8
Der arme Klein
Er hatte es mit knapper Not geschafft. Es war neun, und die Angestellten trafen eben beim Rathaus ein, überquerten den Vorplatz, verweilten einen Moment auf der schönen Steintreppe, um einander mit Händedruck zu begrüßen. Ein Portier mit betreßter Mütze und gepflegtem Bart stand oben auf der Treppe und rauchte seine Pfeife.
Eine Meerschaumpfeife, wie Maigret – er wußte nicht recht, warum – bemerkte; vielleicht weil die Morgensonne sie aufleuchten ließ, oder weil sie so gut eingeraucht aussah, und der Kommissar sekundenlang so etwas wie Neid diesem Mann gegenüber empfand, der, mit kurzen, genüßlichen Zügen schmauchend, wie eine Art Symbol des Friedens und der Lebensfreude dastand.
Denn an diesem Morgen schien die Luft zu flimmern, und flimmerte immer mehr, je höher die Sonne stieg. Dazu ein herrliches Durcheinander von Ausrufen im wallonischen Dialekt, dem schrillen Bimmeln der gelbroten Straßenbahnen und dem Plätschern des vierfachen Wasserstrahls aus dem gigantischen Springbrunnen mit dem »Perron« darüber, das vergeblich die Geräusche des nahen Marktes zu übertönen suchte.
Auf der zweiläufigen Freitreppe jedoch erblickte Maigret den eben in der Vorhalle verschwindenden Joseph van Damme.
Der Kommissar eilte ihm nach. Im Innern des Gebäudes verlief die Treppe weiterhin in zwei Aufgängen, die in jedem Stockwerk zusammentrafen. So kam es, daß die beiden Männer einander plötzlich, atemlos vom schnellen Laufen, auf einem Absatz gegenüberstanden und sich anstrengen mußten, um angesichts eines Amtsdieners mit Silberkette unauffällig zu erscheinen.
Das war knapp gewesen! Eine Frage der Geistesgegenwart, denn es ging um Viertelsekunden.
Maigret hatte – als er eben die Treppe hinauflief – gedacht, daß van Damme nur war, um, wie in den Zeitungsarchiven und beim Hauptkommissariat, etwas verschwinden zu lassen; war doch schon eins der Protokolle vom fünfzehnten Februar zerrissen worden.
Aber stellte die Polizei nicht auch hier, wie in den meisten Städten, dem Bürgermeisteramt allmorgendlich einen Durchschlag der Tagesberichte zu?
»Ich möchte den Kanzleivorsteher sprechen!« erklärte Maigret in zwei Meter Entfernung von van Damme. »Es eilt!«
Ihre Blicke kreuzten sich. Sie waren nicht sicher, ob sie einander grüßen sollten oder nicht und unterließen es dann. Und als der Amtsdiener sich dem Bremer Geschäftsmann zuwandte, ihn nach seinem Begehren fragte, murmelte dieser nur:
»Nichts … Ich komme später noch mal.«
Er ging. Das Geräusch seiner Schritte verlor sich in der Vorhalle. Kurz darauf wurde Maigret in ein prunkvoll ausgestattetes Büro geführt, wo ein steif wirkender Sekretär, eingezwängt in ein Jackett und einen übertrieben hohen, falschen Kragen, sich mit großem Eifer daran machte, die zehn Jahre alten Tagesberichte herauszusuchen.
Das Zimmer war angenehm warm und mit weichen Teppichen ausgelegt. Ein Sonnenstrahl fiel auf das historische Gemälde, das eine ganze Wandfläche einnahm, und ließ den Krummstab eines Bischofs aufleuchten.
Eine halbe Stunde verging mit Suchen und dem Austausch von Höflichkeitsfloskeln, dann hatte Maigret die Protokolle des Kaninchendiebstahls, der Trunkenheitsdelikte sowie des Ladendiebstahls wiedergefunden. Außerdem las er zwischen zwei Kurzmeldungen folgende Zeilen:
Wachtmeister Lagasse vom sechsten Polizeirevier, der heute morgen um sechs Uhr seinen Posten am Pont des Arches beziehen wollte, bemerkte im Vorbeigehen an der Kirche Saint-Pholien einen am Türklopfer des Portals hängenden menschlichen Körper.
