12

Am nächsten Morgen um neun fuhr ich zur Via Madrina. Tillie öffnete nicht auf mein Klingeln, also blieb ich einen Moment stehen und studierte die Namensliste der Mieter auf den Klingelschildern. In Apartment 10, das direkt neben dem von Elaine liegt, gab es einen Wm. Hoover. Ich klingelte.

Die Gegensprechanlage erwachte zum Leben. »Ja?«

»Mr. Hoover? Hier spricht Kinsey Millhone. Ich bin Privatdetektivin hier in der Stadt, und ich bin auf der Suche nach Elaine Boldt. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«

»Sie meinen, jetzt sofort?«

»Nun, ja, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin vorbeigekommen, um mit der Hauswartsfrau zu sprechen, aber sie ist nicht da.«

Ich hörte einen gemurmelten Dialog. Dann summte der Türöffner, gewissermaßen zum Zeichen der Zustimmung. Mit einem Hechtsprung erreichte ich gerade noch die Tür, bevor das Schloß wieder unnachgiebig wurde. Ich fuhr mit dem Aufzug ein Stockwerk hinauf. Als sich die Fahrstuhltür öffnete, lag mir Apartment 10 genau gegenüber. Hoover stand in einem kurzen blauen Bademantel aus Plüsch im Flur. Ich schätzte sein Alter auf vierunddreißig bis fünfunddreißig. Er war schmächtig, vielleicht einen Meter achtundsechzig groß und hatte schlanke, muskulöse Beine, die von einem leichten Flaum bedeckt waren. Seine dunklen Haare waren zerzaust, und er wirkte, als hätte er sich seit zwei Tagen nicht mehr rasiert. Seine Augen waren noch schlafverquollen.

»Oh je, ich habe Sie geweckt«, sagte ich. »Das tu ich Leuten ungern an.«

»Nein, ich war schon auf«, erwiderte er. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und kratzte sich den Hinterkopf, während er gähnte. Ich mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht mitzugähnen. Auf nackten Füßen ging er in sein Apartment zurück, und ich folgte ihm.

»Ich setze kurz einen Kaffee auf. Er ist dann sofort fertig. Kommen Sie herein, und nehmen Sie Platz.« Seine Stimme war hoch und dünn.

Er deutete auf die Küche zu seiner Rechten. Sein Apartment war das Spiegelbild von Elaines. Vermutlich grenzten ihre Schlafzimmer an dieselbe Wand. Ich warf einen Blick in das Wohnzimmer, das, wie ihres, zum Eingang hinausführte und ebenfalls auf Grices Grundstück nebenan sah. Wo Elaines Apartment einen Blick auf die Straße freigab, hatte die Aussicht hier nichts besonders Anziehendes — man sah nur einen Schimmer der Berge weit weg zur Linken, der noch teilweise von den zwei Reihen italienischer Pinien verdeckt wurde, die entlang der Via Madrina wuchsen.

Hoover zog sich den Bademantel fester zu, setzte sich auf einen Küchenstuhl und schlug die Beine übereinander. Er hatte hübsche Knie. »Wie war Ihr Name noch gleich? Sie müssen schon entschuldigen, aber ich bin noch halb bewußtlos.«

»Kinsey Millhone«, sagte ich. Die Küche roch nach aufgebrühtem Kaffee und dem Dunst ungeputzter Zähne. Seiner, nicht meiner. Er langte nach einer schlanken braunen Zigarette und zündete sie an. Wahrscheinlich hoffte er, seinen morgendlichen Mauldampf mit etwas noch schlechter Riechendem übertünchen zu können. Seine Augen hatten das Braun leichten Tabaks. Er hatte spärliche Wimpern und ein mageres Gesicht und betrachtete mich mit der ganzen Langeweile einer Boa Constrictor nach einer fetten Murmeltiermahlzeit. Die Kaffeemaschine gab ein paar letzte Rülpser von sich und erstarb, während er zwei große blauweiße Becher holte. Der eine hatte rundherum ein Muster, das rammelnde Karnickel darstellte. Der andere zeigte Elefanten bei der gleichen Beschäftigung. Ich versuchte, nicht hinzusehen. Seit Jahren schon denke ich darüber nach, wie Dinosaurier sich wohl gepaart haben, besonders diese riesengroßen, stacheligen. Jemand sagte mal, sie hätten es im Wasser getan, was ihnen geholfen hätte, das ganze Gewicht zu tragen. Aber ich kann nicht glauben, daß Dinosaurier so clever waren. Es kommt mir nicht sehr wahrscheinlich vor bei ihren winzigen, schmalen Köpfen. Ich schubste mich in die Realität zurück.

