehen. Es war doch nur ein einfaches Sicherheitsschloß, das ich bestimmt in wenigen Minuten aufbekommen würde. Doch ich hatte weder meinen kleinen zweiköpfigen Dietrich dabei, noch war ich begeistert von der Vorstellung, am hellichten Tage dazustehen und an einem Schloß herumzufingern. Besser wäre es, nach Sonnenuntergang wiederzukommen und nachzusehen, was Grice oder sein Neffe darin aufbewahrten. Mein Tip: alte Gartenmöbel. Aber man kann ja nie wissen.

Ich brachte den Hausschlüssel zu Snyders zurück. Dann stieg ich in meinen Wagen und fuhr Richtung Büro. Ich ging hinein und machte eine Kanne Kaffee. Die Post war noch nicht da, und auf dem Band des Anrufbeantworters waren auch keine Mitteilungen.

Ich öffnete die Schiebetüren und trat auf den Balkon hinaus. Wo zum Teufel steckte Elaine Boldt? Und wo war Elaine Boldts Miezekätzchen? Ich wußte nicht mehr, was ich tun oder wo ich noch suchen sollte. Ich tippte einen Vertrag, den Julia Ochsner unterzeichnen sollte, und legte ihn in meinen Ausgangskorb. Als der Kaffee fertig war, goß ich mir eine Tasse ein, setzte mich in meinen Schaukelstuhl und schaukelte. Wenn man zweifelt, so dachte ich, ist es am besten, auf Routine zurückzugreifen.

Ich führte ein Ferngespräch mit einer Tageszeitung in Boca Raton und ein weiteres mit einer in Sarasota und gab jeweils eine Kleinanzeige für die Sparte »Persönliches« auf: »Wer weiß etwas über den Aufenthaltsort von Elaine Boldt, weiblich, weiß, 43 Jahre alt...« etc. »Bitte melden bei...« mit meinem Namen, Adresse und Telefonnummer und dem Angebot, per R-Gespräch zu telefonieren.

Ich kam mir sehr produktiv vor. Was sonst noch? Ich schaukelte noch ein bißchen und rief dann Mrs. Ochsner an. Sie ging mir sowieso schon im Kopf herum.

»Hallo?« meldete sie sich, als sie nach langer Zeit abnahm. Ihre Stimme zitterte, hatte aber einen erwartungsvollen Klang; als könnte sie trotz ihrer achtundachtzig Jahre noch jemand anrufen, und dann würde irgend etwas geschehen. Ich hoffte, ich könnte mich auch immer so fühlen. Im Moment war ich nicht sehr optimistisch.

»Tag, Julia. Hier ist Kinsey aus Kalifornien.«

»Einen Moment, Liebes, ich will eben den Fernseher leiser stellen. Ich schaue mir gerade mein Programm an.«

»Soll ich später noch mal anrufen? Ich möchte Sie nicht stören.«

»Nein, nein. Ich möchte lieber mit Ihnen sprechen. Warten Sie.«

Einige Zeit verging, und ich hörte, wie die Lautstärke des Hintergrundgeräusches zur Stille erstarb. Vermutlich schlich Julia so schnell sie konnte zum Telefon zurück. Ich wartete. Schließlich nahm sie den Hörer wieder auf. »Ich habe das Bild noch an«, sagte sie außer Atem, »aber aus dieser Entfernung sieht alles verschwommen aus. Wie geht es Ihnen?«

»Zur Zeit bin ich frustriert«, erwiderte ich. »Ich weiß nicht mehr weiter; doch ich wollte Sie nach Elaines Kater fragen. Ich nehme nicht an, daß Sie Mingus im letzten halben Jahr gesehen haben, oder?«

»Du lieber Gott, nein. Ich habe nicht mal an ihn gedacht. Wenn sie fort ist, muß er wohl auch verschwunden sein.«

