9
Die apokalyptischen Kumpane
In den nun folgenden Auftritten war jedes Wort, jedes Schweigen, jeder Blick und selbst jedes unwillkürliche Muskelspiel der Beteiligten von besonderer Bedeutung; alles verbarg einen tieferen Sinn, und jeder der Anwesenden schien von einer fahlen Aura umgeben: den gestaltlosen Umrissen der Angst.
Die Tür ging auf, und Maurice Belloir trat herein. Sein erster Blick galt dem in einer Ecke eng an die Wand gedrückten van Damme, der zweite dem Revolver am Boden.
Und das genügte, um die Situation zu erfassen, besonders wenn man dann noch den friedlich an seiner Pfeife kauenden Maigret ansah, der fortfuhr, in den alten Skizzenblättern herumzustöbern.
»Lombard kommt gleich!« bemerkte Belloir, ohne daß es ersichtlich war, ob die Feststellung dem Kommissar oder dem Freund galt. »Ich habe ein Taxi genommen …«
Und diese Worte allein schon verrieten Maigret, daß der stellvertretende Bankdirektor sich geschlagen gab. Es war eine kaum spürbare Wahrnehmung, die ihre Bestätigung in den weniger gespannten Zügen Belloirs, in einem Unterton von Mattigkeit und Beschämung in seiner Stimme fand.
Die drei blickten einander an, und es war van Damme, der als Erster fragte:
»Was ist denn mit …?«
»Er benimmt sich wie ein Irrer. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, aber er ist mir entwischt … Laut vor sich hinbrabbelnd und gestikulierend ist er davon …«
»Bewaffnet?« erkundigte sich Maigret.
»Bewaffnet.«
Und mit dem schmerzhaft verzogenen Gesicht eines zutiefst erschütterten Menschen, der vergeblich um Beherrschung ringt, spitzte Maurice Belloir die Ohren.
»Sie waren also zusammen in der Rue Hors-Château, um das Ergebnis meiner Unterhaltung mit ihm abzuwarten?«
Maigret wies mit dem Finger auf van Damme, und Belloir machte eine zustimmende Kopfbewegung.
»Und Sie waren sich alle drei einig, mir anzubieten …«
Es war nicht nötig, die Sätze zu beenden. Ein jeder verstand schon beim ersten Wort; sie verstanden einander, selbst wenn sie schwiegen. Es war, als hätten sie einander denken hören können.
Plötzlich kamen eilige Schritte die Treppe herauf gepoltert; man hörte, wie jemand stolperte und fiel, dann ein wütendes Schnauben. Ein Fußtritt ließ die Tür aufspringen. Einen Moment lang verharrte Jef Lombard reglos auf der Schwelle, fixierte die drei Männer mit Augen, deren stierer Blick etwas Erschreckendes hatte.
Er zitterte wie im Fieber oder so, als sei er einer Art Wahnsinn verfallen.
Sicherlich drehte sich ihm alles vor den Augen; die vor ihm zurückweichende Gestalt Belloirs, das gedunsene Gesicht van Dammes und schließlich der breitschultrige Maigret, der ohne eine Bewegung zu machen mit angehaltenem Atem dastand.
Und obendrein all das fürchterliche Gerümpel, die über den Boden verstreuten Zeichnungen, das nackte Mädchen, von dem nur Brüste und Kinnpartie sichtbar waren, die Laterne und die höckerige Couch …
Die ganze Szene dauerte nur Sekundenbruchteile. Jefs ausgestreckten Arm verlängerte ein Trommelrevolver.
Maigret beobachtete ihn ruhig, und doch entrang sich ein Seufzer der Erleichterung seiner Brust, als Jef Lombard die Waffe plötzlich von sich warf, beide Hände vors Gesicht schlug und zwischen heiseren Schluchzern ächzte:
»Ich kann nicht! … Ich kann nicht! … Herrgott nochmal, hört doch, ich kann das nicht!«
Dann stützte er sich mit beiden Armen gegen die Wand, und man sah nur noch, wie seine Schultern zuckten, vernahm sein jämmerliches Schniefen.
Der Kommissar schloß die Tür, denn die Geräusche von Hobel und Säge drangen, vermengt mit entferntem Kindergeschrei, bis zu ihnen herauf.
Jef Lombard wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht, warf das Haar zurück und blickte mit dem leeren Ausdruck eines Menschen um sich, der einen Nervenzusammenbruch hinter sich hat.
