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Die Kräuterhandlung in der Rue Picpus
Ihre ersten Worte, als sie wieder sprechen konnte, waren:
»Hat er sehr leiden müssen?«
»Nein, ich kann Ihnen versichern, er war sofort tot.«
Sie warf einen Blick auf die Zeitung in ihren Händen und zwang sich zu der Frage:
»In den Mund …?«
Und als der Kommissar nur nickte, sagte sie ernsthaft, auf einmal wieder ganz ruhig, die Augen zu Boden gerichtet und in einem Tonfall, als spräche sie von einem ungebärdigen Kind:
»Er hat nie etwas wie andere Leute tun können!«
Sie hatte nichts von einer Geliebten oder auch nur einer Ehefrau; dagegen ging von dieser kaum Dreißigjährigen eine mütterliche Zärtlichkeit, die milde Resignation einer barmherzigen Schwester aus.
Arme Leute sind es gewohnt, ihre Verzweiflung in Schach halten zu müssen, weil das Leben ihnen keine Zeit läßt, weil die Arbeit, die täglichen und stündlichen Bedürfnisse sie drängen. Sie trocknete ihre Tränen mit dem Taschentuch, und ohne die gerötete Nase hätte sie für hübsch gelten können.
Als sie den Kommissar ansah, bebten ihre Lippen, schienen zwischen einem schmerzlichen Zug und dem Anflug eines unsicheren Lächelns zu schwanken.
»Hätten Sie etwas dagegen, ein paar Fragen zu beantworten?« sagte Maigret, während er sich an seinen Schreibtisch setzte. »Ihr Mann hieß tatsächlich Louis Jeunet? Wann ist er endgültig von zu Hause fortgegangen?«
Sie war nahe daran, abermals in Tränen auszubrechen; schon wurden ihre Augen feucht, preßten ihre Finger das Taschentuch zu einem harten, kleinen Ball zusammen.
»Vor zwei Jahren … Aber ich habe ihn danach noch einmal kurz gesehen, wie er das Gesicht ans Schaufenster drückte. Wenn meine Mutter nicht dagewesen wäre …«
Er begriff, daß sie von selbst weitersprechen würde, daß ihr nicht weniger daran lag als ihm.
»Sie wollen alles über unser Leben wissen, nicht wahr? … Nur so läßt sich begreifen, warum Louis das getan hat … Mein Vater war Krankenpfleger in Beaujon. Er hat eine kleine Kräuterhandlung in der Rue Picpus eingerichtet, die meine Mutter betreute.
Seitdem Vater vor sechs Jahren gestorben ist, leben Mutter und ich von dem Geschäft.
Als ich Louis kennenlernte …«
»Vor sechs Jahren, sagen Sie? Und da nannte er sich schon Jeunet?«
»Ja …« erwiderte sie erstaunt. »Er war damals Fräser in einer Werkstatt in Belleville und hatte ein gutes Einkommen. Ich weiß nicht, warum alles so schnell ging … Sie können sich natürlich nicht vorstellen … Er war so ungeduldig, in allem. Es war, als zehre ein Fieber an ihm.
Wir sind kaum einen Monat miteinander gegangen, als auch schon geheiratet wurde, und er zu uns zog …
In der Wohnung hinterm Laden war nicht genug Platz für drei, also haben wir Mutter ein Zimmer in der Rue du Chemin-Vert gemietet. Sie hat mir das Geschäft überlassen; aber wir mußten ihr zweihundert Francs im Monat geben, weil ihre Ersparnisse nicht zum Leben reichten.
Wir waren glücklich, das schwöre ich Ihnen! Morgens ging Louis zur Arbeit und Mutter kam, mir Gesellschaft zu leisten. Abends ging er nie aus.
Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, aber trotzdem hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte.
