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Die Panne bei Luzancy

Im Innern des Wagens, der in schneller Fahrt durch die hereinbrechende Nacht rollte, herrschte kaum ein paar Minuten lang Schweigen. Immer wieder schlug Joseph van Damme ein neues Thema an, und unterstützt durch den Armagnac gelang es ihm auch, den munteren Ton aufrechtzuerhalten.

Das Auto war eine alte Luxuslimousine mit schlaffen Polstern, Haltern für Blumenvasen und kunstvoll eingelegten Seitenfächern. Der Chauffeur war im Trenchcoat und hatte einen gestrickten Schal um den Hals.

Sie waren fast zwei Stunden gefahren, als der Chauffeur plötzlich den Fuß vom Gaspedal nahm. Der Wagen hielt am Straßenrand, einen guten Kilometer vom nächsten Dorf entfernt, dessen Lichter hier und da durch den Nebel blinkten.

Nachdem er die Hinterreifen einer eingehenden Prüfung unterzogen hatte, öffnete der Fahrer den Schlag, um ihnen mitzuteilen, ein Reifen sei geplatzt, die Reparatur werde etwa eine Viertelstunde dauern.

Beide Männer stiegen aus, während der Chauffeur schon dabei war, einen Wagenheber unter die Achse zu schieben. Er versicherte ihnen, keine Hilfe zu benötigen.

Wer von ihnen war es, Maigret oder van Damme, der vorschlug, ein paar Schritte zu gehen? Weder der eine noch der andere eigentlich; es ergab sich ganz von allein. Erst wanderten sie ein Stück die Straße entlang, entdeckten dann einen Seitenweg, der zu einem Fluß mit starker Strömung hinführte.

»Sieh da, die Marne!« stellte van Damme fest. »Sie führt Hochwasser.«

Gemächlichen Schrittes, ihre Zigarren rauchend, folgten sie dem Weg. Man vernahm ein undeutliches Geräusch, dessen Ursache einem erst klar wurde, wenn man am Ufer des Flusses angekommen war.

Hundert Meter weiter am gegenüberliegenden Ufer nämlich befand sich eine Schleuse, die Schleuse von Luzancy. Sie lag verlassen dort, ihre Tore waren geschlossen, und direkt unterhalb der Stelle, wo die beiden Männer standen, lief der Staudamm entlang, über den das weiß-schäumende Wasser brodelnd und wirbelnd mächtig vorwärtsströmte. Die Marne war stark angeschwollen.

In der Dunkelheit vermeinte man, Äste, womöglich ganze Bäume vorbeigleiten zu sehen, die gegen das Wehr geschleudert wurden, bevor die Strömung sie darüber hinwegspülte.

Ein einziges Licht war zu sehen, das von der Schleuse am anderen Ufer her leuchtete.

Genau in diesem Moment setzte Joseph van Damme seine Rede mit den Worten fort:

»Die Deutschen machen Jahr für Jahr die unglaublichsten Anstrengungen, um die Energie der Flüsse zu nutzen, und die Russen folgen ihrem Beispiel. In der Ukraine wird ein Stauwerk gebaut, das hundertzwanzig Millionen Dollar kosten soll; es wird allerdings auch drei Verwaltungsbezirke mit Strom versorgen …«

Es war beinahe unmerklich, wie seine Stimme bei dem Wort Strom schwankte, um sich gleich darauf wieder zu fangen; er mußte husten, zog ein Taschentuch hervor, putzte sich die Nase.

Sie standen keinen halben Meter vom Wasser entfernt, als Maigret plötzlich einen Stoß in den Rücken erhielt, das Gleichgewicht verlor, taumelte und sich abrutschend mit beiden Händen ans Gras der Böschung klammerte, die Füße im Wasser, indessen sein Hut schon über das Wehr trieb.

Was danach geschah, ging sehr schnell, denn der Kommissar hatte mit dem Stoß gerechnet.

Die Erdklumpen unter seiner rechten Hand gaben nach. Die Linke jedoch hatte einen geschmeidigen, von ihm zu diesem Zweck ausersehenen Ast ergriffen.