Noch hatte er sich nicht ganz beruhigt, noch waren seine Finger verkrampft, bebten die Nasenflügel, und bevor er sprechen konnte, mußte er sich auf die Lippen beißen, um ein neuerliches Schluchzen zu ersticken.
»Das also hat man erreicht!« sagte er mit einer vor Ironie tonlosen, schneidenden Stimme und versuchte zu lachen. Es klang verzweifelt.
»Neun Jahre! … Fast zehn! … Ich bin hier geblieben, ganz allein, ohne Geld, ohne Beruf …«
Er sprach zu sich selbst, bestimmt ohne zu merken, daß sein Blick dabei unentwegt, unerbittlich an der Aktstudie des Mädchens mit der grellfarbenen Haut hing.
»Zehn Jahre lang hat man sich geplackt, tagein, tagaus – hat nichts als Verdruß und Schwierigkeiten aller erdenklichen Art auszustehen gehabt! Trotz allem hab ich geheiratet, hab Kinder gewollt, hab geschuftet wie ein Ochse, um ihnen ein anständiges Leben zu ermöglichen … Ein Haus, die Werkstatt und der ganze Rest! Ihr habt es gesehen … Bloß, was keiner sieht, ist die Mühe, die es gekostet hat, all das aufzubauen, der Überdruß … Und anfangs all die Nächte, wo ich vor Sorgen wegen der Wechsel kein Auge zubekam …«
Er schluckte, fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sein Adamsapfel glitt auf und ab.
»Und jetzt dies! … Ich hab gerade eine Tochter bekommen und bin nicht mal sicher, ob ich sie mir überhaupt schon angeguckt habe! … Meine Frau liegt zu Bett und hat keine Ahnung, was los ist, schaut mich ganz entsetzt an, weil ich wie ein Fremder geworden bin … Die Arbeiter kommen und stellen mir Fragen, und ich weiß kaum, was ich ihnen antworte …
Schluß! … Auf einmal, in ein paar Tagen! Alles ist unterhöhlt, zerstört, kaputt – in die Brüche! … Alles, die Arbeit von zehn Jahren!
Und das, weil …«
Er ballte die Hände zu Fäusten, starrte die am Boden liegende Waffe und dann Maigret an. Er war total erledigt.
»Laßt uns doch ein Ende machen!« seufzte er mit einer müden Geste. »Wer wird denn nun endlich reden? Es ist so unsinnig!«
Es war, als seien die Worte an den Totenkopf gerichtet, an den Haufen Skizzen, an all die wirren Malereien, die die Wände bedeckten.
»So unsinnig! …« wiederholte er.
Fast schien es, als werde er neuerdings in Tränen ausbrechen. Doch, nein! Seine Nerven gaben nichts mehr her. Die Krise war überstanden. Er ließ sich auf den Rand der Couch sinken und blieb so – die Ellbogen auf seine spitzen Knie gestützt, das Kinn in den Händen – wartend sitzen.
Die einzige Bewegung, die er noch machte, war, mit dem Fingernagel einen Schmutzfleck vom Aufschlag seiner Hose zu schaben.
»Stör ich auch nicht?«
Es klang fröhlich. Der Schreiner trat, ganz mit Sägemehl überpudert, in den Raum. Sein erster Blick galt den mit Zeichnungen bedeckten Wänden. Er lachte.
»Sie sind also noch einmal gekommen, sich all das anzusehen!«
Keiner rührte sich. Nur Belloir bemühte sich, natürlich zu erscheinen.
»Erinnern Sie sich, daß Sie mir die zwanzig Francs vom letzten Monat schuldig geblieben sind? … Aber nein, das soll keine Mahnung sein! Ich muß bloß lachen bei dem Gedanken, daß Sie damals, als Sie weggingen und mir all den alten Kram hierließen, behaupteten:
›Womöglich wird ein einziger dieser Entwürfe eines Tages soviel wie die ganze Bude wert sein.‹
Ich hab’s nicht geglaubt, hab aber doch gezögert, die Wände übertünchen zu lassen. Dann hab ich mal einen Bilderrahmer, der auch mit Gemälden handelt, kommen lassen. Der hat zwei oder drei Zeichnungen mitgenommen. Hundert Sous hat er mir dafür gegeben … Malen Sie immer noch?«
Jetzt erst schien er zu merken, daß etwas nicht stimmte. Joseph van Damme starrte beharrlich zu Boden. Belloir ließ vor Ungeduld die Finger knacken.
