ELF

Als mich Helen Maibach am Morgen zurückrief, wusste ich plötzlich, woher ich ihren Namen kannte.

Dany hatte ihn erwähnt, es war der Name seiner Exchefin. Sie schlug das Restaurant »Osman 30« im Kölnturm als Treffpunkt vor. Die S-Bahn brachte mich zum Hansaring, von dort lief ich zu Fuß bis zum Mediapark.

Vor mehr als zwanzig Jahren als der Medienstandort in Köln geplant, war von den Medien nicht viel mehr als der Name des Parks übrig geblieben. Mit seinen Arztpraxen und Spezialkliniken war das Areal heute eine Adresse für Sportgeschädigte und Rückenleidende. Aber immerhin: Mit seiner urbanen, in die Höhe geschraubten Bebauung aus Glas und Stahl und den kurzen Straßenschluchten dazwischen konnte man den Mediapark für Kölns Manhattan halten. Manhattan in Miniformat natürlich.

Am Cinedom bog ich rechts ab, überquerte den weiten Platz vor dem künstlichen See und ging direkt auf den Kölnturm zu. Ein Aufzug brachte mich in die dreißigste Etage. Oben bewachte ein Typ mit Anzug, breiten Schultern und einem Headphone im Ohr den Eingang. Er ließ mich nicht durch. Geschlossene Gesellschaft. Und überhaupt müsse ich hier grundsätzlich reservieren.

»Nicht mal einen Kaffee krieg ich?«

Er machte sich nicht die Mühe, sein Kopfschütteln mit einem professionellen Lächeln des Bedauerns zu versehen.

»Ich bin mit Helen Maibach verabredet.«

Der Name funktionierte tatsächlich als Türöffner. Der Mann sprach leise in sein Headphone, dann machte er mir Platz und schickte mich in den Weinsalon.

Die schwarze Witwe saß allein an einem Tisch, so wie sie auch im »All-inclusive« allein gesessen hatte. Die Frau hasste Eilert, da war ich mir sicher. Er hatte sie mit miesen Tricks aus ihrem Restaurant vertrieben. Sie rächte sich, indem sie in der Öffentlichkeit gegen ihn randalierte. Bei zweien ihrer Auftritte war ich zufällig Zeugin gewesen, bestimmt hatte es noch mehr gegeben. Ob Eilert diese Angriffe wie ein nasser Fisch an sich abperlen ließ oder ob sie ihn damit wirklich verletzen konnte, wagte ich nicht zu beurteilen. Aber wenn sie ihn so sehr hasste, wieso war sie dann so eng mit Pfeifer? Danach musste ich sie unbedingt fragen.

Wieder trug sie die Haare zu einem festen Knoten gebunden. Das strenge Schwarz, in dem sie bisher immer gekleidet gewesen war, hatte sie heute durch eine weiß gepunktete Bluse und eine rote Kette aufgelockert. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Ich folgte ihm bis ins Bergische Land, dessen sanfte, frischgrüne Hügel bei dem schönen Wetter und aus dieser Höhe gut zu sehen waren.

»Frau Maibach?«

Sie drehte sich um, und zum ersten Mal, seit ich sie kannte, gab ein überraschtes Lächeln ihrem Gesicht weiche Züge.

»Katharina Schweitzer! Wenn ich gewusst hätte, dass Sie Danys Katharina sind, hätte ich Sie im ›All-inclusive‹ nicht so abblitzen lassen. Ich bin Helen und als Kollegin und Dany-Freundin für das praktische Du.« Sie deutete auf den Platz ihr gegenüber, und ich setzte mich.

Ihre spontane Herzlichkeit wunderte mich nicht weniger als dieser Ort. Der Weinsalon war in einer klaren, modernen Strenge gehalten. Weiße Sessel, weiße Lederstühle, Tische aus dunklem Holz. Ein in den Raum hineingebauter Kubus mit rechteckigen Aushöhlungen diente als Weinregal. Obwohl edel und teuer, hielt sich die Einrichtung bescheiden im Hintergrund, denn der Star des Raumes waren, wenn man das so sagen durfte, die breite Fensterfront und der Blick, der sich einem bot. Köln-Panorama vom Feinsten. Ich verstand nicht, warum wir uns ausgerechnet hier treffen mussten.

»Ungewöhnlicher Ort, nicht wahr?«, fragte Helen, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Ich kenne den Betreiber. Osman hat mal ein Jahr in meiner Brigade im ›Himmel auf Erden‹ gearbeitet. Als er bei mir anfing, konnte er Mangold nicht von Spinat unterscheiden. Und jetzt ist er auf der Überholspur an mir vorbeigezogen und lässt über den Dächern der Stadt kochen. Weil er gehört hat, dass ich mein Lokal verloren habe, bietet er mir an, als Chefköchin eine Schicht hier im Restaurant zu übernehmen.«

»Ach?«, wunderte ich mich. »Dany hat mir erzählt, dass du dich mit Guerilla-Kochen selbstständig machen willst.«

»Kann ich mir vorstellen, dass Dany davon erzählt hat«, lachte sie. »Die Idee stammt von Lucie, Luzia Saalfeld, der das ›Pfeffer & Salz‹ in der Südstadt gehörte, das Eilert auch plattgemacht hat. Lucie hat ihre teuren Küchengeräte gerettet und sich daraus eine mobile Küche bauen lassen. Die ist nicht nur mobil, sondern auch flexibel. Damit kannst du überall professionell kochen. Lucies Idee ist, sich mit diesem Teil und einem Köche-Pool selbstständig zu machen. Um Geld zu verdienen, schweben ihr ein paar Messe-Events im Jahr vor, ansonsten begeistert sie sich für allerlei: Essen an ungewöhnlichen Orten, gewagte Menüs für experimentierfreudige Esser, Soul Food für Ausgebrannte, aphrodisische Menüs für Verliebte und welche, die sich wieder verlieben wollen, Schrebergartenfeste und so weiter. Die Vorteile liegen auf der Hand: keine durchlaufenden Miet- und Personalkosten, projektbezogenes Arbeiten. Aber –«

»Da ist das Angebot von Osman doch ein bisschen handfester«, folgerte ich.

»Natürlich!«, bestätigte sie. »Zudem eine Geste, die ich zu schätzen weiß. Gerade habe ich mir den Arbeitsplatz angesehen und mir von Osman erzählen lassen, was hier zu tun ist. Kleine bis große Events, alles nur mit Vorbestellungen. Das ist für die Küche gut zu kalkulieren. Geregelte Arbeitszeiten, bezahlte Überstunden.«

»Klingt nicht schlecht«, meinte ich. »Lässt Zeit für Yogakurse, Privatleben und so.«

Sie lachte ein sattes, kräftiges, aus dem Bauch kommendes Lachen. »Würdest du hier arbeiten?«

»Man weiß nicht, was man in der Not für Jobs annehmen muss. Freiwillig eher nicht.«

»Und wieso?«

»Mir würde die Bodenhaftung fehlen.«

Wieder lachte sie. »Osman hat mich vorhin herumgeführt. Er hat mir das Buffet gezeigt, das heute für den Brunch der Firma ›E & M Consulting‹ aufgebaut ist. Die haben zwei Etagen tiefer ein wichtiges Meeting, eine Konferenz oder was weiß ich! Feinstes Food, beste Zutaten orientalisch-mediterraner Kochlinie. Könnte ich mich mit anfreunden. Aber dann habe ich mir die Gäste angeguckt. Weiße Kragen, schmale Schlipse, in den Augen diese Mischung aus Gier und Angst. Kennst du diesen Typ?«

Ich nickte. Wer kannte diesen Typ nicht? In der Blüte des Raubtierkapitalismus gab es ihn zuhauf.

»Um den Hals die unvermeidliche eingeschweißte Teilnehmerkarte, damit man Namen und Stellung seines Gegenübers direkt zuordnen kann«, fuhr Helen fort. »Fast nur Männer, die meisten in den Dreißigern. Die Karriereleiter haben die so fest im Blick wie ihre Konkurrenten. Für die ist die Welt ein Haifischbecken. Natürlich weiß ich, dass man sich in unserer Branche Gäste nicht aussuchen kann. Aber nur noch für solche Leute zu kochen würde mich deprimieren. Außerdem frage ich mich, warum die sich hier oben treffen müssen.«

Ich beugte mich zum Fenster vor und sah nach unten. Der künstliche See eine blaue Pfütze, die Kinoschilder am Dach des Cinedoms bunte Rechtecke, die Straßen schmale Linien. Der Dom, der Rhein, die Messehallen, die Lanxess-Arena, alles in Spielzeuggröße.

»De facto liegt ihnen die Stadt zu Füßen. Das gibt ihnen eine Illusion davon, wie es sich anfühlt, ganz oben zu sein«, meinte ich.

»Ich denke noch an etwas ganz anderes.« Helen sah ebenfalls aus dem Fenster. »Kennst du den Film ›Der dritte Mann‹?«

»Lalalalalaa, lala«, summte ich das berühmte Karas-Stück und dachte an das Burg Kino am Opernring in Wien, wo ich den Film mit Ecki gesehen hatte. Eine andere Stadt, eine andere Zeit. Die Welt weit und offen, der Alltag leicht und prickelnd! Eine Zeit ohne Morde und ohne Betrug. Zumindest in meinem Leben.

»Erinnerst du dich an die Szene im Riesenrad? Als Holly Martins endlich Harry Lime trifft?«

Eigentlich erinnerte ich mich nur an die Musik, denn wir waren während des Films frisch verliebt und eher mit uns selbst beschäftigt gewesen. Unsere wilde Knutscherei hatten wir nur durch gelegentliche Blicke auf die Leinwand unterbrochen, und da hatte ich nasse Wiener Straßen und Trümmergrundstücke in Schwarz-Weiß gesehen. Das wunde Herz meldete sich wieder. Wieso musste Helen Maibach ausgerechnet diesen Film erwähnen?

»Die beiden steigen in das Riesenrad, das an oberster Stelle anhält«, erzählte sie weiter. »Holly wirft Harry seine kriminellen Penicillin-Geschäfte vor. Der aber deutet hinunter auf die Mini-Menschen auf dem Erdboden und will von Holly wissen, ob wirklich jede dieser winzigen Gestalten wichtig ist. Und dann erzählt er von den Borgias, die Italien mit Mord, Intrigen, Grausamkeit und Menschenverachtung regiert haben, aber einen Michelangelo und einen Leonardo da Vinci hervorbrachten. – Verstehst du, was ich sagen will?«

Ich verstand vor allem, dass Helen Maibach in ihren Erzählungen zu barocken Ausschweifungen neigte.

»Von hier oben aus kann man leichter über Leichen gehen, oder Höhe fördert Größenwahn«, fasste ich meine Einschätzung in Kurzform zusammen. »Sollen wir zum Weiterreden ein Café mit Bodenhaftung suchen, oder erzählst du mir auch hier von deinem Ärger mit Eilert?«

Ihr Lachen geriet ein wenig bitter, aber ihre Kohleaugen sahen mich offen an.

»Manchmal ist es ein Fehler, wenn einem im Leben alles zufällt«, begann sie. »Weil man nicht für die Gemeinheiten gewappnet ist. Als eine, die gern kocht, habe ich eines Tages beschlossen, ein Restaurant aufzumachen. Völlig leichtsinnig, völlig größenwahnsinnig, aber es hat funktioniert! Das Belgische Viertel war damals noch nicht so in wie heute. Ich konnte das heruntergekommene Lokal zu einem Spottpreis mieten. Der alte Schmitz, mein Vermieter, mochte mich. Er hat die Miete nicht mal erhöht, als ›Himmel auf Erden‹ wirklich gut lief. Kurzum, innerhalb von wenigen Jahren habe ich es geschafft, zu einer der besten Adressen für vegetarische Küche in Köln zu werden. Als Autodidaktin! Mein Laden brummte, und ich hatte den Eindruck, alles richtig gemacht zu haben. Von wegen! Dann ist der alte Schmitz gestorben, und seine Erben haben das Haus an Eilert verkauft. Blauäugig, wie ich war, hat mich das nicht beunruhigt, denn mein Pachtvertrag lief noch für weitere sechs Jahre.«

Man konnte sehen, dass sie sich auch heute noch über ihre Naivität ärgerte. Bevor sie weitererzählte, bestellte sie beim zufällig aufgekreuzten Kellner mit meinem Einverständnis zwei Espressi.

