EPILOG

Zwei Tage später machte ich die »Weiße Lilie« wieder auf. Scarlett, die schon früher mal bei mir gearbeitet hatte, sprang als Ersatz für Ecki im Service ein, Gülbahar übernahm dauerhaft den Spülposten, und in der Küche schufteten Arîn und ich allein, weil ich keinen neuen Koch einstellen wollte, bevor die Sache mit dem Pachtvertrag geregelt war. Natürlich hingen mir die letzten vierzehn Tage in den Knochen. Ich konnte nicht sagen, dass es mir gut ging. Aber unsere Frauenwirtschaft tat mir wohl, und Kochen half mir immer, wieder festen Boden unter den Füßen zu kriegen.

Brandt rief öfter an. Er hatte noch tausend Fragen zu Ecki, zu Eilert, zu Pfeifer und zu Minka. Um alle Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und die Puzzleteilchen der beiden Mordgeschichten richtig zusammenzusetzen, brauchte er Zeit. Er melde sich bei mir, wenn er so weit sei, versprach er.

 

Es war ein trüber, nasskalter Montag Ende August, als Brandt sich mit mir verabredete. Ein scharfer Westwind trieb den Regen über den Roncalliplatz. Seit Tagen stieg das Thermometer nicht über fünfzehn Grad, der Rhein führte gut Wasser, nichts erinnerte an Sommer. Nicht mal die Touristen, die in Regenjacken und mit von Klarsichtfolie geschützten Reiseführern Kölns Fremdenverkehrsattraktion Nummer eins umrundeten.

»Und Sie waren wirklich noch nie hier oben?«, fragte Brandt, als ich am neu gestalteten Eingang zum Turm zu ihm stieß.

War ich nicht, und ich wettete mit Brandt, dass bestimmt auch viele gebürtige Kölner den Südturm des Domes noch nicht bestiegen hatten. Brandt jedoch war schon unzählige Mal oben gewesen. Er kletterte nach jedem Fall, den er beendet hatte, auf den Turm.

»Als Abschluss sozusagen. Damit ich wieder einen anderen Blick auf die Welt kriege.«

Das regnerische Wetter sorgte dafür, dass sich die Zahl der Dombesteiger an diesem Tag in Grenzen hielt. Eine spanische Großfamilie, die vor uns an der Kasse gestanden hatte, überholten wir schnell vor dem Eingang des Turmes. Beherzt nahm ich die ersten Stufen in Angriff, aber meine Beine wurden bald langsamer, und das Atmen stach in die Lunge. Die Stufen waren verdammt hoch, und die enge Wendeltreppe wollte kein Ende nehmen. Die Aussicht vom Dom auf die Stadt bekam man nicht umsonst, sie musste mit einem mühsamen Aufstieg erkämpft werden.

»Stein ist kein Material für die Ewigkeit.« Schnaufend deutete Brandt auf die Stufen, die vom millionenfachen Rauf- und Runterlaufen in der Mitte völlig ausgetreten waren.

»Was ist schon für die Ewigkeit?«, fragte ich mit Blick auf die dicht bekritzelten Wände, wo Menschen aus aller Welt mit Namen oder kleinen Sprüchen an ihren Besuch erinnerten. Schriftzüge, die verblassten oder überschrieben wurden und spätestens in ein paar Jahren verschwinden würden. Auch ewige Liebe gab es nicht. Viele Liebesgeschichten, nicht nur meine, endeten, ohne den Auf-immer-und-ewig-Schwur eingelöst zu haben.

Schritt für Schritt, immer wieder tief Luft holend, setzten wir den Aufstieg fort. Im Glockenstuhl machten wir die erste Pause. Ich war sehr gespannt auf Brandts Bericht. In den letzten Wochen hatte ich wie eine Wilde gearbeitet und die schrecklichen vierzehn Tage verdrängt. Doch jetzt wollte ich wissen, was von meinen Ahnungen, Vermutungen und Spekulationen die Morde betreffend den polizeilichen Ermittlungen standhalten konnte.