Ein sofort herbeigerufener Arzt war nur noch imstande, den Tod des Betreffenden festzustellen. Es handelt sich um einen gewissen Emile Klein, aus Angleur gebürtig, zwanzig Jahre, Anstreicher, wohnhaft in der Rue du Pot-au-Noir.
Klein scheint sich im Verlauf der Nacht mittels einer Vorhangkordel erhängt zu haben. In seinen Taschen waren lediglich wertlose Gegenstände und etwas Kleingeld enthalten.
Die Ermittlungen haben ergeben, daß Klein seit drei Monaten in keinem geregelten Arbeitsverhältnis mehr gestanden hat, und die Tat daher wahrscheinlich seiner Mittellosigkeit zuzuschreiben ist.
Seine Mutter, die Witwe Klein, die in Angleur von einer bescheidenen Rente lebt, ist benachrichtigt worden.
Es folgten Stunden fieberhafter Tätigkeit. Maigret stürzte sich voller Elan auf diese neue Fährte. Und dabei – ohne daß er sich dessen so recht bewußt wurde – war ihm weniger an Informationen über diesen Klein als an einer Begegnung mit van Damme gelegen.
Denn erst wenn er den Geschäftsmann wieder vor sich hatte, würde er der Wahrheit näher kommen. Hatte nicht alles in Bremen angefangen? Und war der Kommissar nicht seither bei jedem entscheidenden Schritt mit van Damme zusammengetroffen?
Dieser hatte ihn im Rathaus gesehen, wußte also, daß er den Bericht gelesen hatte und Kleins Spur verfolgte.
Ein Besuch in Angleur verlief ergebnislos. Der Kommissar hatte ein Taxi genommen und war in ein Fabrikviertel vorgedrungen, wo kleine Arbeiterhäuschen, eines wie das andere, alle von demselben rußigen Grau, im Schatten hoher Fabrikschornsteine ein ärmliches Straßenbild formten.
Eine Frau war dabei, die Schwelle des Hauses zu scheuern, in dem Madame Klein gewohnt hatte.
»Sie ist schon mindestens fünf Jahre tot.«
Keine Spur von van Damme weit und breit.
»Hat ihr Sohn nicht bei ihr gewohnt?«
»Nein, der hat ein schlechtes Ende genommen … Hat sich aufgehängt, an einer Kirchentür …«
Das war alles. Das einzige, was Maigret erfuhr, war, daß Kleins Vater Steiger in einem Kohlenbergwerk gewesen war und seine Frau nach seinem Tod eine kleine Rente bezogen hatte. Sie hatte ihr Haus untervermietet und selbst nur noch eine Dachkammer bewohnt.
»Zum sechsten Polizeirevier!« wies Maigret den Fahrer an.
Wachtmeister Lagasse war noch am Leben, konnte sich des Vorfalls jedoch kaum noch erinnern.
»Es hatte die ganze Nacht geregnet … Er war völlig durchnäßt, sein rotes Haar klebte ihm im Gesicht …«
»War er groß oder klein?«
»Eher klein.«
Daraufhin wandte sich der Kommissar an die Gendarmerie, in deren nach Leder und Pferdeschweiß riechenden Büros er fast eine Stunde verbrachte.
»Wenn er damals zwanzig war, hat er vor einem Musterungsausschuß erscheinen müssen … Klein sagten Sie, mit einem K?«
Er wurde auf Seite dreizehn des Registers der als untauglich Ausgemusterten gefunden. Maigret notierte: Größe, ein Meter fünfundfünfzig; Brustumfang, achtzig Zentimeter, sowie den Vermerk »lungengefährdet«.
Aber van Damme ließ sich immer noch nicht blicken. Es galt, anderswo zu suchen. Als einziges Ergebnis der vormittäglichen Streifzüge Maigrets stand nun mit Sicherheit fest, daß der Anzug B nicht dem Gehängten von Saint-Pholien gehört haben konnte, da dieser kaum mehr als ein Knirps gewesen war.
Klein hatte Selbstmord verübt. Es hatte kein Kampf stattgefunden, kein Tropfen Blut war geflossen.
Wo also war der Zusammenhang mit dem Koffer des Landstreichers von Bremen und dem Selbstmord des Lecocq d’Arneville, alias Louis Jeunet?