»Eilert kam vorbei, hat von seinen Plänen für das ›All-inclusive‹ erzählt und mir eine Abfindung von fünfzigtausend Euro geboten, wenn ich sofort gehe. Ich habe abgelehnt und auf die Einhaltung des Pachtvertrages gepocht. Ich gestehe das sehr ungern und nur, um dich zu warnen: Er hat mich mit absolut miesen Tricks in nur drei Monaten weichgekocht. Keinen dieser Tricks kann ich beweisen. Ich weiß nicht, wer mir die toten Ratten in die Kühlung gelegt hat, ausgerechnet an dem Morgen, als das Gesundheitsamt einen Überraschungsbesuch machte. Ich weiß nicht, wer die negativen Kritiken zu ›Himmel auf Erden‹ ins Netz gestellt hat. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet in dieser Zeit der Bürgersteig vor meinem Lokal aufgerissen wurde. Ich weiß nicht, warum der neue Mieter in der Wohnung über meinem Lokal plötzlich Abend für Abend extrem laute Heavy-Metal-Musik hörte. Aber ich weiß, wie schnell bei so viel Pech und Pleiten das Ende der Fahnenstange erreicht ist und die Gäste wegbleiben. Ich bin keine, die über finanzielle Reserven verfügt, also konnte ich Personal und Lieferanten nicht mehr bezahlen und musste schließen.«

Sie sah mich eindringlich an, so als wollte sie mir ein grelles Warnschild sein. Was sie beschrieb, kannte ich. Gastronomie war ein Kamikaze-Geschäft. In den Anfangszeiten hatte es mehr als einmal Spitz auf Knopf gestanden mit der »Weißen Lilie«. Der Kredit, zu wenig Gäste, die schwierige Lage, all das hatte das Überleben mühsam gemacht. Aber dieses generalstabsmäßige Plattmachen von Helens Restaurant war selbst in unserer Branche die Ausnahme.

»Kannst du Eilert nicht in einem einzigen Punkt eine Beteiligung nachweisen?«, fragte ich.

»Glaubst du wirklich, ich würde meine Zeit mit öffentlichen Sticheleien vertun, wenn ich etwas juristisch Verwertbares gegen ihn in der Hand hätte?«, rief sie erregt aus. Als sie sich wieder beruhigt hatte, lächelte sie mich an und sagte: »Es wäre mir wirklich eine Freude, dir zu helfen, damit dir nicht das Gleiche passiert. Also: Gibt es irgendwas, was du gegen Eilert in der Hand hast?«

Die Hoffnung in ihrem Blick konnte ich wahrscheinlich nicht erfüllen. Aber bevor ich ihr überhaupt etwas erzählte, wollte ich wissen, was sie mit Pfeifer verband.

»Ob er mein Freund ist? Gott bewahre!« Sie schüttelte empört den Kopf. Sie schüttelte ihn noch, als die zwei Espressi kamen und sie braunen Zucker in ihre Tasse löffelte.

»Pfeifer«, sagte sie nach dem ersten Schluck Kaffee, »erledigt für Eilert die Drecksarbeiten. Weißt du, wie er mich aus dem ›All-inclusive‹ herausgebracht hat? Er hat sich direkt neben mich gesetzt und unter dem Tisch eine Spritze auf meinen Bauch gehalten. ›Insulin‹, hat er gesagt und ob ich wisse, was passiert, wenn einem Nicht-Zuckerkranken Insulin gespritzt werde. Ich hatte keine Ahnung, wollte es aber auf keinen Fall am eigenen Leib erfahren. Deshalb bin ich ihm nach draußen gefolgt, und deshalb konnte ich auch beim Rausgehen deine Karte nicht mehr annehmen.«

Ich vergegenwärtigte mir die Szene, die ich im »All-inclusive« erlebt hatte. Ich erinnerte mich daran, dass nur Pfeifer und nie Helen gelächelt hatte. Dass sie mir zu ernst erschienen war. Dass er sie fest im Griff hatte. Mit dem, was Helen erzählte, ergaben meine Eindrücke einen Sinn. Gleichzeitig wurde mir klar, dass die Idee mit der Spritze keine spontane gewesen sein konnte. Pfeifer musste Übung darin haben, unangenehme Gäste unauffällig zu entfernen, und schreckte vor heimtückischen Methoden nicht zurück.

»Ein gefährlicher Mann«, folgerte ich. »Trotz seiner sanften Mädchenaugen.«

»Darauf bin ich bei unserer ersten Begegnung auch reingefallen.« Helen lachte dieses bittere Lachen. »Das war, als ich zum ersten Mal im ›All-inclusive‹ lautstark den Geschäftsführer verlangt habe. Pfeifer ist zu mir gekommen, wollte wissen, was mich empörte, und hat mit diesen sanften Augen Anteilnahme geheuchelt. So lange, bis er mich überredet hatte, mit ihm noch anderswo ein Bier zu trinken. Kaum auf der Straße, hat er mir drohend ins Ohr geflüstert, dass er weniger charmante Methoden anwenden würde, wenn ich das nächste Mal hier randalieren würde. Seither sehe ich diese sanften Augen anders. Mit denen führt der Kerl dich in die Irre. Das Sanfte darin ist nichts anderes als gut getarnte Grausamkeit.«

Ich sah Pfeifer vor mir. Wie er mich bei dieser zufälligen Begegnung in Mülheim angeschaut hatte. Grausamkeit hatte ich in den Augen nicht entdeckt. Vielleicht etwas Abschätzendes, etwas Zockerhaftes. Vielleicht auch nicht.

»Und ich dachte, er ist Restaurant-Scout«, kam ich auf Tatsachen zurück.

»Na klar!«, spottete Helen. »Das ist er auch. Erst kundschaftet er ein geeignetes Objekt aus, dann kümmert er sich ums Ausräumen. Kann durchaus sein, dass Pfeifer mir die Ratten in die Kühlung gelegt und dem Mieter über mir die Heavy-Metal-CDs in die Hand gedrückt hat. Weil Eilert sich mit Dreckskram bestimmt nicht selbst die Finger schmutzig macht. Geld genug, um so einen Ausputzer zu bezahlen, hat er ja. Pfeifer arbeitet im wahrsten Sinne des Wortes alles inklusive! Und er hat gut zu tun bei dem Expansionsdrang, den Eilert an den Tag legt.«

Bei »Expansionsdrang« fiel mir das »El Solare« ein. Ich fragte Helen, ob sie schon mal was von dieser Hotelanlage gehört hatte.

»Ist das auch ein Projekt von Eilert?«

»Ich weiß es nicht. Kennst du eine Sabine oder einen Tommi Mombauer?«

»Nie gehört«, sagte sie sofort. »Aber ich weiß, dass Eilert seine dritte Kölner ›All-inclusive‹-Filiale in Mülheim aufmachen will. Ist dein Vermieter zufälligerweise auch gestorben?«

Ich nickte, Helen Maibach pfiff durch die Zähne.

»Und nicht nur er«, erklärte ich ihr. »Auch seine Tochter und Erbin. Die ist ermordet worden.«

Helen Maibach schob die Kaffeetasse zur Seite und wurde blass. »Mord? Dass Eilert über Leichen geht, habe ich ihm bisher nicht zugetraut.«

»Zutrauen und Beweisen sind verschiedene Paar Stiefel«, warf ich ein.

Helen nickt ernst und sah wieder aus dem Fenster. Ich tat es ihr nach. Die Menschen unten auf dem großen Platz waren wirklich puppenklein und ohne die geringste Identität. Wischte Eilert Menschen, die seine Pläne störten, einfach so von der Bildfläche, wie dies von hier oben möglich schien? Oder ließ er sie wegwischen?

Helens Gedanken gingen in eine andere Richtung. »Und wer erbt das Haus jetzt?«

»Wahrscheinlich Tommi Mombauer, der Vetter von Sabine.«

»Und was hat er für Pläne?«

»Keine Ahnung. Ich kenne ihn nicht, angeblich wohnt er hier in Köln, aber er ist überhaupt nicht aufzutreiben. Auch die Polizei sucht ihn bis jetzt vergeblich.«

»Ich wette, Eilert hat schon seine Fühler nach dem Haus ausgestreckt.«

Hatte er das? Er war der Vermieter von Sabine Mombauer gewesen. Aber Frau Mombauer hatte ihn oder »All-inclusive« in all unseren Gesprächen über den Mietvertrag und die Verlängerung der Pacht nie erwähnt. Und das hätte sie. Sie hätte mir das Angebot eines anderen Restaurants unter die Nase gerieben, als sie wollte, dass ich den Mietvertrag sofort unterschrieb. Aber sie hatte nur mit einem schnellen Verkauf durch ihren Vetter gedroht. Tommi Mombauer! Ob Brandt schon Nachricht aus Spanien hatte? Ich musste ihn später mal anrufen.

»Eilert hat nicht mit Frau Mombauer über einen Hausverkauf verhandelt«, widersprach ich Helen. »Ich glaube, er sucht in Mülheim eine andere Immobilie für seine neue Filiale. Die ›Weiße Lilie‹ ist gar nicht für ›All-inclusive‹ geeignet, weil sie zu klein dafür ist.«

»Wie viele Etagen hat das Haus?«, fragte Helen sofort, und ich sagte es ihr. »Und nur noch eine ist bewohnt? Sei nicht so naiv, wie ich es war, Katharina. Es wird für Eilert kein Problem sein, die alte Frau aus dem Haus zu treiben. Ich habe dir doch erzählt, wie er vorgeht. Wenn das Haus leer ist, hat es die ideale Größe für eine ›All-inclusive‹-Filiale. Allerdings«, gab sie nach einem langen Blick nach draußen zu bedenken, »Mord? Irgendwie passt das nicht zu Eilert. Der macht seine dreckigen Geschäfte am liebsten im Verborgenen.«

So etwas Ähnliches hatte auch Kuno gesagt. Und mir fiel nichts ein, was Eilert mit dem Mord an Sabine Mombauer in Verbindung brachte. Für die »Weiße Lilie« allerdings interessierte er sich sehr wohl. Sein Besuch vor einigen Tagen. Seine Meckereien über das Essen. Die direkt nach seinem Besuch einsetzenden negativen Internet-Kritiken über die »Weiße Lilie«. So war es bei Helen auch gelaufen. Vielleicht hatte Eilert Sabine Mombauer doch schon ein Angebot gemacht, das sie abgelehnt hatte? Hatte er da nachgeholfen oder nachhelfen lassen? Und mit Minka und ihrem Schulheft gab es eine weitere Spur ins »All-inclusive«. Unwahrscheinlich, dass Eilert da nicht irgendwie mit drinsteckte.

»Gibt es irgendeinen Hinweis, in wessen Auftrag Minka die Informationen über die ›Weiße Lilie‹ gesammelt hat?«, wollte Helen wissen, nachdem ich ihr in groben Zügen die Zusammenhänge erklärt hatte.

Ich konnte nur den Kopf schütteln, denn gestern beim genauen Durchsehen des Heftes hatte ich nichts über einen Auftraggeber gefunden.

