10
Ein
Weihnachtsabend
in der Rue du Pot-au-Noir
Eine Regenböe schien über den Himmel gefahren zu sein, eine eilige, tiefhängende Wolke, denn mit einem Mal erlosch all das strahlende Sonnenlicht. Es war, als sei ein Schalter ausgeknipst worden, so grau und eintönig sah jetzt alles aus. Und jeder Gegenstand nahm einen bedrohlichen Aspekt an.
Maigret begriff nun, warum den jungen Männern, die sich damals hier versammelt hatten, so an der gedämpften Beleuchtung einer vielfarbigen Laterne gelegen hatte, warum ihnen die geheimnisvollen Schatten so wichtig gewesen waren und sie das Bedürfnis verspürt hatten, die Luft mit Rauchwolken und Alkoholdünsten zu verschleiern.
Er konnte sich auch das Erwachen Kleins am Morgen nach einer dieser deprimierenden Orgien vorstellen; inmitten leerer Flaschen und zerbrochener Gläser, umgeben von einem schalen Geruch und dem trostlosen Tageslicht, das, durch keinerlei Gardinen gedämpft, direkt in den Raum fiel.
Jef Lombard schwieg bedrückt; dafür begann Maurice Belloir nun zu sprechen.
Der Wechsel war so abrupt, als sei man in eine ganz andere Welt versetzt worden. Der Fotograveur hatte den Aufruhr der Gefühle mit seiner ganzen Person ausgedrückt, mit den verkrampften Gesten, dem Schluchzen und der sich überschlagenden Stimme, mit seinem Hin- und Herlaufen und dem Wechsel von Überschwang und Ruhe, den man in Form einer Fieberkurve hätte aufzeichnen können.
Belloir dagegen hatte sich von Kopf bis Fuß dermaßen in der Gewalt, wußte Tonfall, Blick und Gebärden solcherart zu beherrschen, daß es schmerzhaft anzusehen war; man spürte, daß es ihn qualvolle Anstrengung kostete.
Er hätte wohl nicht zu weinen vermocht, selbst wenn er es gewollt hätte; wäre nicht einmal fähig gewesen, sein Gesicht zu verziehen, so starr war ein jeder seiner Muskeln.
»Erlauben Sie, daß ich fortfahre, Herr Kommissar? … Es wird bald dunkel werden, und hier gibt es keine Beleuchtung.«
Es geschah nicht einmal absichtlich, daß er auf praktische Dinge zu sprechen kam. Es war kein Zeichen von Gefühlskälte, sondern vielmehr seine Art, sich hinter Äußerlichkeiten zu verstecken.
»Ich glaube, ein jeder von uns war aufrichtig bei unseren Unterhaltungen, bei unseren Debatten, unseren Wachträumen, nur daß der Grad dieser Aufrichtigkeit eben verschieden war.
Wie Jef schon gesagt hat, waren da einerseits die Reichen, die anschließend heimkehrten, zurückfanden in eine solide Welt: Van Damme, Willy Mortier und ich, und selbst Janin, dem es an nichts fehlte …
Und innerhalb dieser Gruppe kam Willy Mortier noch ein besonderer Rang zu. Er war – und dies ist nur ein Beispiel – der einzige, der seine Freundinnen unter den gewerbsmäßigen Damen der Nachtklubs und Tänzerinnen kleiner Theater suchte und sie bezahlte …
Ein praktisch veranlagter Junge, ganz wie sein Vater, der – ohne einen Sou in Lüttich angekommen – nicht davor zurückgescheut war, den Handel mit Eingeweiden anzufangen, und dabei reich geworden war.
Willy bekam fünfhundert Francs Taschengeld im Monat. Das war ein Vermögen für uns. Die Universität betrat er nie, ließ sich die Texte der Vorlesungen von armen Kameraden abschreiben und bestand seine Prüfungen aufgrund von Listen und Bestechungen.
Zu uns kam er ganz einfach aus Neugier, denn er teilte weder unseren Geschmack noch unsere Ideen.
Sein Vater, sehen Sie, kaufte Malern ihre Bilder ab und verachtete sie dabei, so wie er Amtmänner, beziehungsweise Stadträte, irgendwelcher Vergünstigungen wegen kaufte und sie verachtete …
Ebenso war es mit Willy. Auch er verachtete uns. Und hierher kam er bloß, um den Unterschied zwischen sich, dem Reichen, und den anderen zu messen.
