6

Die Gehängten

Es war neun Uhr abends, und Maigret hatte es sich in seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir ohne falschen Kragen und Weste bequem gemacht, seine Frau saß über ihrer Näharbeit, als Wachtmeister Lucas eintrat und seine vom strömenden Regen völlig durchnäßten Schultern schüttelte.

»Der Mann ist abgereist«, sagte er. »Ich war nicht sicher, ob ich ihm ins Ausland folgen sollte …«

»Nach Lüttich?«

»Ja. Sie wissen schon Bescheid? Sein Gepäck war im Hôtel du Louvre. Er hat dort Abendbrot gegessen, sich umgezogen und dann den Schnellzug um acht Uhr neunzehn nach Lüttich genommen. Hinfahrtbillett erster Klasse. Am Bahnhofskiosk hat er noch einen ganzen Stapel Zeitschriften gekauft …«

»Man könnte meinen, er läuft mir absichtlich andauernd über den Weg!« brummte der Kommissar. »In Bremen, als ich noch nicht die geringste Ahnung von seiner Existenz hatte, ist er im Leichenschauhaus aufgetaucht, hat mich zum Essen eingeladen, sich wie eine Klette an mich gehängt … Ich komme nach Paris: und er ist auch da, ein paar Stunden früher oder später als ich; früher höchstwahrscheinlich, wo er ja das Flugzeug genommen hat … Ich fahre nach Reims, und er ist vor mir da … Vor einer halben Stunde nun habe ich mich entschlossen, mich morgen nach Lüttich aufzumachen, und siehe da, er ist schon seit heut abend dort! … Aber, was mich bei der Sache am meisten ärgert, ist, daß er genau weiß, daß ich kommen werde, und daß seine Anwesenheit dort fast Grund zu einer Anklage liefert.«

Und Lucas, der nichts über den Fall wußte, äußerte die Vermutung:

»Vielleicht versucht er, den Verdacht auf sich zu lenken, um jemand anderen zu schützen …«

»Geht es um ein Verbrechen?« fragte Madame Maigret friedfertig und ohne ihre Näharbeit zu unterbrechen.

Ihr Mann aber erhob sich seufzend und mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Sessel, in dem er es sich einen Moment zuvor so bequem gemacht hatte.

»Um wieviel Uhr geht der nächste Zug nach Belgien?«

»Jetzt bleibt bloß noch der Nachtzug um einundzwanzig Uhr dreißig. Er ist gegen sechs Uhr früh in Lüttich.«

»Bist du so gut und packst meine Sachen?« bat der Kommissar seine Frau. »Was zu trinken, Lucas? Nimm dir, was du möchtest. Du weißt ja in welchem Schrank … Meine Schwägerin hat mir gerade einen selbstgebrauten Schlehenlikör aus dem Elsaß geschickt; die Flasche mit dem langen Hals da …«

Er zog sich an, nahm den Anzug B aus dem gelben Kunststoffkoffer und legte ihn gut verpackt in seine Reisetasche. Eine halbe Stunde später verließ er das Haus in Begleitung des Wachtmeisters, der, während sie miteinander auf ein Taxi warteten, fragte:

»Was für ein Fall ist das eigentlich? Im Haus hat ihn noch keiner erwähnt.«

»Ich kann dir auch nichts weiter darüber sagen«, gestand der Kommissar. »Da ist so ein komischer Knabe auf die absurdeste Art vor meinen Augen ums Leben gekommen, und diesen Vorgang umgibt ein höllisches Durcheinander, das ich mich zu entwirren bemühe. Ich bin da wie ein Wildschwein mitten reingestürzt, und es würde mich gar nicht wundern, wenn ich eine Schlappe einstecken müßte … Da ist ein Wagen! Soll ich dich in der Stadt absetzen?«

 

Um acht Uhr morgens trat er frisch gebadet und rasiert aus dem Hôtel du Chemin de Fer gegenüber vom Lütticher Guillemins-Bahnhof, ein Päckchen unterm Arm, das nicht mehr den ganzen Anzug B, sondern nur dessen Jacke enthielt. Er fand die Rue Haute-Sauvenière, eine leicht abfallende, verkehrsreiche Straße, und erkundigte sich nach dem Schneider Morcel. Das Haus, das man ihm wies, war düster. Ein Mann in Hemdsärmeln nahm ihm das Jackett ab, drehte und wendete es, wobei er unaufhörlich Fragen stellte.