»Wie nennen Sie sich? William? Bill?«

»Wim«, antwortete er. Er nahm eine Packung Milch aus dem Kühlschrank und besorgte einen Löffel für die Zuckerdose. Ich kippte mir Milch in den Kaffee und beobachtete mit Interesse, wie er zwei gehäufte Eßlöffel Zucker in seinen schüttete. Er sah meinen Blick.

»Ich versuche, ein bißchen zuzunehmen«, erklärte er. »Ich weiß, Zucker ist schlecht für die Zähne. Aber ich bin diese mörderischen Proteindrinks morgens leid — Sie kennen das Zeug — mit Ei und Banane und Weizenkeimen. Bah. Den Nachgeschmack wird man nicht mehr los. Außerdem hasse ich es, vor zwei Uhr nachmittags zu essen, also muß ich mich wohl damit abfinden, dünn zu sein. Ja, jedenfalls packe ich mir deshalb den Kaffee voll. Ich denke, irgend etwas muß doch helfen. Sie scheinen auch eher zur Twiggy-Fraktion zu gehören.«

»Ich laufe jeden Tag, und ich vergesse das Essen.« Ich nippte an meinem Kaffee, der leicht mit Minze gewürzt war. Er schmeckte ganz ausgezeichnet.

»Wie gut kannten Sie Elaine?« fragte ich.

»Wir unterhielten uns, wenn wir uns zufällig im Flur trafen«, erwiderte er. »Wir sind seit Jahren Nachbarn. Was wollen Sie von ihr? Hat sie ihre Rechnungen nicht bezahlt?«

Ich erzählte ihm kurz von ihrem scheinbaren Verschwinden und fügte hinzu, daß das zwar nichts Schlimmes heißen müsse, aber trotzdem rätselhaft war. »Können Sie sich daran erinnern, wann Sie sie zuletzt gesehen haben?«

»Nicht genau. Irgendwann, bevor sie gefahren ist. Ich glaube Weihnachten. Nein, das nehme ich zurück. Ich habe sie am Silvesterabend gesehen. Sie sagte, sie würde zu Hause bleiben.«

»Wissen Sie zufällig, ob sie eine Katze besaß?«

»Na klar. Ein prachtvolles Tier. Ein riesiger grauer Perser namens Mingus. Eigentlich ist er ursprünglich mein Kater gewesen, aber ich war so selten zu Hause und dachte, er sollte Gesellschaft haben. Also gab ich ihn ihr. Da war er noch ein Kätzchen. Ich hatte keine Ahnung, daß er sich zu einer solchen Schönheit entwickeln würde, sonst hätte ich ihn nicht abgegeben. Ich meine, seitdem könnte ich mich ständig ohrfeigen, aber was soll man machen? Geschäft ist Geschäft.«

»Was war das für ein Geschäft?«

Er zuckte interesselos die Achseln. »Sie mußte mir schwören, daß sie niemals seinen Namen ändern würde. Charlie Mingus. Nach dem Jazzpianisten. Außerdem mußte sie versprechen, ihn nicht allein zu lassen; denn was hätte es sonst für einen Sinn gehabt, ihn wegzugeben? Dann hätte ich ihn auch selbst behalten können.«

Wim zog vorsichtig an seiner Zigarette, wobei er den Ellbogen auf dem Tisch liegen ließ. Irgendwo im hinteren Teil des Apartments hörte ich die Dusche laufen.

»Hat sie ihn jedes Jahr nach Florida mitgenommen?«

»Na klar. Manchmal sogar als Handgepäck, wenn die Fluggesellschaft genügend Platz hatte. Sie sagte, er liebte es, dort unten zu sein. Dächte, ihm gehöre die ganze Wohnung.« Er nahm eine Serviette und faltete sie halb.

»Tja, es ist seltsam, daß er nirgendwo aufgetaucht ist.«

»Wahrscheinlich ist er bei ihr, wo immer sie ist.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen, nachdem der Mord nebenan geschehen war?«

Wim schüttelte den Kopf und schnippte seine Asche säuberlich in die gefaltete Serviette. »Ich habe mit der Polizei gesprochen, oder vielmehr sie mit mir. Mein Wohnzimmerfenster führt genau zu dem Haus hinaus, und es interessierte sie, was ich gesehen hatte. Was rein gar nichts war, wie ich hinzufügen darf. Dieser Detective war das größte Macho-Arschloch, das mir jemals begegnet ist; seine feindselige Art hat mir gar nicht gepaßt. Soll ich Ihnen den aufwärmen?«

Er stand auf und nahm den Kaffee.