Aber Brandt redete nicht über den Fall, er zeigte mir den »decken Pitter«, die erste Glocke des Domgeläuts. »Erinnern Sie sich?«, fragte er wie ein begeisterter Fremdenführer. »Der Klöppel ist am Dreikönigstag gerissen. Der Klöppel der größten Glocke reißt am Tag der Kölner Stadtheiligen direkt vor dem Hochamt. Wenn das den Mystikern nicht tausend und mehr Spekulationen eröffnet! Oder den Karnevalisten.«

Aber mich interessierten mögliche Spekulationen von Mystikern oder Karnevalisten nicht, mich interessierten meine eigenen. »Hat Pfeifer die beiden Frauen jetzt ermordet oder nicht?«, platzte ich heraus.

»Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, dass ich diesen Fall endlich vom Tisch habe!« Noch schwer atmend legte Brandt seine Unterarme auf das Geländer, hinter dem die schweren Glocken hingen. Dann begann er zu erzählen. »Was den Tod von Sabine Mombauer betrifft, haben wir Pfeifer schnell in die Enge treiben können. Weil wir ihren Schlüsselbund bei ihm gefunden haben, die Zeugin ihn eindeutig identifiziert hat, seine Handyauswertung bewies, dass er als Letzter mit seiner Cousine telefoniert hat, es seine Schlange war und, und, und.«

Wenn ich in den letzten Wochen aus den Fenstern der »Weißen Lilie« hinaus auf den Spielplatz geblickt hatte, dann hatte ich immer wieder Sabines Körper auf dem Boden liegen sehen. Den nackten Fuß, in den die Kobra sie gebissen hatte. Den verrenkten Kopf, die verdrehten Arme. Manchmal hörte ich auch ihre Stimme, die bei unserem letzten Gespräch so hoffnungsfroh, so befreit geklungen hatte. Was für eine Tragik, in so einem Moment sterben zu müssen!

»Hat er gesagt, warum er Sabine umgebracht hat?«, wollte ich wissen.

»Die Frage nach dem Warum beantworten die Täter selten eindeutig. Auch Pfeifer nicht.«

Die spanische Großfamilie hatte den Glockenstuhl jetzt auch erreicht und drängte sich ans Geländer. Harte rollende Rs schwirrten durch die Luft, und neugierige Kinder versuchten, die Hände bis zu den Glocken vorzustrecken. Ich deutete nach oben, Brandt nickte, und gemeinsam machten wir uns an die zweite Etappe des Aufstiegs. Brandt ging voraus.

»Er war sich so sicher, dass seine Cousine das Haus verkauft, weil er immer alles von ihr gekriegt hat, was er wollte. Stellen Sie sich vor, er hatte das Haus schon Eilert angeboten!«

»Das kann ich mir gut vorstellen! Sogar sehr gut! Aber dann hat Sabine einen Rückzieher gemacht.«

»Genau. Für Pfeifer lag das Geld für die Provision von seiner Cousine und das, was er Eilert für das Haus aus der Tasche ziehen wollte, schon auf seinem Konto. Er brauchte das Geld dringend für sein Hotelprojekt. Und dann ruft Sabine ihn an und sagt, dass sie zurück in die elterliche Wohnung zieht und Ihre Pacht verlängert.« Brandt holte an einem der Fensterschlitze Luft und deutete hinunter auf das Labyrinth Kölner Dachlandschaften. »Habgier, da haben Sie sein Motiv.«

»Und nur weil er dringend Geld braucht, setzt er der Frau, die so viel für ihn getan hat, eine Giftschlange auf den Fuß«, schnaufte ich. »Wie krank ist das denn?«

»Ganz so war es nicht«, korrigierte mich Brandt. »Sabines letzter Anruf erreichte ihn bei einem Reptilienfreund, wo er gerade die Monokelkobra kaufte. Weil er seine Felle davonschwimmen sah, wollte er noch mal mit seiner Cousine reden. Deshalb hatte er die Monokelkobra dabei. Sosehr er auch auf seine Cousine einredete, sie blieb bei ihrem Entschluss. Da erst nahm er die Kobra aus der Schachtel. Als Drohgebärde, als Druckmittel. Denn natürlich kannte er die panische Angst seiner Cousine vor Schlangen. Und dann ist die Sache angeblich aus dem Ruder gelaufen. Die Cousine hat wild mit den Armen gerudert, die Schlange ist Pfeifer entwischt, muss irgendwie Sabines Fuß gebissen haben, die voller Panik zum offenen Fenster gestürzt und hinausgefallen ist.«

