7
Die drei
In Lüttich gibt es vier Tageszeitungen. Maigret benötigte zwei Stunden dazu, all die Redaktionen abzuklappern, und wie erwartet, fehlte überall eine Nummer im Archiv: die des fünfzehnten Februar.
In einem Straßenquadrat, Carré genannt, wo sich all die besten Geschäfte, großen Brasserien, Kinos und Tanzbars befinden, herrschte reges Treiben.
Hier trifft sich alle Welt, und auch der Kommissar erblickte Joseph van Damme mindestens dreimal, wie er, den Spazierstock schwenkend, dort auf- und abpromenierte.
Ins Hôtel du Chemin de Fer zurückgekehrt, fand Maigret zwei Botschaften vor. Erst einmal ein Telegramm von Lucas, dem er vor seiner Abreise noch einige Aufträge erteilt hatte.
Haben Asche im Ofen Louis Jeunets Zimmer Rue Roquette entdeckt – Stop – Sachverständigenuntersuchung ergibt Reste belgischer und französischer Banknoten – Stop – Menge läßt große Summe vermuten – Stop
Dann einen Brief, den ein Dienstmann beim Hotel abgegeben hatte. Er war mit der Maschine geschrieben, auf neutralem Papier von der Sorte, wie es in Büros für Durchschläge benutzt wird, und lautete folgendermaßen:
Sehr geehrter Herr Kommissar!
Ich erlaube mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich gewillt bin, Ihnen all die Ihren gegenwärtigen Ermittlungen dienlichen Auskünfte zu erteilen.
Da die Umstände mich zur Vorsicht zwingen, wäre ich Ihnen verpflichtet, wenn Sie – falls mein Vorschlag Sie interessiert – heute abend gegen elf Uhr ins Café de la Bourse hinter dem Théâtre Royal kommen könnten.
In dieser Erwartung verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung …
Keine Unterschrift, statt dessen die in einem Schreiben dieser Art eher ungewöhnlich anmutenden formelhaften Redewendungen des Geschäftslebens wie: Ich erlaube mir, Ihnen mitzuteilen …, wäre ich Ihnen verpflichtet …, falls mein Vorschlag Sie interessiert …, in dieser Erwartung …, mit vorzüglicher Hochachtung …
Während Maigret allein zu Abend aß, wurde ihm bewußt, daß seine Gedanken fast unmerklich eine neue Richtung eingeschlagen hatten. Er dachte weniger an Jean Lecocq d’Arneville, alias Louis Jeunet, der sich in einem Bremer Hotelzimmer erschossen hatte.
Dafür hörten Jef Lombards Kunstwerke nicht auf, ihn zu verfolgen; diese Gehängten, die allerorts aufgeknüpft waren, am Kreuz einer Kirchturmspitze, an den Bäumen eines Waldes, am Nagel in einer Mansarde.
Gehängte, mal grotesk, mal schaurig dargestellt, mit dunkelroten oder bleichen Gesichtern und nach der Mode aller Zeiten gekleidet.
Um halb elf machte er sich auf den Weg zum Stadttheater und stieß fünf Minuten vor elf die Tür des Café de la Bourse auf. Ein bescheidenes, ruhiges Lokal, dessen Kundschaft sich aus Stammgästen und vor allem aus Kartenspielern zusammensetzte.
Dort erwartete ihn eine Überraschung: An einem Ecktisch bei der Theke saßen drei Männer, und zwar Maurice Belloir, Jef Lombard und Joseph van Damme. Einen Augenblick lang, während der Kellner dem Kommissar aus dem Mantel half, herrschte Unschlüssigkeit auf beiden Seiten. Dann machte Belloir eine nicht recht überzeugende Verbeugung im Sitzen und deutete einen Gruß an. Van Damme rührte sich nicht. Lombard, dessen Gesicht ein erstaunliches Maß an Nervosität verriet, rutschte auf seinem Stuhl hin und her und wartete ab, wie sich seine Begleiter verhalten würden.