Sehen Sie, es war, als gehöre Louis nicht richtig zu uns, als ob ihm das ganze Familienleben zuweilen lästig würde …
Er war sehr zärtlich …«
Ihre Züge verklärten sich. Sie war beinahe schön, als sie sagte:
»Ich glaube nicht, daß viele Männer so sind … Manchmal nahm er mich plötzlich in den Arm und sah mir in die Augen, so tief, daß es beinahe schmerzte. Und dann, ebenso unerwartet, stieß er mich mit einer Bewegung von sich, wie ich sie nie bei jemand anderem gesehen habe, dabei seufzte er ganz leise:
›Ich hab dich schon lieb, nun lauf, meine kleine Jeanne!‹
Das war alles. Er nahm sich dann irgendeine Beschäftigung vor, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, verbrachte Stunden mit der Reparatur eines beliebigen Möbelstücks, der Anfertigung eines nützlichen Haushaltsgegenstandes für mich, oder der Instandsetzung einer Uhr.
Meine Mutter hatte nicht viel für ihn übrig, eben weil sie merkte, daß etwas bei ihm nicht so war, wie es sein sollte.«
»Besaß er irgend etwas Persönliches, das er ganz besonders sorgfältig hütete?«
»Woher wissen Sie …?«
Sie machte eine kleine, erschrockene Bewegung, fuhr hastiger fort:
»Einen alten Anzug … Einmal, als ich ihn gerade in einem Karton oben auf dem Kleiderschrank entdeckt hatte und dabei war, ihn auszubürsten, kam Louis heim … Ich hatte sogar die Risse stopfen wollen, denn fürs Haus wäre der Anzug noch gut genug gewesen, aber er war ganz wütend, hat ihn mir aus der Hand gerissen und furchtbar geschimpft. An dem Abend hätte man meinen können, er hasse mich …
Wir waren damals einen Monat verheiratet. Von da an …«
Sie seufzte und sah Maigret an, wie um sich für die Schäbigkeit ihrer Geschichte zu entschuldigen.
»Ist er noch absonderlicher geworden?«
»Es war ganz sicher nicht seine Schuld! Ich glaube, er war krank. Etwas nagte an ihm … Manchmal, wenn wir eine Stunde lang glücklich gewesen waren, in der Küche, wo wir uns meistens aufhielten, veränderte er sich plötzlich vor meinen Augen … Er sprach kein Wort mehr, sah alles um sich herum – auch mich – mit einem bösen, schiefen Grinsen an und ging dann einfach ins Bett, ohne mir Gute Nacht zu sagen.«
»Hatte er Freunde?«
»Nein. Er hat nie Besuch bekommen.«
»Unternahm er keine Reisen, kam nie irgendwelche Post für ihn?«
»Nein. Es war ihm sogar unangenehm, Leute daheim bei uns anzutreffen. Zuweilen kam nämlich eine Nachbarin, die selbst keine Nähmaschine besitzt, herüber, um meine zu benutzen; es gab kein besseres Mittel, Louis wütend zu machen …
Aber es war nicht eine Wut, wie sie sich bei anderen zeigt. Sie schien nach innen gerichtet, und er litt wohl selbst am meisten darunter …!
Als ich ihm sagte, daß ich ein Kind von ihm erwartete, hat er mich angeguckt, als habe er den Verstand verloren …
Und von dem Augenblick an – besonders nach der Geburt des Kleinen – hat er zu trinken angefangen; nicht ständig, es waren eher eine Art Anfälle oder Perioden …
Und trotzdem weiß ich genau, daß er ihn lieb hatte, den Jungen. Denn ab und zu, wenn er ihn ansah, lag in seinem Blick dieselbe zärtliche Verehrung, mit der er mich anfangs angesehen hatte …
Tags darauf kam er wieder betrunken heim, schloß sich im Schlafzimmer ein und blieb Stunden, manchmal gar ganze Tage im Bett.
Zuerst hat er mich noch weinend um Verzeihung gebeten … Vielleicht hätte ich es geschafft, ihn zu halten, wenn Mutter sich nicht eingemischt hätte, aber sie hat ihm Vorwürfe gemacht, und dann gab es Auseinandersetzungen …
Besonders, wenn Louis zwei, drei Tage nicht zur Arbeit ging …
Zum Schluß waren wir nur noch unglücklich. Sie können es sich vorstellen, nicht wahr? Er wurde immer bösartiger. Zweimal hat Mutter ihn vor die Tür gesetzt und ihm gesagt, das sei nicht seine Wohnung.