»Tja, sieht so aus. Die Hauswartsfrau hier sagt, als Elaine an jenem Abend fuhr, habe sie so etwas wie einen Katzenkorb dabeigehabt. Also, wenn sie tatsächlich nach Florida geflogen ist, ist anzunehmen, daß sie ihn bei sich hatte.«

»Ich bin bereit, zu schwören, daß er genausowenig wie sie jemals hier ankam, aber ich könnte bei Tierärzten und -heimen hier in der Gegend nachfragen«, schlug Julia vor. »Vielleicht hat sie ihn aus irgendeinem Grund in Pflege gegeben.«

»Würden Sie das tun? Das würde mir wirklich Zeit sparen. Ich glaube zwar nicht, daß Sie etwas herausfinden, aber dann haben wir es zumindest versucht. Ich werde sehen, ob ich das Taxi aufspüren kann, das sie benutzt hat, um zum Flughafen zu kommen. Vielleicht finde ich heraus, ob sie den Kater bei sich hatte. Hat Pat Usher ihn jemals erwähnt?«

»Kann mich nicht erinnern. Sie ist jetzt weg, wissen Sie. Mit Sack und Pack ausgezogen.«

»Ach wirklich? Nun, das überrascht mich nicht, aber ich würde gern wissen, wo sie ist. Könnten Sie ihre Nachsendeadresse von den Makowskis besorgen? Ich werde dann in ein oder zwei Tagen noch mal mit Ihnen telefonieren, aber unterstehen Sie sich, Pat selbst anzurufen. Ich will nicht, daß sie von Ihrer Beteiligung erfährt. Ich könnte Sie später noch mal brauchen, um ein bißchen herumzuschnüffeln, und ich will nicht, daß Ihre Tarnung vorher auffliegt. Wie geht es Ihnen sonst?« fügte ich hinzu.

»Oh, mir geht es gut, Kinsey. Sie brauchen sich um mich keine Sorgen zu machen. Ich nehme nicht an, daß Sie eine Partnerschaft in Erwägung ziehen, nachdem wir diesen Fall aufgeklärt haben?«

»Ich habe schon schlechtere Angebote bekommen«, sagte ich.

Julia lachte. »Ich werde jetzt anfangen, Mickey Spillane zu lesen, einfach um mich in Form zu bringen. Ich kenne nämlich nicht sehr viele grobe Wörter, wissen Sie.«

»Ich glaube, in dieser Hinsicht reicht es bei mir für uns beide. Ich werde später mit Ihnen darüber sprechen. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie in der Zwischenzeit etwas Überraschendes herausfinden. Ach ja — ich sende Ihnen einen Vertrag zur Unterschrift zu. Wir können das genausogut offiziell machen.«

»Roger. Over and out«, sagte sie und hängte ein.

Ich ließ meinen alten VW auf dem Parkplatz hinter dem Büro stehen und ging zu Fuß zum Tip-Top-Taxiunternehmen auf der Delgado hinüber. Die Geschäftsräume liegen in einer schmalen Reihe von Läden, die für ihre Ausverkäufe bekannt sind: ein stetiger Kreislauf von Discountschuhen, Autoradios, Imbißbars, Motorradgeschäften und gelegentlich mal ein Schönheitssalon oder ein Schnellfoto-Unternehmen. Es ist keine sehr reizvolle Gegend. Die Einbahnstraße verläuft in der falschen Richtung, der Parkplatz ist zu klein. Und offensichtlich meint der Besitzer des Gebäudes, weil er keine unverschämten Mieten fordert, könne er auch die Räumlichkeiten unter der abgeblätterten Farbe und den zerrissenen Bodenbelägen verkommen lassen.