Würde Maigret auf sie zutreten, ihnen die Hand reichen, sich an ihrem Tisch niederlassen? Schließlich kannte er sie, hatte mit dem Bremer Geschäftsmann zu Mittag gegessen, bei Belloir in Reims einen Kognak getrunken und Jef Lombard erst am Vormittag einen Besuch abgestattet …
»Guten Abend, Messieurs!«
Er begrüßte jeden einzelnen mit dem ihm eigenen kräftigen Händedruck, der unter gewissen Umständen etwas von einer Drohung an sich haben konnte.
»Welch ein Zufall, Sie hier wiederzusehen!«
Auf der Wandbank neben van Damme war noch ein Platz frei. Er ließ sich dort nieder und sagte, zu dem Kellner gewandt:
»Ein großes Helles!«
Danach herrschte Schweigen, ein undurchdringliches, gespanntes Schweigen. Van Damme starrte verbissen vor sich hin. Jef Lombard fuhr fort, auf seinem Stuhl hin- und herzurutschen, so als fühle er sich nicht recht wohl in seiner Haut. Belloir, steif und frostig, betrachtete seine Fingernägel, entfernte mit der Spitze eines Streichholzes ein winziges Fleckchen unter dem Nagel des Zeigefingers.
»Wie geht es Ihrer Frau, Monsieur Lombard?«
Jefs Blick irrte nach einem Halt suchend durch den Raum, heftete sich an den Ofen, während er stammelte:
»Sehr gut, danke …«
Über dem Schanktisch hing eine Uhr, und Maigret zählte fünf volle Minuten, in denen kein weiteres Wort zwischen ihnen gesprochen wurde. Van Damme hatte seine Zigarre ausgehen lassen. Sein Gesicht war das einzige, aus dem unverhohlener Haß sprach.
Jef bot den interessantesten Anblick. Zweifellos hatten die Ereignisse dieses Tages dazu beigetragen, seine Nerven aufs Äußerste anzuspannen, denn jeder noch so winzige Muskel seines Gesichts zuckte unkontrollierbar.
Der Tisch, an dem die vier Männer saßen, war eine regelrechte Oase des Schweigens inmitten dieses Lokals, wo alles laut durcheinander redete.
»Und Rebelote!« kam es triumphierend von einem der Kartenspieler rechts von ihnen.
»Tierce haute!« folgte zögernd das Echo von der anderen Seite. »In Ordnung?«
»Drei Bier! Drei!« brüllte der Kellner.
Überall war Leben, war Bewegung, bis auf den Tisch mit den vier Männern, um den sich allmählich eine unsichtbare Mauer zu bilden schien.
Jef war es, der den Bann brach. Er biß sich auf die Unterlippe, sprang plötzlich auf und stieß hervor:
»Dann eben nicht!«
Ein durchdringender, gepeinigter Blick streifte die Freunde, dann griff er nach Mantel und Hut, stürzte zur Tür und stieß sie heftig auf.
»Ich wette, er bricht in Tränen aus, sobald er draußen ist!« bemerkte Maigret versonnen.
Er nämlich hatte die Wut und Verzweiflung des Fotograveurs gespürt, den Schluchzer, der seine Brust zu sprengen drohte, seinen Adamsapfel beben ließ.
Er wandte sich zu van Damme herum, der die marmorne Tischplatte betrachtete, leerte sein Glas bis zur Hälfte und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
Die Atmosphäre war die gleiche, wenn auch zehnmal so geladen, wie in Belloirs Haus in Reims, wo Maigret dieselben Männer durch seine Gegenwart in Verlegenheit gebracht hatte; und die imposanten Körpermassen des Kommissars trugen noch dazu bei, dieser den anderen aufgezwungenen Anwesenheit einen bedrohlichen Charakter zu verleihen.