»Einer Schlangenphobistin dieses Viech entgegenzuhalten ist Folter pur!« Die Vorstellung von Sabines Mombauers letzten Minuten ließ mein Herz wieder krankhaft rasen. Ich sah, wie Pfeifers sanfte Mädchenaugen Sabine anblickten und seine Hände gleichzeitig den Karton öffneten und die Schlange freiließen. Wie sich die falschen sanften Augen an der Furcht der Cousine weideten. Gab es ein Grausamkeits-Gen? Oder wie entwickelte man eine so krankhafte Lust an der Angst anderer?

»Er hat sie in den Tod getrieben. Für mich ist das eindeutig Mord.«

»Wir haben von Polizeiseite alles getan, dass das Gericht das auch so sehen kann«, versicherte mir Brandt und stieg weiter nach oben.

»Und was ist mit Eilert?«, fragte ich. »Der wäscht seine Hände in Unschuld und will nichts von Pfeifers miesen Tricks wissen, oder? Bestimmt hat er Pfeifer schon zugesagt, Mombauers Haus zu kaufen! Optional natürlich und erst wenn Pfeifer nachweisen kann, dass ihm das Haus wirklich gehört.«

»So in etwa«, stimmte Brandt vorsichtig zu. »Aber ohne Eilert hätten wir Pfeifer den Mord an Minka Nowak nicht so schnell nachweisen können. Zum Beispiel die fünfzigtausend Euro, die er ihm für Frau Maibach gegeben hat! Auf dem Konto von Pfeifer bei seiner spanischen Bank ist genau in dieser Zeit diese Summe eingezahlt worden. Pfeifer hat irgendwann eingestanden, dass es sich um dieses Geld handelte. Des Weiteren hat uns Eilert verraten, dass Pfeifer zu den regelmäßigen Nutzern seines Motorbootes zählte und er das Boot sehr wohl nach Matuschek hätte benutzen können. Weil Eilert den Schlüssel dazu erst am nächsten Tag auf seinem Schreibtisch gefunden hat.«

Na klar, Eilert lässt Pfeifer über die Klinge springen und wäscht sich die Hände in Unschuld, dachte ich. Wir waren am Ende der Wendeltreppe, aber noch nicht am Ende des Berichts über Brandts Ermittlungen angelangt.

»Pfeifer hat den Mord an Minka zuerst geleugnet. Er hat behauptet, dass Matuschek Minka umgebracht hat, weil er sie loswerden wollte. Matuschek habe auch das Kettchen hinter seine Heizung geworfen, um ihn zu belasten. Und das, nachdem Pfeifer ihm bei sich Unterschlupf gewährt hatte«, erzählte Brandt weiter. »Damit stand Aussage gegen Aussage. Zwei Dinge haben uns weitergebracht. Zum einen hat die Spurensicherung Pfeifers DNA bei dem Einbruch in Minkas Spind nachgewiesen und Pfeifer daraufhin zugegeben, dass er von ihren Notizen wusste und hoffte, sie im Spind zu finden.«

»Deswegen hat er sie umgebracht? Weil sie für ihn spioniert hat?«, fragte ich ungläubig.

»Ich habe von zwei Dingen gesprochen«, wies mich Brandt sanft zurecht. »Eine Kollegin von Minka aus dem ›All-inclusive‹ hat sich daran erinnert, dass Minka in der Zeit ihrer Affäre mit Pfeifer mal davon gesprochen hat, dass dieser Eilert abzocken würde.«

»Sie wusste von den fünfzigtausend?«, echote ich, und dann fielen mir Chidamber und sein Geld ein. »Und weil sie für den Meisterkurs dringend Geld brauchte, hat sie sechstausend Euro Schweigegeld von Pfeifer gefordert?«

»So in etwa«, wiederholte Brandt. »Nach zähen, hartnäckigen Verhören hat er zugegeben, dass sie ihn erpressen wollte, er sich aber niemals erpressen lässt. Erst sei ihm nur die Hand ausgerutscht, sagt er, aber dann habe er sie in seiner Wohnung so lange geprügelt, bis sie stürzte und sich das Genick brach. Er habe sie dann zu Eilerts Boot geschafft und in den Rhein geworfen. Es kam ihm sehr zupass, dass er davor den Streit zwischen Nowak und Matuschek miterlebt hatte. So konnte er den Verdacht auf Matuschek lenken. Wie gesagt, es waren zähe, hartnäckige Verhöre, bis Pfeifer das alles zugegeben hat.«

Brandt schüttelte sich so, als wollte er den Dreck des Verhörs loswerden. Dann deutete er auf die offene Stahltreppe, die zur Aussichtsplattform führte.