Ich nickte, und er füllte unsere Becher aus einer Thermoskanne nach. Das Geräusch des laufenden Wassers war abrupt abgebrochen, und Wim registrierte es genau wie ich. Er ging zum Spülbecken zurück und löschte seine Zigarette unter dem geöffneten Wasserhahn. Dann warf er sie in den Abfall. Er holte eine Bratpfanne und nahm eine Packung Speck aus dem Kühlschrank. »Ich würde Ihnen Frühstück anbieten, aber ich habe nicht genug da, es sei denn, Sie wollten einen Proteindrink mit mir trinken. Ich werde gleich einen fertigmachen, egal, wie ekelhaft er ist. Dieses Essen hier ist für einen Freund von mir.«

»Ich muß jetzt sowieso gehen«, sagte ich und stand auf.

Ungeduldig winkte er mir zu. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Trinken Sie auf jeden Fall erst mal Ihren Kaffee aus. Und solange Sie hier sind, können Sie fragen, was Sie wollen.«

»Was ist mit einem Tierarzt für den Kater? Hatte sie einen hier in der Nachbarschaft?«

Wim zog drei Streifen Speck ab, legte sie in die Pfanne und zündete das Gas an. Er beugte sich vor und kontrollierte die kleine blaue Flamme. Er hätte seinen Mantel hinten etwas tiefer ziehen müssen.

Er meinte: »Es gibt hier eine Katzenklinik an der Ecke Serenata Street. Da hat sie Ming immer in einem dieser Katzenkörbe hingebracht, während er wie ein Kojote heulte. Er haßte den Tierarzt.«

»Haben Sie irgendwelche Vermutungen, wo Elaine sein könnte?«

»Was ist mit ihrer Schwester? Vielleicht ist sie nach L. A. gefahren, um sie zu besuchen.«

»Die Schwester war diejenige, die mich zuerst angestellt hatte«, erwiderte ich. »Sie hat Elaine seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Wim sah scharf von der Speckpfanne auf und lachte. »Das ist ja kompletter Schwachsinn! Wer hat Ihnen das gesagt? Ich habe sie selbst vor noch nicht ganz sechs Monaten hier gesehen.«

»Sie haben Beverly gesehen?«

»Klar«, meinte er. Er nahm eine Gabel und wendete die Speckstreifen in der Pfanne. Er ging zum Kühlschrank zurück und nahm drei Eier heraus. Beim bloßen Zusehen starb ich schon fast vor Hunger.

Er fuhr beredt fort. »Sie war vielleicht vier Jahre jünger als Elaine. Schwarze Haare, superkurz geschnitten, exquisite Haut.« Er schaute mich an. »Habe ich recht oder nicht?«

»Klingt nach der Frau, die ich getroffen habe«, sagte ich. »Aber ich frage mich, warum sie mich belogen hat.«

»Das kann ich vielleicht erraten«, bot er an. Er riß einige Papiertücher von der Rolle, faltete sie und legte sie neben die Bratpfanne. »Sie hatten einen üblen Krach, wissen Sie, zu Weihnachten. Beverly wollte das wahrscheinlich nicht zugeben. Sie haben auf jeden Fall geschrien, mit Gegenständen geworfen und Türen geknallt. Oh, mein Gott! Und erst die Sprache, die sie gebrauchten. Obszön. Ich hätte nie gedacht, daß Elaine so fluchen kann, obwohl ich sagen muß, daß die andere noch schlimmer war.«

»Worum ging es?«

»Um einen Mann natürlich. Worum sollte einer von uns sonst so ein Theater machen?«

»Haben Sie eine Ahnung, wer es war?«

»Nee. Offen gestanden, ich nehme an, Elaine ist eine der Frauen, die ihr Witwendasein insgeheim genießen. Ihr wird eine Menge Sympathie entgegengebracht, und sie genießt tonnenweise Freiheit. Sie hat das ganze Geld und keinen, mit dem sie sich streiten muß. Warum sollte sie einen Typen an diesem Geschäft beteiligen? Sie ist alleine besser dran.«