»Ein sehr altes Stück«, versicherte er nach einiger Überlegung. »Das Gewebe ist zerrissen; damit kann man nichts mehr anfangen.«

»Sonst sagt es Ihnen nichts?«

»Ganz und gar nichts. Der Kragen ist schlecht zugeschnitten, der Stoff eine Imitation englischen Tuchs aus Verviers …«

Er begann sich zu erwärmen.

»Sind Sie Franzose? Die Jacke gehört wohl einem Bekannten?«

Seufzend nahm Maigret das Kleidungsstück wieder an sich, indessen der Schneider weiterschwatzte und endlich zu dem Punkt gelangte, bei dem er hätte anfangen sollen:

»Sie müssen verstehen, ich bin erst seit sechs Monaten hier. Wenn der Anzug von mir wäre, könnte er noch nicht in dem Zustand sein …«

»Und was ist aus Monsieur Morcel geworden?«

»Der ist in Robermont!«

»Ist das weit?«

Der Schneider lachte und erklärte, sichtlich vergnügt über das Mißverständnis:

»Der Friedhof hier heißt Robermont! Monsieur Morcel ist Anfang des Jahres gestorben. Ich hab das Geschäft übernommen.«

Wieder draußen mit seinem Paket, schlug Maigret den Weg zur Rue Hors-Château, einer der ältesten Straßen der Stadt, ein. Dort, im hintersten Winkel eines Hofes war eine Zinktafel mit der Aufschrift Fotogravüre – Jef Lombard – prompte Ausführung aller Aufträge angebracht.

Die Fenster im Alt-Lütticher-Stil waren in lauter kleine Scheiben aufgeteilt, und in der Mitte des Hofes mit seinem holprigen Kopfsteinpflaster stand ein Springbrunnen, in den das Wappen einer herrschaftlichen Familie vergangener Zeiten eingemeißelt war.

Der Kommissar läutete. Er hörte Schritte aus dem ersten Stock herabkommen. Eine alte Frau öffnete ihm einen Spalt breit und deutete zu einer Glastür hin.

»Sie brauchen sie nur aufzustoßen; die Werkstatt liegt am Ende des Flurs.«

Die Werkstatt war ein langer, durch eine breite Fensterfläche erhellter Raum, in dem zwei Männer in blauen Kitteln mit Zinkplatten und Behältern voller Säure hantierten. Über den Fußboden verstreut lagen Probeabzüge und mit Druckerschwärze bekleckste Blätter.

Plakate und die Titelseiten von Illustrierten bedeckten die Wände.

»Ich möchte zu Monsieur Lombard.«

»Er ist mit einem Herrn in seinem Büro. Sie können gleich hier durchgehen … Vorsicht, daß Sie sich nicht beschmutzen! Dort links, die erste Tür …«

Das Gebäude mußte stückweise errichtet worden sein. Da waren Stufen, die hinauf-, und andere, die hinabführten, offenstehende Türen gaben den Blick auf unbenutzte Räume frei.

Das Ganze wirkte zugleich altertümlich und auf eine seltsame Art bieder, so wie auch die alte Frau, die Maigret eingelassen hatte, und die beiden Arbeiter in der Werkstatt.

In einem spärlich beleuchteten Korridor drangen Stimmen an Maigrets Ohr. Ihm war, als könne er den Tonfall van Dammes erkennen; er lauschte, doch es war zu undeutlich, als daß er etwas hätte verstehen können. Nachdem er ein paar Schritte weitergegangen war, verstummten die Stimmen. Ein Mann streckte den Kopf durch einen Türspalt. Es war Jef Lombard.

»Suchen Sie mich?« rief er, den Besucher im Halbdunkel nicht erkennend.

Das Büro war kleiner als die übrigen Räume. Seine Einrichtung bestand aus einem Tisch, zwei Stühlen und Regalen voller Druckplatten. Auf der Tischplatte häufte sich ein Wirrwarr von Rechnungen, Prospekten und Geschäftsbriefen mit dem Aufdruck verschiedener Firmen.