Er war groß und breit gebaut, breit gebaut vor allem, klobig und robust, wobei das Ungeschlachte seines Körperbaus noch durch eine aller Raffinesse entbehrende Kleidung hervorgehoben wurde. Seine Züge waren grob, die Augen vermochten mühelos einen Ausdruck tierischen Stumpfsinns anzunehmen.
So ähnelte er den zuweilen in kindlichen Alpträumen auftretenden Gestalten, deren schauerlich geblähte, ausdruckslose Gesichter sich über den Schlafenden herabsenken, als wollten sie ihn zermalmen.
Von seiner gesamten Erscheinung ging etwas Unerbittliches, Unmenschliches aus, das an einen Dickhäuter denken ließ, der auf ein Ziel zustampft und sich von keiner Macht der Welt mehr davon abbringen läßt.
Er trank sein Bier, rauchte seine Pfeife und beobachtete mit Genugtuung den Zeiger der Uhr, der ruckartig, mit einem metallischen Klicken, von Minute zu Minute sprang. Eine nichtssagende Uhr.
Es hatte den Anschein, als sei seine Umgebung ihm völlig gleichgültig, und doch entging ihm keine noch so winzige Bewegung zur Rechten oder zur Linken.
Es war eine der merkwürdigsten Stunden seines Lebens, denn solcherart verging fast eine Stunde! Genau zweiundfünfzig Minuten dauerte dieser Nervenkrieg!
Jef Lombard war gleich zu Anfang schon außer Gefecht gesetzt worden; die beiden anderen jedoch hielten durch.
Und er saß da, zwischen ihnen, wie ein Richter. Ein Richter, der nicht anklagt, dessen Gedanken nicht zu erraten sind. Was wußte er? Warum war er gekommen? Worauf wartete er? Hoffte er auf ein Wort, eine Geste, die seinen Verdacht bestätigen würden? Hatte er längst alles durchschaut, oder war es nur ein Bluff?
Was ließ sich noch sagen? Sollte man nochmals vom Zufall, von dem unerwarteten Zusammentreffen sprechen?
Schweigen. Ein jeder wartete, ohne zu wissen, worauf. Ein jeder erwartete irgend etwas. Aber nichts geschah!
Bei jeder Minute, die verstrich, erbebte der Zeiger der Uhr, vernahm man ein leichtes Schnarren des Uhrwerks. Anfangs war es nicht zu hören gewesen, nun war es geradezu unerträglich laut. Und die Bewegung des Zeigers selbst zerfiel in drei verschiedene Phasen: Erst ein Klicken, dann setzte sich der Zeiger in Bewegung, dann eine Wiederholung desselben Geräusches, wie um ihn an seinem neuen Platz einzurasten. Und jedesmal änderte sich das Gesicht der Uhr; der stumpfe Winkel wurde nach und nach zu einem spitzen, in dem Maße, wie die Zeiger sich aufeinander zu bewegten.
Immer wieder streifte der erstaunte Blick des Kellners die trübsinnige Tischgesellschaft. Maurice Belloir schluckte von Zeit zu Zeit; Maigret brauchte gar nicht hinzusehen, um es zu bemerken. Er fühlte den Pulsschlag des Mannes, seinen Atem, merkte, wie er sich verkrampfte, hin und wieder behutsam mit den Füßen scharrte, so als befände er sich in einer Kapelle.
Das Lokal begann sich zu leeren. Die roten Decken und Spielkarten verschwanden von den Tischen, bleich schimmerten die marmornen Tischplatten. Der Kellner ging hinaus, um die Läden herunterzulassen, und die Wirtin ordnete die Spielmarken ihrem Wert nach in kleine Häufchen.
»Bleiben Sie noch?« fragte Belloir schließlich mit einer Stimme, die kaum wiederzuerkennen war.
»Und Sie?«
»Ich … Ich weiß nicht.«
Daraufhin klopfte van Damme mit einem Geldstück auf den Tisch und fragte den Kellner:
»Was macht das?«
»Die ganze Runde? … Neun Francs fünfundsiebzig.«
Sie standen gleichzeitig auf, vermieden es, sich anzusehen, während der Kellner ihnen nacheinander in den Mantel half.