Aber was mich angeht, so bin ich überzeugt, daß er nichts dafür konnte. Irgend etwas trieb ihn, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen … Hin und wieder geschah es, daß er mich oder unseren Sohn mit diesem Ausdruck ansah, den ich Ihnen beschrieben habe …
Nur, es geschah immer seltener. Es hielt nicht lange an. Der letzte Auftritt war abscheulich. Mutter war dabei. Louis hatte sich Geld aus der Ladenkasse genommen, und sie hat ihn einen Dieb geschimpft … Totenblaß hat er dagestanden mit blutunterlaufenen Augen, wie an seinen schlimmen Tagen, und hat uns wie ein Irrer angeglotzt.
Ich sehe ihn immer noch auf mich zukommen, als wolle er mich erwürgen, und in der Verzweiflung habe ich ›Louis‹ geschrieen.
Er ist fortgegangen, hat die Tür so heftig hinter sich zugeschlagen, daß die Scheibe herausgefallen ist.
Das war vor zwei Jahren. Ab und zu haben Nachbarinnen ihn noch in der Umgebung gesehen. Ich habe mich bei seiner Fabrik in Belleville nach ihm erkundigt und gehört, daß er nicht mehr dort arbeitete.
Aber jemand hat ihn in der Rue de la Roquette, in einer kleinen Werkstatt, die Bierabfüllmaschinen herstellt, gesehen.
Ich selbst hab ihn nur einmal wiedergesehen, vor etwa sechs Monaten, durchs Schaufenster. Mama, die jetzt wieder mit mir und dem Kleinen zusammenwohnt, war gerade im Laden. Sie hat mich nicht zur Tür laufen lassen …
Sie geben mir doch Ihr Wort, daß er nicht gelitten hat, daß er sofort tot war? … Er war ein unglücklicher Mensch, meinen Sie nicht auch? Sie müssen das jetzt doch verstehen …«
Sie hatte ihre Erzählung mit einer solchen Intensität nacherlebt und dazu so stark unter dem Einfluß ihres Mannes gestanden, daß sie unbewußt beim Sprechen jeden der von ihr beschriebenen Gesichtsausdrücke wiedergegeben hatte.
Und wieder war Maigret verblüfft über die beunruhigende Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und dem Mann, der in Bremen mit den Fingern geschnalzt hatte, bevor er sich eine Kugel durch den Kopf jagte.
Und mehr noch, das verzehrende Fieber, das sie ihm beschrieben hatte, schien von ihr selber Besitz ergriffen zu haben. Auch jetzt noch, wo sie schwieg, hörten ihre Nerven nicht auf zu zittern, ihr Atem ging heftig; sie schien darauf zu warten, daß etwas geschah, ohne zu wissen, was es sein würde.
»Hat er nie über seine Vergangenheit oder seine Kindheit gesprochen?«
»Nein. Er war nicht sehr gesprächig. Ich weiß nur, daß er in Aubervilliers geboren ist … Ich hab auch von Anfang an den Eindruck gehabt, daß er eine bessere Schulbildung genossen hatte, als seine Stellung vermuten ließ. Er hatte eine schöne Handschrift und kannte die lateinischen Namen aller Pflanzen. Die Besitzerin der Kurzwarenhandlung nebenan ist immer zu ihm gekommen, wenn sie einen komplizierten Brief schreiben mußte.«
»Und Sie haben seine Familie nie kennengelernt?«
»Vor der Hochzeit hat er mir gesagt, er sei Waise … Ich möchte Sie noch etwas fragen, Herr Kommissar: Wird man ihn nach Frankreich überführen?«
Und als er nicht gleich antwortete, fügte sie mit abgewandtem Gesicht, um ihre Verlegenheit zu verbergen, hinzu:
»Die Kräuterhandlung gehört jetzt meiner Mutter … und das Geld! … Ich weiß, sie wird nicht für die Überführung der Leiche aufkommen wollen und mir auch das Reisegeld nicht geben, damit ich ihn noch einmal anschauen kann. Gibt es in so einem Fall wohl …«
Die Stimme versagte ihr; sie bückte sich hastig, um das Taschentuch, das ihr heruntergefallen war, aufzuheben.