Zwischen einem Verwaltungsbüro der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und einem Big N’ Tall Men’s Shop mit einem Anzug im Fenster, der für Steroidenthusiasten entworfen war, hatte sich Tip Top gequetscht. Das Büro selbst war lang und schmal und in der Mitte durch eine Preßspanwand mit einer hineingeschnittenen Tür unterteilt. Der Raum war wie ein Kinderversteck möbliert, samt zweier zusammengebrochener Sofas und einem Tisch mit einem zu kurzen Bein. An den Wänden waren mit Klebestreifen Zeichnungen und handgeschriebene Notizen angebracht, in einer Ecke stapelte sich Abfall, und an der Eingangstür waren mit Eselsohren versehene Ausgaben der Road and Track-Zeitschrift unregelmäßig geschichtet. An die gegenüberliegende Wand war der Notsitz eines Autos gelehnt, dessen Lederpolsterung an einer Stelle aufgeschlitzt und mit altem, mit Sternchen gemustertem Heftpflaster repariert war. Der Diensthabende thronte auf einem Hocker und hatte einen Ellbogen auf die Theke gelehnt, die unaufgeräumt wie eine Werkbank war. Er war vielleicht fünfundzwanzig und hatte lockige schwarze Haare und einen kleinen dunklen Schnurrbart. Er trug eine Baumwollhose und ein hellblaues T-Shirt mit einem verblichenen Emblem der Grateful Dead darauf und eine Schirmmütze, die seine Haare an den Seiten hochstehen ließ. Der Kurzwellenfunk quäkte Unverständliches, und er nahm das Mikro.

»Sieben-null«, sagte er und heftete die Augen sofort auf eine Straßenkarte, die an der Wand über der Theke angebracht war. Ich sah einen Aschenbecher voller Zigarettenstummel, eine Flasche Aspirin, einen Pappkalender der Kirche Unsere Liebe Frau der Leiden, einen Ventilatortreibriemen, Plastiktütchen voll Ketchup und eine große, handgeschriebene Notiz, auf der stand: »Hat jemand meine rote Taschenlampe gesehen?« An der Wand hing eine Liste mit den Adressen von Kunden, die ungedeckte Schecks abgegeben hatten oder des öfteren mehr als ein Taxi riefen, um zu sehen, welches zuerst da war.

Es gab eine kurze Salve quäkender Töne, und der Mann führte einen runden Magneten von einem Teil der Karte zu einem anderen. Es sah aus, als würde er mit sich allein ein Brettspiel spielen.

Auf seinem Hocker drehte er sich zu mir um. »Ja, Ma’am.«

Ich hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Kinsey Millhone«, sagte ich. Bei der Vorstellung, mir die Hand geben zu müssen, schien er ein wenig verlegen zu werden, aber er überspielte das und tat mir entschlossen den Gefallen.

»Ron Coachello.«

Ich nahm meine Brieftasche heraus und zeigte ihm meinen Ausweis. »Ich dachte, vielleicht könnten Sie ein paar Daten für mich nachprüfen.«

Seine Augen waren sehr dunkel und leuchtend, und sein Ausdruck sagte, daß er alles prüfen könnte, was er wollte, wenn es ihm paßte. »Worum geht’s?«

Ich erzählte ihm die gekürzte Version der Geschichte, zusammen mit Elaine Boldts Adresse und der ungefähren Zeit, zu der das Taxi dagewesen war. »Können Sie nachsehen, ob Tip Top diesen Fahrgast am neunten Januar dieses Jahres gefahren hat? Es könnte auch City Cab oder Green Stripe gewesen sein. Ich hätte da ein paar Fragen an den Fahrer.«

Er zuckte die Achseln. »Klar. Es kann einen Tag dauern. Ich habe diesen Kram zu Hause. Ich bewahre ihn nicht hier auf. Ich kann Sie ja dann anrufen, oder noch besser, Sie rufen zurück? Wie wär’s damit?«

Das Telefon klingelte, und er führte ein Gespräch und hielt die Route fest. Dann nahm er das Mikro und drückte auf den Knopf. »Sechs-acht.« Er legte den Kopf schief und lauschte vergeblich. Es gab Störungen, dann ein Quäken.