»Gute Nacht, Messieurs!«
Draußen war es neblig, das Licht der Straßenlaternen kaum zu sehen. Alle Fensterläden waren verriegelt. Irgendwo in der Ferne hallten Schritte über das Trottoir.
Sie zögerten, unentschlossen, welche Richtung sie einschlagen sollten. Keiner der drei wollte die Führung übernehmen. Hinter ihnen wurde die Tür des Lokals abgeschlossen und der Sicherheitsriegel vorgeschoben.
Etwas weiter links bog eine schmale Gasse mit alten Häusern ab, deren Fronten keine gerade Linie bildeten.
»Dann also …« sagte Maigret, »wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Messieurs!«
Zuerst drückte er Belloir die Hand, dessen Finger sich kalt und nervös anfühlten, dann reichte ihm van Damme widerstrebend seine feuchte, schlaffe Rechte.
Der Kommissar schlug den Kragen seines Mantels hoch, räusperte sich und begann – eine einsame Gestalt – die verlassene Straße hinabzuschreiten. Und dabei war seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet, das leiseste Geräusch, die unmerklichste Bewegung in der Luft wahrzunehmen, die ihm als Warnung dienen konnten.
Seine Hand umspannte den Griff des Revolvers in der Manteltasche. Er vermeinte, zur Linken, in dem Gewirr enger Gäßchen, das einer Aussätzigeninsel gleich inmitten des Zentrums von Lüttich liegt, das Geräusch eiliger, verstohlener Schritte zu hören.
Ihm war, als vernehme er das Gemurmel unterdrückter Stimmen, ohne sagen zu können, ob es von weither oder aus nächster Nähe kam, denn der Nebel täuschte die Sinne.
Und jäh warf er sich zur Seite, preßte seinen Körper gegen eine Tür, im selben Moment, als es neben ihm trocken knallte und jemand so schnell er nur konnte in der Dunkelheit davonrannte.
Maigret ging ein paar Schritte weiter, ließ den Blick die Gasse hinabschweifen, aus der der Schuß gekommen war. Er sah nichts außer den dunkleren Stellen, wo Einfahrten abzweigen mochten, und ganz am Ende, in zweihundert Meter Entfernung, die Milchglaskugel vor einer Pommes-frites-Bude.
Sekunden später kam er an dem Lokal vorbei, eben als ein Straßenmädchen mit einer Tüte goldgelber Pommes frites aus der Tür trat. Sie warf ihm ihre Aufforderung ohne rechte Überzeugung zu und wandte sich einer besser beleuchteten Straße entgegen.
Maigret sah friedlich aus, wie er die Feder beim Schreiben mit dem breiten Zeigefinger auf das Papier drückte und von Zeit zu Zeit die Glut in seiner Pfeife nachstopfte.
Er saß in seinem Zimmer im Hôtel du Chemin de Fer, und das Leuchtzifferblatt der Bahnhofsuhr, das man durchs Fenster sehen konnte, wies darauf hin, daß es zwei Uhr morgens war.
Mein lieber Lucas!
Da man ja nie wissen kann, was passiert, anbei einige Hinweise, die es Dir gegebenenfalls ermöglichen werden, die von mir eingeleiteten Ermittlungen fortzusetzen.
1. Letzte Woche hat ein ärmlich gekleideter, wie ein Landstreicher wirkender Mann in Brüssel dreißig Tausendfrancsscheine verpackt und an seine eigene Adresse, in der Rue de la Roquette in Paris, gesandt. Spätere Nachforschungen haben ergeben, daß er sich des öfteren solch bedeutende Beträge geschickt hat, ohne aber von dem Geld Gebrauch zu machen. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, daß in seinem Zimmer die Asche einer größeren Menge absichtlich verbrannter Banknoten gefunden wurde.