»Und was ist mit ihrem Handy? Vielleicht hat Minka mal mit Eilert telefoniert, wenn er der Auftraggeber war. Hat der Kommissar davon was erzählt?«, erkundigte sich Helen. »Die Polizei kann sich doch alle Handydaten von der jeweiligen Telefongesellschaft schicken lassen.«

Das Handy hatte Brandt nie erwähnt. Ich hatte keine Ahnung, ob es überhaupt gefunden worden war. Es gab leider so vieles, was ich nicht wusste. Die Verbindungen, die ich zwischen Eilert und Minka herstellen konnte, begrenzten sich auf ihren Job als Garderobiere im »All-inclusive« und die abfällige Bemerkung, die Eilert über sie Bauses gegenüber gemacht hatte. Pfeifer dagegen hatte sie gut gekannt. War es nicht viel logischer, dass er Minka den Auftrag zum Spionieren gegeben hatte?

»Pfeifer finde ich viel verdächtiger. Von wegen geeignetes Objekt finden, leer räumen und so weiter«, widersprach ich Helen. »Minka und er kannten sich, sogar ziemlich gut.«

Der Einbruch in der »Weißen Lilie« fiel mir wieder ein. War Pfeifer wegen Minkas Unterlagen bei mir eingestiegen? Weil er Angst hatte, dass sein Name darin auftauchte? Oder der von Eilert?

»Pfeifer ist ein Söldner, der arbeitet im Auftrag von Eilert und ist austauschbar«, konterte Helen. »Eilert muss man nervös machen. Du weißt ja, ich habe ihm in den letzten Monaten ein paar Szenen gemacht, ohne dass ich etwas beweisen konnte. Trotzdem hat es ihn schwer gefuchst. Und du jetzt! Zwei Morde, die Spur ins ›All-inclusive‹ und dieses Heft! Wenn du das im richtigen Augenblick am richtigen Ort hinausposaunst, wird der ganz schön ins Schwitzen kommen und Fehler machen.«

»Und wie stellst du dir das vor? Soll ich ihn anrufen und ihm vorwerfen, dass er über Leichen geht?«, fragte ich wenig überzeugt.

»Natürlich nicht. Man muss ihn in die Enge treiben. Und ich weiß, wann und wo.«

Sie lächelte triumphierend und erklärte mir ihren Plan. Ich konnte nicht sagen, dass ihr Plan mich begeisterte, aber ihre Argumente waren nicht von der Hand zu weisen.

»Wenn ich die Sache noch gut finde, nachdem ich ein paar Stunden festen Boden unter den Füßen hatte, bin ich dabei«, entschied ich, als wir viel Geld für die zwei Espressi zahlten und uns danach auf den Weg zum Fahrstuhl machten.

 

Angermann rief an, als ich am See vorbei in Richtung Stadtgarten lief.

»Wir haben die Schlange«, verkündete er. »Hat ihr Leben auf einem Klebestreifen ausgehaucht. In der Küche keinen halben Meter vom Käfig mit den weißen Mäusen entfernt. Entweder vom Hunger aus ihrem Versteck getrieben, oder der Besucher, der gestern verbotenerweise durch die Wohnung geturnt ist, hat das Tier nervös gemacht. Das waren nicht zufällig Sie, Frau Schweitzer?«, fragte er hinterhältig.

Ich murmelte etwas von Gefahr in Verzug, extremer Belastung und Hinterher-ist-man-klüger und kriegte dann die Kurve zur Mombauer'schen Eisenbahn.

»Sind Sie noch interessiert? Soll ich bei der Besitzerin ein gutes Wort für Sie einlegen?«

»Aber klar doch«, lachte der Brandmeister. »Und was Ihren gestrigen Besuch betrifft, reden Sie mit dem zuständigen Ermittler, bevor die Spurensicherung Ihnen einen Einbruch nachweist. Haben Sie die Schlange eigentlich gesehen?«

Dieses aufgerichtete, zum Kampf bereite Mistviech hatte ich seit meiner Flucht aus dem Haus erfolgreich verdrängt, und das sollte auch so bleiben. Deshalb antwortete ich mit dem mehrdeutigen Was-denken-Sie-denn? und fragte Angermann, wann ich die »Weiße Lilie« wieder aufmachen konnte.

»Heute noch, wenn Sie wollen«, tönte Angermann großzügig. »Gefahr gebannt. Klappe zu, Patient tot, wie es so schön heißt. Frau Pütz habe ich schon Bescheid gegeben, die war vor Freude ganz aus dem Häuschen.«

Meine Freude hielt sich in Grenzen, denn mit dieser Nachricht kehrten die Unsicherheiten über die Zukunft der »Weißen Lilie« in meinen Kopf zurück. Ende des Monats musste ich auf keinen Fall schließen, einen zeitlichen Aufschub gab es auf alle Fälle, bis die Erbfolge geklärt war. Aber ohne Pachtvertrag stand ich dann mit schlechten Karten da. Irgendwie würde es danach schon weitergehen, vielleicht klappte es ja, die »Weiße Lilie« zu behalten, und wenn nicht, würde sich ein anderer Weg finden. Dann würde ich halt Guerilla-Köchin werden.

Die Vorstellung gefiel mir. Befreit von der Last eines eigenen Restaurants und all den damit verbundenen Sorgen. Was ganz Neues wagen. Aus dem Hamsterrad klettern. Den Alltagstrott hinter mir lassen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Das hatte etwas Verlockendes, weil es von all dem Dringenden ablenkte, was es zu klären galt. Ecki!

Der Mann lag mir zentnerschwer auf dem Magen, ganz zu schweigen von dem wunden Herzen, für das er ebenfalls verantwortlich war. Wahrscheinlich gefiel mir Helen Maibachs Sicht der Dinge deshalb so gut, weil für sie Eilert der Bösewicht in dieser Geschichte war. Aber wir waren beide auf einem Auge blind. Die schwarze Witwe, weil sie sich auf Eilert versteifte, und ich, weil ich Ecki trotz allem nicht als Mörder sehen wollte. Dass man manchmal mit einem Auge besser sah als mit zweien, würde ich mir gern einreden, allerdings wollte es mir nicht recht gelingen.

So steuerte ich erst mal den Biergarten des Stadtgartens an, setzte mich an einen der sonnenbeschienenen Tische und bestellte mir einen kleinen Salat. Von der Venloer drang Autolärm auf die Terrasse, in den Bäumen lärmte wieder eine Schar grüner Papageien, und an den Tischen um mich herum mailte, simste, twitterte und xingte das Szene-Völkchen des Belgischen Viertels.

Auch ich holte mein Handy aus der Tasche und wählte Brandts Nummer. Ich gestand ihm den Besuch in der Mombauer'schen Wohnung, erzählte ihm von meinem Gespräch mit Helen Maibach, deren Einschätzung von Pfeifer und Eilert und dass Ecki sich nicht wieder gemeldet hatte.

Brandt hörte wie immer aufmerksam zu, fragte hie und da nach und sagte zum Schluss: »Ich finde es völlig richtig, dass Sie versuchen, herauszufinden, ob die ›All-inclusive‹-Leute Sie aus Mülheim vertreiben wollen. Aber glauben Sie bloß nicht, dass Sie damit Matuschek aus der Schusslinie bringen.«

»Schon klar, das Thema hatten wir gestern schon«, stimmte ich ihm zu. »Und ich steh zu meinem Wort. Ich vertusche nichts, was Ecki belasten könnte. Aber kommt es Ihnen nicht auch merkwürdig vor, dass die Morde und diese Angriffe auf die ›Weiße Lilie‹ zeitlich so eng beisammenliegen?«

»Ich habe nie gesagt, dass wir das bei unseren Ermittlungen außer Acht lassen«, versicherte mir Brandt.

»Wissen Sie schon etwas Neues aus Spanien? Von Tommi Mombauer?«, wollte ich wissen.

»Nichts von Tommi Mombauer, aber von ›El Solare‹. Raten Sie mal, auf wen ein Grundstück mit diesem Namen im Grundbuch eingetragen ist?«

Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten. Ich fing mit der wahrscheinlicheren an. »Eike Eilert?«

»Knapp daneben. Thomas Pfeifer.«

Die Antwort überraschte mich genauso wenig. »Grundstück, sagen Sie? Und was ist mit der Hotelanlage?«

»Die ist, laut Auskunft des Grundbuchamtes, noch in der Planung.«

Ich pfiff durch die Zähne. Schaumschlägerei. Von wegen, das Hotel war Ende des Jahres fertig. Pfeifer hatte Minka das Blaue vom Himmel versprochen. War sie dahintergekommen, dass es sich bei diesem Projekt um heiße Luft handelte? Verdiente ein Restaurant-Scout so gut, oder war der Mann so solvent, dass er Geld für den Bau einer so großen Hotelanlage geliehen bekam? War er nur der Strohmann? Fragen, die Brandt mir nicht beantworten konnte, die er aber Thomas Pfeifer stellen wollte.

»Sowie wir ihn erreichen«, fügte er hinzu und erzählte, dass Pfeifer bisher auf Anrufe nicht reagierte und bei sich zu Hause nicht anzutreffen war.

»Der ist bestimmt am frühen Abend auf Eilerts Geburtstagsempfang im ›All-inclusive‹«, verriet ich Brandt, weil ich es nicht schlecht fand, ihn in der Nähe zu wissen, wenn ich, gemäß dem Plan von Helen Maibach, Eilert zur Rede stellen sollte. »Und Tommi Mombauer?«

»Nichts Neues. Der Ort, wo er geboren wurde, ist klein. Es gibt dort einen einzigen Standesbeamten, der Auskunft geben kann, und der ist bis morgen auf einer Fortbildung«, fasste Brandt die Informationen aus Spanien zusammen und wollte dann wissen, ob ich auf diesen Empfang gehen würde.

»Es ist eine gute Gelegenheit, Eilert das eine oder andere zu fragen.«

»Nützt wohl nichts, Ihnen zu sagen, dass Sie die Finger davon lassen sollen?«, fragte Brandt mit einer Mischung aus Sarkasmus und Resignation.

»Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«

»Das sagen alle, bis sie dann auf die Schnauze fallen. Sie können fünf Kreuze machen, dass die Schlange Sie gestern nicht gebissen hat. Das war mehr als leichtsinnig, so ein Risiko für nichts und wieder nichts einzugehen. Weil Sie den Pachtvertrag natürlich nicht gefunden haben. Der wäre der Spurensicherung nämlich nicht entgangen«, schmierte er mir aufs Butterbrot. »Sie sollten nicht so ungeduldig sein und mir ein bisschen mehr vertrauen, Frau Schweitzer. Ich finde heraus, wer Minka Nowak und Sabine Mombauer umgebracht hat.«

»Ja, ja«, murmelte ich, mehr oder weniger zustimmend.

»Wann machen Sie die ›Weiße Lilie‹ wieder auf?«

Ich nahm es ihm nicht übel, dass er mich schnell wieder am Herd der »Weißen Lilie« sehen wollte, weil mir dann viel weniger Zeit bliebe, eigene Nachforschungen zu betreiben. Niemand mochte es, wenn man sich in seine Arbeit einmischte, und ich hielt Brandt keineswegs für unfähig. Er war ein ernsthafter, aber leider ein bisschen langsamer Ermittler. Und mit der Langsamkeit hatte ich ein Problem. Da half es nichts, mir zu sagen, dass die Suche nach der Wahrheit oft eine Sisyphusarbeit war. Geduld war einfach nicht meine Stärke.

»Heute auf keinen Fall«, kam ich auf die »Weiße Lilie« zurück. »Eva hat allen Gästen abgesagt. Vielleicht morgen.«

»Jeder Tag, an dem eine so begnadete Köchin wie Sie nicht am Herd steht, ist für die Feinschmecker dieser Stadt ein verlorener Tag«, versuchte Brandt weiter mich zurück zur Arbeit zu schieben.