»Ich werde für die Überführung Ihres Mannes sorgen, Madame.«
Sie dankte ihm mit einem rührenden Lächeln und wischte eine Träne fort.
»Ich merke, daß Sie verstanden haben und so wie ich denken, Herr Kommissar. Es war nicht seine Schuld – er war bloß unglücklich …«
»Verfügte er über größere Geldsummen?«
»Er hatte nur seinen Lohn. Zu Anfang gab er mir jeden Pfennig, aber dann, als er zu trinken begann …«
Wieder das schwache Lächeln, sehr traurig diesmal und doch voller Mitgefühl.
Sie hatte sich etwas beruhigt, als sie hinausging, den schmalen Pelzstreifen mit einer Hand fest an den Hals gepreßt, während die Linke immer noch die Handtasche und die eng zusammengefaltete Zeitung hielt.
Die Nummer achtzehn in der Rue de la Roquette war, wie Maigret feststellte, ein Hotel letzter Güteklasse.
Keine fünfzig Meter weiter lag schon die Place de la Bastille und in sie mündend auch die für ihre Tanzlokale und Spelunken bekannte Rue de Lappe.
Hier ist jedes Erdgeschoß eine Kneipe und jedes Haus ein Hotel, umlungert von Strolchen, gewohnheitsmäßigen Nichtstuern, Emigranten und Dirnen.
Inmitten dieses abenteuerlich anmutenden Schlupfwinkels der Unterwelt gibt es aber auch eine kleine Anzahl Werkstätten, in denen bei offenen Türen gehämmert und geschweißt wird, während draußen auf der Straße schwere Laster hin- und herrollen.
Das emsige Treiben, die Arbeiter, die einer geregelten Tätigkeit nachgehen, die Büroangestellten, die geschäftig ihre Frachtbriefe schwenken, bilden jedoch einen schreienden Kontrast zu den dort herumstrolchenden verkommenen oder dreisten Gestalten.
»Jeunet!« brummte der Kommissar, als er die Tür des Hotelempfangs im ersten Stock aufstieß.
»Nicht da!«
»Hat er sein Zimmer noch?«
Man witterte die Polizei, antwortete mürrisch.
»Ja, Nummer neunzehn.«
»Wie zahlt er, wöchentlich? Monatlich?«
»Monatlich.«
»Haben Sie Post für ihn?«
Man versuchte es zuerst mit Tricks, händigte Maigret dann schließlich das Päckchen doch aus, das Jeunet sich selbst aus Brüssel gesandt hatte.
»Erhielt er dergleichen öfter?«
»Gelegentlich …«
»Irgendwelche andere Post?«
»Nein. Insgesamt sind vielleicht drei Päckchen gekommen. Ein ruhiger Mensch … Ich möchte wissen, warum die Polizei ihn schikaniert …«
»Hat er gearbeitet?«
»Ja, in dieser Straße, Nummer fünfundsechzig.«
»Eine feste Stellung?«
»Je nachdem … mal ein paar Wochen und dann wieder nicht …«
Maigret ließ sich den Zimmerschlüssel geben, aber er entdeckte nichts außer einem Paar ausgedienter Schuhe, deren Sohle sich ganz vom Oberleder gelöst hatte, einem leeren Aspirinröhrchen und einem in eine Ecke geschleuderten Monteursanzug.
Er ging hinab und nahm sich den Hotelier abermals vor. Dabei erfuhr er, daß Louis Jeunet weder Besuch empfangen noch Umgang mit Frauen gepflegt hatte. Von einigen drei- oder viertägigen Reisen abgesehen, hatte er ein recht eintöniges Dasein geführt.
