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Kommissar Maigrets Verbrechen

Niemand bemerkte etwas. Niemand ahnte auch nur, daß sich im Wartesaal des kleinen Bahnhofs, wo nur sechs Reisende teilnahmslos im Dunst von Kaffee, Bier und Limonade warteten, ein Drama abspielte.

Es war fünf Uhr nachmittags, und die Nacht brach schon herein. Die Lampen brannten, aber durch die Scheiben konnte man noch erkennen, wie die deutschen und holländischen Zoll- und Bahnbeamten im trüben Zwielicht des Bahnsteigs auf- und abliefen.

Der Bahnhof Neuschanz liegt nämlich ganz im Norden Hollands an der deutschen Grenze.

Es ist ein unbedeutender Bahnhof. Neuschanz selbst ist kaum ein Dorf zu nennen und wird von keiner wichtigen Linie berührt. Nur morgens und abends verkehren hier Züge: für die deutschen Arbeiter, die, von den hohen Löhnen angelockt, in niederländischen Fabriken tätig sind.

Und jedesmal spielt sich das gleiche Ritual ab: Der deutsche Zug hält am einen Ende des Bahnsteigs, der holländische am anderen.

Die Bahnbeamten mit der rötlichgelben Mütze und die in grüner oder preußischblauer Uniform gehen aufeinander zu und verbringen die für die Zollformalitäten veranschlagte Wartezeit miteinander.

Da jeder Zug nur ein paar Dutzend Fahrgäste befördert, und zwar immer dieselben, die mit den Zollbeamten auf Du und Du stehen, sind die Formalitäten schnell erledigt.

Die Leute setzen sich in die Bahnhofsgaststätte, die sich durch nichts von den Bahnhofsgaststätten anderer Grenzbahnhöfe unterscheidet. Die Preise sind in Cents und Pfennigen angegeben. Im Schaukasten liegt holländische Schokolade neben deutschen Zigaretten, und es wird sowohl Genever als auch Schnaps ausgeschenkt.

An diesem Abend lag etwas Bedrückendes in der Luft. Hinter der Kasse döste eine Frau; ein Dampfstrahl entfuhr der Kaffeemaschine, und durch die offenstehende Küchentür drang das Pfeifen eines Radioapparates, an dem ein Junge herumdrehte.

Es wirkte anheimelnd, und doch genügten einige Kleinigkeiten, um die Atmosphäre mit einem beunruhigenden Hauch von Abenteuer und Geheimnis zu durchdringen.

Die Uniformen der beiden Länder zum Beispiel! Dies Nebeneinander von Plakaten, die für den Wintersport in Deutschland einerseits und die Utrechter Messe andererseits warben …

In einer Ecke die Umrisse einer Gestalt: Ein Mann so um die Dreißig, in fadenscheiniger Kleidung, mit bleichem, unrasiertem Gesicht und einem weichen Hut von undefinierbarem Grau, der wohl schon ganz Europa gesehen hatte.

Der Mann war mit dem holländischen Zug gekommen. Er hatte eine Fahrkarte nach Bremen vorgezeigt, und der Schaffner hatte ihm auf deutsch erklärt, daß er sich die ungünstigste Strecke ausgesucht habe, auf der keine Schnellzüge verkehrten.

Der Fahrgast hatte ihm bedeutet, daß er nicht verstand. Er hatte auf französisch Kaffee bestellt und die Neugier aller Umsitzenden auf sich gezogen.

Seine Augen glänzten fiebrig, lagen zu tief in den Höhlen. Die Art, wie er beim Rauchen die Zigarette an der Unterlippe kleben ließ, genügte, um ihm einen Ausdruck von Erschöpfung oder Verachtung zu verleihen.

Zu seinen Füßen stand ein Kunstfaserköfferchen, wie jedes Kaufhaus sie führt. Es war neu.

Nachdem er bedient worden war, zog der Mann eine Handvoll Kleingeld – darunter französische, belgische sowie die kleinen holländischen Silbermünzen – aus der Tasche. Die Kellnerin mußte sich selbst die nötigen Geldstücke herausklauben.

Weniger auffällig war ein anderer Fahrgast, der sich am Nachbartisch niedergelassen hatte. Ein großer, schwerfällig gebauter Mensch mit ausladenden Schultern. Er trug einen dicken, schwarzen Mantel mit Samtkragen, und der Knoten seiner Krawatte war an einem Zelluloidkragen befestigt.