»Vier-null-zwei-neun Orion«, sagte er und schaltete sich aus. Ich gab ihm meine Karte. Er schaute sie so merkwürdig an, als hätte er noch nie eine Frau mit einer Geschäftskarte gesehen. Plötzlich erwachte das Funkgerät wieder zum Leben. Er drehte sich um und nahm das Mikro. Ich winkte ihm zu, und er winkte über die Schulter zurück.

Ich machte genau die gleiche Prozedur mit den anderen beiden Taxiunternehmen durch, die glücklicherweise in geringer Entfernung zueinander lagen. Nachdem ich die gleiche Geschichte noch zweimal erzählt hatte, fühlte ich mich, als litte ich unter einem besonders schweren Fall von Sprachstörung.

Als ich ins Büro zurückkam, war auf dem Band des Anrufbeantworters eine Nachricht von Jonah Robb.

»Äh, ja, Kinsey. Hier ist Officer Robb wegen dieser... äh... Sache, über die wir gesprochen haben. Vielleicht könnten Sie mich ja mal anrufen... äh... heute nachmittag, damit wir einen Treffpunkt deshalb ausmachen können. Heute ist Freitag, und es ist... äh... zehn nach zwölf. Bis bald. Okay. Danke.« Die Nummer, die er hinterlassen hatte, war die der Polizeiwache mit der Durchwahl für die Vermißtenabteilung.

Ich rief ihn an und meldete mich sofort, als er am Apparat war. »Ich hörte, Sie haben Informationen für mich.«

»Stimmt«, erwiderte er. »Wollen Sie nachher mal bei mir vorbeikommen?«

»Könnte ich machen«, meinte ich. Ich schrieb mir seine Adresse auf, und wir machten Viertel nach acht aus, womit wir das Abendessen umgingen. Ich fand, wir sollten jetzt noch keine familiären Gewohnheiten pflegen. Ich dankte ihm für die Hilfe und legte auf.

Mir fiel beim besten Willen nicht ein, was ich nachmittags noch an dem Fall hätte arbeiten können, also schloß ich das Büro ab und fuhr nach Hause. Es war erst zwanzig nach eins, und weil ich bei der Arbeit so wenig erreicht hatte, fühlte ich mich moralisch verpflichtet, mich in meiner Wohnung nützlich zu machen. Ich spülte die Tasse und die Untertasse und den Teller, die im Spülbecken gestanden hatten, und ließ sie zum Trocknen im Abtropfkorb stehen, bis sie wieder gebraucht wurden. Ich packte einen Haufen Handtücher in die Waschmaschine, schrubbte die Bad- und Küchenwaschbecken, brachte den Abfall hinaus und saugte einen Weg um die Möbel herum. Von Zeit zu Zeit verrücke ich die Sachen tatsächlich mal und sauge die ganzen Wollmäuse darunter auf. Heute jedoch reichten ein paar Staubsaugerspuren hier und da und der Geruch, der in der Wohnung lag, diese eigentümliche Mischung zwischen heißem Maschinenöl und gekochtem Staub. Ich liebe Sauberkeit. Wenn man alleine wohnt, kann man entweder total schweinisch werden oder immer wieder nebenher saubermachen, was ich bevorzuge. Es gibt nichts Deprimierenderes, als am Ende eines langen Tages nach Hause zu kommen in eine Wohnung, die aussieht, als wäre ein Wirbelsturm durchgefegt.

Ich zog meine Jogginghose an und lief drei Meilen mit voller Energie. Dies war einer der seltenen Tage, an denen das Laufen unerklärlich großartig erscheint.

Ich kehrte heim, duschte, wusch mir die Haare, machte ein Nickerchen, zog mich an, schlich zu einem kleinen Lebensmitteleinkauf und setzte mich dann an den Schreibtisch und arbeitete die Karteikarten durch. Dabei trank ich ein Glas Weißwein und aß ein warmes Sandwich mit schnittfest gekochtem Ei und massenhaft Best-Food-Mayonnaise und Salz. Bei dem Geschmack wäre ich fast in Ekstase geraten.