Der Mann hat unter dem Namen Louis Jeunet gelebt und mehr oder weniger regelmäßig in einer Werkstatt in derselben Straße gearbeitet, in der er wohnte.
Er war verheiratet (siehe Madame Jeunet, Kräuterhandlung, Rue Picpus) und hat ein Kind. Er hat jedoch Frau und Kind unter merkwürdigen Umständen und nach schweren Trunksuchtsanfällen verlassen.
Nachdem er das Geld abgeschickt hatte, ist er einen Koffer kaufen gegangen, um darin Dinge, die er in seinem Hotelzimmer hatte, zu verstauen. Diesen Koffer habe ich während seiner Reise nach Bremen gegen einen anderen vertauscht.
Und Jeunet, der vorher keinen Selbstmordgedanken zu hegen schien und sich mit Proviant zum Abendbrot versorgt hatte, hat sich, als er gewahr wurde, daß ihm sein Eigentum entwendet worden war, das Leben genommen.
Es handelt sich dabei um einen alten Anzug, der nicht seiner war und vor Jahren – im Verlauf eines Kampfes wahrscheinlich – zerrissen und mit Blut durchtränkt wurde. Der Anzug ist in Lüttich hergestellt worden.
In Bremen ist ein Mann mit dem Namen Joseph van Damme aufgetaucht, ein in Lüttich geborener Handelsmakler, um sich die Leiche anzusehen.
In Paris habe ich erfahren, daß Louis Jeunet eigentlich ein gewisser in Lüttich geborener Jean Lecocq d’Arneville war, von dem man seit langem nichts mehr gehört hatte. Er hat die höhere Schule und anschließend die Universität besucht. In Lüttich, das er vor etwa zehn Jahren verließ, liegt nichts gegen ihn vor.
2. Vor seiner Abreise nach Brüssel ist Jean Lecocq d’Arneville in Reims dabei beobachtet worden, wie er des Nachts das Haus Maurice Belloirs aufsuchte, eines stellvertretenden Bankdirektors und geborenen Lüttichers, welcher jedoch dies Zusammentreffen leugnet.
Aber die aus Brüssel abgeschickten dreißigtausend Francs stammen von demselben Belloir.
In Belloirs Haus bin ich folgenden Leuten begegnet: van Damme, der mit dem Flugzeug aus Bremen gekommen ist; Jef Lombard, einem Fotograveur aus Lüttich und Gaston Janin, der ebenfalls in dieser Stadt geboren ist.
Auf meiner Rückreise nach Paris in Begleitung von van Damme hat dieser versucht, mich in die Marne zu stoßen.
Und in Lüttich habe ich ihn bei Jef Lombard wieder getroffen. Dieser Lombard hat sich vor zehn Jahren der Malerei gewidmet; die Wände seines Hauses sind mit Bildern aus dieser Zeit bedeckt, die alle Gehängte darstellen.
Bei allen Zeitungen, die ich aufgesucht habe, ist die Nummer vom fünfzehnten Februar des Entstehungsjahres der Gehängten von van Damme vorher herausgerissen worden.
Am Abend habe ich einen anonymen Brief erhalten, in dem mir umfassende Aufklärung versprochen wurde; Treffpunkt war ein Lokal in der Stadt. Dort habe ich jedoch nicht einen Mann, sondern drei vorgefunden; nämlich Belloir (aus Reims angereist), van Damme und Jef Lombard.
Ihr Verhalten mir gegenüber war gezwungen. Meines Erachtens hatte sich einer der drei entschlossen zu sprechen, und die anderen sind nur gekommen, um ihn daran zu hindern.
Jef Lombard ist plötzlich mit allen Anzeichen überreizter Nerven davongestürzt. Ich bin mit den anderen dortgeblieben, habe mich nach Mitternacht draußen im Nebel von ihnen verabschiedet, und kurz darauf ist ein Schuß auf mich abgefeuert worden.