Er trank keinen Alkohol, blickte voller Abscheu auf diejenigen unter uns, die betrunken waren. Im Verlauf unserer endlosen Diskussionen ließ er nur gelegentlich ein Wort fallen, und das war jedesmal wie eine kalte Dusche. Seine Bemerkungen verletzten uns, weil sie rücksichtslos all die falsche Romantik zerstörten, die wir mühsam geschaffen hatten.
Er verabscheute uns, und wir verabscheuten ihn! Dazu war er noch auf eine zynische Art geizig … Es gab Tage, wo Klein nichts zu essen hatte und wir ihm aushalfen, mal der eine, mal der andere. Mortier allein erklärte:
›Ich möchte nicht, daß zwischen uns von Geld die Rede ist; ihr sollt mich nicht nur, weil ich reich bin, akzeptieren!‹
Und wenn die anderen ihre letzten Sous zusammenkratzten, um gemeinsam etwas zu trinken zu kaufen, achtete er darauf, nicht mehr als seinen Anteil beizusteuern.
Lecocq d’Arneville gehörte zu denen, die ihm seine Texte kopierten; und ich habe selbst mitangehört, wie Willy sich weigerte, ihm einen Vorschuß auf die Arbeit zu geben …
Er war das fremde, das feindliche Element, das in beinahe jedem Kreis von Männern zu finden ist.
Man ertrug ihn eben. Nur Klein griff ihn aufs Heftigste an, besonders wenn er betrunken war, warf ihm alles, was er auf dem Herzen hatte, vor. Der andere ließ diese Angriffe wortlos, die Lippen verächtlich verzogen, über sich ergehen und wurde höchstens ein wenig blaß.
Ich habe vorhin von verschiedenen Graden der Aufrichtigkeit gesprochen; die Ehrlichsten waren zweifellos Klein und Lecocq d’Arneville, die eine brüderliche Zuneigung verband. Beide hatten eine schwere Kindheit an der Seite einer notleidenden Mutter durchgemacht, beide strebten nach einem besseren Leben, empfanden die gleiche Verbitterung angesichts der unüberwindlichen Hindernisse …
Klein war gezwungen, tagsüber als Anstreicher zu arbeiten, um die Abendkurse der Akademie besuchen zu können. Er gestand uns, daß ihm schwindlig wurde, sobald er auf die obersten Sprossen einer Leiter steigen mußte … Lecocq schrieb Vorlesungstexte für andere ab und gab ausländischen Studenten Französischunterricht. Er kam oft hierher essen – der Kocher muß noch irgendwo stehen …«
Er stand in der Nähe der Couch, und Jef stieß ihn schwermütigen Blickes mit dem Fuß an.
Maurice Belloir, dessen glattfrisiertes Haar nicht eine unordentliche Strähne aufwies, nahm den Faden der Erzählung in ausdruckslosem, nüchternen Tonfall wieder auf:
»Inzwischen habe ich gelegentlich in den Salons angesehener Bürger in Reims jemanden zum Spaß die Frage stellen hören: ›Wären Sie unter bestimmten Umständen imstande, einen Menschen zu töten?‹
Oder auch die andere, Ihnen sicherlich bekannte Frage: ›Wenn Sie nur auf einen elektrischen Schaltknopf zu drücken brauchten, um einen im fernsten China lebenden, steinreichen Mandarin zu töten und anschließend zu beerben, würden Sie es tun?‹
Hier in diesem Raum, wo die erstaunlichsten Themen uns als Vorwand zu nächtelangen Diskussionen dienten, mußte das Rätsel von Leben und Tod auch einmal zur Sprache kommen …
Es war kurz vor Weihnachten. Eine Zeitungsnotiz gab den Anstoß … Es hatte geschneit … Und natürlich mußten sich unsere Ansichten von den hergebrachten unterscheiden!
So waren wir denn auch Feuer und Flamme für Theorien wie: Der Mensch ist nichts als ein Schimmelpilz an der Erdkruste, sein Leben oder Tod hat keine Bedeutung. Oder: Mitleid ist nur eine Art Krankheit; die großen Tiere fressen die kleinen, und wir fressen die großen.
Lombard hat Ihnen das mit dem Taschenmesser erzählt, wie er sich ins Fleisch schnitt zum Beweis, daß der Schmerz nicht existiert.
So haben wir denn in jener Nacht, als schon drei oder vier leere Flaschen am Boden lagen, auch allen Ernstes das Töten eines Menschen erörtert.
Es war schließlich eine rein theoretische Debatte, wo alles erlaubt ist … Und einer fragte den anderen:
›Würdest du dich getrauen?‹
Dabei begannen die Augen zu glänzen, und Schauder krankhafter Erregung liefen uns den Rücken hinab.