Kaum ein paar Sekunden später hatte er die Knie wieder auf dem Treidelweg, stand auf und rief der sich entfernenden Gestalt nach:

»Stehenbleiben!«

Seltsamerweise getraute van Damme sich nicht, schnell zu laufen. Den Schritt um ein Geringes nur beschleunigend steuerte er auf das Auto zu, wobei er sich immer wieder nach Maigret umwandte; seine Beine schienen ihm den Dienst zu versagen vor Aufregung.

Er ließ sich vom Kommissar einholen, mit gesenktem Kopf, den Hals tief in den Mantelkragen gezogen. Eine einzige Gebärde erlaubte er sich, eine Gebärde, die seine Wut ausdrückte und aussah, als schlüge er mit der geballten Faust auf einen unsichtbaren Tisch. Dabei knirschte er zwischen den Zähnen hervor:

»Idiot!«

Maigret hatte vorsichtshalber den Revolver aus der Tasche gezogen, hielt ihn im Anschlag, ohne seinen Begleiter aus den Augen zu lassen, während er seine bis an die Knie durchtränkten Hosenbeine schüttelte und ihm das Wasser aus den Schuhen lief.

Der Fahrer hupte mehrmals kurz von der Straße her zum Zeichen, daß der Wagen fahrbereit war.

»Vorwärts!« sagte der Kommissar.

Und wortlos nahmen sie ihre Plätze wieder ein. Van Damme, die Zigarre immer noch zwischen den Zähnen, vermied es, Maigret anzusehen.

So fuhren sie zehn Kilometer, zwanzig Kilometer, rollten mit verringertem Tempo durch eine Ortschaft, deren Straßen belebt und hell erleuchtet waren, und weiter auf der Landstraße.

»Verhaften können Sie mich trotzdem nicht!«

Der Kommissar fuhr zusammen, so unerwartet kam die langsam, in eigensinnigem Ton ausgesprochene Feststellung; und dabei entsprach sie doch genau dem Problem, das auch ihn beschäftigte!

Sie kamen nach Meaux. Auf das flache Land folgte der äußere Ring der Vororte. Es begann zu nieseln, und im Licht der Straßenlaternen nahm jeder Regentropfen die Form eines Sterns an. Den Mund dicht am Sprachrohr gab der Kommissar die Anweisung:

»Zum Polizeipräsidium, Quai des Orfèvres …«

Er stopfte sich eine Pfeife, ohne sie rauchen zu können, weil seine Streichhölzer naß geworden waren. Unmöglich, das abgewandte Gesicht des neben ihm Sitzenden zu erkennen; es war nur noch ein vom Zwielicht scharf umrissenes, verlorenes Profil, und doch spürte man die zornige Erregung des Mannes.

Etwas Unnachgiebiges lag in der Luft zwischen ihnen, sie war wie geladen mit einem Gemisch von Feindseligkeit und Wachsamkeit.

Selbst Maigret schob mit einem Ausdruck von Aggressivität den Unterkiefer leicht vor.

Dies alles kam dann in Form eines albernen Zwischenfalls zum Ausdruck, als der Wagen vor dem Präsidium hielt. Der Kommissar stieg als erster aus.

»Los, kommen Sie!« sagte er.

Der Chauffeur wartete darauf, bezahlt zu werden, und van Damme tat, als ginge es ihn nichts an. Sekundenlang herrschte eine allgemeine Unentschlossenheit, bis Maigret, nicht ohne sich der Komik der Situation bewußt zu werden, sagte:

»Worauf warten Sie? Sie haben das Auto schließlich gemietet!«

»Verzeihung, aber wenn ich die Reise als Häftling gemacht habe, ist es Ihre Sache, zu zahlen.«

Zeigte das nicht, wie sehr sich ihr Verhältnis zueinander seit Reims verändert hatte? Welch eine Verwandlung vor allem mit dem Belgier vorgegangen war?

Maigret zahlte und wies seinem Begleiter wortlos den Weg. In seinem Büro angelangt schloß er die Tür hinter ihnen, worauf seine erste Sorge dem Ofen galt.

Dann ging er an einen Wandschrank, entnahm ihm einige Kleidungsstücke und wechselte – ohne von dem Besucher Notiz zu nehmen – Hose, Strümpfe und Schuhe, hängte die nassen Sachen zum Trocknen ans Feuer.