Doch es gibt keinen Menschen, der in dieser Art Hotel absteigt, in dieser Art Stadtviertel wohnt und nicht irgend etwas zu verbergen hat. Das wußte der Hotelier ebensogut wie Maigret. Er gab denn auch knurrend zu:
»Es ist nicht das, was Sie denken. Bei ihm war’s der Alkohol; und zudem bloß hin und wieder mal, wenn’s über ihn kam, wenn er seinen Koller kriegte, wie meine Frau und ich das nannten. Er konnte drei Wochen lang völlig solide sein, täglich zur Arbeit gehen, dann folgte eine Periode, in der er sich bis zur Bewußtlosigkeit betrank.«
»Und sonst war nichts Verdächtiges an seinem Verhalten?«
Der Mann zuckte mit den Achseln, wie um auszudrücken, daß er es in seinem Hotel nur mit Leuten zu tun habe, die sich in irgendeiner Form verdächtig verhielten.
Nummer fünfundsechzig war eine riesige, zur Straße hin offene Werkstatt, in der Maschinen zum Abfüllen von Bier hergestellt wurden. Ein Werkmeister, der das Bild Jeunets in der Zeitung gesehen hatte, empfing Maigret.
»Ich wollte schon an die Polizei schreiben«, sagte er. »Letzte Woche hat er noch hier gearbeitet. Acht Francs fünfzig die Stunde hat der Bursche verdient!«
»Wenn er überhaupt arbeitete!«
»Sie wissen also Bescheid … Wenn er überhaupt arbeitete! Es gibt ne ganze Menge von der Sorte, bloß daß die sich meist regelmäßig einen über den Durst genehmigen oder sich am Samstag ordentlich vollaufen lassen … Bei ihm kam das ganz plötzlich, war nicht vorauszusehen, aber dann soff er pausenlos eine Woche lang. Einmal, als wir eine dringende Arbeit zu erledigen hatten, bin ich zu ihm auf sein Zimmer gegangen … Und was soll ich Ihnen sagen? Der lag da und soff, ganz allein, mit der Flasche neben dem Bett … Ich kann Ihnen versichern, es war alles andere als schön anzusehen!«
In Aubervilliers – nichts. Im Geburtenregister war ein Louis Jeunet, Sohn des Tagelöhners Gaston Jeunet und seiner Frau Berthe Marie, geborene Dufoin, Hausangestellte, eingetragen. Gaston Jeunet war vor zehn Jahren gestorben, seine Frau verzogen.
Was Louis Jeunet betraf, so war nur bekannt, daß er vor sechs Jahren von Paris aus eine Geburtsurkunde angefordert hatte.
Das änderte nichts an der Tatsache, daß der Paß falsch war, daß der Mann, der in Bremen Selbstmord verübt hatte, nachdem er die Kräuterhändlerin aus der Rue Picpus geheiratet hatte und Vater eines Sohnes geworden war, nicht der echte Jeunet war!
Auch das Strafregister der Polizei ergab nichts; keine Eintragung unter dem Namen Jeunet, keinerlei Fingerabdrücke, die mit denen des Toten in Deutschland identisch gewesen wären.
Also hatte der Selbstmörder nie etwas mit den Justizbehörden zu tun gehabt, weder in Frankreich noch im Ausland, denn auch die von den meisten europäischen Ländern durchgegebenen Fahndungsberichte waren daraufhin geprüft worden.
Die Spur ließ sich nicht weiter als sechs Jahre zurückverfolgen. Damals hatte ein Louis Jeunet als Fraser gearbeitet und ein ordentliches Leben geführt.
Er hatte geheiratet und war schon zu diesem Zeitpunkt im Besitz des Anzugs B gewesen, der Anlaß zu der ersten Auseinandersetzung mit seiner Frau gegeben hatte und einige Jahre später die Ursache seines Todes werden sollte.