›Warum nicht? Wo das Leben doch nichts als ein Zufall ist, eine Art Ausschlag an der Erdkruste!‹
›Einen x-beliebigen Menschen auf der Straße? …‹
Und Klein, der am betrunkensten von allen war, rief mit bleichem Gesicht und Ringen unter den Augen:
›Ja!‹
Man hatte das Gefühl, ganz nah am Rand eines Abgrundes zu stehen, fürchtete sich, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Es war ein Spielen mit der Gefahr, ein Tändeln mit dem Tod, der nun, einmal heraufbeschworen, in unserer Mitte umzugehen schien …
Einer von uns – van Damme, glaube ich, der als Kind im Kirchenchor gesungen hatte – stimmte das Libera nos an, das die Priester bei der Totenwache singen. Wir fielen ein, sangen im Chor und berauschten uns an dem makabren Spiel.
Aber wir haben niemand umgebracht in dieser Nacht! Um vier Uhr morgens schwang ich mich über die Mauer und war daheim. Um acht trank ich mit meinen Eltern Kaffee … Und alles war nur noch Erinnerung, verstehen Sie? So, wie man sich eines Theaterstücks erinnert, bei dem es einen gegruselt hat …
Klein jedoch blieb hier, in der Rue du Pot-au-Noir, und im überspannten Hirn dieses körperlich Schwachen spukten diese Ideen fort, ließen ihm keine Ruhe. Immer wieder in den darauffolgenden Tagen verriet er durch unvermittelte Fragen, daß er nicht aufgehört hatte, sich damit zu beschäftigen.
›Glaubst du wirklich, daß es so schwer ist, einen Menschen zu töten?‹
Man wollte sich keine Blöße geben, war aber auch nicht mehr betrunken, antwortete also ohne rechte Überzeugung: ›Natürlich nicht!‹
Wer weiß, ob uns die fieberhafte Erregung des Jungen nicht gar eine Art angstvoller Lust verschaffte? … Verstehen Sie mich recht, wir wollten keine Tragödie! Es ging uns nur darum, bis zur äußersten Grenze vorzudringen …
Bei einer Feuersbrunst wünschen die Zuschauer sich auch ganz unwillkürlich, daß sie dauert, daß ein ›ordentlicher Brand‹ daraus wird, und wenn das Wasser steigt, so hofft der Zeitungsleser auf eine ›ordentliche Überschwemmung‹, von der man noch in zwanzig Jahren sprechen wird.
Irgend etwas Interessantes, egal was!
Der Weihnachtsabend brach an. Jeder brachte etwas zu trinken mit. Wir tranken, sangen, und Klein, der schon recht blau war, zog bald diesen, bald jenen zur Seite:
›Glaubst du, ich wäre imstande, jemand umzubringen?‹
Wir nahmen es nicht weiter tragisch. Um Mitternacht war keiner mehr nüchtern. Es sollten neue Flaschen geholt werden.
In dem Moment erschien Willy Mortier im Smoking; alles Licht schien sich auf seine weiße Hemdbrust zu konzentrieren. Er sah gesund aus, roch nach Kölnisch Wasser. Er sagte, er komme eben von einem großen Empfang.
›Hol uns was zu trinken!‹ rief Klein ihm entgegen.
›Du bist betrunken, Freund! Ich bin bloß vorbeigekommen, um euch ein frohes Fest zu wünschen …‹
›Du meinst wohl, um uns anzugucken!‹
Noch konnte man nicht ahnen, was bevorstand. Und doch war Kleins Gesicht nie zuvor im Rausch so erschreckend gewesen. Er wirkte so schmal, so kümmerlich neben dem anderen. Sein Haar hing wirr herab, Schweiß lief ihm über die Stirn, und seine Krawatte war ihm abhanden gekommen.
›Du bist besoffen wie ein Schwein!‹
›Gut, dann laß dir von dem Schwein sagen, du sollst was zu trinken holen …‹
In dem Augenblick, glaube ich, bekam Willy doch Angst. Er muß gespürt haben, daß das kein Scherz mehr war; trotzdem behielt er seine arrogante Haltung bei.
Er hatte sehr dunkles Haar, man roch die Brillantine.
›Also lustig seid ihr hier ja nicht gerade!‹ ließ er fallen. ›Da waren ja die Spießbürger, von denen ich komme, noch amüsanter …‹
›Hol was zu trinken!‹
Und mit flackerndem Blick umkreiste ihn Klein. In einer Ecke wurde über Gott weiß welche Theorie Kants debattiert, anderswo beteuerte einer fortwährend schluchzend, er habe kein Recht zu leben.