Um acht griff ich mir eine Jacke, meine Handtasche und meinen Dietrich und sprang ins Auto. Ich fuhr Richtung Cabana Boulevard, der breiten Straße, die parallel zum Strand verläuft. Ich fuhr rechts ab. Jonah wohnte in einem abseits gelegenen kleinen Häusertrakt außerhalb von Primavera, ungefähr eine Meile entfernt. Ich fuhr an der Marina vorbei, dann am Ludlow Beach, und schaute nach links. Trotz der zunehmenden Dämmerung konnte ich die große Mülltonne ausmachen, in der mich vor zwei Wochen beinahe der Tod eingeholt hätte.

Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis ich hier vorbeifahren könnte, ohne unbewußt nach links zu sehen, ohne zumindest diesen einen Blick auf den Ort zu werfen, wo ich gedacht hatte, mein Leben sei zu Ende. Der Strand schien vom letzten Tageslicht zu leuchten, und der silbergraue Himmel war von rosa- und lavendelfarbenen Tönen überlagert, die dort, wo die nahen Hügel in Sicht kamen, in ein tiefes Magentarot übergingen. Draußen auf dem Meer wurden die Inseln in ein magisches tiefgoldenes Licht getaucht, wo zurückgebliebene Flüßchen aus Sonnenlicht einen schimmernden Teich gebildet hatten.

Ich fuhr den Berg hinauf, am Sea Shore Park vorbei und bog dann nach rechts in ein Straßenknäuel über den Boulevard hinweg ab. Die Nähe zum Pazifik bedeutete zwar zu viel kühlen Nebel und ätzend salzige Luft, aber es gab eine Grundschule in der Nachbarschaft. Für Jonah, der früher von einem Polizistengehalt eine Familie zu ernähren hatte, war diese Gegend erschwinglich, doch war sie keineswegs besonders vornehm.

Ich fand die gesuchte Hausnummer und fuhr in die Einfahrt. Die Verandabeleuchtung brannte, und der Garten sah gut gepflegt aus. Das Haus war im Ranchstil verputzt und graublau mit dunkelblauen Absätzen gestrichen. Ich nahm an, daß es drei Schlafzimmer und vielleicht einen Innenhof nach hinten raus geben würde. Ich klingelte, und Jonah öffnete die Tür. Er trug Jeans und ein L.-L.-Bean-Frackhemd aus Oxfordtuch mit rosa Nadelstreifen. Er hatte eine Bierflasche in der Hand und hielt sie locker am Hals. Mit einem Blick auf die Uhr winkte er mich hinein.

»Mensch, sind Sie pünktlich«, meinte er.

»Tja, es ist ja nicht so weit. Ich wohne am Fuße des Berges.«

»Ich weiß. Soll ich Ihnen das abnehmen?«

Er streckte seine Hand nach meiner Jacke aus. Ich zog sie aus und gab sie ihm zusammen mit meiner Handtasche. Er warf beides unsanft in einen Sessel.

Für einen Moment wußten wir beide nichts zu sagen. Er nahm einen Schluck Bier. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen. Warum mußte das so unangenehm sein? Es erinnerte mich an diese schrecklichen Junior-Highschool-Treffen, wo man von irgendeiner Mutter ins Kino gefahren wird und nie weiß, worüber man reden soll.

Ich schaute mich um. »Nettes Haus«, bemerkte ich.

»Kommen Sie, ich führe Sie herum.«

Ich folgte ihm, während er über die Schulter hinweg mit mir sprach.