»Wenn das der Fall ist, warum legt sie sich dann mit Beverly an?«

»Wer weiß? Vielleicht fanden sie es lustig.«

Ich trank meinen Kaffee aus und stand auf. »Ich hau jetzt besser ab. Ich will Sie nicht beim Frühstück stören, aber ich komme eventuell nochmal vorbei. Stehen Sie im Telefonbuch?«

»Natürlich. Ich arbeite... als Barkeeper im Edgewood Hotel am Strand. Kennen Sie den Laden?«

»Den kann ich mir nicht leisten, aber ich weiß, welchen Sie meinen.«

»Schauen Sie gelegentlich doch mal rein. Ich bin jeden Abend außer montags von sechs Uhr bis zum Schluß da. Ich lade Sie ein.«

»Danke, Wim. Das werde ich machen. Für Ihre Hilfe bin ich Ihnen sehr dankbar. Der Kaffee war ein Hochgenuß.«

»Stets zu Diensten«, sagte er.

Ich ging allein zur Tür und erhaschte noch einen Blick auf Wims Frühstücksgefährten. Er sah aus wie jemand aus dem Gentlemen’s Quarterly: feuriger Blick, eine perfekte Kinnform, kragenloses Hemd, einen italienischen Kaschmirpullover um die Schultern geworfen und vorn an den Ärmeln geknotet.

In der Küche hatte Wim begonnen, eine Version von The Man I Love zu singen. Seine Singstimme klang genau wie die von Marlene Dietrich.

Als ich in die Eingangshalle kam, traf ich Tillie, die einen Einkaufswagen vor sich her schob. Er war mit braunen Papiertüten vollgepackt.

»Ich glaube, ich muß zweimal täglich einkaufen gehen«, meinte sie. »Sind Sie wegen mir hier?«

»Ja, doch nachdem Sie nicht da waren, bin ich hochgegangen und hatte statt dessen eine kurze Plauderei mit Wim. Ich wußte gar nicht, daß Elaine eine Katze hatte.«

»Oh, sie hatte Ming schon seit Jahren. Ich weiß gar nicht, warum ich nicht daran gedacht habe, das zu erwähnen. Was hat sie wohl mit ihm gemacht?«

»Sie sagten, sie habe eine Menge Gepäck bei sich gehabt, als sie an jenem Abend zum Taxi ging. Könnte Mingus im Katzenkorb dabeigewesen sein?«

»Tja, muß er wohl. Groß genug war er ja, und sie hat den Kater überall hin mitgenommen. Vermutlich wird er auch vermißt. Wollten Sie nicht darauf hinaus?«

»Weiß ich selbst noch nicht, aber wahrscheinlich. Schade, daß er nicht an einer seltenen Katzenkrankheit leidet, dann könnte ich ihn über einen Tierarzt aufspüren«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht mit dienen. Er war immer in guter Verfassung, so weit ich weiß. Er müßte leicht wiederzuerkennen sein. Großes, altes, graues, langhaariges Viech. Er muß fast zwanzig Pfund gewogen haben.«

»War er reinrassig?«

»Nein, und sie hat ihn früh kastrieren lassen, also wurde er auch nicht für Zuchtzwecke oder Ähnliches benutzt.«

»Nun«, meinte ich, »ich kann genausogut auch ihn suchen, da ich im Moment keine weiteren Anhaltspunkte habe. Haben Sie gestern mit der Polizei gesprochen?«

»Oh ja, und ihnen gesagt, daß wir dachten, die Frau könnte Elaines Rechnungen gestohlen haben, als sie einbrach. Der Officer hat mich angesehen, als dachte er, ich sei übergeschnappt, aber er hat es notiert.«

»Ich werde Ihnen noch etwas erzählen. Wim schwört, Elaines Schwester Beverly sei zur Weihnachtszeit hier gewesen und in einen dicken Streit mit ihr geraten. Wußten Sie davon?«

»Nein, und Elaine hat mir gegenüber davon auch nichts erwähnt«, erwiderte sie und bewegte sich unruhig. »Ich muß reingehen, Kinsey. Ich habe Sorbet gekauft, das mir gleich ausläuft, wenn ich es nicht in die Truhe packe.«

»In Ordnung. Ich werde später wiederkommen, wenn ich noch etwas brauche«, sagte ich. »Danke, Tillie.«

Tillie durchquerte die Halle und schleppte ihren Einkaufswagen, und ich ging zu meinem Wagen und schloß ihn auf. Wie gewöhnlich sah ich zu Grices Haus hinüber. Meine Aufmerksamkeit wurde fast unwiderstehlich von dieser halb verkohlten Ruine angezogen, wo der Mord stattgefunden hatte. Impulsiv verschloß ich den Wagen wieder und ging zu Snyders Eingangstür. Er mußte mich durch das Fenster gesehen haben, denn die Tür wurde geöffnet, als ich gerade meine Hand zum Klopfen gehoben hatte. Er trat auf die Veranda hinaus.