Van Damme saß auf einer Kante des Schreibtisches, wo er nach einem kurzen Nicken in Maigrets Richtung unbeweglich verharrte, den Blick mißmutig geradeaus gerichtet.

Jef Lombard trug Arbeitskleidung, seine Hände waren schmutzig, das Gesicht voll schwärzlicher Spritzer.

»Was kann ich für Sie tun?«

Er schob Maigret einen Stuhl hin, dessen Sitzfläche er zuvor von einem Stapel Papier befreien mußte, suchte dann die glimmende Zigarette, die er auf einem Regal abgelegt hatte, wo das Holz bereits zu sengen begann.

»Ich hätte nur gern eine Auskunft«, erwiderte der Kommissar, ohne sich zu setzen. »Entschuldigen Sie die Störung … Ich möchte lediglich wissen, ob Sie vor einigen Jahren einen gewissen Jean Lecocq d’Arneville gekannt haben.«

Es hatte die Wirkung eines elektrischen Schlages. Van Damme zuckte zusammen, vermied es jedoch, sich Maigret zuzuwenden; der andere aber bückte sich hastig nach einem zerknüllten Blatt Papier am Boden.

»Ich … mir ist, als hätte ich den Namen schon gehört …« murmelte er. »Ein … einer von hier – aus Lüttich?«

Sein Gesicht war bleich; er rückte einen Berg Druckplatten an eine andere Stelle.

»Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Er … es ist so lange her!«

»Jef! Schnell, Jef!« scholl eine weibliche Stimme aus dem Labyrinth der Korridore, und atemlos vom Laufen, am ganzen Körper fliegend vor Aufregung hielt die Frau bei der offenen Tür inne, betupfte sich das Gesicht mit einem Schürzenzipfel. Maigret erkannte die Alte wieder, die ihn eingelassen hatte.

»Jef!«

Und er, fahl vor Erregung, mit glänzenden Augen:

»Nun sag doch schon!«

»Es ist ein Mädchen! Komm, schnell!«

Er warf einen Blick in die Runde und stürzte, etwas Unverständliches stammelnd, hinaus.

 

Allein mit dem Kommissar zog van Damme eine Zigarre aus der Tasche, zündete sie bedächtig an und trat das Streichholz mit dem Absatz aus. Seine Züge waren so verkniffen wie damals im Polizeipräsidium, die Lippen ebenso schmal zusammengepreßt, und auch die Kinnladen traten auf die gleiche Weise hervor.

Der Kommissar jedoch tat so, als habe er seine Anwesenheit vergessen. Er begann, die Hände in den Taschen, die Pfeife zwischen den Zähnen, im Büro auf- und abzugehen, indem er die Wände aufmerksam betrachtete.

Überall, wo keine Regale angebracht waren, hingen Zeichnungen, Radierungen, Gemälde so dicht beieinander, daß kaum noch ein Zentimeter Tapete sichtbar war.

Die Bilder waren ungerahmt, die Leinwand einfach auf Leisten gespannt. Es waren recht ungeschickt dargestellte Landschaften, Gras und Blattwerk der Bäume in demselben dickaufgetragenen Grün gehalten.

Dazu einige Karikaturen mit dem Namenszug Jef, zum Teil aquarellierte Zeichnungen, zum Teil Ausschnitte aus Lokalblättern.

Maigrets Interesse jedoch erregte eine Anzahl Zeichnungen ganz anderer Art, allesamt Variationen desselben Motivs. Die Blätter waren vergilbt, hin und wieder mit einem Datum versehen, das auf ihre Entstehung vor etwa zehn Jahren schließen ließ.

Sie waren von ganz anderer Beschaffenheit, wesentlich romantischer, fast ein wenig so, wie ein Anfänger den Stil Gustave Dorés imitieren würde.

Da war erst einmal die Federzeichnung eines Gehängten, der an einem Galgen baumelte, auf dem ein riesiger Rabe hockte. Aber es gab noch mindestens zwanzig solcher Arbeiten, die sich mit demselben Thema, dem des Erhängens, befaßten: Bleistiftzeichnungen, Federzeichnungen und Radierungen.