»Wollen wir?«, fragte er. Ich nickte. »Ihr Freund war übrigens erst nach Pfeifers Geständnis wirklich entlastet«, sagt er, bevor er mit den Händen nach dem Geländer der Stahltreppe griff.

»Exfreund«, korrigierte ich ihn.

Ein überraschter Blick, dann begann Brandt mit dem Aufstieg.

Ein heftiger Wind pfiff durch die steinernen Bögen des Turms und trieb uns Regenschwaden ins Gesicht. Der Blick über die Stadt war grau in grau. Die Braunkohlekraftwerke im Westen und das Bergische Land im Osten waren kaum zu erkennen. Die rauchenden Schlote von Wesseling nur Schemen in einer Regensuppe.

»Man wird nicht immer mit einem klaren Blick belohnt, wenn man nach oben steigt.« Brandt setzte sich seine Kapuze auf und schaute in die Ferne.

»Es war nicht nur Habgier«, sagte ich in Gedanken immer noch bei Pfeifer. »Das ›El Solare‹! Der Traum von einem eigenen Hotel. Der Traum von Reichtum und Wohlstand! Dafür hat er das alles getan, dafür ist er über Leichen gegangen. Rücksichtslos, sich selbst überschätzend, menschenverachtend, andere mit sich in den Abgrund ziehend. Gefühllos und gefährlich wie seine Schlangen.«

Brandt schubste mich leicht an und deutete nach Westen, wo der Himmel einen Spaltbreit aufriss und sich ein Streifen wässriges Blau zeigte.

»Was machen Sie denn jetzt mit der ›Weißen Lilie‹?«, fragte er mich. »Sie wissen ja. Wenn Pfeifer verurteilt wird, verfällt sein Anspruch auf das Erbe.«

»Mal sehen, wer das Haus dann unter die Finger kriegt und was der für Pläne damit hat«, antwortete ich. »So schnell gebe ich nicht auf.«

»Und wenn Eilert es kauft?«

»Das wird sich zeigen.«

Eilert würde mit seiner Kette spinnengleich das Land überziehen, so standen die Zeichen der Zeit. Erst wenn es überall nur noch Einheitsbrei zu essen gab, würden die Menschen merken, was sie freiwillig und leichtsinnig aufgegeben hatten. Wenn sie sich dann noch an wirklich gutes Essen erinnern konnten! Aber schon Don Quijote hatte gegen Windmühlen gekämpft, José Bové im Kampf gegen McDonald's gezeigt, dass Widerstand sich lohnte, und manchmal erreichten auch die Großen nicht all das, was sie erreichen wollten.

»Kommt Zeit, kommt Rat«, fügte ich hinzu und wunderte mich, wie locker ich das sagen konnte. Aber jetzt, wo Ecki in unserer Beziehung nicht mehr den Leichtigkeitspart spielte, musste ich ihn selbst übernehmen. »So oder so«, sagte ich zu Brandt. »Sie sollten bald mal zu mir zum Essen kommen.«

Brandt zog seine Kapuze ab, weil der Regen aufgehört hatte, und lachte.

»Ich stell Ihnen sogar ein Extratischchen auf, damit Sie alleine essen können.«

»Ach, wissen Sie, ich würde es durchaus mal an der großen Tafel probieren. So ungesellig, wie ich manchmal tue, bin ich gar nicht.«

Nicht nur der Regen hatte aufgehört, auch der Spalt Himmelsblau zwischen den grauen Wolken war größer geworden. Die Sonne schickte ein paar Strahlen hindurch, und ein Regenbogen spannte sich vom Vorgebirge bis ins Braunkohlerevier.

Purer Kitsch, dachte ich und merkte doch, wie mich die Aussicht auf strahlendere Tage froh machte.