»Ich sah Sie den Weg heraufkommen. Sie waren doch gestern schon hier«, begann er. »Ich kann mich nicht mehr an Ihren Namen erinnern.«

»Kinsey Millhone. Ich habe gestern mit Mr. Grice draußen in dem Haus seiner Schwester gesprochen. Er sagte, Sie hätten einen Schlüssel für sein Haus und könnten mich einlassen, damit ich mich umsehen kann.«

»Ja, das stimmt. Ich hab ihn hier irgendwo.« Mr. Snyder schien sich selbst zu filzen und fischte schließlich einen Schlüsselring aus der Tasche. Er durchkämmte die Schlüssel.

»Das isser«, sagte er. Er nestelte den Schlüssel von dem Ring und gab ihn mir. »Der ist für die Hintertür. Vorne ist ja alles verriegelt, wie man sehen kann. Für ’ne Weile hatten sie das ganze Haus abgesperrt, bis die Burschen von der Spurensicherung alles untersucht hatten.«

Aus dem Hintergrund hörte ich: »Was ist los, Orris? Mit wem sprichst du da?«

»Nun reiß dich zusammen! Dummes Huhn. Ich muß gehen«, meinte er mit zitterndem Kiefer.

»Ich bring ihn zurück, wenn ich fertig bin«, rief ich noch, aber er schleppte sich schon zum hinteren Teil des Hauses. Ich dachte, daß sie erstaunlich gut hörte für jemanden, der behauptete, taub wie Brot zu sein.

Ich ging über Snyders Hof, und der Efeu raschelte unter meinen Füßen. Der Vorgarten der Grices war vernachlässigt und verwelkt und der Gehweg mit Schutt verunreinigt. Es sah nicht so aus, als hätte hier jemand sauber gemacht, nachdem die Feuerwehrwagen das Feld geräumt hatten. Ich drückte mir die Daumen, daß die Bergungsmannschaften noch keine Aufräumarbeiten im Haus durchgeführt hatten. Ich ging ums Haus herum und an den mit Vorhängeschlössern versehenen Doppeltüren vorbei, die schräg zum Haus geneigt waren und in den Keller führten. Auf der Rückseite stieg ich fünf verfallene Stufen zu der kleinen Veranda hinauf. Die hintere Tür hatte ein großes Glasfenster in der oberen Hälfte, und ich konnte durch geraffte Vorhänge, die nun schmuddelig waren und schief hingen, in die Küche sehen.

Ich öffnete die Tür und ging hinein. Dieses eine Mal hatte ich Glück. Der Boden war schuttbedeckt, aber die Möbel standen noch immer an ihrem Platz; ein schmutziger Küchentisch, umgefallene Stühle. Ich ließ die Tür hinter mir offen und sah mich um. Auf dem Tresen stand Geschirr, und durch eine offene Speisekammertür waren Regale mit Lebensmittelkonserven sichtbar. Wie immer in solchen Situationen fühlte ich einen leichten Schauer von Unwohlsein.

Das Haus roch intensiv nach verbranntem Holz, und eine dicke Rußschicht lag auf allen Gegenständen. Die Küchenwände waren grau vom Rauch, und meine Schuhe machten ein knirschendes Geräusch, als ich durch den Flur lief. Unter meinen Füßen wurden die Glasscherben zu zuckerähnlichen Kristallen zermalmt. Soweit ich das beurteilen konnte, war das Innere von Grices Haus genauso angelegt wie das der Snyders nebenan. Das, was ich für den Eßraum hielt, konnte ich gleich hinter der Küche ausmachen; dazwischen war eine geschwärzte Schwingtür. Das mußte das Gegenstück zu dem Raum in Snyders Haus sein, den Orris nun zu einem Schlafzimmer für seine Frau umgestaltet hatte. Am Flur lag ein Gästebad, das nur eine Toilette und ein Waschbecken hatte. Das alte Linoleum war gewölbt und verzogen. Darunter zeigten sich schwarze Fußbodendielen. Das Fenster im Flur war jetzt zerbrochen, aber es führte auf einen schmalen Fußweg zwischen den beiden Häusern hinaus und direkt zu May Snyders umgestaltetem Schlafzimmer. Ich sah sie genau, wie sie auf ihrem Krankenbett lag, das zu einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel hochgestellt war. Sie schien zu schlafen und sah unter der weißen Bettdecke klein und verschrumpelt aus. Ich wandte mich vom Fenster ab und ging den Flur hinunter zum Wohnzimmer.