Ein Waldrand mit einem Gehängten an jedem Ast … Ein Kirchturm, wo an beiden Querbalken des Kreuzes, unter dem Wetterhahn, ein menschlicher Körper hing.

Gehängte jedes nur denkbaren Typs; einige nach der Mode des sechzehnten Jahrhunderts gekleidet, bei einer Art Stelldichein der Galgenvögel, wo die ganze Gesellschaft einige Fuß hoch über der Erde pendelte … Sogar ein Verrückter war darunter, der sich in Frack und Zylinder, den Spazierstock in der Hand, an einer Gaslaterne erhängt hatte.

Unter einer der Zeichnungen standen ein paar Zeilen. Es waren vier Verse aus Villons Ballade der Gehängten.

Und wieder Daten, immer aus derselben Periode! All diese schaurigen, zehn Jahre zuvor angefertigten Zeichnungen hingen hier neben Bilderfolgen für Witzblätter, neben Kalenderentwürfen, Ardennenlandschaften und Werbeplakaten.

Auch das Motiv des Kirchturms tauchte fortwährend auf, und die ganze Kirche, mal von vorn, mal von der Seite, mal von unten gesehen, oder dann nur das Portal, die Wasserspeier, oder der Vorplatz mit den sechs Stufen, welche die Perspektive ungeheuerlich erscheinen ließen.

Immer dieselbe Kirche! Und wie Maigret so Wand für Wand abschritt, spürte er, wie van Damme unruhig wurde, spürte das wachsende Unbehagen des Mannes, den womöglich dieselbe Versuchung wie bei der Schleuse von Luzancy plagte.

Solcherart verging eine Viertelstunde, dann kam Jef Lombard zurück. Seine Augen schimmerten feucht, und er strich eine Haarsträhne zurück, die ihm in die Stirn fiel.

»Sie müssen entschuldigen«, sagte er, »meine Frau hat eben ein Kind zur Welt gebracht – ein Mädchen …«

Ein Anflug von Stolz schwang mit in seiner Stimme, zugleich aber irrte sein Blick beim Sprechen mit einem gequälten Ausdruck von Maigret zu van Damme.

»Es ist unser drittes Kind; trotzdem nimmt es mich genauso mit wie beim erstenmal! … Sie haben meine Schwiegermutter gesehen, nicht? Die hat selbst elf zur Welt gebracht und ist doch ganz außer sich vor Freude. Sie ist gleich mit der guten Nachricht zu den Arbeitern gelaufen, wollte sie aus der Werkstatt holen, um ihnen das Baby zu zeigen! …«

Seine Augen folgten denen Maigrets, die auf den Kirchturm mit den beiden Gehängten gerichtet waren. Er wurde noch nervöser, murmelte sichtlich betreten:

»Jugendsünden … Eine sehr schlechte Zeichnung, aber damals glaubte ich noch, mal ein großer Künstler zu werden.«

»Ist das eine Kirche hier in Lüttich?«

Jef zögerte mit der Antwort. Beinahe widerwillig erklärte er:

»Sie steht nicht mehr … Ist vor sieben Jahren abgerissen worden, um einer neuen Platz zu machen. Sie war nicht schön, hatte eigentlich überhaupt keinen Stil, aber durch ihr Alter wirkte sie irgendwie geheimnisvoll in der Form, mit den Gassen ringsumher, die inzwischen auch verschwunden sind …«

»Und wie hieß sie?«

»Saint-Pholien … Die neue, die an derselben Stelle steht, heißt auch so.«

Joseph van Damme hatte eine solche Unruhe ergriffen, daß man hätte meinen können, jeder Nerv seines Körpers peinige ihn; es war eine versteckte Unruhe, die sich nur durch kaum merkliche Anzeichen verriet, durch die Unregelmäßigkeit seiner Atemzüge, das Beben der Finger, das Schwingen seines gegen den Schreibtisch gelehnten Beins.

»Waren Sie damals schon verheiratet?« fragte Maigret.

Lombard lachte.