Er besaß keine Freunde, erhielt keine Post. Er schien Latein gelernt zu haben, was auf eine überdurchschnittliche Schulbildung hinwies.
In seinem Büro verfaßte Maigret ein Schreiben an die deutsche Polizei, in dem er die Leiche anforderte, und erledigte einige laufende Arbeiten. Dann öffnete er mit einem grimmigen, angewiderten Gesichtsausdruck abermals den Koffer, dessen Inhalt der Bremer Sachverständige so sorgfältig etikettiert hatte.
Er legte das Päckchen mit den dreißig belgischen Banknoten dazu, wobei ihm plötzlich die Idee kam, die Schnur zu lösen und die Nummern der Scheine zu notieren. Die Liste schickte er der Brüsseler Sûreté mit der Bitte, die Herkunft der Banknoten zu ermitteln.
Er tat all dies auf eine so schwerfällige Art und mit soviel Konzentration, als gälte es, sich selber vorzumachen, daß er sich einer nützlichen Beschäftigung widme.
Von Zeit zu Zeit jedoch verweilte sein Blick mit einem Anflug von Bitterkeit auf den vor ihm ausgebreiteten Fotografien, und seine Hand mit dem Federhalter erstarrte in der Luft, indessen seine Zähne sich in den Pfeifenstiel gruben.
Gerade hatte er sich zu dem Entschluß durchgerungen, heimzukehren und seine Nachforschungen erst am folgenden Tag weiterzuführen, als ihm ein Anruf aus Reims gemeldet wurde.
Es war im Zusammenhang mit dem in den Zeitungen veröffentlichten Foto. Der Wirt des Café de Paris in der Rue Carnot behauptete, den Mann sechs Tage zuvor in seinem Lokal gesehen zu haben und sich seiner deshalb zu erinnern, weil er dem schon betrunkenen Gast schließlich die Bedienung habe verweigern müssen.
Maigret wurde nachdenklich. Zum zweiten Mal war die Rede von Reims, woher auch die Schuhe des Toten stammten. Diese sehr abgenutzten Schuhe mußten aber vor Monaten gekauft worden sein, was bedeutete, daß Louis Jeunet sich nicht zufällig in dieser Stadt aufgehalten hatte.
Eine Stunde später saß der Kommissar im Eilzug nach Reims, wo er um zehn Uhr abends ankam. Das recht prunkhaft ausgestattete Café de Paris war voller Leute des gehobenen Mittelstandes. An drei Billardtischen wurde gespielt und an vielen anderen Tischen saßen Kartenspieler.
Es war das traditionelle französische Provinzcafé, dessen Gäste beim Eintritt der Kassiererin die Hand schütteln und von den Kellnern vertraulich mit dem Namen angeredet werden, dessen Kundschaft sich aus den Mitgliedern der gehobenen Gesellschaft und Vertretern des Handels zusammensetzt.
Hier und da, über den Raum verteilt, sah man die großen, vernickelten Kugeln, die zum Aufbewahren der Putzlappen dienen.
»Ich bin der Kommissar, mit dem Sie vorhin telefoniert haben.«
Der Wirt stand bei der Theke, wo er zugleich das Personal beaufsichtigte und den Billardspielern Ratschläge erteilte.
»Ach so, ja … Nun, ich habe Ihnen alles gesagt, was ich darüber weiß …«
Er senkte die Stimme, ein wenig verlegen:
»Sehen Sie, dort in der Ecke beim dritten Billardtisch hat er gesessen und einen Kognak bestellt, dann noch einen, und einen dritten. Es war ungefähr um diese Zeit. Die anderen Gäste haben ihn schief angesehen, weil – tja, wie soll ich sagen? – weil er eben nicht so ganz hierher paßte.«
»Hatte er Gepäck bei sich?«
»Einen alten Koffer mit kaputtem Schloß. Ich erinnere mich noch, daß der Koffer ihm beim Hinausgehen aufklappte und alte Klamotten herausfielen. Er hat sich sogar noch eine Schnur geben lassen, um ihn wieder zuzuschnüren.«
»Hat er mit jemand gesprochen?«
Der Wirt blickte hin zu einem der Billardspieler, einem hochgewachsenen, schlanken jungen Mann in eleganter Kleidung, der allem Anschein nach einer dieser versierten Spieler war, deren Karambolagen dem Amateur imponieren.