Van Damme hatte unaufgefordert Platz genommen. Bei der hellen Beleuchtung fiel die mit ihm vorgegangene Veränderung noch stärker auf.

All die geheuchelte Gutmütigkeit und Spontaneität, das eher gezwungene Lächeln waren in Luzancy zurückgeblieben. Hier saß er mit angespannten Zügen, einen hinterhältigen Ausdruck in den Augen, und wartete.

Maigret fuhr fort, in seinem Büro herumzuwirtschaften, so als habe er alles Interesse an dem Besucher verloren. Er ordnete die Akten auf seinem Schreibtisch, rief seinen Chef an und bat um eine Auskunft, die nichts mit dem Fall zu tun hatte.

Schließlich baute er sich breitbeinig vor van Damme auf und fragte:

»Wo, wann und unter welchen Umständen haben Sie den Selbstmörder von Bremen, der sich als Louis Jeunet ausgab, kennengelernt?«

Der andere war nur ganz leicht zusammengezuckt; er hob den Kopf mit einer Entschlossenheit ausdrückenden Bewegung, um zu erwidern:

»In welcher Eigenschaft bin ich hier?«

»Soll das heißen, Sie weigern sich, meine Frage zu beantworten?«

Van Damme lachte. Es war eine ganz neue Art von Lachen, ironisch und boshaft.

»Ich kenne die Gesetze so gut wie Sie, Kommissar. Entweder Sie erheben formell Anklage gegen mich, dann warte ich, bis ich den Haftbefehl vor Augen habe; oder aber Sie tun es nicht, dann verpflichtet mich auch nichts, Ihnen zu antworten.

Im ersten Fall sieht das Gesetz vor, daß ich den Beistand eines Anwalts abwarten kann, bevor ich eine Aussage mache.«

Maigret wurde nicht böse, schien nicht einmal verstimmt über diese Haltung. Im Gegenteil! Voller Interesse, ja vielleicht sogar mit einer gewissen Befriedigung betrachtete er sein Gegenüber.

Der Vorfall bei Luzancy hatte Joseph van Damme gezwungen, sein gekünsteltes Wesen abzulegen; nicht nur das, welches er Maigret gegenüber aufgesetzt hatte, sondern auch das, welches er vor der Welt und sogar vor sich selbst zur Schau zu tragen pflegte.

Kaum noch etwas war übriggeblieben von dem vergnügten, leichtfertigen Bremer Geschäftsmann, dessen Leben sich zwischen großen Weinstuben, seinem modernen Büro und namhaften Restaurants abspielte. Dahin die Unbeschwertheit des erfolgreichen Kaufmanns, der sich mit heiterer Energie, mit dem Appetit des Lebemannes der Arbeit widmet und dem Anhäufen des Geldes.

Nun blieb nur noch ein fahles, zerfurchtes Gesicht, und man hätte schwören können, daß sich die Tränensäcke unter seinen Augen im Verlauf der letzten Stunde gebildet hatten.

War van Damme nicht vor einer Stunde noch ein freier Mann gewesen, der – auch wenn er etwas auf dem Kerbholz hatte – mit der Sicherheit auftrat, die ein guter Ruf, eine gewisse Menge Geld, ein Gewerbeschein und Gewandtheit verleihen?

Er selbst hatte diese Veränderung deutlich gemacht.

In Reims noch hatte er eine Runde nach der anderen spendiert, seinem Begleiter Luxuszigarren angeboten, einem dienstbeflissenen Wirt Aufträge erteilt, der ihm zu Gefallen eine Garage angerufen und dafür gesorgt hatte, daß man den bequemsten Wagen sandte.

Er hatte etwas dargestellt!

In Paris dagegen hatte er sich geweigert, die Reisekosten zu übernehmen, hatte sich auf das Gesetz berufen. Man spürte seine Bereitschaft zu verhandeln, sich Zoll für Zoll und mit einer Verbissenheit zu verteidigen, als ginge es um seinen Kopf.

Und dabei war er wütend auf sich selbst; das bewies sein Ausruf nach dem Vorfall am Ufer der Marne!