»Sie brauchen mir keinen Honig um den Bart zu schmieren«, bremste ich ihn aus. »Ich will doch nur wissen, was wirklich passiert ist. Und das so schnell wie möglich. Und es gibt einfach vieles, was ich nicht weiß! Was ist zum Beispiel mit Minkas Handy?«, fiel mir ein. »Der letzte Anruf vor ihrem Tod? So was ist doch immer wichtig bei einer Mordermittlung, nicht wahr?«

Für eine Weile blieb es still in der Leitung. Dann sagte Brandt: »Handys können tatsächlich sehr hilfreich bei einer Ermittlung sein. Das von Frau Nowak haben wir nicht gefunden. Weder in ihrer Handtasche noch auf dem Boot noch bei ihr zu Hause. Wir vermuten, dass der Mörder es entsorgt hat.«

»Dann muss er aber sehr kaltblütig vorgegangen sein, wenn er das Handy verschwinden ließ«, überlegte ich laut und dachte: Wenn Ecki eines nicht ist, dann kaltblütig.

»Kaltblütig? Davon dürfen Sie nicht ausgehen«, widersprach Brandt sofort. »Auch Affekttäter können große Meister im Vertuschen sein.«

»Aber ist es nicht völlig unlogisch, das Handy zu entsorgen, die Handtasche jedoch auf dem Boot liegen zu lassen?«, bohrte ich nach.

»Ein Mensch, der gerade zum Mörder geworden ist, funktioniert nur bedingt nach Kriterien wie ›logisch‹ oder ›unlogisch‹«, erklärte mir Brandt. »Er befindet sich in einer extremen Ausnahmesituation. Das heißt, er kann zum einen sehr clever handeln und zum anderen schwere Fehler machen. Und Letzteres ist der Grund, weshalb die meisten Kapitalverbrechen in den ersten achtundvierzig Stunden aufgeklärt werden.«

»Das hat ja jetzt bei unseren beiden Morden nicht geklappt«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.

»Schwierige Ausgangsbedingungen«, gab Brandt sofort zurück. »Frau Nowak hat einen Tag im Wasser gelegen, bevor sie gefunden wurde. Damit sind natürlich schon viele Spuren verwischt. Und Frau Mombauer? Einen besseren Zeitpunkt für einen inszenierten Selbstmord hätte der Täter nicht wählen können. Schützenfest: Menschenknäuel am Straßenrand, die Konzentration auf die vorbeidefilierenden Gruppen. Ich weiß nicht, wie viele Zuschauer und Zugteilnehmer die Kollegen befragt haben. Keiner hat jemanden aus Ihrer Haustür kommen sehen. Weil alle mit dem Umzug beschäftigt waren oder später mit neugierigen Blicken auf die Leiche. Trotzdem hofft man bei dieser mühseligen Kärrnerarbeit immer auf die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Nur in diesem Fall bis jetzt vergebens.«

Auch ich hatte an diesem Nachmittag nicht darauf geachtet, ob jemand das Haus der »Weißen Lilie« verlassen hatte. Aber natürlich musste es so gewesen sein, die Schlange war nicht allein ins Haus gekommen.

»Haben Sie eigentlich Spuren vom Täter in der Mombauer'schen Wohnung gefunden?«, wollte ich wissen.

»Die Spurensicherung findet immer was. Was von dem gefundenen Material zu wem gehört und was letztendlich eindeutig dem Täter zuzuordnen ist, bleibt ein aufwendiges, zeitintensives Puzzlespiel. Aber so ist nun mal unser Job. Auch wenn es Ihnen vielleicht nicht so vorkommt, wir verstehen was davon.«

»Ja, sicher«, stimmte ich zu.

»Versprechen Sie mir, morgen die ›Weiße Lilie‹ wieder aufzumachen?«, kam Brandt hartnäckig auf meine Arbeit zurück.

»Ich überlege es mir«, antwortete ich und legte auf. Dann machte ich mich auf den Weg ins »All-inclusive«.

 

Köche kennen sich. Irgendwie sind wir bis heute so etwas wie ein fahrendes Volk und wie eine große Familie miteinander verbunden. Während der Gesellenzeit wechseln wir Jahr für Jahr die Stelle, um in verschiedenste Töpfe zu gucken. Nie lang an einem Ort, gern die Länder, sogar die Kontinente wechselnd. Ein Leben aus Koffern, in gemieteten Zimmern und in immer neuen Küchen. Und in jeder neuen Küche lernt man weitere Kollegen kennen. So spinnt sich im Laufe der Jahre ein weitverzweigtes Netz an Kontakten.

Deshalb wunderte es mich nicht, dass Helen Maibach einen Koch kannte, der im »All-inclusive« arbeitete. André, so hieß der Kollege, hatte im Dom Hotel, in Antwerpen und Amsterdam in der Küche gestanden und war nicht besonders glücklich mit seinem Job im »All-inclusive«. Scheißarbeitsbedingungen, ein magerer Lohn und der Chef ein kaltschnäuziger Leuteschinder, hatte er Helen bei einer zufälligen Begegnung geklagt. Seither einte die zwei ihre Wut auf Eilert.

Regelmäßig steckte André Helen, was sich bei Eilert hinter den Kulissen tat. Deshalb wusste die schwarze Witwe, dass der heute seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag im »All-inclusive« feierte und das Restaurant für Publikumsverkehr geschlossen war. Wie es sich für einen erfolgreichen Geschäftsmann gehörte, hatte er Weggefährten, Parteifreunde, Geschäftspartner und Verwandte zu einem Empfang geladen. Eilert, so die Meinung von Helen, war ein eitler Gockel und sehr erpicht darauf, »im Kreise seiner Lieben« gut dazustehen. André sollte mich durch die Küche unter die Gästeschar schmuggeln. Das war ihr Plan.

»Eine bessere Gelegenheit, ihm eine Szene zu machen, gibt es nicht«, trichterte sie mir ein und bedauerte, mich nicht begleiten zu können. Sie war im »All-inclusive« mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund und würde nach ihrem letzten Auftritt von den Bodyguards oder wieder von Pfeifer vor die Tür gesetzt werden. »Lass den auf keinen Fall in deine Nähe kommen«, warnte sie mich. »Denk an die Spritze!«

Als mich André durch den Hintereingang in die Küche ließ, wünschte ich mir für den heutigen Tag seine Statur und sein Aussehen. Er war ein schmaler, eher kleiner Mann und mit einem Allerweltsgesicht ausgestattet, das man sofort wieder vergaß. Ich dagegen mit meiner walkürenhaften Größe und diesen feuerroten Locken konnte mich beim besten Willen nicht unsichtbar machen. Und das wäre ich am liebsten gewesen. Um das Terrain zu sondieren und um einschätzen zu können, wer von den Gästen Freund oder Feind war.

An die hundert Personen seien bestimmt da, informierte mich André. Im »La petite France« herrsche reges Gedränge. Eilert begrüße gerade die Gäste. Einen besseren Zeitpunkt, schnell aus der Küche nach draußen zu huschen und mich unters Volk zu mischen, gebe es nicht.

Ich zögerte noch, aber was sollte schon passieren? Schlimmstenfalls ließ Eilert mich von irgendwelchen Bodyguards vor die Tür setzen, bestenfalls erhielt ich Antworten auf drängende Fragen. Ich holte tief Luft, trat durch eine Schwingtür hinaus in die offene Küche, die ich von der anderen Seite kannte, weil ich bei meinem ersten Besuch hier den Fisch bestellt hatte.

Die Köche standen untätig herum, und von den Gästen beachtete mich keiner, weil mir alle den Rücken zukehrten. Ich versuchte vergebens, unter den Rücken Pfeifers breite Schultern mit dem Tattoo am Hals auszumachen. Auch Brandts hagere Gestalt entdeckte ich nirgends. Alle Blicke waren auf eine kleine, improvisierte Bühne am Eingang zum Treppenhaus gerichtet, auf der Eilert stand und immer noch redete. Ich nahm ein Glas Sekt vom Tablett eines Servierfräuleins und zwängte mich in eine Lücke der letzten Reihe der Zuhörer.

Die Zweiertische, an denen bei meinem ersten Besuch die Verliebten geschnäbelt hatten, waren, ebenso wie alle Stühle, weggeräumt, stattdessen hatte man überall mit üppigem weißem Stoff ummantelte Stehtische platziert. Nur ein Pfeiler in der linken Hälfte des Raumes, der als Pariser Litfaßsäule verkleidet war, bot die Möglichkeit, sich zu verbergen. Im Gegensatz zu Helen Maibach hatte ich keine Erfahrung mit provokanten öffentlichen Auftritten, vermutete aber, dass meine Chancen, etwas zu erfahren, am größten waren, wenn ich Eilert überraschte.

Der schloss seine Rede mit der Aufforderung, endlich das Buffet zu stürmen, das auf der linken Seite des Raumes aufgebaut war. Nach höflichem Beifall kam schnell Bewegung in die Zuhörer. Ich schlängelte mich, immer Eilert im Blick behaltend, gegen den Strom in Richtung Litfaßsäule. Eilert hatte die Bühne verlassen, schüttelte Hände, klopfte Schultern, nahm Geschenke entgegen, lachte und schäkerte. Ich hielt wieder nach Pfeifer Ausschau, entdeckte ihn aber weder in Eilerts Entourage noch sonst wo im Raum. Scheinbar interessiert betrachtete ich das Filmplakat von »Jules und Jim«, das an der Litfaßsäule klebte, und trank einen Schluck Sekt. Während ich hin und her überlegte, wann ich Eilert mit meinem Auftritt am besten aus der Fassung bringen konnte, zupfte mich jemand am Ärmel meiner Bluse.

»Frau Schweitzer, Sie hier zu sehen, das überrascht mich jetzt«, trällerte Betty Bause. »Eilert hat ja neulich so über Ihr Essen gelästert«, flüsterte sie verschwörerisch. »Mein Mann und ich haben natürlich aufs Heftigste widersprochen. Ich wusste gar nicht, dass Sie geschäftliche Beziehungen mit Eilert pflegen. Oder gar private?«

Sie plierte mich mit einer solchen Neugier an, dass mir schnell eine passende Antwort einfallen musste.

»Eher geschäftliche«, grummelte ich und hetzte meinen Blick über alle Leute in der Nähe. Er blieb an einem Mann hängen, der überrascht zu mir herüberwinkte. Der Brokkoli-Gärtner vom Mülheimer Schützenfest. Mit einem dezenten Fingerzeig in seine Richtung entschuldigte ich mich bei Frau Bause und ging zum ihm hinüber.

»Wenigstens ein vertrautes Gesicht«, begrüßte er mich erleichtert, »obwohl es mich überrascht, dass du hier bist.«

»Gleichfalls«, konterte ich und sah nach Eilert, dessen Rücken ich in der Schlange vor dem Buffet ausmachte. »Bist du wegen des Brokkolis da? Letzte Woche hatten sie ihn hier im Angebot. Du weißt schon, diese englische Sorte, die angeblich gegen Krebs hilft und deshalb als patentwürdig eingestuft wurde. Bist du deswegen hier? Undercover sozusagen?«

»Der kauft für seine Läden echt diesen aufgemotzten, scheißpatentierten Brokkoli?« Der Mann, dessen Namen mir auch heute partout nicht einfallen wollte, schüttelte ungläubig den Kopf.

»Der verkauft alles, was gefällt und in ist«, versicherte ich ihm. »Slow Food ist für den nicht mehr als ein Fremdwort. Aber wenn du nicht wegen des Brokkolis hier bist, weswegen dann?«

»Geschäftlich«, gestand er mit einer sichtbaren Spur von schlechtem Gewissen. »Meine Gärtnerei liefert den Blumenschmuck für alle ›All-inclusive‹-Filialen. Eilert ist ein guter Kunde. Da kann ich es mir nicht erlauben, so eine Einladung zu ignorieren. Obwohl ich weiß Gott Besseres zu tun hätte.«

»Auf die eine oder andere Art sind wir alle käuflich«, murmelte ich und ließ meinen Blick über die Gäste gleiten. Anzüge und Krawatten dominierten, und irgendwie glich die Gästeschar der auf dem Bause-Fest.