Einen klaren Kopf hatte keiner von uns mehr, und keiner hat alles gesehen … Plötzlich ist Klein – ein zitterndes Nervenbündel – hochgeschnellt und hat zugeschlagen …
Es sah aus, als wolle er seinen Kopf in die Hemdbrust rammen, dann sahen wir das Blut hochspritzen und Willys Mund, der sich immer weiter öffnete …«
»Nein!« fiel Jef Lombard ihm flehentlich ins Wort. Er war aufgestanden, blickte Belloir völlig verstört an.
Van Damme hatte sich wieder mit halb abgewandtem Oberkörper an die Wand gepreßt.
Doch nun vermochte Belloir nichts mehr aufzuhalten, nicht einmal sein eigener Wille hätte es vermocht. In der hereinbrechenden Dämmerung wirkten die Gesichter grau.
»Alles war in Bewegung geraten«, hob die Stimme abermals an, »bloß Klein stand da, zusammengesunken, ein Messer in der Hand, und stierte benommen auf den schwankenden Willy … So etwas verläuft ganz anders, als man es sich vorstellt … Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll …
Mortier fiel einfach nicht um, und das, obwohl das Blut in Strömen aus dem Loch in seiner Hemdbrust quoll … Ich bin sicher, er hat sogar noch gesagt:
›Ihr Schweine!‹
Und dabei stand er immer noch am selben Platz, die Beine ein wenig gespreizt, wie um das Gleichgewicht zu halten … Wenn das Blut nicht gewesen wäre, hätte man ihn für den Betrunkenen halten können …
Er hatte sehr große Augen, die in diesem Moment noch größer erschienen. Seine linke Hand umklammerte den Knopf seiner Smokingjacke, derweil die Rechte sich nach hinten zur Gesäßtasche hintastete.
Irgend jemand stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Ich glaube, es war Jef … Da plötzlich sahen wir Mortiers Rechte langsam einen Revolver hervorziehen, so ein kleines, schwarzes Ding aus hartem Stahl …
Klein wälzte sich in Krämpfen am Boden. Eine Flasche fiel splitternd herab …
Und immer noch starb Willy nicht! Er wankte unmerklich, sah uns alle nacheinander an … Wahrscheinlich sah er schon nicht mehr klar … Dann hob er den Arm mit dem Revolver …
In dem Moment hat sich einer auf ihn gestürzt, um ihm die Waffe zu entreißen, und ist in dem Blut ausgerutscht. Sie fielen alle beide auf den Fußboden …
Mortier muß einen Schock erlitten haben, verstehen Sie? Denn er starb nicht … Seine großen, glasigen Augen waren weit aufgerissen! …
Immer wieder versuchte er, die Waffe anzuheben; er hat noch einmal ›Ihr Schweine!‹ gesagt.
Dann war die Hand des anderen an seiner Kehle – hat zugedrückt …
Viel Leben war ohnehin nicht mehr in ihm …
Mein Anzug war völlig verschmiert – der im Smoking aber blieb reglos liegen.«
Schaudernd starrten van Damme und Jef Lombard den Freund an. Belloir jedoch schloß mit den Worten:
»Die Hand, die ihm die Kehle zudrückte, war meine! … Derjenige, der in der Blutlache ausrutschte, war ich.«
Stand er nicht vielleicht jetzt gerade an derselben Stelle wie damals, nur sauber, einwandfrei gekleidet, mit frisch geputzten Schuhen und einem Anzug, auf dem kein Stäubchen zu entdecken war?
Ein großer, goldener Siegelring schmückte seine rechte Hand, die weiß und gepflegt war, mit sorgfältig manikürten Fingernägeln.
»Wie betäubt haben wir herumgestanden. Dann wurde Klein, der sich sofort der Polizei stellen wollte, erst mal ins Bett gesteckt. Niemand hat ein Wort gesprochen … Ich kann Ihnen nicht erklären, wie das alles war, obwohl ich einen klaren Kopf hatte. Ich kann nur wiederholen, daß man eine gänzlich falsche Vorstellung von dem Ablauf solcher Tragödien hat … Ich hab van Damme auf den Flur gezerrt, wo wir halblaut miteinander sprachen, während Klein im Hintergrund nicht aufhörte zu schreien, kaum zu halten war.