»Sie können mich hier absetzen … Und sagen Sie mir bitte noch, wo ist die Rue du Pot-au-Noir?«
»Hinter der Kirche. Sie mündet direkt in den Quai Sainte-Barbe.«
Maigret hatte den Taxifahrer vor der Saint-Pholien-Kirche entlohnt und betrachtete nun die neue Kirche, die sich da inmitten eines weiten, etwas erhöhten Geländes erhob.
Boulevards, eingefaßt von modernen Wohnblocks kaum älter als die Kirche selbst, erstreckten sich zur rechten wie zur linken Hand. Hinter der Kirche aber war ein Rest des alten Stadtviertels erhalten geblieben, das nur teilweise abgerissen worden war, um das Gotteshaus ringsherum zugänglich zu machen.
Im Schaufenster eines Schreibwarengeschäfts entdeckte Maigret Postkarten mit dem Bild der alten Kirche, die niedriger, wuchtiger und altersschwarz gewesen war. Ein Flügel war mit einem Holzgerüst abgestützt. Geduckte, schäbige Häuser, auf drei Seiten bis dicht an die Mauern der Kirche herangebaut, verliehen dem Ganzen einen mittelalterlichen Charakter.
Nur ein formloser Gebäudekomplex war übriggeblieben von diesem Elendsviertel; ihn durchzog ein Gewirr enger Sträßchen und Sackgassen, aus denen der widerliche Atem der Armut schlug.
Die Rue du Pot-au-Noir war keine zwei Meter breit. Ein Rinnsal seifigen Wassers floß in ihrer Mitte, und Kinder spielten vor den Türen, durch die der Tumult wimmelnden Lebens ins Freie drang.
Trotz der vom Himmel herabstrahlenden Sonne war es hier dunkel, denn ihre Strahlen vermochten nicht, bis in die Tiefen der Gasse hinabzudringen. Ein Böttcher hatte sein Kohlenbecken auf der Straße aufgestellt und bereifte Fässer.
Die Hausnummern waren unleserlich; der Kommissar mußte sich nach der Nummer sieben erkundigen. Man wies ihm eine Sackgasse, aus der die Geräusche von Säge und Hobel tönten.
An ihrem Ende fand er eine Werkstatt mit ein paar Tischlerbänken, einem Ofen, auf dem Leim kochte, und drei Männern, die bei weit offener Tür ihre Arbeit verrichteten.
Einer von ihnen hob den Kopf, legte seinen erkalteten Zigarettenstummel beiseite und wartete darauf, daß der Besucher zu sprechen begann.
»Hat hier nicht ein gewisser Klein gewohnt?«
Der Mann sah seine Kollegen bedeutungsvoll an und zeigte mit dem Finger auf eine Tür, hinter der eine finstere Treppe lag.
»Da oben! Es ist schon jemand da!« brummte er.
»Ein neuer Mieter?«
Erst später wurde dem Kommissar die Bedeutung des eigentümlichen Grinsens klar, das seine Frage hervorrief.
»Sie werden schon sehen … Im ersten Stock! Verirren können Sie sich nicht, es gibt bloß eine Tür.«
Ein Arbeiter an der Hobelbank lachte lautlos auf, während Maigret sich daran machte, die stockfinstere Treppe zu erklimmen. Nach den ersten Stufen schon fehlte das Geländer.
Er ließ ein Streichholz aufflammen, entdeckte über sich eine Tür, die weder Schloß noch Griff besaß und nur mit Hilfe eines um einen rostigen Nagel geknüpften Bindfadens geschlossen werden konnte.
Eine Hand an dem Revolver in seiner Tasche stieß er die Tür mit dem Knie auf und stand geblendet von dem Licht, das durch ein großes Dachfenster fiel, dem ein Drittel der Scheiben fehlte.
Sekundenlang starrte Maigret – zu überrascht, um Einzelheiten wahrzunehmen – um sich, dann bemerkte er die Umrisse eines Mannes, der in einer Ecke des Raumes an der Wand lehnte und ihn mit zornigem Blick fixierte. Es war Joseph van Damme.
»Wir mußten wohl schließlich hier landen, oder?« sagte der Kommissar.
Und in dem allzu kahlen, leeren Raum hallte seine Stimme aufs Eigentümlichste wider.