Ich wollte gar nicht wissen, was hier zwischen Sekt und Selters an windigen Geschäften ausgekungelt wurde. Nirgendwo gedieh der kölsche Klüngel prächtiger als auf solch halb öffentlichem, halb privatem Boden.

Der Brokkoli-Mann an meiner Seite klagte mir sein Leid mit der holländischen Konkurrenz. Die machte ihm das Überleben schwer, weil sie das Land mit Billigtulpen überschwemmte, aber ich hörte nicht richtig zu. Denn ich sah erschrocken, wie Eilert mit einem vollen Teller direkt auf mich zukam. In seinen Augen glitzerte ein bösartiges Funkeln. Ein Bär von einem Mann, dessen Gesicht ich irgendwo in der Kölner Politszene verortete, kreuzte seinen Weg und hielt ihn auf. Dies gab mir Zeit, mich hastig von dem Gärtner zu verabschieden und in Richtung Toiletten zu verschwinden.

Die Königin von Saba empfing mich heute ohne Gesang und mit einem sehr ungnädigen Blick in ihrem Reich.

»Ich gehöre nicht zu dieser Gesellschaft«, versicherte ich ihr. »Ich bin hier, weil ich herausfinden will, warum Minka sterben musste. Ich glaube, dass Eilert etwas damit zu tun hat. Aber der hat mich bemerkt, und jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll.«

Sie runzelte kryptisch die Stirn, erhob ihren schweren Körper von dem Stuhl am Eingang des Waschraums, rupfte ein Tuch aus den vielen Falten ihres bunten afrikanischen Kleides, stampfte zu den Damenklos, wischte in der ersten Kabine den Klodeckel sauber und bedeutete mir mit einer Geste einzutreten.

»Ist kein guter Mann«, murmelte sie, als ich mich an ihr vorbeiquetschte.

Als ich in den Waschraum zurückkehrte, deutete sie auf den Eingang des Männer-WCs und sagte: »Mit Angst du gewinnst keine Wette.«

Ich wusste nicht, was sie meinte, aber sie drängte mich mit einer majestätischen Kopfbewegung in Richtung Herrentoilette. Erst da wurde mir klar, dass dies hier ein gemeinsamer Waschraum war. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah Eilert und den Politikbären an den Pissoirs stehen.

»Mir gefällt das überhaupt nicht«, hörte ich den Bären sagen. »Du willst den Fraktionsvorsitz im Rat übernehmen, bist aber in einen Mordfall verwickelt. Die Handtasche des Mordopfers ist auf deinem Boot gefunden worden.«

»Ja und? Keiner weiß besser als du, wie großzügig ich mein Motorboot verleihe«, pflaumte Eilert zurück. »Du hast es mehr als einmal zu einem Schäferstündchen genutzt. Und jetzt hör auf, Gespenster an die Wand zu malen. Die Polizei verdächtigt diesen Matuschek, nicht mich.«

»Wie kannst du nur so blind sein?«, regte sich der Bär auf. »Wenn du den Fraktionsvorsitz wirklich willst, musst du eine weiße Weste haben. Die Presseleute werden sich wie die Geier auf dich stürzen, solange du in einem ungeklärten Mordfall drinhängst. Und jetzt mal ehrlich: Hattest du was mit der Kleinen? Oder hat die Polizei Anlass, sich deine Geschäfte näher anzusehen?«

Anstelle einer Antwort betätigte Eilert die Wasserspülung. Scheiße, dachte ich und huschte so leise wie möglich zurück ins Damen- WC.

»Ich werde deine Kandidatur blockieren, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst«, hörte ich den Bären beim Händewaschen drohen. »Du weißt genau, wie schlecht die Partei zurzeit dasteht. Negative Publicity ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können.«

Eilert antwortete wieder nicht. Die Wasserhähne wurden ausgestellt, zwei Münzen klimperten. Ich zählte noch bis zwanzig, dann kehrte ich zurück in den Waschraum, in dem die Königin von Saba wieder allein saß.

»Er ist wie ein Fisch. Er flutscht dir durch die Finger, wenn du ihn nicht aufspießt«, verkündete sie. »Na, los jetzt!«

Sie sah mich aus diesen dunklen, unergründlichen Augen auffordernd an, und ich spürte, dass ich an diesem Abend keine bessere Gelegenheit bekommen würde, Eilert festzunageln. Schnell verließ ich den Waschraum und hastete hinter den Männern her. Sie gingen langsam, der Bär redete immer noch auf Eilert ein, aber bis zum Eingang des Restaurants war es nicht mehr weit.

»Die Sache mit dem Boot interessiert mich auch«, rief ich den beiden hinterher. »Soll Ecki Matuschek in der Geschichte das Bauernopfer spielen?«

Die Männer drehten sich um. Der Bär wirkte gleichzeitig überrascht und interessiert. In Eilerts Augen blitzte Wut auf, machte aber schnell einer hart trainierten Beherrschung Platz.

»Was wollen Sie hier?«, fragte er mit eisiger Höflichkeit.

»Antworten«, sagte ich.

»Du entschuldigst mich für einen Moment.« Eilert nickte dem Bären zu, der diesem Ansinnen sichtlich ungern Folge leistete. »Wollen wir in mein Büro gehen?«, fragte er mich. »Es ist gleich hier.«

Er öffnete eine Tür links neben dem Eingang zum Restaurant und bat mich hinein. Ich überlegte, ob hinter dieser Tür eine Falle lauern könnte. Ob es nicht sicherer wäre, mit ihm im Restaurant vor aller Augen zu reden. Aller Augen hieß aber auch aller Ohren, überlegte ich weiter, und vor aller Ohren würde ein Typ wie Eilert nicht reden. Ich linste in den Raum hinein, in dem ein repräsentativer Schreibtisch stand und niemand zu sehen war.

»Na, wird's bald«, blaffte Eilert. »Mein Angebot gilt nicht unbegrenzt. Ich habe Gäste, meine Zeit ist kostbar.« Er wies mir den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch zu und hievte seinen drallen Körper auf den windschnittigen Bürostuhl dahinter. »Ich wusste gleich, dass dieser Unisex-Waschraum eine Scheißidee war. Ist ja wie eine Aufforderung zum Lauschen für neugierige Weiber«, schimpfte er leise, aber durchaus so laut, dass ich es hören musste. »Also, was wollen Sie?«, fragte er dann in gnädigem Tonfall, als würde er mir mit dieser Audienz einen großen Gefallen erweisen.

»Bevor ich anfange, will ich eines klarstellen.« Ich sprach ganz leise, und meine Stimme klang tatsächlich ein bisschen gefährlich, obwohl mir innerlich das Herz bis zum Halse pochte. »Ich kenne den Mann, mit dem Sie gerade gesprochen haben.«

Eilert schnaubte ärgerlich. Ich beugte mich zu ihm vor und sah ihm direkt in die Augen. Mit Angst gewinnt man keine Wette, hatte die Königin von Saba gesagt, und mit dem nächsten Satz pokerte ich wirklich hoch. »Wenn Sie meine Fragen nicht ehrlich beantworten, dann werde ich ihm stecken, dass Sie nicht nur Minka Nowak ermordet haben, sondern auch den Mord an Sabine Mombauer in Auftrag gegeben haben.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich! Ich habe niemanden ermordet. Minka Nowak war eine Angestellte und Sabine Mombauer eine Mieterin. Beides rein geschäftliche Beziehungen und sonst nichts!«, regte er sich auf.

Ich runzelte die Stirn und sah ihn zweifelnd an.

»Ich hatte nichts mit Minka und mit der Mombauer schon gar nichts«, wiederholte er ungeduldig, und in seinen Blick kehrte dieses bösartige Glitzern zurück. »Falls Sie versuchen, mich da reinzuziehen, hetze ich Ihnen meine Anwälte wegen Verleumdung auf den Hals!«, knurrte er wie ein Hund kurz vor dem Zubeißen.

»Das riskiere ich«, versicherte ich ihm. »Sie wissen so gut wie ich, wie schwer Gerüchte wieder aus der Welt zu schaffen sind. Wenn es wirklich nur Gerüchte sind! Ihren Fraktionsvorsitz können Sie dann sicher knicken.«

Eilert lachte trocken, schob sich mit dem Schreibtischstuhl nach hinten und wieder zurück. Sein Blick veränderte sich, wurde irgendwie undurchdringlich. Ich konnte ihn nicht deuten.

Erneut kontrollierte er die Uhrzeit, dann sagte er ganz ruhig: »Hören wir auf mit dem Säbelrasseln. Was wollen Sie wissen?«

Diese plötzliche Änderung der Gesprächsstrategie brachte mich aus der Fassung. Verhau es bloß nicht, ermahnte ich mich, denk dran, dass du Fakten brauchst! Ich beschloss, mit einer einfachen Frage zu beginnen.

»Hat Ecki Matuschek Ihr Boot wirklich ausgeliehen?«

»Sicher! Meinen Sie, ich lüge die Polizei an? Außerdem gibt es dafür Zeugen.«

»Und Ecki hat Ihnen den Schlüssel für das Boot auch wieder zurückgebracht?«

»Der Schlüssel lag am nächsten Tag wieder auf meinem Schreibtisch. Er hat ihn mir nicht persönlich in die Hand gedrückt, wenn Sie das meinen.«

Genau das meinte ich. Ecki konnte den Schlüssel zurückgebracht, Minkas Mörder ihn danach genommen haben. Ich ermahnte mich, nicht so kurzsichtig auf Eckis Unschuld zu setzen. Dass er Eilert den Schlüssel nicht persönlich zurückgegeben hatte, bewies gar nichts.

»Könnte in der Zwischenzeit noch ein anderer Ihr Boot benutzt haben?«

»Nicht dass ich wüsste. Nächste Frage«, drängelte Eilert mit einem erneuten Blick auf die Uhr.

»Heißt das, dass es möglich gewesen wäre?«, hakte ich nach.

»Theoretisch ja«, bestätigte Eilert ungeduldig. »Wenn ich im Hause bin, sperre ich das Büro nie ab. Aber ich halte das für sehr, sehr unwahrscheinlich, dass sich jemand heimlich meinen Bootsschlüssel nimmt. So habe ich es auch dem ermittelnden Kommissar erzählt. Was wollen Sie noch wissen?«

Wie und womit weitermachen? Alle Fragen zu seinem Boot hatte Eilert so beantwortet, als wüsste er genau, dass ich ihm in dieser Sache nicht an den Karren pissen konnte. Also ein anderes Thema anschneiden!

»Wie sieht Ihre Beteiligung bei der spanischen Hotelanlage ›El Solare‹ aus?«

»Es gibt keine Beteiligung«, beschied er mich gelangweilt. »Kein seriöser Geschäftsmann würde heutzutage in spanische Immobilien investieren. Und ich konzentriere mein Geld auf Deutschland und die ›All-inclusive‹-Kette. Das habe ich diesem Kommissar Brandt schon gesagt.«

»Wissen Sie, dass Thomas Pfeifer das Grundstück gehört, auf dem die Hotelanlage gebaut werden soll?«

»Pfeifer?«, wiederholte er, und zum ersten Mal in diesem Gespräch hatte ich den Eindruck, dass er überrascht war. »Warum fragen Sie dann Pfeifer nicht danach?«

»Hat Minka Nowak in Ihrem Auftrag in der ›Weißen Lilie‹ spioniert?«, fragte ich zurück.