»Nicht direkt … Wollen Sie nicht etwas trinken? Dann könnten wir uns setzen … Hier, bitte!«
Er wählte einen abseits gelegenen Tisch, auf dem die Tabletts standen.
»Gegen Mitternacht war er so weiß wie der Marmor hier … Er mochte so um die acht oder neun Gläser Kognak getrunken haben. Seine Augen hatten einen starren Ausdruck, der mir nicht gefiel. Auf manch einen wirkt der Alkohol so. Sie regen sich nicht auf, faseln kein dummes Zeug, sondern kippen ganz einfach plötzlich um … Er ist allen aufgefallen. Ich bin dann hingegangen und habe ihm gesagt, daß ich ihm nichts mehr zu trinken geben könne; er hat auch nicht protestiert.«
»Waren noch Billardspieler da?«
»Ja, die dort am dritten Tisch. Das sind Stammgäste, die jeden Abend herkommen und Wettbewerbe veranstalten. Sie gehören zu einem Klub … Der Mann ist aufgestanden und zur Tür gegangen, dabei ist ihm die Sache mit dem Koffer passiert. Ich weiß nicht, wie er es fertiggebracht hat, die Schnur zu knoten, in dem Zustand! Eine halbe Stunde später habe ich das Lokal geschlossen. Die Herren haben sich von mir verabschiedet und sind gegangen. Jemand hat noch gesagt:
›Wir werden ihn wohl irgendwo in der Gosse wiederfinden!‹«
Abermals ruhte der Blick des Wirts auf dem elegant gekleideten Spieler mit den weißen, gepflegten Händen, der tadellosen Krawatte, den Lackschuhen, die bei jedem Schritt um den Billardtisch knirschten.
»Ich kann Ihnen eigentlich ebensogut alles erzählen … obwohl es sich zweifellos um einen Zufall oder Irrtum handelt … Tags darauf hat mir ein Handelsreisender, der alle Monate herkommt und an dem Abend im Lokal war, berichtet, er habe den Betrunkenen und Monsieur Belloir gegen ein Uhr morgens zusammen gesehen … Er hat sogar beobachtet, wie sie gemeinsam Monsieur Belloirs Haus betreten haben.«
»Das ist der große Blonde dort?«
»Ja; er hat ein schönes Haus in der Rue de Vesle, fünf Minuten von hier. Er ist stellvertretender Direktor der Kreditbank.«
»Ist der Handelsreisende hier?«
»Nein. Er macht seine übliche Runde durch den Osten des Landes; vor Mitte November wird er nicht zurücksein. Ich hab ihm gesagt, daß er sich geirrt haben muß, aber er war nicht davon abzubringen. Ich war drauf und dran, es Monsieur Belloir gegenüber zu erwähnen, so zum Spaß, aber dann hab ich mich doch nicht getraut. Er hätte es als Kränkung auffassen können, nicht? … Ich möchte Sie auch bitten, von dem, was ich Ihnen gesagt habe, kein Aufhebens zu machen oder zumindest nicht durchblicken zu lassen, daß es von mir kommt. In unserem Beruf …«
Der Billardspieler hatte eine Achtundvierzig-Punkte-Serie beendet. Er warf einen Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, daß seine Leistung auch bemerkt worden sei, sah Maigret im Gespräch mit dem Wirt und runzelte unmerklich die Stirn, während er die Spitze seiner Queue mit grüner Kreide einrieb.
Denn der Wirt, wie das fast immer der Fall ist, wenn einer Unbefangenheit vorzutäuschen sucht, hatte die ängstlich besorgte Miene eines Verschwörers.
»Sie sind dran, Monsieur Emile!« rief Belloir ihm zu.