»Es war ein Scheißhaufen, als wir das erste Mal reinkamen. Der Kerl hatte es einem dieser Spinner vermietet, der sich ein Frettchen im Schrank hielt und die Toilette nie spülte, weil es seiner religiösen Überzeugung widersprach. Vielleicht haben Sie schon welche von denen in der Stadt gesehen. Barfuß, so rote und gelbe Tücher um den Kopf und Kleidung wie aus dem Alten Testament. Er sagte, sie hätten fast nie die Miete bezahlt. Aber jedesmal, wenn er kam, um mit ihnen darüber zu reden, fingen sie an zu summen und seine Hand zu halten und vielsagenden Blickkontakt zu halten. Möchten Sie Wein? Ich habe ’nen extra guten gekauft — keinen mit Drehverschluß.«

Ich lächelte. »Ich fühle mich geschmeichelt.«

Wir machten einen Umweg in die Küche, und er öffnete eine Flasche Weißwein für mich. Er goß mir ein Glas ein, das noch mit einem Preisschild versehen war. Er grinste schüchtern, als er es bemerkte.

»Alles, was ich hatte, waren die Plastikgläser, die die Kinder zum Spielen draußen benutzt hatten«, meinte er. »Dies ist die Küche.«

»Habe ich mir beinah gedacht.«

Es war ein hübsches Haus. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber hier hatte jemand guten Geschmack bewiesen. Die ganze Wohnung hatte etwas Offenes an sich: nackte, schimmernde Holzfußböden, Möbel mit klaren Linien, saubere Oberflächen. Warum hatte Camilla all dies verlassen? Wonach suchte sie denn noch?

Er zeigte mir drei Schlafzimmer, zwei Badezimmer, einen überdachten Raum hinterm Haus und einen kleinen Hof, umrandet von einer weinbedeckten Gipswand.

»Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen«, begann er. »Als sie ausgezogen war, habe ich ihren ganzen Krempel zusammengepackt und ihn von der Heilsarmee abholen lassen. Ich wollte nicht dasitzen und mir ständig ihren ganzen Schickimicki-Schnickschnack anschauen. Die Räume der Kinder hab ich gelassen, wie sie waren. Vielleicht wird sie ihrer ja mal überdrüssig, so wie sie meiner überdrüssig geworden ist, und schickt sie zurück, aber ihren Kram brauche ich nicht. Sie war ganz schön irritiert, als sie davon hörte, aber was sollte ich denn machen?« Er zuckte die Achseln und stand da, die Bierflasche am Hals umfaßt.

Nun, da ich ihn zweimal gesehen hatte, nahm sein Gesicht langsam Form an. Vorher hatte ich bloß Eigenschaften wie »sanft« und »harmlos« registriert. Mir war das Übergewicht, das er mit sich herumschleppte, aufgefallen, und daß seine Persönlichkeit aus etwas Nettem, gemischt mit etwas Komischem bestand. Er war offen, und dafür war ich empfänglich, aber er hatte auch einen Charakterzug, den ich vorher schon bei anderen Cops festgestellt hatte: ein gedankenverlorenes Selbstbewußtsein, als schaute er aus großer Entfernung auf die Welt zurück; aber bei ihm war es nicht so schlimm. Camilla war immer noch von sichtlich großer Bedeutung für sein Leben, und er lächelte jedesmal, wenn er von ihr sprach, aber nicht aus Zuneigung, sondern um seine Wut zu verbergen. Ich dachte, er müßte noch ein paar mehr Frauen erleben, bevor er sich mit mir befaßte.

»Was ist das? Was bedeutet dieser Blick?« fragte er.

Ich lächelte. »Vorsicht! Bissiger Hund!« erwiderte ich.

Mir war nicht klar, ob ich über ihn oder über mich sprach.

Er lächelte ebenfalls, aber er wußte, was ich meinte. »Hier liegt der Kram.«

Er deutete auf den Eßtisch, der in einer Nische gleich neben dem Wohnzimmer stand.

Ich setzte mich in einen heißen Kranz aus Licht und kam mir vor wie ein Vielfraß mit der Serviette unter das Kinn geklemmt, Messer und Gabel in den Fäusten. Außer den fotokopierten Berichten hatte er es noch geschafft, einige doppelte Fotografien zu besorgen. Ich würde die Auswirkungen des Verbrechens mit eigenen Augen sehen, und ich konnte es kaum noch erwarten.