»Spioniert?« Eilert sah mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. »Verwechseln Sie da nicht was? Wir sind hier im ›hillige‹ Köln und nicht in einem James-Bond-Film.«

Aber so einfach ließ ich mich in diesem Punkt nicht ausbooten. »Ist Ihnen ›mieser Trick‹ als Begriff lieber als Spionage? Denn mit miesen Tricks arbeiten Sie gerne, um unliebsame Pächter loszuwerden. Damit haben Sie doch Frau Maibach und Frau Saalfeld aus ihren Lokalen vertrieben. Warum sollten Sie das nicht auch bei mir so machen?«

»Was heißt hier ›miese Tricks‹?«, regte er sich auf. »Die Maibach! Fünfzigtausend Euro kassieren und dann so tun, als hätte ich sie betrogen.«

Wieder kehrte das bösartige Glitzern in seine Augen zurück. Es fiel mir schwer zu beurteilen, ob er sich tatsächlich oder nur künstlich aufregte.

»Sie hat nie Geld von Ihnen bekommen.«

»Und ob!«, widersprach er heftig.

»Dann muss es darüber Belege geben.«

Eilert verdrehte die Augen, drehte sich mit dem Stuhl einmal im Kreis und sah mich an, als wäre ich ein naives Landei, das von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte.

»Sie haben Sie schwarz bezahlt?«, fragte ich.

»Jetzt tun Sie nicht so, als ob Sie nicht wüssten, dass es Gelder gibt, die unter der Hand an den Büchern vorbeifließen.«

Eilert tat so, als wäre dies ein ganz normales Geschäftsgebaren. Aber ich wusste, dass ich ihn jetzt an der Angel hatte.

»Und Sie haben ihr das Geld persönlich übergeben und quittieren lassen?«, hakte ich nach.

»Pfeifer hat das erledigt. Der sucht die Objekte aus und kümmert sich um die Abwicklung.«

»Einen Moment«, bat ich und rief Helen an. Sie wiederholte, dass sie keinen Cent erhalten hatte. Weder von Eilert noch von Pfeifer.

»Ich habe eine Quittung darüber«, warf Eilert ein.

Sie habe nie etwas unterschrieben, weil sie auch nichts erhalten habe, gab Helen zurück. Sie wolle diesen Beleg sehen und prüfen lassen, da die Unterschrift gefälscht sein müsse. Ein grafologisches Gutachten könne da bestimmt Klarheit schaffen. Ich gab alles, was sie sagte, an Eilert weiter und sah ihn dann fragend an.

»Meinen Sie, ich hänge mich aus dem Fenster und gesteh Ihnen den Schwarzgeld-Deal, wenn ich kriminelle Geschäfte machen würde?«, bellte er böse.

Jetzt war ich mir sicher, dass er sich tatsächlich aufregte.

»Ich kann mir als Geschäftsmann solche Sachen nicht leisten. Sie sehen selbst, in was für eine Bredouille mich die Morde bringen, mit denen ich nichts zu tun habe. Ich suche geeignete Objekte für meine Restaurantkette mit legalen Mitteln. Wenn Helen Maibach nicht freiwillig gegangen wäre, hätten wir uns eine andere Immobilie in der Gegend gesucht. Wo ist das Problem?«

»Wenn Sie die Wahrheit sagen, dann hat Ihr Problem einen Namen«, gab ich zurück.

»Wenn Pfeifer irgendwelche kriminellen Methoden angewandt hat, fliegt er raus. Das kläre ich, darauf haben Sie mein Wort.«

Mit diesem vagen Versprechen würde ich mich nicht wegschicken lassen. »Rufen Sie ihn an«, sagte ich. »Bestellen Sie ihn her.«

Eilert stöhnte verärgert und sah wieder auf die Uhr. »Mein Geburtstag. Ich muss mich da draußen blicken lassen.«

»Glauben Sie mir, die Gäste amüsieren sich auch ohne Sie.«

Unwillig griff er zum Telefon. »Stellen Sie auf laut«, drängte ich ihn. Es meldete sich die Mailbox von Thomas Pfeifer.

»Hör zu, Pfeifer, ich will dich so schnell wie möglich hier sehen. Ruf umgehend zurück!«, befahl Eilert im Kasernenton, legte den Hörer auf und sah mich an. »Geben Sie mir Ihre Handynummer«, sagte er dann. »Ich klingele durch, sowie Pfeifer sich bei mir gemeldet hat.«

Ich zögerte, weil ich nicht wusste, ob er mich nicht linken würde.

»Keine Sorge, Frau Schweitzer! Mein Interesse daran, den Verbleib der fünfzigtausend Euro zu klären, ist mindestens so groß wie Ihres.« Eilert schob mir einen Zettel hin.

»Pfeifer hat Sie beschissen«, stellte ich fest, schrieb ihm meine Handynummer auf und reichte ihm den Zettel.

»Sieht so aus«, stimmte er mir zu und tippte die Nummer ein. »Aber das ist kein Motiv für den Mord an Minka. Damit können Sie Matuschek nicht aus dem Dreck ziehen.«

Sein Grinsen war gemein, das Funkeln in seinen Augen noch eine Spur bösartiger. Der Giftzwerg hatte ein Gespür für die wunden Punkte anderer Leute. Und was Ecki betraf, hatte er leider recht. Die Tatsache, dass Pfeifer Eilert betrogen hatte, entlastete ihn nicht. Aber was, wenn Minka von diesem Betrug gewusst, wenn sie Pfeifer damit erpresst hatte? Dann hätte Pfeifer ein Motiv. Ob Brandt sein Alibi überprüft hatte?

Eilert machte sich nicht die Mühe zu verbergen, wie froh er war, mich los zu sein, als er mich wie eine lästige Verwandte aus seinem Büro schob. Er schloss die Tür zu und eilte ohne ein weiteres Wort zurück ins Restaurant.

Ich folgte ihm zögerlich. Ich musste mit Brandt sprechen. Es wunderte mich, dass er nicht auf den Empfang gekommen war, es wunderte mich auch, dass Pfeifer nicht hier war. Ich ging zurück ins Restaurant und suchte noch einmal nach den beiden. Vergeblich.

Als ich Brandts Nummer wählen wollte, klingelte mein Handy. Ich nahm das Gespräch an und hörte Ecki »Servus, Kathi« flüstern. Mein Adrenalin schoss in die Höhe, ich beeilte mich, zurück in den ruhigen Flur zu kommen.

»Kathi, das Kettl, ich hab's g'funden«, platzte Ecki aufgeregt, aber immer noch flüsternd heraus.

In mir kochte das Gefühlschaos der letzten Tage hoch. Schmerz und Wut schwammen ganz oben auf, aber ich drückte sie mit eiserner Vernunft zurück. Es galt, Dinge zu klären. Ich musste Ecki dazu bringen, endlich aufzutauchen.

»Bevor du weiterredest, wo steckst du?«, fragte ich, so ruhig es ging.

»Ich bin in der Wohnung vom Tomasz. Kennst ihn nicht, ist ein Freund von der Minka g'wesn«, berichtete Ecki heute bereitwillig. »Moment einmal, Kathi. Na, was soll das werden?«

»Ecki?«, rief ich, weil ich nicht verstand, ob der Satz mir oder jemand anderem galt, aber ich erhielt keine Antwort.

Hektisch drückte ich die Off-Taste und wählte die Nummer. Erst ein Besetztzeichen, dann die Nachricht, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar war. Na prima! Er spielte mal wieder das alte Versteckspiel! Ich schickte drei vergebliche Anrufversuche hinterher, dann rief ich Brandt an. Auch bei ihm meldete sich heute nur die Mailbox. Ich bat um Rückruf.

Der eine oder andere Gast drängte an mir vorbei in Richtung Toilette, und ich überlegte, was ich jetzt machen sollte. Es ärgerte mich, dass ich nicht wusste, wo Pfeifer wohnte. Ich stieg die Treppen hinunter ins Foyer und bat die Zeremonienmeisterin um ein Telefonbuch. Darin stand nur ein Thomas Pfeifer, und der war Augenoptiker in Deutz. Ich stieg wieder nach oben, suchte im Restaurant nach Eilert und wollte von ihm die Adresse wissen.

»Was soll das denn jetzt?«, giftete er leise. »Es war abgemacht, dass ich Sie anrufe, wenn Pfeifer sich bei mir meldet. Das wird er, schließlich will er weiter mit mir Geschäfte machen. Also, wo ist Ihr Problem? Ich werde einen Teufel tun und Ihnen seine Adresse geben, damit Sie da alleine so eine Hysterische-Weiber-Nummer abziehen.«

»Aber Sie haben die Weisheit mit Löffeln gefressen und wissen genau, was richtig ist«, blaffte ich zurück.

»Nennen Sie mir einen vernünftigen Grund, weshalb Sie jetzt auf der Stelle in die Pfeifer'sche Wohnung müssen!«

Natürlich wollte ich ihm nicht sagen, dass ich Ecki dort vermutete. Je mehr ich über dessen kurzen Anruf nachdachte, desto deutlicher wurde mir, dass dieser Anruf anders war als die früheren. Eckis Stimme hatte nüchtern und erleichtert geklungen, er hatte sofort gesagt, wo er war. Und ich hatte nicht geschimpft und geschäumt, ihm keinen Anlass zum Auflegen gegeben. Und dann dieser überraschte Satz am Ende des Gesprächs. Wem hatte er gegolten? Hatte Ecki diesmal gar nicht freiwillig aufgelegt?

Eine merkwürdige Unruhe ergriff mich, wieder wählte ich Brandts Nummer. Wieder meldete sich nur die Mailbox. Noch einmal suchte ich nach ihm und Pfeifer unter Eilerts Gästen und entdeckte weder den einen noch den anderen. Sollte ich im Präsidium eine Nachricht für ihn hinterlassen?

Ratlos und wie ein Fremdkörper stand ich zwischen den tratschenden und lachenden Gästen. Eine Combo nahm auf der Bühne Platz und stimmte Willi Ostermanns »Ich möch zo Foß noh Kölle jonn« an, die sentimentale Kölner Nationalhymne. Schon näherten sich die ersten Grüppchen der Bühne, schon summte das Publikum mit, bald würde man sich zum Schunkeln unter die Arme greifen.

Ich kam mir so fehl am Platz vor. Ich wollte hier raus und drängelte mich an der Bühne vorbei zum Ausgang. Dabei stieß ich mit einem Biertrinker zusammen, der mir sein Kölsch über die Hose schüttete. Der Mann entschuldigte sich und machte sich auf, um Servietten zum Trocknen zu holen, aber ich wollte nur an ihm vorbei und war froh, als ich endlich im Flur und wenig später im Waschraum vor der Königin von Saba stand.

Sie sah sich meine Hose an und fragte: »So schlimm?«

»Nein, nein«, sagte ich. »Das war ein Unfall. Ein bisschen klüger bin ich schon nach dem Gespräch mit Eilert.«

Sie rupfte ein paar Blatt Papier von einer Haushaltsrolle ab und reichte sie mir. »Du hast ihn aufgespießt?«

»Das eher nicht«, gestand ich und tupfte meine Hose trocken. »Er sagt, dass Pfeifer die miesen Geschäfte gemacht hat und er nichts davon weiß.«

Die Königin von Saba wiegte den Kopf hin und her und lächelte rätselhaft.

»So wie er das sagt, klingt es ziemlich glaubhaft«, ergänzte ich.

Eine Frau in einem roten Kostüm kam herein, die Königin erhob sich und wies ihr eine der Toiletten zu. Dann wischte sie mit ihrem Lappen einmal über die Waschbecken und setzte sich wieder breitbeinig auf ihren Stuhl.

»Pfeifer. Er hat Minka …?« Sie fuhr mit dem Finger über ihren Hals.

»Vielleicht«, sagte ich vorsichtig. »Eilert hat ihn angerufen, er will ihn zur Rede stellen. Aber ich weiß nicht, ob ich ihm trauen kann. Er will mir Pfeifers Adresse nicht verraten.«

Wieder wiegte sie den Kopf hin und her. Die Frau in dem roten Kostüm kam zurück, wusch sich die Hände, schminkte sich die Lippen und ging, ohne ein Trinkgeld zu hinterlassen. Die Miene der Königin war undurchschaubar. Ich fragte mich, wie viele Leute hierherkamen und gingen, ohne diese Frau auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich sah sie erwartungsvoll an. Sie aber legte ihre Hände auf die Schenkel und schwieg. Ich hatte nicht die leiseste Vorstellung, wo sie mit ihren Gedanken war.