»Haben Sie sich nicht in der Rue Hors-Château niedergelassen?« begann der Schreiner abermals, an Jef gewandt. »Ein Neffe von mir hat bei Ihnen gearbeitet. Ein großer Blonder …«
»Kann sein«, seufzte Lombard mit abgewandtem Gesicht.
»An Sie kann ich mich nicht mehr erinnern … Gehörten Sie auch zu der Bande?«
Diesmal war des Hauswirts Frage an Maigret gerichtet.
»Nein.«
»Komische Heinis! … Meine Frau wollte ja nicht, daß ich das Zimmer vermiete; später hat sie mir geraten, sie rauszuwerfen, besonders, wo sie nicht regelmäßig zahlten. Aber ich fand das ganz witzig, wie einer den anderen mit einem größeren Hut, einer längeren Tonpfeife zu übertrumpfen suchte, wie sie die Nächte hindurch sangen und tranken! Hin und wieder waren auch hübsche Mädchen dabei … Ah, Monsieur Lombard, wissen Sie übrigens, was aus der da auf dem Fußboden geworden ist?
Sie ist jetzt mit einem Inspektor vom Grand Bazar verheiratet und wohnt keine zweihundert Meter weit von hier. Einer ihrer Söhne geht mit meinem Jungen zur Schule.«
Lombard stand auf, machte ein paar Schritte zu dem großen Fenster hin und wieder zurück. So spürbar war seine Unruhe, daß der Mann sich entschloß, den Rückzug anzutreten.
»Ich störe wohl doch … Dann geh ich jetzt besser. Und wenn noch irgendwelche Sachen dabei sind, an denen Sie hängen … Ich hab natürlich nie die Absicht gehabt, sie zu behalten wegen den zwanzig Francs; hab mir bloß eine Landschaft genommen, fürs Eßzimmer …«
Vielleicht wollte er auf dem Flur noch weiterreden, doch eine Stimme rief von unten:
»Da ist jemand, der Sie sprechen will, Chef!«
»Also dann, Messieurs … Es hat mich gefreut, Sie …«
Der Rest verhallte hinter der zufallenden Tür. Während der Mann redete, hatte Maigret sich eine Pfeife angesteckt. Es war dem Geschwätz des Schreiners trotz allem gelungen, die Atmosphäre bis zu einem gewissen Grad aufzulockern, und als der Kommissar nun das Wort ergriff und auf eine Inschrift wies, die die obskurste all der Wandmalereien umrahmte, antwortete Maurice Belloir mit einer Stimme, die schon fast natürlich klang.
Die Inschrift lautete: Die apokalyptischen Kumpane.
»War das der Name Ihrer Gruppe?«
»Ja … Ich werde Ihnen alles erklären. Es ist eh zu spät, nicht? Unsere Frauen und Kinder haben eben Pech gehabt …«
Doch Jef Lombard fiel ihm ins Wort:
»Ich will reden! Laß mich …«
Er begann, im Raum auf- und abzugehen, ließ die Augen immer mal auf dem einen oder anderen Gegenstand verweilen, wie um seiner Erzählung dadurch Gestalt zu geben.
»Es ist etwas über zehn Jahre her … Ich ging damals zur Kunstakademie, um Maler zu werden, trug einen großen Hut und eine Künstlerschleife. Wir waren drei; Gaston Janin, der Bildhauerei studierte, der arme Klein und ich. Wir bildeten uns ganz schön was ein, wenn wir so durchs Carré flanierten. Schließlich waren wir Künstler, oder etwa nicht? Ein jeder sah sich mindestens als künftigen Rembrandt …
Es hat ganz blödsinnig angefangen … Wir lasen eine Menge, vor allem die Schriftsteller der Romantik. Unsere Begeisterung kannte keine Grenzen. Wochenlang schwärmten wir ausschließlich für einen Autor, dann ließen wir ihn für einen anderen fallen …
Der arme Klein, dessen Mutter in Angleur wohnte, hatte dieses Atelier hier gemietet. Es wurde zu einer Gewohnheit für uns, hier zusammenzutreffen. Die Atmosphäre – besonders an Winterabenden – hatte so etwas Mittelalterliches, das uns beeindruckte. Wir sangen alte Lieder, trugen Villons Balladen vor …
Ich weiß nicht mehr, wer von uns die Apokalypse entdeckte und darauf bestand, ganze Kapitel daraus vorzulesen …
Eines Abends machten wir die Bekanntschaft einiger Studenten: Belloir, Jean Lecocq d’Arneville, van Damme und ein gewisser Mortier, ein Jude, dessen Vater hier in der Nähe mit Schweinedärmen und Eingeweiden handelt.