Daraus habe ich gefolgert, daß zwar einer der drei hatte sprechen wollen, daß aber auch einer von ihnen versucht hat, mich aus dem Wege zu räumen.
Und da das Unterfangen des letzteren einem Schuldbekenntnis gleichkommt, scheint es mir, daß dem Verantwortlichen keine andere Wahl bleibt, als es nochmals und diesmal mit mehr Erfolg zu versuchen.
Aber welcher ist es? Belloir, van Damme, Jef Lombard?
Ich werde es erst erfahren, wenn er den nächsten Schritt unternimmt. Da man mit einem Unglücksfall rechnen muß, schicke ich Dir auf alle Fälle diese Aufzeichnungen, die es Dir ermöglichen werden, die Untersuchung von Beginn an wiederaufzunehmen.
Was die persönlichen Hintergründe des Falles angeht, so verweise ich Dich insbesondere an Madame Jeunet und Armand Lecocq d’Arneville, den Bruder des Toten.
Und nun gehe ich schlafen. Grüß alle von mir.
Maigret
Über Nacht hatte sich der Nebel gelichtet und auf den Bäumen, auf jedem Grashalm des Parks, den Maigret durchquerte, glitzernde Reifperlen zurückgelassen.
Frostig strahlte die Sonne von einem blaßblauen Himmel herab und verwandelte den Rauhreif von einer Minute zur nächsten in winzige, glasklare Wassertropfen, die auf den Kies herabfielen.
Es war acht Uhr morgens, als der Kommissar mit weitausholendem Schritt das menschenleere Carré durchmaß, wo die Tafeln mit den Kinoplakaten noch an den herabgelassenen Rolläden lehnten.
Maigret blieb bei einem Briefkasten stehen, um seinen Brief an Wachtmeister Lucas einzustecken; dabei blickte er ein wenig beunruhigt um sich.
Irgendwo in dieser Stadt, in diesen von goldenem Sonnenlicht durchfluteten Straßen, gab es einen Mann, der in diesem Moment an ihn dachte, dem kein anderer Ausweg mehr blieb, als ihn zu töten. Dieser Mann war dem Kommissar gegenüber im Vorteil, denn er kannte sich hier aus, wie er in der vergangenen Nacht durch sein Entkommen in den verworrenen Gassen bewiesen hatte.
Außerdem kannte er Maigret, beobachtete ihn vielleicht sogar in diesem Augenblick, wohingegen der Kommissar nicht wußte, wer sein Verfolger war.
War es Jef Lombard? Lauerte die Gefahr in dem alten Haus in der Rue Hors-Château, wo im ersten Stock eine Wöchnerin, bewacht von ihrer biederen Mama, ruhte, wo die Arbeiter gleichmütig von einem Säurebecken zum anderen schlurften, ohne sich von den Grobheiten ungeduldiger Zeitungsausboten beeindrucken zu lassen?
Oder war es Joseph van Damme, der finster und zornig, dreist und verschlagen dem Kommissar an einem Ort auflauerte, von dem er annehmen konnte, daß dieser dort einmal erscheinen würde?
Denn van Damme war es, der seit dem Vorfall in Bremen die Situation stets richtig eingeschätzt hatte! Eine kurze Notiz in den deutschen Zeitungen hatte genügt, ihn ins Leichenschauhaus eilen zu lassen – ein Mittagessen in Maigrets Gesellschaft, und er war vor dem Kommissar in Reims gewesen!
Er war auch als erster in der Rue Hors-Château gewesen, war dem Kriminalbeamten bei den Presseredaktionen zuvorgekommen!
Und zu guter Letzt war er im Café de la Bourse erschienen!
Allerdings gab es auch keinen Beweis dafür, daß nicht er derjenige gewesen war, der sich zu einem Geständnis entschlossen hatte; so wie nichts das Gegenteil bewies!
Es konnte aber auch der kühle, korrekte Belloir mit seinem Dünkel des angesehenen Provinzbürgers sein, der im Nebel auf ihn geschossen hatte. Möglicherweise war er derjenige, dem keine andere Wahl blieb, als Maigret zu beseitigen.