»Ich war neunzehn, ging auf die Akademie … Hier, sehen Sie!«

Wehmütig wies er auf ein mißlungenes Porträt in düsteren Tönen, auf dem sein Gesicht trotz allem, der auffallenden Unregelmäßigkeit der Züge wegen, zu erkennen war. Es zeigte ihn mit langem, in den Nacken fallendem Haar und einem schwarzen, hochgeschlossenen Kittel, über den sich eine weitausladende Künstlerschleife bauschte.

Von solch ungezügelter Romantik war das Bild, daß selbst der traditionelle Totenschädel im Hintergrund nicht fehlte.

»Wenn man mir damals gesagt hätte, daß ich einmal Fotograveur werden würde …!« bemerkte Jef Lombard bitter.

Er schien van Dammes Gegenwart nicht als weniger lästig zu empfinden als die Maigrets, wußte aber ganz offenbar nicht, wie er die beiden loswerden sollte.

Ein Arbeiter kam, um sich nach einem Klischee zu erkundigen, das noch nicht fertig war.

»Sie sollen heut nachmittag wiederkommen!«

»Das ist offenbar zu spät.«

»Nicht zu ändern! Sag, daß ich eine Tochter bekommen habe …«

Aus seinen Augen, seinen Gesten, der Blässe seines mit Säureflecken besprenkelten Gesichts sprach eine undefinierbare Mischung von Freude, Unruhe und vielleicht sogar Furcht.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten? … Drüben, in der Wohnung …«

Zu dritt gingen sie die verschachtelten Korridore entlang und durch die Tür, welche die Alte Maigret vorher geöffnet hatte.

Ein Hausflur mit blauen Kacheln, in dem es nach Reinlichkeit roch, gleichzeitig aber auch nach verbrauchter Luft, die Ausdünstungen eines Krankenzimmers vielleicht.

»Die beiden anderen Kinder sind bei meinem Schwager. Hier entlang …«

Jef Lombard öffnete die Tür zum Eßzimmer. Durch die kleinen Fensterscheiben drang nur wenig Tageslicht in den Raum, das auf den überall zwischen den dunklen Möbelstücken verteilten kupfernen Ziergeräten spielte.

An der Wand hing ein großes Frauenbildnis mit dem Namenszug Jef, das trotz ungeschickter Ausführung sehr deutlich das Bemühen des Malers erkennen ließ, das Modell idealisiert darzustellen.

Es mußte die Frau Jef Lombards sein, folgerte Maigret und ließ den Blick suchend über die anderen Wände schweifen. Wie erwartet, fand er noch mehr Gehängte. Und zwar die gelungensten, die, welche man des Einrahmens wert erachtet hatte.

»Sie trinken doch ein Glas Genever?«

Der Kommissar spürte den gehässigen Blick Joseph van Dammes auf sich, den jede Einzelheit dieser Zusammenkunft zu empören schien.

»Sie sagten vorhin, Sie hätten Jean Lecocq d’Arneville gekannt …«

Über ihren Köpfen waren Schritte zu vernehmen: dort, wo das Zimmer der Wöchnerin liegen mußte.

»Nur oberflächlich …« kam es zerstreut von Jef Lombard, den ein leises Wimmern aufhorchen ließ.

Er hob sein Glas.

»Auf die Gesundheit meiner Tochter! Und meiner Frau!«

Damit wandte er den Kopf ab, leerte das Glas in einem Zug und machte sich bei der Anrichte zu schaffen, um seinen inneren Aufruhr zu verbergen; dem Kommissar aber entging trotzdem das stimmlose Geräusch eines unterdrückten Schluchzers nicht.

»Ich muß jetzt hinauf … Entschuldigen Sie … Aber an so einem Tag …«

 

Noch immer hatten van Damme und Maigret kein Wort miteinander gewechselt. Nun, während sie gemeinsam über den Hof und dicht an dem Brunnen vorbeischritten, lag ein Ausdruck von Ironie im Blick des Kommissars, wie er seinen Begleiter im Auge behielt und sich dabei fragte, was wohl dessen nächster Schritt sein werde.

Auf der Straße angelangt tippte van Damme jedoch nur kurz an den Rand seines Hutes und entfernte sich eilig nach rechts hin.

In Lüttich gibt es wenig Taxis, und da Maigret nicht mit den Straßenbahnlinien vertraut war, ging er zu Fuß zurück ins Hôtel du Chemin de Fer, nahm dort sein Mittagessen ein und ließ sich Auskunft über die Lokalzeitungen geben.