Wir hatten getrunken, brachten sie mit her … Der Älteste von uns war keine zweiundzwanzig …
Das warst du, van Damme, nicht?«
Es tat ihm gut, sprechen zu können; seine Bewegungen begannen, weniger ruckartig zu werden, die Stimme den rauhen Klang zu verlieren, nur das Gesicht war noch von dem Weinkrampf gezeichnet, die Haut rötlich gefleckt, die Lippen geschwollen.
»Ich glaube, daß der Einfall von mir kam, einen Klub zu gründen, einen Bund! Ich hatte von den geheimen Verbindungen gelesen, die im vergangenen Jahrhundert an den deutschen Universitäten bestanden. Eine Vereinigung der schönen Künste mit der Wissenschaft, das war es, was mir vorschwebte!«
Es gelang ihm nicht, ein Hohnlachen zu unterdrücken, als sein Blick über die Wände schweifte.
»Denn solche Worte führten wir ständig im Mund, und sie erfüllten uns mit maßlosem Stolz … Da waren Klein, Janin und ich einerseits, als Vertreter der schönen Künste, und andererseits die Studenten … Wir tranken miteinander, denn es wurde immer viel getrunken! Man trank, um die Ekstase noch zu steigern, beschränkte die Beleuchtung auf ein Minimum, um eine geheimnisvolle Stimmung zu schaffen …
Hier haben wir gelegen, sehen Sie! Die einen auf der Couch, die anderen am Boden, und haben Pfeife auf Pfeife geraucht, bis die Luft undurchdringlich wurde. Dann sangen wir im Chor … Fast immer wurde einem übel, der dann in den Hof runter mußte, um sich zu übergeben …
Das alles geschah regelmäßig so gegen zwei, drei Uhr morgens. Die Gemüter erhitzten sich, und mit Hilfe des Weins – billiger Sorten, die uns auf den Magen schlugen! – schwangen wir uns aufwärts ins Reich der Metaphysik …
Ich sehe den armen Klein immer noch vor mir. Er war ein kränklicher Junge und der Erregbarste von uns allen. Seine Mutter war arm, er hatte so gut wie kein Geld zum Leben, verzichtete aufs Essen, um trinken zu können …
Denn in angetrunkenem Zustand hielt sich jeder von uns für ein wahres Genie! …
Die Studenten waren etwas vernünftiger. Sie stammten ja auch mit Ausnahme von Lecocq d’Arneville aus besseren Verhältnissen. Belloir brachte schon mal eine Flasche alten Burgunder oder Likör mit, den er seinen Eltern geklaut hatte, und van Damme kam mit Aufschnitt an …
Wir waren überzeugt davon, daß der Rest der Welt mit einer Mischung aus Furcht und Bewunderung zu uns aufsah, und hatten uns einen geheimnisvollen, hochtrabenden Namen ausgesucht: Die apokalyptischen Kumpane.
Bestimmt hatte keiner die ganze Apokalypse gelesen, nur Klein, wenn er betrunken war, sagte einige Stellen auswendig auf …
Es war beschlossen worden, gemeinsam für die Miete des Ateliers aufzukommen. Klein als einziger sollte das Recht haben, hier zu wohnen.
Ein paar Mädchen hatten sich überreden lassen, uns umsonst Modell zu stehen – Modellstehen und alles, was so dazugehört, versteht sich! Und wir verwandelten sie in Grisetten im Sinne von Murgers Bohème – mit allem Drum und Dran!
Die da am Boden war eine von ihnen; saudumm, was uns aber nicht davon abhielt, sie als Madonna zu malen.
Trinken, das war uns das Wichtigste! Es galt, die Stimmung um jeden Preis hochzuschrauben … Und ich erinnere mich noch, wie Klein einmal das gleiche Resultat zu erzielen versuchte, indem er eine Flasche Schwefeläther über der Couch entleerte …
Und wie wir uns alle da hineinsteigerten, in Erwartung des nächsten Rausches, neuer Visionen!