Oder aber Gaston Janin, der kleine Bildhauer mit dem Bärtchen! Er war zwar nicht im Café de la Bourse gewesen, konnte aber sehr wohl im Hinterhalt gelegen haben!
Und in welcher Beziehung stand all dies zu einem Gehängten, der am Kreuz einer Kirchturmspitze schaukelte? … Zu einer Vielzahl Gehängter? … Zu Wäldern, in denen die Bäume statt Früchten Gehängte trugen … Zu einem alten, blutbefleckten Anzug, dessen Aufschläge von scharfen Fingernägeln zerkrallt worden waren …?
Stenotypistinnen hasteten an ihre Arbeitsplätze. Eine Straßenkehrmaschine, beidseitig mit einer Sprengvorrichtung und einem kreisförmigen Besen versehen, der den Abfall in den Rinnstein fegte, rollte gemächlich den Fahrdamm entlang.
An jeder Kreuzung war der weiße Helm eines Schutzmanns zu erblicken und zwei in steifen, weißen Kunststoffhüllen steckende Arme, die den Verkehr regelten.
»Wie komme ich zum Hauptkommissariat?« erkundigte sich Maigret.
Man wies ihm den Weg. Als er das Gebäude betrat, waren die Putzfrauen noch am Werk. Trotzdem wurde er von einem liebenswürdigen Sekretär in Empfang genommen, der, als er hörte, daß Maigret Einsicht in die zehn Jahre alten Protokolle zu nehmen wünschte, und zwar, genauer, in die des Monats Februar, ausrief:
»Sie sind schon der zweite in vierundzwanzig Stunden! Bestimmt wollen Sie wissen, ob eine gewisse Joséphine Bollant zu der Zeit tatsächlich einen Diebstahl im Hause ihrer Arbeitgeber begangen hat, nicht?«
»War denn schon jemand hier?«
»Gestern nachmittag, so gegen fünf. Einer von hier, der es im Ausland ganz schön weit gebracht hat, obwohl er noch so jung ist! … Sein Vater war Arzt, er selbst betreibt ein gutgehendes Geschäft in Deutschland …«
»Joseph van Damme?«
»Richtig! … Aber es gelang ihm nicht zu finden, was er suchte, obwohl er die ganze Akte durchgeblättert hat!«
»Könnte ich sie mal sehen?«
Es war ein grüner Ordner, in dem die Tagesberichte, jeweils mit einer Nummer versehen, eingeheftet waren. Unter dem Datum des fünfzehnten Februar fanden sich fünf Protokolle: Zwei Fälle von Trunkenheit und nächtlicher Ruhestörung, ein Ladendiebstahl, eine Schlägerei mit Körperverletzung und zum Schluß noch ein Einbruch und Kaninchendiebstahl.
Maigret gab sich nicht einmal die Mühe, sie zu lesen, sondern betrachtete statt dessen die Nummern, die oben auf jeder Seite standen.
»Hat Monsieur van Damme die Akte eigenhändig durchgeblättert?« fragte er.
»Ja. Er hat sich in das Büro nebenan gesetzt …«
»Vielen Dank.«
Die fünf Protokolle trugen die Nummern zweihundertsiebenunddreißig, zweihundertachtunddreißig, zweihundertneununddreißig, zweihunderteinundvierzig und zweihundertzweiundvierzig.
Mit anderen Worten, es fehlte eines; es war – wie die Zeitungen aus den Sammelbänden – herausgerissen worden; nämlich die Nummer zweihundertvierzig.
Wenige Minuten später hatte Maigret den Platz hinter dem Rathaus erreicht, wo gerade eine Hochzeitsgesellschaft vorfuhr. Und unwillkürlich horchte er auf jedes noch so schwache Geräusch, denn ein leises, ihm ganz und gar nicht behagendes Angstgefühl hatte sich seiner bemächtigt.