Er hatte nichts geplant, kannte den Chauffeur nicht, und selbst als die Panne passiert war, hatte er nicht gleich daran gedacht, sie auszunutzen.

Erst am Ufer des Flußes, angesichts der Strömung, der Baumstämme, die so leicht wie Laub vorbeitrieben, hatte er törichterweise und ganz ohne Überlegung mit der Schulter zugestoßen …

Er tobte innerlich, wohl ahnend, daß sein Begleiter die Bewegung vorausgesehen hatte.

Zweifellos war er sich sogar bewußt, das Spiel verloren zu haben, und war um so entschlossener, sich wie ein Verzweifelter zu wehren.

Er wollte sich gerade eine neue Zigarre anstecken, als Maigret sie ihm aus dem Mund nahm, in den Kohleneimer warf und ihm zugleich den Hut abnahm, den er aufbehalten hatte.

 

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich nicht viel Zeit habe … Wenn Sie nicht vorhaben, mich den gesetzlichen Vorschriften gemäß zu verhaften, möchte ich Sie ersuchen, mich freizulassen; anderenfalls sähe ich mich gezwungen, Sie wegen willkürlicher Freiheitsberaubung zu verklagen …

Und was das unfreiwillige Bad angeht, das Sie genommen haben, so seien Sie versichert, daß ich alles aufs Entschiedenste leugnen werde. Sie sind auf dem nassen Lehmboden des Treidelpfads ausgerutscht … Der Chauffeur wird bestätigen, daß ich keinen Fluchtversuch unternommen habe, wie das der Fall gewesen wäre, wenn ich tatsächlich versucht hätte, Sie ins Wasser zu werfen …

Im übrigen weiß ich immer noch nicht, was Sie mir eigentlich vorwerfen … Ich bin geschäftlich nach Paris gekommen; das werde ich beweisen. Anschließend habe ich einen alten Schulfreund in Reims besucht, einen ebenso angesehenen Bürger, wie ich selbst es bin.

Ich war naiv genug, Ihnen in Bremen, wo es wenig Franzosen gibt, freundschaftlich entgegenzukommen, Sie zum Essen und Trinken einzuladen und schließlich im Wagen nach Paris mitzunehmen …

Sie haben meinen Freunden und mir das Foto eines Mannes gezeigt, den wir nicht kennen … Er hat Selbstmord begangen! Das ist faktisch bewiesen. Es ist keinerlei Strafantrag gestellt worden – und folglich gibt es auch kein reguläres amtliches Verfahren.

Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe.«

Maigret steckte sich mit Hilfe eines zusammengefalteten Papierstreifens, den er in den Ofen geschoben hatte, seine Pfeife an und sagte beiläufig:

»Sie sind absolut frei …«

Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, so fassungslos war van Damme über diesen allzu leichten Sieg.

»Was soll das heißen?«

»Daß Sie frei sind, weiter nichts! Außerdem bin ich gerne bereit, mich für Ihr Entgegenkommen zu revanchieren und Sie zum Abendbrot einzuladen.«

Selten war er so vergnügt gewesen. Der andere starrte ihn entgeistert und selbst eine Spur entsetzt an, so als enthalte jedes seiner Worte eine versteckte Drohung. Dann erhob er sich zögernd.

»Es steht mir also frei, nach Bremen zurückzukehren?«

»Warum nicht? Sie selbst haben mir doch eben erklärt, daß Sie sich keinerlei strafbaren Handlung schuldig gemacht hätten …«

Für die Dauer eines Augenblickes schien es, als werde van Damme seine Selbstsicherheit wiederfinden und seine gute Laune, werde womöglich gar die Einladung zum Essen annehmen und sein Verhalten bei Luzancy als Ungeschicklichkeit oder dummen Streich auslegen.

Aber Maigrets Lächeln ließ diese optimistische Anwandlung im Keim ersticken. Van Damme griff nach seinem Hut, setzte ihn mit einer schroffen Gebärde auf.