Van Damme gab keine Antwort, verharrte unbeweglich an seinem Platz, den Blick voller Gehässigkeit auf ihn gerichtet.
Man hätte, um die Struktur dieser Räumlichkeiten zu begreifen, wissen müssen, ob ihre Mauern einst zu einem Kloster, einer Kaserne oder einem herrschaftlichen Wohnhaus gehört hatten.
Vergeblich suchte man nach einem einzigen rechten Winkel. Die eine Hälfte des Fußbodens war mit Dielen bedeckt, während die andere mit ihren ungleichmäßig gelegten Steinplatten an eine alte Kapelle erinnerte.
Die Wände waren weiß gekalkt bis auf ein Rechteck aus braunen Ziegelsteinen, wohl ehemals ein Fenster, das vermauert worden war. Durch das große Dachfenster sah man einen Giebel, eine Dachrinne und dahinter, in der Richtung, wo die Maas floß, lauter verschiedenartig geformte Dächer.
Aber das war noch längst nicht das Ungewöhnlichste. Am merkwürdigsten mutete die Einrichtung des Raumes an, die in ihrer Uneinheitlichkeit an eine Rumpelkammer oder an das Bühnenbild eines billigen Schwanks denken ließ.
Da stand eine unordentliche Ansammlung nicht fertiggezimmerter Stühle, standen Töpfe mit Tischlerleim, Kisten, aus denen Holzwolle oder Hobelspäne quollen, lagen zerbrochene Sägen und eine ganze Tür mit neu eingesetzter Füllung herum.
Andererseits gab es aber auch eine Ecke mit einer Art Couch oder eher Sprungfedermatratze, die teilweise von einem Chintzrest bedeckt war und darüber eine wunderlich geformte, bunt verglaste Laterne, wie man sie zuweilen noch beim Antiquitätenhändler findet.
Über die Couch verstreut lagen die Einzelteile eines unvollständigen Skeletts, das einem Medizinstudenten gehört haben mochte. Brustkorb und Becken wurden noch von Klammern zusammengehalten und lehnten wie eine Stoffpuppe vornüber.
Und dann erst die Wände! Diese weißen, mit Zeichnungen und Freskomalereien bedeckten Wände!
Ein geradezu absurdes Gewirr von fratzenhaft verzogenen Gesichtern und Inschriften im Stil von Es lebe Satan, der Großvater der Welt!
Auf dem Fußboden lag eine Bibel mit zerschlissenem Rücken. Etwas daneben, unter einer dicken Staubschicht, zerknüllte Skizzenblätter und ein Stapel vergilbten Papiers.
Über der Tür eine weitere Inschrift: Willkommen, ihr Verdammten!
Und inmitten dieses Chaos die unvollendeten Stühle, die nach Schreinerwerkstatt, Leim und rohem Kiefernholz rochen! Ein Ofen war umgekippt worden, lag auf der Seite, rotbraun vor Rost.
Und schließlich Joseph van Damme in seinem gutsitzenden Mantel, mit einem Gesicht, das die tägliche Pflege verriet, mit seinen tadellos sauberen Schuhen! Van Damme, der auch noch in dieser Umgebung ganz der Mann blieb, der in den besten Bremer Lokalen verkehrt, ein modernes Büro in einem großen Geschäftshaus besitzt und sich auf erlesene Speisen und alten Armagnac versteht …
Van Damme, der in seinem Wagen herumfuhr, die hochgestellten Persönlichkeiten der Stadt grüßte und dabei erklärte, der Herr im Pelz sei Millionen schwer, ein anderer der Besitzer von dreißig Frachtern auf hoher See … Und der ein wenig später beim Klang beschwingter Musik, dem Klirren von Gläsern und Untertassen die Hände all dieser Mächtigen schüttelte, weil er sich schon fast zu ihnen gehörig fühlte …
Dieser van Damme glich nun auf einmal einem gehetzten Wild, wie er so reglos an der Wand lehnte, die Schulter weiß von Kalk, und – eine Hand in der Tasche – Maigret nicht aus den Augen ließ.
»Wieviel? …«
Hatte er tatsächlich gesprochen? War der Kommissar nicht unter dem Einfluß dieser unwirklichen Umgebung einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen?