Verkrampft saß der erste der beiden Männer an seinem Platz und beobachtete durch die Glastür die Beamten, so als fürchte er, den Zug zu verpassen.

Der zweite betrachtete ihn gelassen, während er gleichmütig an seiner Pfeife sog.

Für die Dauer von zwei Minuten verließ der unruhige Reisende seinen Platz, um die Toiletten aufzusuchen, und sogleich – ohne sich auch nur zu bücken – zog der andere das Köfferchen mit dem Fuß zu sich herüber und schob ein zweites, genau gleich beschaffenes an seine Stelle.

Eine halbe Stunde später fuhr der Zug ab. Die beiden Männer nahmen in demselben Abteil dritter Klasse Platz, wechselten jedoch kein Wort miteinander.

In Leer stieg alles aus. Der Zug aber setzte seine Fahrt für diese beiden fort.

Um zehn lief er in die mächtige, glasgedeckte Halle des Bremer Hauptbahnhofs ein, wo das Licht der Bogenlampen jedes Gesicht fahl erscheinen ließ.

 

Der erste der beiden Männer schien kein Wort Deutsch zu verstehen, denn erst nachdem er mehrmals die falsche Richtung eingeschlagen hatte und im Bahnhofsrestaurant erster Klasse gelandet war, erreichte er nach einigem Hin und Her das der dritten Klasse, wo er sich nicht setzte, sondern am Büfett stehenblieb.

Er deutete auf Wurstbrötchen, erklärte gestikulierend, daß er sie mitnehmen wolle, und bezahlte auch diesmal wieder, indem er eine Hand voller Münzen hinstreckte.

Eine gute halbe Stunde lang irrte er – das Köfferchen in der Hand – durch die breiten Straßen um den Bahnhof, so als suche er etwas Bestimmtes.

Und der Mann mit dem Samtkragen, der ihm geduldig folgte, erriet, was es war, als er seinen Begleiter endlich nach links, auf ein ärmlicheres Viertel zu hasten sah.

Was dieser suchte, war ganz einfach ein billiges Hotel. Argwöhnisch prüfte der junge Mann, dessen Gang nun schleppend zu werden begann, mehrere Absteigen, bevor er sich für eine der miesesten, mit einer dicken, weißen Milchglaskugel über der Tür entschied.

Immer noch trug er das Köfferchen in einer Hand und in der anderen die in eine Papierserviette eingewickelten Wurstbrötchen.

Die Straße war belebt, und langsam senkte sich Nebel herab, dämpfte die Beleuchtung der Schaufenster.

Der Mann im dicken Mantel hatte einige Mühe, das Zimmer neben dem seines Reisegefährten zu bekommen.

Es war ein armseliges Zimmer, das allen armseligen Hotelzimmern der Welt glich, mit dem einzigen Unterschied vielleicht, daß Armseligkeit nirgendwo ganz so trostlos ist wie in Norddeutschland.

Aber zwischen den beiden Zimmern gab es eine Verbindungstür und in dieser ein Schlüsselloch.

So konnte der Mann verfolgen, wie der Koffer geöffnet wurde, der nichts als alte Zeitungen enthielt.

Er sah den Reisenden erblassen, dermaßen, daß es unerträglich mitanzusehen war; sah ihn den Koffer mit zitternden Händen drehen und wenden, die Zeitungen im Zimmer verstreuen.

Die Brötchen lagen immer noch eingewickelt auf dem Tisch, aber der junge Mann, der seit vier Uhr nachmittags nichts mehr gegessen hatte, schenkte ihnen keinerlei Beachtung.

Er stürzte zurück zum Bahnhof, verlief sich, mußte zehnmal nach dem Weg fragen, wiederholte immerfort ein Wort, nur so entstellt durch seinen Akzent, daß die Befragten ihn kaum verstanden: »Bahnhof! …«

In seiner Aufregung und um sich eher verständlich zu machen, ahmte er das Geräusch eines Zuges nach.

Er gelangte zum Bahnhof, irrte durch die weite Halle, bis er einen Haufen Gepäckstücke entdeckte, und schlich wie ein Dieb näher heran, sich zu vergewissern, daß sein Koffer nicht dabei sei.

Und jedesmal, wenn jemand mit einem ähnlichen Koffer vorbeiging, fuhr er zusammen.