»Was schulde ich Ihnen für den Wagen?«

»Ganz und gar nichts. Es war mir ein Vergnügen, Ihnen gefällig sein zu können …«

War da nicht ein Zittern um Joseph van Dammes Lippen? Er wußte nicht, wie er seinen Abgang handhaben sollte, suchte nach einer Entgegnung, zuckte schließlich mit den Achseln und wandte sich brummelnd zur Tür. Schwer zu sagen, auf wen oder was sich das Wort bezog, das er beim Hinausgehen knurrte:

»Idiot!«

Im Treppenhaus wiederholte er es noch einmal, während der Kommissar ihm, die Ellbogen auf das Geländer gestützt, nachblickte.

Soeben kam Wachtmeister Lucas auf dem Weg zum Büro des Chefs mit einem Stapel Akten vorbei.

»Schnell, schnapp dir Mantel und Hut und bleib dem Kerl dort auf den Fersen! Folg ihm bis ans Ende der Welt, wenn’s sich nicht vermeiden läßt …«

Damit nahm Maigret dem Untergebenen die Akten ab.

 

Der Kommissar hatte gerade eine Reihe Antragsformulare ausgefüllt, die – jeweils mit einem Namen versehen – an die verschiedenen Gendarmerieposten übermittelt und mit genauer Auskunft über die Betroffenen zurückkommen würden. Es handelte sich um: Maurice Belloir, stellvertretender Bankdirektor, Rue de Vesle, Reims, gebürtig aus Lüttich; Jef Lombard, Fotograveur, wohnhaft in Lüttich; Gaston Janin, Bildhauer, Rue Lepic, Paris; und Joseph van Damme, Handelsmakler in Bremen.

Er war bei dem letzten Formular angelangt, als ihm der Bürodiener meldete, ein Mann wünsche ihn im Zusammenhang mit dem Selbstmord Louis Jeunets zu sprechen.

Es war schon spät und die meisten Büros der Kriminalpolizei leer. Nur im Nachbarraum tippte noch ein Inspektor seinen Bericht.

»Führen Sie ihn herein!«

Der Besucher blieb bei der Tür stehen. Er wirkte unsicher oder furchtsam, bereute womöglich schon, den Schritt unternommen zu haben.

»Treten Sie näher! Nehmen Sie Platz!«

Ein Blick genügte Maigret, um ihn einzuschätzen. Er war groß und dürr, sehr blond und schlecht rasiert. Seine abgetragene Kleidung ließ an die Louis Jeunets denken: der Mantel, an dem ein Knopf fehlte, dessen Kragen speckig und dessen Aufschläge verstaubt waren.

An allerlei Kleinigkeiten noch, seiner Art, sich zu geben, sich zu setzen, um sich zu blicken, erkannte der Kommissar den Gelegenheitsarbeiter, der sein Unbehagen der Polizei gegenüber auch dann nicht recht abzuschütteln vermag, wenn er sich einmal nichts zuschulden hat kommen lassen.

»Sie kommen wegen dem Bild, das die Zeitungen gebracht haben? Warum haben Sie sich nicht gleich gemeldet? Das Foto ist vor drei Tagen erschienen …«

»Ich lese keine Zeitung«, begann der Mann, »meine Frau hat zufällig mit den Einkäufen ein Blatt als Einwickelpapier heimgebracht …«

Irgendwo war Maigret dies lebhafte Mienenspiel, dies unablässige Beben der Nasenflügel und vor allem dieser fast krankhaft unstete Blick schon einmal aufgefallen.

»Haben Sie Louis Jeunet gekannt?«

»Ich weiß nicht … Das Bild ist schlecht, aber es könnte … Ich glaube, es ist mein Bruder.«

Unwillkürlich stieß Maigret einen Seufzer der Erleichterung aus, und in dem Gefühl, das ganze Geheimnis werde sich nun mit einem Mal lüften, schlenderte er zum Ofen hinüber, wo er sich in einer Haltung aufbaute, die er nur wenn er guter Laune war einzunehmen pflegte.