»Vielen Dank«, sagte ich, stopfte die feuchten Tücher in den Mülleimer und legte einen Zehn-Euro-Schein in den fast leeren Geldteller. Die Miene der Königin blieb undurchsichtig. Ich verabschiedete mich.

»Pfeifer wohnt da, wo ich wohne, nur höher«, sagte sie, als ich bereits an der Tür war. »Ich dritte, er dreizehnte Etage. Dreizehn ist keine gute Zahl, Pfeifer ist kein guter Mann.«

»Und wo ist das?« Aufgeregt ging ich zu ihr zurück.

»Ist nicht weit. Kannst du zu Fuß gehen. Herkules-Hochhaus.« Dann entließ sie mich mit einer majestätischen Geste. Die Audienz war zu Ende.

Ich stolperte das Treppenhaus hinunter an der Zeremonienmeisterin vorbei hinaus auf die Straße und lief in Richtung Brüsseler Platz. »Happy-Hour-Time zwischen sechzehn und neunzehn Uhr. Alle Cocktails zum halben Preis«, las ich im Fenster einer der vielen Kneipen. Hinter mir klingelte ein Radfahrer Sturm, damit ich ihn passieren ließ. Erst da merkte ich, dass ich mitten auf der Straße ging. Ich wechselte auf den Bürgersteig.

Es war nicht weit bis zum Brüsseler Platz. Schon sah ich den Taxistand und die gut besetzten Außentische der Cafés und Restaurants rund um den Platz. Ein Blick auf die Uhr. Happy-Hour-Time. Nicht für mich. Ich stieg in ein wartendes Taxi und ließ mich zum Herkules-Hochhaus fahren.

An der Kreuzung zur Inneren stieg ich aus. Die paar Meter bis zu dem hässlichen mit roten, lila und blauen Platten verkleideten Hochhaus ging ich zu Fuß. Die Bausünde aus den späten sechziger Jahren ragte als trutziges Eingangstor von Ehrenfeld in den blauen Himmel. Die Antennen auf dem Flachdach in luftiger Höhe sahen aus wie verkohlte Baumruinen. Der Fernsehturm auf der gegenüberliegenden Seite der Inneren Kanalstraße wirkte daneben wie ein Pilz mit einem dürren, unendlich in die Länge geschossenen Stängel.

Im Eingangsbereich des Herkules-Hochhauses verwitterte eine Schenke mit längst vergilbten Gardinen. Die Klingelwand bot ein Durcheinander aus vielen, teilweise mehrfach überklebten Schildern. Irgendwo unter Namen aus aller Herren Länder fand ich irgendwann »T. Pfeifer«. Ich drückte auf den Klingelknopf, aber niemand öffnete. Ich rutschte an einem Studentenpärchen, das heftig miteinander debattierend aus dem Haus trat, vorbei ins Innere, nahm einen Fahrstuhl und drückte auf den dreizehnten Stock. Mit schwerem Gerumpel und dem Geruch gleichgültiger Anonymität in der Nase fuhr ich nach oben.

Ein nüchterner Flur in kaltem Neonlicht empfing mich. Ich strich an abweisenden Türen entlang. Viele ohne Namensschilder, aber an Pfeifers Tür klebte zum Glück eines. Ich drückte die Klingel. Niemand öffnete. Ich hielt das Ohr an die Tür und hörte Musik. Zumindest ein Radio lief in der Wohnung. Ich klingelte wieder. Nichts geschah.

»Ecki?«, rief ich leise. »Bist du da drinnen?«

Jetzt hörte ich ein Schleifen, als ob etwas Schweres über den Boden gezogen würde. In der Wohnung war jemand. Ich polterte gegen die Tür.

»Ecki«, rief ich lauter. »So sag doch was!« Wieder Stille. »Pfeifer? Sind Sie da?«, rief ich dann. »So machen Sie doch endlich die Tür auf!«

Ich trommelte mit beiden Fäusten dagegen. Ein asiatisch aussehender Mann huschte verschreckt an mir vorbei und schlüpfte schnell in den noch wartenden Aufzug. Mit neugierigen Nachbarn war hier wahrscheinlich nicht zu rechnen, aber einen Versuch, solche zu mobilisieren, war es wert.

»Aufmachen!«, brüllte ich wieder und trommelte so kräftig gegen die Tür, dass es bestimmt auch noch zwei Stockwerke tiefer zu hören war.

Als plötzlich die Tür aufgerissen wurde, stolperte ich fast in die Wohnung. Pfeifer mit einer schweren Reisetasche in der Hand packte mit der anderen meinen Arm, zog mich weiter nach drinnen, drängte sich an mir vorbei, schlug die Tür von außen zu und steckte, schneller als ich denken konnte, den Schlüssel ins Schloss und sperrte ab.

Ich starrte eine Weile die Tür an, dann stieg mir ein strenger Stallgeruch in die Nase, wie er in Wohnungen mit Haustieren herrschte. Ich drehte ich mich um und sah Ecki im offenen Wohnzimmer auf einem Glastisch stehen.

»Was machst du auf dem Tisch?«, fragte ich blöd.

»Komm her, Kathi«, gurrte er endlich sanft, aber mit irrem Blick. »Ganz langsam, sonst verschreckst die Viecherl.«

Jetzt erst blickte ich nach unten auf den Boden, und mein Puls schoss sofort von null auf hundert. Mir wurde schwindelig, und das Herz bummerte und raste, als wollte es aus dem Körper springen. Auf dem Boden lagen Schlangen! Nicht eine, nicht zwei, Dutzende! Zusammengeringelt, durcheinanderliegend, große und kleine, grüne, braune, weiße. Vipern, Nattern, Mambas, Ottern, Kobras!

Ich schloss die Augen und stellte mir ein Küchenbrett und drei Tomaten vor. Aber ich konnte die Tomaten nicht sehen, stattdessen sah ich Hunderte, Tausende der ekligen Viecher. Welche, die mir über die Füße krochen, andere, die mir ins Ohr züngelten, eine, die sich mir um den Hals legte, eine, die mir ihre Giftzähne in die Wade bohrte.

»Geh, Kathi, komm her«, gurrte Ecki weiter. »Auf dem Tisch bist sicherer und hast alle im Blick.«

Wenn ich hier lebend rauskomme, prügele ich Ecki windelweich, schwor ich mir immer noch mit geschlossenen Augen. Dass ich seinetwegen in meinem schlimmsten persönlichen Alptraum gelandet war, machte mich rasend. Auf der langen Liste der Dinge, die ich ihm übel nahm, setzte ich dieses Schlangeninferno ganz oben an.

»Darfst nicht ausrasten, musst ganz ruhig bleib'n«, beschwor mich Ecki weiter in sanftestem Wiener Singsang.

Ich hielt mir den Kopf fest und versuchte, mit kontrolliertem Ein- und Ausatmen das Herz zu beruhigen. Als es wieder ein bisschen langsamer schlug, öffnete ich die Augen. Ich zwang mich, mir den Raum genauer anzusehen. Der Flur ging direkt in ein großes Wohnzimmer über, in dessen Mitte der Glastisch, auf dem Ecki stand, dahinter ein Sofa. Rechts davon zwei große Terrarien mit Sand und kahlen Ästen gefüllt und ansonsten leer. Davor auf einem sonnenbeschienenen Laminatboden lagen die meisten Schlangen. Ein paar entdeckte ich auch neben dem Sofa. Ich versuchte, sie zu zählen, und kam auf dreizehn. Verfluchte dreizehn! Ich hätte die Warnung der Königin von Saba ernst nehmen sollen.

Links im Raum unter einer breiten Fensterfront, hinter der der Pilzkopf des Fernsehturms im frühen Abendlicht leuchtete, ein weiteres, noch größeres Terrarium, in dem ein absolutes Riesenvieh schlief, bestimmt eine Boa constrictor. Keine Balkontür, also keine Fluchtmöglichkeit nach draußen. Dreizehnter Stock und die Wohnungstür von außen zugesperrt. Ich drehte den Kopf vorsichtig nach rechts, wo hinter einer offenen Tür eine kleine Küchenzeile zu sehen war.

»In der Küche und im Bad hat's die kleinen Giftschlangen«, drang Eckis Stimme an mein Ohr. »Ich weiß nicht, ob er die auch rausg'lassen hat. Komm ganz langsam zu mir, bevor sich eins von den Viecherln g'stört fühlt.«

Kleine Giftschlangen! Monokelkobras und weiß der Henker was noch alles! Ich wollte schreien. So laut und so lange, bis einer kam und mich hier wegbrachte. Aber ich durfte nicht schreien, und ich konnte nicht gehen. Ich fühlte mich wie in einer Horrorversion des alten Kinderspiels, in dem man nach dem »Stopp« des Spielführers zur Bewegungslosigkeit verdammt war.

»Kathi, es sind nur drei Meter! Wenn'd nur ganz leise auftrittst, regt sich keins von den Schlangerln auf«, redete Ecki weiter mit leiser Stimme auf mich ein. »Schau gar nicht hin. Schau nur mich an. Ich hab s' alle im Blick!«

Und dann versuchte ich es, Schritt für Schritt. Ich schaute immer nur Ecki an, der ermutigend nickte und mir die Arme entgegenstreckte, um mir auf den Tisch zu helfen. Ich zitterte wie Espenlaub, und mein Herz war völlig außer Kontrolle, als ich auf dem Glastisch stand. Ecki hielt mich fest und pustete mir heiße Luft in die Haare, wie Mütter es tun, um ihre Kinder zu beruhigen.

»Wir müss'n Hilfe holen«, sagte Ecki dann. »Hast dein Handy mit? Meins liegt in einem Schließfach des Hauptbahnhofs. Damit die Kieberer mich nicht finden, verstehst?«

Handy, Hilfeholen, natürlich! Wieso war ich noch nicht auf die Idee gekommen? Ich brauchte nur einen Blick auf den Boden zu werfen und kannte den Grund.

»Nicht hingucken, Kathi, gar nicht hingucken«, ermahnte mich Ecki.

»Lass mich mal los«, sagte ich, weil Ecki immer noch den Arm um mich geschlungen hielt.

Er löste seinen Griff, aber auch so blieb der Platz zwischen uns auf dem Tisch sehr begrenzt. Ich quetschte also meinen Arm eng an den Körper und fingerte in der Hosentasche nach dem Handy. Als ich es endlich in der Hand hielt, hörte ich hinter mir ein grausliches Zischen. Vor Schreck rutschte mir das Telefon aus den Fingern, prallte mit einer Ecke auf die Glasplatte des Tisches, flog zur Seite und landete direkt vor einer korallenroten Schlange, die nach einem blitzschnellen Ruck wie ein Pfeil unter dem Tisch hindurchschoss. Auch in die anderen Schlangen kam Bewegung. Eine giftgrüne richtete sich auf und schlängelte mit gefährlichem Züngeln direkt auf den Tisch zu. Jetzt ist es vorbei, dachte ich.

Ich schloss die Augen, weil ich nicht sehen wollte, wie die Viper oder was es sonst war, meinen nackten Knöchel erwischte, und drückte meinen Kopf an Eckis Schultern.

»Verdammte Bagage«, murmelte Ecki irgendwann, und da merkte ich, dass ich nicht gebissen worden war. Ich riskierte einen vorsichtigen Blick auf den Boden und sah, dass die Glasplatte einen Riss bekommen und sich die Giftgrüne direkt daruntergelegt hatte. Keinen Meter weiter ringelte sich eine Braungesprenkelte neben dem Handy.