Immer noch folgte ihm sein Begleiter, den Blick unverwandt auf ihn geheftet.

Um Mitternacht erst kehrten sie, einer nach dem anderen, ins Hotel zurück.

Durch das Schlüsselloch, scharf umrissen, bot sich der Anblick des jungen Mannes, wie er auf einem Stuhl zusammengesackt den Kopf in den Händen hielt. Als er aufstand, schnippte er mit den Fingern – eine Gebärde, die zugleich Wut und Resignation ausdrückte.

Und dies war das Ende: Er zog einen Revolver aus der Tasche, riß den Mund auf, so weit es nur ging, und drückte ab.

 

Im nächsten Augenblick war der Raum voller Menschen, unter ihnen Kommissar Maigret, der seinen Mantel mit dem Samtkragen nicht abgelegt hatte und den Neugierigen den Zutritt zu verwehren suchte. Wiederholt vernahm man die Wörter Polizei und Mörder.

Der junge Mann wirkte im Tode noch jämmerlicher als zuvor. Man sah die Löcher in seinen Schuhsohlen und unter der beim Fallen hinauf gerutschten Hose ein Paar unglaublich roter Socken mit einem bleichen, behaarten Schienbein darüber.

Ein Polizist erschien, sagte etwas in gebieterischem Ton, worauf die Leute sich im Flur zusammendrängten. Nur Maigret, der sich mittels seiner Kennmarke als Kommissar der Pariser Kriminalpolizei auswies, blieb im Zimmer.

Der Polizist sprach kein Wort Französisch und Maigret konnte nur ein paar Brocken Deutsch.

Zehn Minuten später bremste auch schon ein Wagen vor dem Hotel, und Kriminalbeamte in Zivil stürzten herein.

Anstelle des Wortes Polizei raunte es nun Franzose draußen im Flur, und neugierige Blicke trafen den Kommissar. Es bedurfte jedoch nur weniger Befehle, um aller Unruhe ein Ende zu setzen; das Gemurmel brach so plötzlich ab, wie man mit einem Handgriff den Strom abschaltet.

Die Hotelgäste verschwanden in ihren Zimmern. Auf der Straße hielt sich eine schweigende Menge in respektvoller Entfernung.

Zwischen Kommissar Maigrets Zähnen steckte auch jetzt noch die Pfeife, nur daß sie erloschen war, und sein fleischiges Gesicht, dessen Züge den Eindruck erweckten, sie seien mit kräftigem Daumendruck in unbildsamen Ton geknetet, trug einen an Furcht oder Verstörtheit grenzenden Ausdruck.

»Würden Sie mir erlauben, meine Ermittlungen gleichzeitig mit Ihren anzustellen?« fragte er. »Eins steht fest: Der Mann hat Selbstmord begangen. Er ist Franzose.«

»Waren Sie ihm auf der Spur?«

»Es würde zu weit führen, Ihnen zu erklären … Ich möchte, daß Ihr Erkennungsdienst ihn so scharf wie nur möglich und von allen Seiten fotografiert.«

Nach all dem Aufruhr herrschte nun wieder Stille. Nur drei Männer waren in dem Raum zurückgeblieben.

Der eine, ein junger Mensch mit frischem Teint und kurzgeschorenem Haar, trug zum Jackett eine gestreifte Hose und polierte andauernd die Gläser seiner goldgefaßten Brille. Er wurde mit einem Titel, der wie Oberkriminalrat klang, angeredet.

Der andere, von ebenso gesunder Hautfarbe, aber weniger förmlich gekleidet, stöberte überall herum und gab sich Mühe, Französisch zu sprechen.

Sie fanden nichts außer einem Paß, der auf den Namen Louis Jeunet lautete, Maschinenschlosser, gebürtig in Aubervilliers.

Was den Revolver anging, so trug er den Stempel der Waffenfabrik Herstal in Belgien.

 

Bei der Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres wäre wohl niemand in dieser Nacht auf den Gedanken gekommen, sich einen so schweigsamen und von dem Schicksalsschlag wie vernichteten Maigret vorzustellen; einen Maigret, der seinen deutschen Kollegen bei der Arbeit zusah, beiseite trat, um Fotografen und Gerichtsmedizinern Platz zu machen, und dabei hartnäckig – die immer noch kalte Pfeife zwischen den Zähnen – der kärglichen Beute harrte, die man ihm gegen drei Uhr morgens aushändigte: die Kleidungsstücke des Toten, seinen Paß und ein Dutzend Aufnahmen, denen das Blitzlicht einen gespenstischen Anstrich verlieh.