»Also heißen Sie Jeunet?«

»Nein, das ist es eben. Deshalb bin ich auch nicht gleich gekommen … Aber es ist mein Bruder! Jetzt, wo ich ein besseres Foto auf Ihrem Schreibtisch sehe, bin ich ganz sicher. Diese Narbe da! … Ich verstehe bloß nicht, warum er sich umgebracht hat, und vor allem, weshalb er den Namen gewechselt hat.«

»Wie heißen Sie?«

»Armand Lecocq d’Arneville. Ich habe meine Papiere dabei …«

Und wieder verriet die Geste, mit der seine Hand in die Tasche fuhr, um einen schmierigen Paß zutage zu fördern, den Herumtreiber, der daran gewöhnt ist, verdächtigt zu werden und sich ausweisen zu müssen.

»D’Arneville, mit einem kleinen d und Apostroph?«

»Ja.«

»Sie sind in Lüttich geboren«, fuhr der Kommissar, einen Blick in den Paß werfend, fort, »fünfunddreißig Jahre alt und von Beruf?«

»Momentan bin ich Bürodiener bei einer Fabrik in Issy-les-Moulineaux. Wir wohnen in Grenelle, meine Frau und ich.«

»Hier steht Maschinenschlosser …«

»Das war ich früher … Ich hab überall mal die Nase reingesteckt.«

»Sogar ins Gefängnis!« stellte Maigret in dem Paß blätternd fest. »Sie sind Deserteur …«

»Seitdem hat es eine Amnestie gegeben … Lassen Sie mich erklären! Mein Vater hatte Geld, er war Leiter einer Reifenhandlung, aber er hat meine Mutter verlassen, als ich erst sechs Jahre alt war und mein Bruder Jean drei. So hat alles angefangen …

Wir mußten in eine kleine Wohnung in der Rue de la Province in Lüttich ziehen. Zuerst hat mein Vater uns noch ziemlich regelmäßig Geld überwiesen.

Er selbst lebte auf großem Fuß, hielt sich Mätressen … Einmal, als er uns das Unterhaltsgeld brachte, hatte er eine Frau dabei, die unten im Wagen auf ihn wartete.

Es gab unerfreuliche Auftritte … Vater zahlte nicht mehr oder nur noch einen Teil des Geldes. Mutter hat als Putzfrau gearbeitet und ist mit der Zeit ziemlich irr geworden.

Nicht so irr, daß sie in eine Anstalt mußte, aber sie sprach Leute an, um ihnen etwas vorzujammern und weinte auf offener Straße …

Von meinem Bruder habe ich nicht viel gesehen. Ich trieb mich mit den Jungen aus der Nachbarschaft herum. X-mal wurden wir auf die Polizeiwache gebracht, bis sie mich dann bei einem Eisenwarenhändler in die Lehre gegeben haben.

Ich bin so wenig wie möglich heimgegangen, wo Mutter immerfort heulte, all die alten Weiber der Umgebung hockten und einander etwas vorplärrten … Mit sechzehn bin ich zum Militär gegangen, hab mich gleich für den Kongo gemeldet. Da bin ich aber bloß einen Monat geblieben. Acht Tage hab ich mich in Matadi versteckt und mich dann auf einem Dampfer, der nach Europa zurückfuhr, als blinder Passagier eingeschifft.

Sie haben mich entdeckt; ich mußte ins Gefängnis. Dann bin ich ausgebrochen und nach Frankreich rüber. Dort hab ich als alles mögliche gearbeitet …

Ich hab gehungert und in den Markthallen geschlafen. Mag sein, daß ich mich nicht immer glorreich verhalten habe, aber seit vier Jahren, darauf geb ich Ihnen mein Wort, führe ich ein ordentliches Leben!

Ich hab sogar geheiratet! Meine Frau ist Fabrikarbeiterin. Sie hat die Stellung nicht aufgegeben, denn gut verdiene ich nicht, und manchmal bin ich auch arbeitslos …

Ich hab nie versucht, nach Belgien zurückzugehen … Meine Mutter soll in einer Irrenanstalt gestorben sein, hat man mir erzählt, und mein Vater lebt anscheinend noch.

Aber er hat sich eh nie um uns gekümmert … Er hat eine neue Familie …«

Der Mann verzog die Lippen zu einem schiefen, Entschuldigung heischenden Lächeln.

»Und was ist mit Ihrem Bruder?«

»Bei ihm war es ganz anders. Jean war ein gewissenhafter Junge. Er bekam ein Stipendium, um das Gymnasium besuchen zu können … Er war erst dreizehn, als ich Belgien verließ und in den Kongo ging. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.