Das Feuer hatte die Farbe aus allen Sachen gelaugt; das Ganze sah jetzt aus wie eine Schwarz-Weiß-Fotografie. Ein verkohltes Muster — wie dunkle Streifen einer Alligatorhaut — bedeckte Tür- und Fensterrahmen. Noch deutlicher wurde die Zerstörung, als ich in den vorderen Teil des Flauses kam. Als ich an der Treppe vorbeiging, die zu dem halben oberen Stockwerk führte, konnte ich sehen, wo die Flammen Stufen und Teile des hölzernen Geländers gefressen hatten. Die Tapete im Treppenaufgang war zerfetzt und verschmiert wie eine alte Schatzkarte.

Ich ging weiter und versuchte mich zurechtzufinden. An der Eingangstür gab es eine ominöse Stelle mit fehlenden Dielenbrettern, wo man wohl Marty Grices Leiche gefunden hatte. Flammen hatten die Wände verzehrt und Rohre und verkohlte Balken offengelegt. Auf dem Boden hier und bis in den Flur zurück und die Treppe hinauf gab es unregelmäßig verbrannte Spuren, wo irgendeine brennbare Flüssigkeit vergossen worden war. Ich ging an dem klaffenden Loch vorbei und schaute in das Wohnzimmer. Es sah aus, als wäre es mit avantgardistischen »Möbelarbeiten« aus Braunkohle-Briketts ausgestattet. Zwei Stühle und eine Couch standen zwar immer noch in der üblichen Anordnung, aber das Feuer hatte die Polsterung bis auf die nackten Sprungfedern abgenagt. Alles, was von dem Teetischchen übriggeblieben war, war ein verbranntes Gestell.

Ich ging zur Treppe zurück und stieg vorsichtig hinauf. Das Feuer hatte das Schlafzimmer in wunderlichen Häppchen verzehrt; ein Stapel Taschenbücher war unberührt geblieben, während die Fußbank daneben fast total verschwunden war. Das Bett war noch gemacht, aber der Raum war von den Feuerwehrschläuchen unter Wasser gesetzt worden und roch nun nach faulender Teppichfaser, durchgeweichter Tapete, schimmelnden Bettdecken und verbrannter Kleidung. Hier und da kamen Klumpen der Isolation durch die vom Feuer freigelegten Putzträger. Auf dem Nachttisch stand ein gerahmtes Foto von Leonard. Unter dem Rand des Glases steckte eine Erinnerungskarte für eine Zahnreinigung und -untersuchung.

Ich schob die Karte beiseite und schaute mir Leonards Gesicht genauer an. Ich dachte an den Schnappschuß, den ich von Marty gesehen hatte. So ein plumpes kleines Etwas: übergewichtig, Brillenrahmen aus Plastik, Frisur, die aussah wie eine Perücke. Leonard war viel attraktiver und mußte in glücklicheren Zeiten eine schmucke Erscheinung abgegeben haben. Er hatte ein bemerkenswertes Gesicht, graue Haare, einen festen Blick. Seine Schultern waren gerundet, wahrscheinlich aufgrund seiner Rückenprobleme, aber das erweckte den Eindruck von etwas Schwachem und Entschuldigendem in seinem Charakter. Ich fragte mich, ob Elaine Boldt ihn anziehend gefunden hatte. Könnte sie zwischen die beiden getreten sein?

Ich stellte das Bild zurück und suchte mir einen Weg die Treppen hinunter. Als ich den Flur entlang zur Küche ging, bemerkte ich eine angelehnte Tür, die ich sachte aufstieß. Vor mir gähnte der Keller wie eine große schwarze Grube. Scheiße! Wenn ich gründlich sein wollte, mußte ich ihn untersuchen. Ich schnitt mir selbst eine Grimasse und ging hinaus zu meinem Wagen, um die Taschenlampe aus dem Handschuhfach zu holen.