Er war nicht weit davon entfernt – ja, er war sogar sehr nahe daran zu denken, daß er einen Menschen umgebracht hatte.

Einen Menschen noch dazu, den er nicht kannte, von dem er nichts wußte! Es gab keinen Beweis dafür, daß dieser Mensch sich gegen das Gesetz vergangen hatte!

 

Angefangen hatte es am Abend zuvor in Brüssel, auf die überraschendste Art und Weise. Maigret war auf Dienstreise dort gewesen. Er hatte eine Besprechung mit der belgischen Sûreté über die aus Frankreich verwiesenen italienischen Flüchtlinge gehabt, deren Umtriebe Anlaß zur Beunruhigung gaben.

Es war mehr ein Ausflug als eine Dienstreise gewesen. Die Besprechungen hatten früher als geplant geendet, so daß dem Kommissar ein paar freie Stunden blieben.

Und einem Impuls der Neugier folgend hatte er ein kleines Café an der Montagne aux Herbes Potagères betreten.

Es war zehn Uhr morgens gewesen, und das Lokal so gut wie leer. Dennoch war Maigret über dem Geschwätz des gutgelaunten, vertrauensseligen Wirtes ein Gast im hintersten Winkel des Lokals aufgefallen, der sich im Halbdunkel einer seltsamen Beschäftigung widmete.

Der Mann sah jämmerlich aus, jeder Zoll verriet den gewohnheitsmäßigen Arbeitslosen, wie man ihn in allen Großstädten der Welt auf der Suche nach einem Gelegenheitsverdienst antrifft.

Dabei zog er aber Tausendfrancsscheine aus der Tasche, zählte sie und wickelte sie in Packpapier, worauf er das Päckchen verschnürte und mit einer Adresse versah.

Dreißig Scheine, wenn nicht mehr! Dreißigtausend belgische Francs! Maigret hatte die Stirn gerunzelt und war dem Unbekannten, nachdem dieser seinen Kaffee bezahlt und das Lokal verlassen hatte, bis zum nächsten Postamt gefolgt.

 

Dort war es ihm gelungen, über die Schulter des Mannes blickend die in einer alles andere als volksschülerhaften Handschrift angegebene Adresse zu entziffern:

 

Monsieur Louis Jeunet

Rue de la Roquette 18

Paris

 

Aber mehr als alles andere noch hatte ihn der Vermerk »Drucksache« erstaunt.

Dreißigtausend Francs wie wertloses Zeitungspapier, wie ganz gewöhnliche Werbesendungen loszuschicken! Denn das Päckchen war nicht einmal eingeschrieben worden. Ein Schalterbeamter hatte es gewogen und »siebzig Centimes« gesagt.

Und nachdem der Absender das Porto bezahlt hatte, war er hinausgegangen. Maigret hatte sich den Namen und die Anschrift gemerkt und war dem Mann auf den Fersen geblieben. Einen Moment lang hatte er sogar belustigt mit dem Gedanken gespielt, ihn der belgischen Polizei als Geschenk zu übergeben. Er würde schnell mal beim Chef der Brüsseler Sûreté vorsprechen und beiläufig erwähnen:

»Mir ist da übrigens vorhin bei einem Glas Gueuse-Lambic so ein fauler Kunde in die Hände geraten … Sie brauchen ihn bloß da und da abzuholen.«

Maigret war bester Laune gewesen. Eine milde Herbstsonne hatte auf die Stadt herabgeschienen, die Luft mit einem Hauch von Wärme erfüllt.

Um elf hatte der Unbekannte in einem Laden der Rue Neuve für zweiunddreißig Francs einen Koffer aus Kunstleder oder eher Kunstfaser erstanden und, so zum Spaß, hatte Maigret sich den gleichen gekauft, ohne zu versuchen, sich den weiteren Verlauf des Abenteuers auszumalen.

Um halb zwölf hatte der Mann ein Hotel aufgesucht, das in einer Gasse lag, deren Namen der Kommissar nicht festzustellen vermochte. Wenig später war er wieder zum Vorschein gekommen und an der Gare du Nord in den Zug nach Amsterdam gestiegen.