Um zwei Uhr betrat er das Verlagsgebäude der Zeitung ›La Meuse‹, das Joseph van Damme im gleichen Augenblick verließ. Die beiden Männer gingen auf einen Meter Entfernung grußlos aneinander vorbei, und der Kommissar brummelte halblaut:

»Ist der doch schon wieder vor mir da!«

Er wandte sich an einen Bürodiener und bat um Erlaubnis, die Archive der Zeitung einzusehen, mußte ein Formular ausfüllen und die Genehmigung eines Ressortleiters abwarten.

Gewisse Einzelheiten hatten ihm zu denken gegeben: Der Zeitpunkt, an dem Armand Lecocq d’Arneville erfahren hatte, daß sein Bruder nicht mehr in Lüttich war, war ungefähr derselbe, an dem Jef Lombard mit krankhafter Besessenheit Gehängte gemalt hatte.

Dazu war der Anzug B, den der Landstreicher von Neuschanz und Bremen in seinem gelben Koffer herumgeschleppt hatte, sehr alt – mindestens sechs Jahre, hatte der deutsche Sachverständige gesagt – vielleicht aber auch zehn!

Und sprach nicht die Tatsache, daß Joseph van Damme hier bei der Zeitung ›La Meuse‹ aufgetaucht war, schon für sich?

Maigret wurde in einen Raum geführt, dessen spiegelndes Parkett an eine Eisbahn erinnerte, ausgestattet mit pompösen, feierlich wirkenden Möbeln.

»Welchen Jahresband wünschen Sie einzusehen?« fragte der Bürodiener mit der Silberkette.

Längst hatte Maigret die dicken, rings um den Raum aufgestellten Pappordner erblickt, von denen ein jeder die Zeitungen eines Jahres enthielt.

»Ich finde es schon selbst«, sagte er. Es roch nach Bohnerwachs, altem Papier und amtlichem Prunk. An dem mit Moleskin überzogenen Tisch waren Ständer zum Halten der unhandlichen Bände angebracht. Alles machte einen so sauberen Eindruck, war so ordentlich und von solcher Nüchternheit, daß sich der Kommissar kaum getraute, seine Pfeife hervorzuziehen.

Sekunden später blätterte er die Zeitungen aus dem »Jahr der Gehängten« eine nach der anderen durch.

Tausende von Überschriften zogen an seinen Augen vorbei; manche riefen die Erinnerung an Ereignisse von weltweiter Bedeutung wach, andere bezogen sich auf den lokalen Bereich, wie der Brand eines großen Geschäfts (drei Tage lang eine ganze Seite!), der Rücktritt eines Stadtrats, die Fahrgelderhöhung bei der Straßenbahn.

Plötzlich Reißspuren scharf am Einband entlang: Die Nummer vom fünfzehnten Februar war gewaltsam herausgetrennt worden.

Maigret eilte ins Vorzimmer, holte den Bürodiener herbei.

»Jemand ist kurz vor mir hier gewesen und hat nach diesem Band gefragt, stimmt’s?«

»Ja … Er ist nur fünf Minuten geblieben.«

»Sind Sie aus Lüttich? Erinnern Sie sich, was in jenem Jahr geschehen sein könnte?«

»Ich muß mal überlegen … Zehn Jahre … Das wäre das Jahr, in dem meine Schwägerin gestorben ist … Ich weiß! Da hatten wir die große Überschwemmung! Die Beerdigung mußte um acht Tage verschoben werden, weil man die Straßen in der Nähe der Maas nur noch mit dem Boot befahren konnte … Lesen Sie doch die Artikel! Der König und die Königin zu Besuch bei den Überschwemmungsopfern … Da sind auch Fotos … Na, so etwas! Da fehlt ja eine Nummer! … Wie merkwürdig! Das muß ich aber dem Verlagsleiter melden …«

Maigret bückte sich nach einem Schnipsel Zeitungspapier, der zu Boden gefallen war, als Joseph van Damme – wer sonst? – die Blätter der Ausgabe vom fünfzehnten Februar herausgerissen hatte.