Verdammt noch mal!«
Jef Lombard preßte seine Stirn an die beschlagene Scheibe, dann kam er zurück, fuhr mit bewegter Stimme fort:
»Und so waren wir denn auch durch dies dauernde, künstliche Überreizen unserer Sinne die reinsten Nervenbündel; besonders diejenigen, bei denen es mit der Ernährung am schlechtesten bestellt war. Sie können sich das vorstellen, nicht? … Der arme Klein zum Beispiel, ein Junge, der nie ordentlich aß und sich dann wieder mit Hilfe von Alkohol zu stärken suchte …
Es ist klar, daß wir die Welt neu entdeckten, daß wir für jedes große Problem eine Lösung hatten, den Bürger, die Gesellschaft und alle bestehenden Erkenntnisse verhöhnten …
Sobald wir einige Gläser getrunken hatten und der Qualm unserer Pfeifen in dichten Schwaden zwischen uns hing, schwirrten auch schon die verschrobensten Ideen durcheinander. Nietzsche, Karl Marx, Moses, Konfuzius und Jesus Christus, alles kam in einen Topf. Nur ein Beispiel: Ich weiß nicht mehr, wer von uns vermeinte herausgefunden zu haben, daß der Schmerz überhaupt nicht existiert, sondern lediglich eine Illusion unseres Hirns ist … Ich war so begeistert von diesem Gedanken, daß ich mir eines Nachts inmitten eines Kreises atemloser Zuschauer eine Messerspitze in den Arm bohrte und mich zwang, dabei zu lächeln …
Und das war nicht der einzige Fall! … Wir stellten eben eine Elite dar, waren eine Handvoll Auserwählter, vom Zufall vereint. Wir schwebten über der Welt mit ihren Konventionen, Gesetzen, Vorurteilen …
Eine Handvoll Götter waren wir! Götter, denen wohl mal vor Hunger der Magen knurrte, die jedoch hocherhobenen Hauptes und voller Verachtung für ihre Umwelt durch die Straßen schritten …
Und die Zukunft hatten wir fein geregelt: Aus Lecocq d’Arneville würde ein Tolstoi werden, van Damme, der die prosaische Handelshochschule besuchte, würde einmal die gesamte Volkswirtschaft auf den Kopf stellen, die hergebrachte Weltordnung aus den Angeln heben.
Für jeden war ein Platz vorgesehen – als Dichter, Maler oder als künftiger Staatschef …
All das mit Hilfe des Alkohols! Und es kam noch besser! Zum Schluß war das schwärmerische Hochgefühl zu einer solchen Gewohnheit geworden, daß wir uns bloß ein paar Minuten hier im verklärten Licht der Laterne aufzuhalten brauchten, mit dem Skelett im Halbdunkel, dem Totenschädel, der uns als Trinkbecher diente, und schon stellte sich der gewünschte Rauschzustand ganz von selbst ein.
Sogar die Bescheidensten unter uns sahen für die Zukunft schon eine marmorne Gedenktafel an der Hausmauer: Hier pflegten die berühmten apokalyptischen Kumpane zusammenzutreffen.
Und einer versuchte den anderen durch das neueste Buch, die ausgefallenste Idee zu überbieten.
Nur ein Zufall hat uns davor bewahrt, Anarchisten zu werden, denn die Frage stand zur Debatte, wurde ernsthaft erwogen. Damals war gerade in Sevilla ein Attentat verübt worden. Der Zeitungsartikel wurde laut vorgelesen.
Ich weiß nicht mehr, wer damals ausrief:
›Das echte Genie ist ein Zerstörer!‹
Und daraufhin haben wir, eine Schar dummer Jungen, diesen Gedanken stundenlang diskutiert, uns mit der Möglichkeit befaßt, Bomben herzustellen, uns gefragt, was wohl am besten in die Luft zu jagen sei.
Dann ist der arme Klein, der schon bei seinem sechsten oder siebten Glas war, umgekippt, aber anders als sonst; es war mehr so etwas wie ein Nervenschock. Er hat sich am Boden gewälzt, und wir haben an nichts anderes mehr denken können, als was mit uns geschehen würde, falls ihm ein Unglück zustieße.