Diesmal hatte der Kommissar doch gezögert. Mag sein, daß der Eindruck, diesem Gesicht schon irgendwo begegnet zu sein, seine Entscheidung beeinflußt hatte …

»Sicher eine ganz harmlose Geschichte … Aber wenn es nun doch etwas Wichtiges wäre? …«

Es bestand kein zwingender Grund, sofort nach Paris zurückzukehren. An der holländischen Grenze hatte er über die Geschicklichkeit gestaunt, mit der der Mann seinen Koffer auf das Dach des Waggons schob, bevor sie die Zollkontrolle erreichten, eine Geschicklichkeit, die verriet, daß der Mann mit solchen Situationen vertraut war.

»Wir werden der Sache schon noch auf den Grund kommen, wenn er erst einmal irgendwo Halt macht!«

Nur, er hatte in Amsterdam nicht Halt gemacht, sondern lediglich eine Fahrkarte dritter Klasse nach Bremen gelöst. Und dann war die Reise weitergegangen, quer durch das holländische Flachland mit seinen Kanälen, über die Segelboote dahinglitten, so als schwämmen sie inmitten der Felder.

Neuschanz … Bremen …

Maigret hatte den Austausch der Koffer aufs Geratewohl vorgenommen. Vergeblich hatte er in stundenlangem Grübeln versucht, den Burschen in eine der der Polizei vertrauten Kategorien einzuordnen:

»Zu nervös für den echten Gangster internationalen Kalibers … Er könnte natürlich ein Handlanger sein, der einen auf die Spur seiner Bosse bringt … Oder ein Mitglied einer Verschwörerbande, ein Anarchist? … Er spricht aber nur Französisch, und in Frankreich gibt es keine Verschwörungen, nicht einmal aktive Anarchisten! … Ein kleiner Ganove also, ein Einzelgänger? …«

Aber hätte ein Ganove, der dreißig Tausendfrancsscheine in einfaches Packpapier gewickelt losgeschickt hatte, dermaßen anspruchslos gelebt?

Der Mann trank nicht, begnügte sich auf den Bahnhöfen, wo der Zug lange Aufenthalt hatte, mit einem hastig hinuntergestürzten Kaffee und hin und wieder einem Brötchen oder einer Brioche.

Er kannte die Strecke nicht, denn alle naselang erkundigte er sich besorgt – ja, geradezu übertriebene Besorgnis an den Tag legend –, ob er auch auf dem rechten Weg sei.

Er war nicht kräftig, und doch trugen seine Hände die Merkmale körperlicher Arbeit. Die schwarzen, zu langen Nägel ließen vermuten, daß er seit geraumer Zeit nicht mehr beschäftigt gewesen war.

Seine Gesichtsfarbe deutete auf Blutarmut oder gar auf ein Leben in bitterer Not hin.

Und ganz allmählich hatte Maigret vergessen, daß er sich mit der Absicht getragen hatte, der belgischen Polizei einen Gefallen zu erweisen, indem er ihr wie zum Spaß einen an Händen und Füßen gefesselten Missetäter präsentierte.

Das Rätsel hatte angefangen, ihn zu faszinieren. Er hatte Ausreden erfunden, sich gesagt:

»Amsterdam-Paris, das ist schließlich keine Entfernung!«

Und später:

»Mit dem Schnellzug kann ich in dreizehn Stunden aus Bremen zurück sein …«

 

Nun war der Mann tot. Er hatte keinerlei belastendes Material bei sich getragen, nichts, was über sein Treiben Aufschluß gegeben hätte, außer einem gewöhnlichen Revolver, der den in Europa gängigsten Stempel trug.

Er schien sich nur deshalb das Leben genommen zu haben, weil ihm sein Koffer gestohlen worden war. Warum hätte er sich am Bahnhofsbüfett Brötchen kaufen sollen, wenn er nicht vorgehabt hatte, sie zu essen?

Und wozu die tagelange Bahnfahrt von Brüssel her, wo er sich ebensogut wie in einem deutschen Hotel eine Kugel in den Kopf hätte jagen können?

Blieb der Koffer, der vielleicht des Rätsels Lösung enthielt. Und so schloß der Kommissar sich denn in sein Zimmer ein, als man die nackt in ein Laken gehüllte Leiche in ein amtliches Fahrzeug verfrachtet und fortgeschafft hatte, nachdem sie untersucht, fotografiert, von Kopf bis Fuß einer gründlichen Prüfung unterzogen worden war.