Er schrak zusammen, stieß aus Versehen gegen einen Stuhl, der noch keine Sitzfläche hatte und polternd umfiel. Van Damme war dunkelrot angelaufen, hatte dabei jedoch sein gesundes Aussehen eingebüßt. In seinen aufs Äußerste gespannten Zügen spiegelte sich so etwas wie Panik oder Verzweiflung, aber auch Wut, zusammen mit der Entschlossenheit zu überleben, um jeden Preis den Sieg davonzutragen. Und alles, was er nur an Widerstandskraft aufzubringen vermochte, drückte sich im Blick seiner Augen aus.
»Was wollen Sie damit sagen?«
Mit diesen Worten ging Maigret hinüber zu dem Haufen zerknüllter Skizzen, die in einer Ecke unter dem Fenster zusammengefegt worden waren, und entfaltete in der Zeit, während der er auf die Antwort wartete, die Aktstudie eines Mädchens. Ein Mädchen mit groben Gesichtszügen, unordentlichem Haar, einem kräftigen, gut gebauten Körper, üppigen Brüsten und breiten Hüften.
»Noch ist es nicht zu spät«, kam es indessen von van Damme. »Fünfzigtausend? … Hundert? …«
Der Kommissar sah ihn mit einem sonderbaren Ausdruck an, woraufhin der andere ihm – unfähig seiner fieberhaften Erregung Herr zu werden – zuwarf:
»Zweihunderttausend!«
Zwischen den asymmetrischen Mauern der schäbigen Behausung pulsierte die Angst, säuerlich faulende, krankhafte Angst.
Vielleicht war es auch mehr als Angst: eine unterschwellige Versuchung, der Taumel mörderischer Gedanken …
Maigret indessen hörte nicht auf, die alten Blätter vor sich auszubreiten, auf denen er dasselbe üppige Mädchen, das beim Modellstehen einen stumpfsinnigen Gesichtsausdruck gehabt haben mußte, in allerlei Posen wiederfand.
Auf einer Zeichnung hatte der Maler sich bemüht, sie in den über die Couch gebreiteten Rest Chintz gehüllt darzustellen, ein anderes Mal mit schwarzen Strümpfen.
Hinter ihr war der Totenkopf abgebildet, der jetzt am Fußende der Matratze lag. Maigret erinnerte sich, den unheimlichen Schädel schon auf einem von Jef Lombards Bildern gesehen zu haben.
Unklar noch begann sich eine Verbindung zwischen den verschiedenen Akteuren und Ereignissen, über Zeit und Ort hinweg, abzuzeichnen. Mit schon nicht mehr ganz so ruhiger Hand glättete der Kommissar eine Kohlezeichnung, die einen langhaarigen jungen Mann mit weit offenstehendem Hemdkragen und einem Kinn, an dem der Bart eben zu sprießen begann, zeigte.
Auch er nahm eine romantische Pose ein; sein Gesicht – im Halbprofil dargestellt – schien in die Zukunft zu blicken, so wie ein Adler in die Sonne schaut.
Es war Jean Lecocq d’Arneville, der Selbstmörder aus dem schäbigen Hotel in Bremen, der Landstreicher, der seine Wurstbrötchen nicht gegessen hatte.
»Zweihunderttausend Francs!«
Dabei beeilte er sich hinzuzufügen – Geschäftsmann, der er war, und gewohnt, solch winzigen Kleinigkeiten wie den Schwankungen der Wechselkurse Beachtung zu schenken:
»Französische Francs! … Hören Sie, Herr Kommissar …«
Maigret ahnte sehr wohl, daß dem Flehen die Drohung folgen würde, daß der Schreck, der van Dammes Stimme jetzt noch erzittern ließ, sehr bald in einen Wutausbruch umschlagen würde.
»Noch ist es möglich … Noch ist kein Verfahren eingeleitet worden … Wir sind in Belgien …«
In der Laterne steckte noch ein Kerzenstummel, und unter dem Haufen Papier am Boden stöberte der Kommissar einen alten Petroleumkocher auf.