Dies Mädchen war dabei. Henriette hieß sie, und sie hat geschluchzt …
Ach, das waren tolle Nächte! Es war ganz einfach Ehrensache für uns, hierzubleiben, bis der Laternenanzünder draußen die Lampen gelöscht hatte. Dann erst stahlen wir uns, im Morgengrauen fröstelnd, nach draußen.
Die Söhne wohlhabender Eltern stiegen durchs Fenster in ihr Haus, schliefen sich aus und behoben die Schäden der Nacht so gut es ging mit reichlichem Essen.
Wir anderen dagegen, Klein, Lecocq d’Arneville und ich, lungerten auf den Straßen herum, verschlangen ein Brötchen und starrten neiderfüllt auf die Auslagen der Schaufenster.
Ich besaß in jenem Jahr keinen Mantel, weil ich unbedingt einen großen Hut, der hundertzwanzig Francs kostete, hatte haben wollen.
Ich redete mir ein, die Kälte sei, so wie alles andere, eine Illusion, und erklärte – durch unsere Diskussionen ermutigt – meinem Vater, einem biederen Arbeiter in einer Waffenfabrik, der inzwischen gestorben ist, Elternliebe stelle die allerniedrigste Form von Egoismus dar und eines Kindes erste Pflicht bestehe darin, mit den Seinen zu brechen.
Er war Witwer, ging früh um sechs zur Arbeit, gerade wenn ich nach Hause kam … Na ja, so ist er denn immer früher weggegangen, um mir nicht zu begegnen, weil meine Reden ihm Furcht einflößten. Er ließ mir Zettel auf dem Tisch zurück: Im Schrank ist noch kaltes Fleisch. Dein Vater …«
Sekundenlang versagte Jefs Stimme. Er sah erst Belloir an, der auf dem Rand eines sitzlosen Stuhls hockte und vor sich hin starrte, und dann den eine Zigarre zerpflückenden van Damme.
»Wir waren sieben«, kam es tonlos von Lombard, »sieben Supermänner, sieben Genies, sieben dumme Jungen …
Janin ist in Paris, er ist bei der Bildhauerei geblieben; das heißt, er fertigt Schaufensterpuppen für eine große Fabrik an, und wenn ihn mal das Fieber packt, modelliert er die Büste seiner derzeitigen Geliebten …
Belloir ist bei der Bank gelandet, van Damme im Geschäftsleben. Ich bin Fotograveur geworden …«
Ein furchtgeladenes Schweigen hing im Raum. Jef schluckte, und die tiefen Schatten um seine Augen schienen sich noch zu vertiefen, als er fortfuhr:
»Klein hat sich an der Kirchentür erhängt … Lecocq d’Arneville hat sich in Bremen eine Kugel durch den Kopf gejagt …«
Ein neuerliches Schweigen folgte den Worten. Diesmal war es Maurice Belloir, der, unfähig länger stillzusitzen, aufstand und nach einem Moment der Unschlüssigkeit vor das Atelierfenster trat. Ein merkwürdiges Geräusch drang aus seiner Kehle.
»Und der letzte?« fragte Maigret, »Mortier, wenn ich nicht irre, der Sohn des Kaldaunenhändlers?«
Lombard fixierte den Kommissar mit einem derart fiebrig flackernden Blick, daß dieser einen neuen Zusammenbruch fürchtete. Van Damme warf einen Stuhl um.
»Das war im Dezember, stimmt’s?«
Und während er weitersprach, behielt Maigret die drei Männer im Auge, so daß ihm nicht die leiseste Reaktion entging.
»In einem Monat wird es genau zehn Jahre her sein … In einem Monat tritt Verjährung ein …«
Er ging hin zu der Stelle, wo der Revolver Joseph van Dammes lag, und hob ihn auf, dann bückte er sich nach der Waffe, die Jef kurz nach seinem Eintritt fortgeworfen hatte.
Er hatte sich nicht geirrt. Lombard vermochte die Spannung nicht länger zu ertragen. Beide Hände an den Kopf gepreßt, stöhnte er:
»Meine Kinder! Meine drei Kinder!«
Und alle Scham vergessend kehrte er dem Kommissar sein tränenüberströmtes Gesicht zu und brüllte, außer sich vor Schmerz:
»Sie sind schuld, Sie allein! Ihretwegen habe ich das Kleine noch nicht einmal angesehen, meine jüngste Tochter! Ich weiß nicht einmal, wie sie aussieht! … Begreifen Sie das überhaupt? …«