Maigret sah abgespannt aus, und wenngleich er sich mit dem mehrmaligen, leichten Daumendruck langjähriger Gewohnheit eine Pfeife stopfte, so war das doch bloß ein Versuch, sich selbst von seiner Seelenruhe zu überzeugen.

Das abgezehrte Gesicht des Toten ließ ihm keine Ruhe. Immer wieder sah er ihn vor sich, wie er mit den Fingern schnalzte und ohne jeden Übergang den Mund weit aufriß, um hineinzuschießen.

So mächtig war dies unbehagliche, Gewissensbissen nicht unähnliche Gefühl, daß es ihn erhebliche Überwindung kostete, den Kunststoffkoffer auch nur zu berühren.

Und doch mußte gerade dieser Koffer seine Rechtfertigung enthalten! Sollte sein Inhalt ihm nicht den Beweis dafür liefern, daß der Mann, dessen Schicksal ihn derartig zu rühren vermochte, ein Gauner war, ein gefährlicher Verbrecher, womöglich gar ein Mörder?

Die Schlüssel hingen noch genauso wie in dem Laden der Rue Neuve an einer um den Griff geknoteten Schnur. Maigret hob den Deckel auf, nahm zuerst einen dunkelgrauen Anzug heraus, der weniger abgetragen war als der, den der Tote angehabt hatte.

Darunter lagen zwei zusammengeknüllte, schmutzige, an Kragen und Manschetten durchgescheuerte Hemden sowie ein loser Kragen mit feinen rosa Streifen, der mindestens vierzehn Tage getragen worden sein mußte, so schwarz war er an der Stelle, die mit dem Hals seines Besitzers in Kontakt gekommen war – richtig schwarz und abgewetzt!

Das war alles! Nur noch der Kofferboden aus grünem Papier bot sich dem Blick und die beiden unbenutzt gebliebenen Gurte mit ihren glänzenden Spangen und Ringen.

Maigret schüttelte die Kleider aus, durchsuchte die Taschen. Sie waren leer.

Eine unerklärliche Angst preßte ihm die Kehle zusammen, ließ ihn hartnäckig weitersuchen, getrieben von dem Drang, der Notwendigkeit, irgend etwas zu entdecken.

Hatte denn nicht ein Mann Selbstmord verübt, weil ihm dieser Koffer gestohlen worden war? Ein Koffer, der nichts als einen alten Anzug und schmutzige Wäsche enthielt …!

Nicht ein Blatt Papier! Nicht die Spur von einem Schriftstück! Nicht einmal ein Anhaltspunkt, um Vermutungen über die Vergangenheit des Toten anzustellen!

Die Wände des Zimmers waren frisch tapeziert, und die grellen Farben der billigen Tapete ließen das Blumenmuster aggressiv erscheinen. Die Möbel dagegen waren abgenutzt, wacklig, drohten aus den Fugen zu gehen, und auf dem Tisch lag eine Chintzdecke, die man nur mit Abscheu zu berühren vermochte.

Die Straße war leer, die Läden der kleinen Geschäfte verriegelt, aber an der hundert Meter entfernten Kreuzung rauschte der Verkehr unablässig, mit beruhigender Eintönigkeit vorüber.

Maigret sah hin zu der Verbindungstür, dem Schlüsselloch, durch das er nicht mehr zu gucken wagte. Ihm fiel ein, daß die Leute vom Erkennungsdienst die Umrisse des Toten vorsorglich auf den Fußboden des Nachbarzimmers gezeichnet hatten.

Den zerdrückten Anzug aus dem Koffer überm Arm tappte er auf Zehenspitzen hinüber, um die anderen Hotelgäste nicht zu wecken – vielleicht aber auch, weil das Geheimnis auf ihm lastete.

Die Silhouette am Boden war unförmig, aber die Ausmaße stimmten genau.

Als er sich bemühte, Jacke, Hose und Weste daraufzulegen, erhellten sich seine Augen, gruben sich seine Zähne unwillkürlich in den Pfeifenstiel.

Ein jedes Kleidungsstück war mindestens drei Nummern zu groß! Sie gehörten nicht dem Toten.

Das, was der Landstreicher so mißtrauisch in seinem Koffer hütete, was für ihn so viel Wert besaß, daß er sich das Leben nahm, als er es verlor, war der Anzug eines anderen!