Nur hin und wieder, wenn ich zufällig jemand aus Lüttich traf, habe ich etwas über ihn erfahren. Irgend jemand soll dafür gesorgt haben, daß er zur Universität gehen konnte.

Das war vor zehn Jahren. Niemand von den Leuten, die mir seitdem über den Weg gelaufen sind, hat mir etwas über ihn sagen können; manche meinten, er müsse ins Ausland gegangen sein, weil man so gar nichts mehr von ihm höre.

Das war vielleicht ein Schlag, als ich die Fotografie sah! Und besonders der Gedanke, daß er in Bremen umgekommen ist, unter einem falschen Namen …

Sie werden das vielleicht nicht verstehen … Bei mir ist eben von Anfang an alles schief gegangen; ich habe versagt, hab Dummheiten gemacht …

Aber wenn ich an Jean denke, wie er mit dreizehn war … Wir sahen uns ähnlich, nur war er irgendwie ausgeglichener, ernsthafter eben … Er las damals schon Gedichte und hockte nächtelang über seinen Büchern, ganz allein, beim Licht von Kerzenstummeln, die ihm ein Küster schenkte.

Ich war überzeugt, daß er es zu etwas bringen würde, denn – sehen Sie – schon als Junge lag ihm nichts ferner, als auf der Straße herumzulungern. Das ging so weit, daß die Gassenjungen unseres Viertels sich über ihn lustig machten.

Ich dagegen war immer knapp an Geld, hab mich nicht einmal gescheut, es unserer Mutter abzubetteln, die sich alles, was sie mir gab, vom Munde absparen mußte. Sie liebte uns über alles, aber mit sechzehn ist man eben gedankenlos … Ich weiß heute noch, wie abscheulich ich mich eines Tages aufführte, bloß weil ich einem Mädchen versprochen hatte, mit ihr ins Kino zu gehen …

Mutter hatte keinen Centime, und ich hab geheult, gedroht, bis sie schließlich losgezogen ist und die Medikamente verkauft hat, die ihr irgendein Wohltätigkeitsverein gegeben hatte.

Sehen Sie jetzt, was ich meine? … Und nun ist es ausgerechnet Jean, der dort auf diese Art umkommen mußte, unter einem falschen Namen! …

Ich weiß nicht, was er angestellt hat. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er so wie ich auf die schiefe Bahn geraten ist, und Sie würden genauso denken, wenn Sie ihn als Kind gekannt hätten …

Wissen Sie etwas darüber?«

Maigret gab ihm den Paß zurück und fragte:

»Kennen Sie jemanden in Lüttich mit Namen Belloir, van Damme, Janin oder Lombard?«

»Einen Belloir schon … Der Vater war Arzt in unserm Viertel. Der Junge studierte. Aber das waren bessere Leute, mit denen ich nichts zu tun hatte.«

»Und die anderen?«

»Der Name van Damme kommt mir bekannt vor … Ich glaube, es gab ein großes Kolonialwarengeschäft in der Rue de la Cathédrale, das so hieß … Aber das alles liegt so weit zurück …«

Armand Lecocq d’Arneville zögerte einen Moment, bevor er hinzufügte:

»Könnte ich wohl Jeans Leiche sehen? Ist sie überführt worden?«

»Sie kommt morgen in Paris an.«

»Und es besteht kein Zweifel, daß er sich das Leben genommen hat?«

Maigret wandte sich ab, unangenehm berührt bei dem Gedanken, daß er dessen nur allzu gewiß war, daß er dem Drama persönlich beigewohnt, es gar, ohne sein Wissen, herbeigeführt hatte.

Sein Gesprächspartner drehte die Mütze in den Händen, verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere, während er darauf wartete, verabschiedet zu werden. Seine tief in ihre Höhlen gebetteten Augen, deren Iris wie graue Konfetti unter den blassen Lidern sichtbar waren, beschworen so eindringlich den demütig-gepeinigten Blick des Reisenden von Neuschanz herauf, daß es Maigret einen scharfen Stich – nicht unähnlich Gewissensbissen – in der Herzgegend gab.