Die Kirchturmuhr hat die volle Stunde geschlagen – aber ich kann nicht sagen, wieviel Uhr es war –, als wir zu dritt mit der Leiche auf die Gasse hinaustraten … Die Maas führte Hochwasser. Auf dem Quai Sainte-Barbe stand das Wasser einen halben Meter hoch, und die Strömung war stark … Stromaufwärts und stromabwärts waren alle Schleusen geöffnet … Man konnte nur eben im Schein der nächsten Gaslaterne etwas Unförmiges, Dunkles an der Wasseroberfläche den Strom hinabziehen sehen …
Mein Anzug war verschmutzt und zerrissen. Ich habe ihn im Atelier gelassen, und van Damme hat mir von sich zu Hause frische Kleider geholt. Am nächsten Tag hab ich meinen Eltern irgendein Märchen erzählt.«
»Sind Sie danach noch einmal zusammengetroffen?« fragte Maigret bedächtig.
»Nein … Wir haben die Rue du Pot-au-Noir Hals über Kopf verlassen. Lecocq d’Arneville ist bei Klein geblieben. Seither haben wir einander wie auf Verabredung gemieden. Wenn wir uns in der Stadt begegneten, blickten wir in eine andere Richtung.
Der Zufall wollte es, daß Willys Leiche infolge des Hochwassers nie gefunden wurde. Und da er geflissentlich vermieden hatte, seine Beziehung zu uns zu erwähnen – er war nicht stolz auf unsere Freundschaft gewesen –, wurde zuerst angenommen, er sei von zu Hause durchgebrannt … Später hat man Nachforschungen in zweifelhaften Lokalen angestellt, da man annahm, er habe die restlichen Nachtstunden dort verbracht.
Ich habe Lüttich als erster verlassen, drei Wochen danach … Meine Studien hab ich einfach abgebrochen und meiner Familie erklärt, ich wolle in Frankreich Karriere machen … In Paris habe ich bei einer Bank gearbeitet.
Aus den Zeitungen erfuhr ich, daß Klein sich im Februar darauf am Kirchenportal von Saint-Pholien erhängt hatte …
Eines Tages traf ich Janin in Paris. Wir haben die Tragödie nicht erwähnt. Er sagte mir nur, daß er sich ebenfalls in Frankreich niedergelassen habe.«
»Ich bin als einziger in Lüttich geblieben«, knurrte Jef Lombard, ohne aufzublicken.
»Sie haben Gehängte und Kirchtürme gezeichnet!« bemerkte Maigret. »Dann haben Sie Zeichnungen für Zeitungen angefertigt, und dann …«
In Gedanken sah er das Haus in der Rue Hors-Château vor sich, die Fenster mit den kleinen, grünlich gefärbten Scheiben, den Brunnen im Hof, das Porträt der jungen Frau, das Büro des Fotograveurs, in dem Plakate und Titelseiten von Illustrierten nach und nach die Gehängten an den Wänden zu überdecken begannen.
Und die Kinder! … Das dritte, das am Vorabend zur Welt gekommen war …
Waren denn nicht inzwischen zehn Jahre verstrichen? Hatte das Leben nicht überall, Schritt für Schritt, mit mehr oder minder Geschick, wieder seinen normalen Gang genommen?
Van Damme hatte sich wie die beiden anderen zuerst in Paris herumgetrieben und war dann durch einen Zufall in Deutschland gelandet. Seine Eltern hatten ihm Geld hinterlassen, so war er in Bremen ein angesehener Geschäftsmann geworden.
Maurice Belloir hatte eine gute Partie gemacht. Er hatte es zu etwas gebracht.
Stellvertretender Bankdirektor, und dazu das schmucke, neue Haus in der Rue de Vesle, das Kind, das Geigenunterricht erhielt …
Seine Abende verbrachte er beim Billard in dem behaglichen Café de Paris, in Gesellschaft von Leuten, die ebenso angesehen waren wie er …
Janin begnügte sich mit Zufallsliebschaften, verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit der Herstellung von Schaufensterpuppen und modellierte am Feierabend die Büste seiner Geliebten …
Hatte Lecocq d’Arneville nicht auch geheiratet? Hatte nicht auch er Frau und Kind in der Kräuterhandlung der Rue Picpus? …
Der Vater Willy Mortiers kaufte weiter Därme, die er säuberte und lastwagenweise, ja selbst waggonweise verkaufte. Und er fuhr fort, Amtmänner zu bestechen und sein Vermögen zu vermehren.
Seine Tochter hatte einen Kavallerieoffizier geheiratet, und weil dieser sich nicht zum Eintritt in das Geschäft des Schwiegervaters entschließen konnte, hatte Mortier sich geweigert, ihm die versprochene Mitgift auszuzahlen.
Das Paar lebte in irgendeiner kleinen Garnisonsstadt.