»Sie sind nicht dienstlich hier … Und selbst wenn … Geben Sie mir bloß einen Monat!«
»Also ist es im Dezember passiert …«
Es sah aus, als presse van Damme sich noch dichter an die Wand, als er zögernd fragte:
»Was meinen Sie?«
»Jetzt ist es November. Im Februar werden genau zehn Jahre vergangen sein, seit Klein sich erhängt hat. Sie aber bitten nur um einen Monat …«
»Ich verstehe nicht, was …«
»O doch!«
Es war nervenaufreibend, Maigret unablässig mit der Linken in den vergilbten Blättern wühlen zu sehen und das Knistern dieser Blätter mitanzuhören, wenn er sie zusammenknüllte, während seine Rechte in der Manteltasche verborgen blieb.
»Sie haben sehr wohl verstanden, van Damme! Wenn es um den Tod Kleins ginge, angenommen, er wäre ermordet worden, so würde die Tat erst im Februar, nämlich zehn Jahre später, verjähren. Sie aber wollen nur einen Monat. Folglich hat es sich im Dezember abgespielt …«
»Sie werden nichts herausfinden!«
Und das mit einer Stimme, die wie ein schlecht aufgezogenes Grammophon klang.
»Warum haben Sie dann Angst?«
Mit diesen Worten hob Maigret die Matratze auf, unter der nichts außer Staub und einer verschimmelten, grünlichen, kaum noch erkennbaren Brotkruste lag.
»Zweihunderttausend Francs … Wir könnten uns dahingehend einigen, daß Sie später …«
»Soll ich Ihnen eins in die Schnauze hauen?«
Das kam so überraschend, klang so grob, daß van Damme einen Moment lang die Fassung verlor, eine Bewegung machte, wie um sich zu schützen. Dabei zog er unabsichtlich den Revolver hervor, den seine Hand in der Tasche umklammert hatte.
Er bemerkte es, wurde sekundenlang von einem Schwindel ergriffen und zögerte, unentschlossen, ob er schießen solle oder nicht.
»Runter damit!«
Seine Hand öffnete sich. Der Revolver fiel zu Boden, landete neben einem Haufen Hobelspäne.
Und Maigret wandte seinem Gegner den Rücken, stocherte weiter in dem entsetzlichen Durcheinander von Kuriositäten herum. Er förderte eine gelbliche Socke zutage, auch sie gesprenkelt vor Schimmel.
»Sagen Sie mal, van Damme …«
Ein Instinkt ließ ihn herumfahren, weil die Stille etwas zuvor nicht Dagewesenes zu enthalten schien. Er sah, wie van Damme sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, sah die von den Fingern hinterlassene feuchte Spur.
»Weinen Sie etwa?«
»Ich?«
Dies »Ich« wurde herausfordernd, spöttisch und voller Verzweiflung ausgestoßen.
»Bei welcher Waffengattung haben Sie eigentlich gedient?«
Der andere begriff den Sinn der Frage nicht, antwortete jedoch, bereit, sich an jeden Hoffnungsschimmer zu klammern:
»Ich war in Beverloo, auf der Schule für Reserveoffiziere.«
»Infanterie?«
»Kavallerie.«
»Das heißt, Sie waren damals zwischen eins fünfundsechzig und eins siebzig groß und wogen weniger als siebzig Kilo. Den Bauch haben Sie später angesetzt …«
Maigret schob einen Stuhl beiseite, der ihm im Weg stand, bückte sich abermals nach einem Papierfetzen, allem Anschein nach ein Stück von einem Brief, auf dem nur eine einzige Zeile stand:
Lieber alter Junge …
Er hörte jedoch nicht auf, van Damme zu beobachten, der sich anstrengte, den Sinn von Maigrets Worten zu verstehen, und plötzlich, die Gefahr begreifend, erschüttert und mit verstörtem Gesicht ausrief:
»Ich war es nicht! Ich schwöre Ihnen, ich habe diesen Anzug nie angehabt!«
Maigret beförderte den Revolver seines Gegenspielers mit einem Fußtritt auf die andere Seite des Raumes.
Warum aber mußte er gerade in diesem Augenblick wieder an all die Kinder denken? Den Jungen Belloirs, die drei Kleinen in der Rue Hors-Château, wo die Jüngste noch nicht einmal die Augen geöffnet hatte, und den Sohn des falschen Louis Jeunet …
Eine Kohlezeichnung am Boden, die nicht signiert war, zeigte die schwungvoll gewölbte Hüfte des schönen jungen Modells.
Auf der Treppe vernahm man zögernde Schritte. Eine Hand tastete über die Tür, nach der Schnur, die als Klinke diente.