»Wenn ich nur wüsst, ob's welche von den Giftigen sind oder nicht«, fragte sich Ecki grübelnd und fuhr mit der Hand über meinen Kopf. Der lehnte immer noch an seinen Schultern, und neben dem vertrauten Duft von Heu roch ich das scharfe Aroma der Angst, das nicht nur mein, sondern auch sein Körper ausdünstete. Ich bewegte ganz vorsichtig meine Füße und hörte das Glas knirschen. Der Riss vergrößerte sich.

»Schau mich an, Kathi! Nicht den Boden«, befahl mir Ecki.

Langsam löste ich den Kopf von seinen Schultern und den Blick vom Boden und sah über die Boa constrictor hinweg hinaus auf den Fernsehturm, in dessen Fenstern sich das Abendlicht brach.

»Wenn ich den Dreckskerl von Pfeifer in die Finger krieg! Der wird nichts zum Lachen haben«, schwor mir Ecki. »Ich hab's nicht glauben woll'n, als ich das Kettl von der Minka zufällig am Boden hinter der Heizung g'sehn hab, da vorne, unter dem großen Glaskastl!«, redete Ecki weiter. »Hab nicht glaub'n woll'n, dass der Tomasz was damit zu tun hat. Erpressen hat s' ihn wollen, hat er gesagt. Umbracht hat er s'. Hier in der Wohnung. Und dabei hat die Minka das Kettl verloren.«

Pfeifer habe ihm Unterschlupf gewährt, als er nach der Nachricht von Minkas Ermordung völlig durch den Wind gewesen sei, erzählte Ecki weiter. Wie ein echter Freund habe er sich benommen, sogar den Schlüssel für Eilerts Boot, den er noch in der Tasche gehabt hatte, habe Pfeifer für ihn zurückgebracht. Pfeifer habe ihn immer darin bestärkt, bloß nicht zur Polizei zu gehen, obwohl er, Ecki, dies immer mehr habe tun wollen, weil er das mit dem Verstecken nicht mehr aushielt. Und als er dann die Kette gefunden habe, seien ihm all diese »Freundschaftsdienste« in einem anderen Licht erschienen.

Natürlich erzählte mir Ecki das, um sich zu erklären, aber er tat es auch, um mich, um uns beide von der brüchigen Glasplatte und den Schlangen abzulenken.

»Ich hab's ihm auf den Kopf zugesagt«, erzählte Ecki weiter. »Hab immer noch denkt, dass ich mich irren muss! Aber da hat er das mit der Erpressung g'sagt und die Schlangen rausg'holt. Dass man sich so in einem Menschen täuschen kann!«

»Oh ja, das kann man.« Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung und merkte, wie die Wut wieder hochkochte. »Was bist du für ein feiger Hund. Minka, ausgerechnet Minka! Und dann lässt du mich mit dem ganzen Schlamassel allein«, pfiff ich ihn an.

»Musst leiser schimpfen, Kathi, sonst werden die Viecherl rebellisch«, flüsterte Ecki.

»Du kannst echt froh sein, dass ich mich wegen der Scheißschlangen zurückhalten muss«, kläffte ich leiser zurück. »Schau mich an!«, befahl ich ihm.

Ecki gehorchte. Ich starrte in diese blauen Augen, die mich so oft sentimental gemacht hatten.

»Wehe, du lügst mich jetzt an«, drohte ich. »Hast du Minka wirklich nicht umgebracht?«

»Traust mir das wirklich zu?« Eckis Stimme klang brüchig, und in seinem Blick schimmerte pure Verzweiflung.

»Dass du das Wort ›Vertrauen‹ tatsächlich noch in den Mund nimmst!« Wieder hätte ich am liebsten gebrüllt und getobt und ihm meine Enttäuschung wie Gift entgegengespuckt, aber dann dachte ich an das Gift der Grünen, die unter uns scheinbar schläfrig darauf lauerte, dass sie uns endlich angreifen konnte.

»Warum hätt ich s' umbringen soll'n? Ich hab doch mit ihr Schluss g'macht an dem Tag nach dem Fest vom Bause«, zimmerte Ecki weiter Erklärungen. »Reing'rutscht bin ich in die G'schicht. War halt ein verliebter Trottel –«

»Ecki«, unterbrach ich ihn wütend. »Untersteh dich, das Ganze zu einer Bettgeschichte herunterzuspielen. Du wolltest mit ihr nach Spanien. Ins ›El Solare‹. Schon vergessen?«

»Nie und nimmer wollt ich mit Minka nach Spanien. Wie kommst auf die depperte Idee?«

»Das Prospekt in deinem Aluminiumkoffer. Darauf hast du die Größe einer Küchenbrigade durchgespielt. Das hast du auch gemacht, damals, als wir zusammen das Beisel in Wien pachten wollten.«

»Tomasz hat mich g'fragt, ob ich ihm mal aufschreib, wie groß eine Brigade bei fünfzig bis hundert Gästen pro Abend sein muss. Welche Posten unbedingt, welche fakultativ, kennst das doch. Spielereien am späten Abend, nichts weiter. Weiß gar nimmer, warum ich das Papier aufg'hoben hab.«

»Spielereien, bei dir sind alles immer nur Spielereien, Ecki.«

»'s Leben kannst nicht aushalten, wenn du's zu ernst nimmst.«

Nicht mal die furchtbare Tatsache, dass wir hier eng beieinanderstehend auf einem brüchigen Tisch über einer Schlange ausharren mussten, hinderte uns daran, miteinander zu streiten. Wir funkelten uns kampflustig an, schreckten aber beide zusammen, als plötzlich mein Handy klingelte. Sofort raschelten, zischten und züngelten die Schlangen über den Boden. Kommt bloß nicht näher, flehte ich stumm, klammerte meine Hände um Eckis Oberarme und schloss wieder die Augen.

»Ganz ruhig, Kathi«, flüsterte er mir ins Ohr. »Ganz ruhig. Sie kommen nicht hoch auf den Tisch.«

Aber wie lange konnten wir hier oben bewegungslos ausharren? Wie lange würde uns die gesprungene Glasplatte noch tragen? Wann knickten uns die Beine weg, weil wir nicht mehr stehen konnten? In zwei Stunden? In drei? Was, wenn es dunkel wurde und wir die Schlangen nicht mehr sehen konnten? Waren Schlangen nicht nachtaktive Tiere? Was würden sie dann mit uns anstellen?

»Ich muss das Handy holen«, entschied Ecki.

Er löste meine Hände von seinen Oberarmen und atmete tief durch. Dann trat er mit einem Fuß kräftig auf das Glas, und die Giftgrüne schoss darunter hervor und verschwand unter dem Sofa. Der Riss durchzog jetzt drei Viertel der Platte. Ich linste vorsichtig zu der Stelle hinüber, wo sich das Handy befand. Die braune Schlange hatte sich auf einem anderen Platz zusammengerollt. Das Handy lag nun frei im Raum, die nächste Schlange vielleicht einen Meter davon entfernt.

»Und wenn es klingelt?«, fragte ich.

»Willst mich narrisch machen?«, knurrte Ecki. »Halt die Augen offen! Wenn's mich eine beißt, musst du das Viecherl der Rettung beschreiben können.«

Vorsichtig trat Ecki mit dem ersten Fuß auf den Boden, dann mit dem zweiten. Ich konzentrierte mich auf seine Schuhe und hielt den Atem an. Er trug Chucks, die immerhin über den Knöchel reichten. Mein Herz schlug bis zum Hals, in meinem Kopf dröhnte ein panisches Rauschen, meine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Wie lange brauchte Ecki, bis er sich langsam bückte? Eine halbe Minute? Eine? Zwei? Die Zeit dehnte sich ins Unendliche.

»Ich hab's«, flüsterte er.

Jetzt musste er noch heil zurückkommen. Die Schlangen taten so, als ob sie schliefen. Ich konzentrierte mich auf die taubenblauen Schuhbändel. Ecki lief rückwärts. Er ließ die Schlangen keine Sekunde aus den Augen, ich konnte nicht hingucken. Die blauen Schuhsenkel. Bleib bei den Schuhsenkeln, beschwor ich mich. Mir war so schlecht, mein Magen drehte sich wie eine Waschmaschine im Schleudergang.

»Puuhh«, stöhnte Ecki, als er wieder vor mir auf dem Tisch stand. Wir hielten uns wie Ertrinkende umklammert, zitterten um die Wette, und überall hing der Geruch von saurer Angst.

»Eins eins null, oder?«, fragte Ecki, als er wieder sprechen konnte.

»Guck bei B wie Brandt«, krächzte ich mit Reibeisenstimme. Die Angst hatte mir den Mund ausgetrocknet.

Ecki wollte mir das Handy reichen, aber ich hatte Angst, es wieder fallen zu lassen oder keinen Ton herauszubringen. Er atmete noch einmal tief durch, bevor er beherzt Brandts Nummer wählte. Brandt nahm das Gespräch sofort an.

»Hier ist Ecki Matuschek«, meldete sich Ecki mit erstaunlich fester Stimme und skizzierte Brandt unsere Situation. »Er ruft gleich wieder an«, sagte Ecki am Schluss. Das tat Brandt erst nach gefühlten fünf Stunden. Dabei waren seit seinem Anruf keine vier Minuten vergangen. Brandt wollte mich sprechen, und Ecki hielt mir das Handy ans Ohr.

»Wir sind schon auf dem Weg zu Ihnen, auch die Feuerwehr ist bereits unterwegs«, erklärte er mir. »Damit Ihnen nicht langweilig wird, bis wir Sie da rausholen, gebe ich Ihnen noch ein Rätsel auf. Ich habe heute endlich Nachricht von dem spanischen Standesbeamten bekommen. Tommi Mombauer heißt tatsächlich nicht Mombauer mit Nachnamen. Jetzt raten Sie mal, wie stattdessen?«

»Pfeifer«, antwortete ich sofort und wunderte mich, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war.

»Genau«, bestätigte Brandt. »Und damit ist er das Verbindungsglied zwischen den beiden Morden. Wissen Sie, wo er hinwollte?«

»Flughafen vielleicht?« Ich brachte kaum einen Ton heraus. Meine Stimme klang völlig angstverklumpt.

»Die Flughafen-Kollegen sind schon informiert.« Brandts Stimme klang im Gegensatz zu meiner wie frisch geölt. Wahrscheinlich um mich zu beruhigen, breitete er weitere Auskünfte des spanischen Standesbeamten vor mir aus. »Hanna Mombauer hat Bertold Pfeifer kurz vor der Geburt von Tommi geheiratet. Deshalb ist Tommi im Geburtsregister von La Savina mit dem Nachnamen seines Vaters eingetragen. Hanna hat sich nur zwei Jahre später scheiden lassen und ihren Mädchennamen wieder angenommen. Diesen Bauplatz für das geplante Hotel hat Pfeifer übrigens von seinem Vater geerbt. Der hat das Gelände vor mehr als dreißig Jahren zu einem Spottpreis gekauft.«

Das war mir so was von egal. Pfeifer war mir egal. Alles war mir egal. Ich wollte nur noch raus aus dieser Horrorwohnung, weg von den Schlangen.

»Sind Sie noch da, Frau Schweitzer?«, erkundigte sich Brandt mit munterer Stimme. »Ich habe Ihnen doch von unserer mühseligen Zeugenbefragung erzählt, erinnern Sie sich? Wir haben die berühmte Stecknadel im Heuhaufen gefunden. Eine alte Dame aus dem Altenheim. Sie hat den Schützenumzug von ihrem Fenster aus verfolgt und einen jungen Mann mit einer auffälligen Tätowierung am Hals zur fraglichen Zeit aus Ihrem Haus kommen sehen. Sie ist sich sicher, den Mann auf einem Foto wiedererkennen zu können. Wir haben sie erst gestern befragen können, weil sie ein paar Tage zu Besuch bei ihrer Schwester war.«

»Hier sind überall Schlangen«, röchelte ich. »Ich hasse Schlangen –«

»Ein Kollege hat schon den Hausmeister erreicht, der einen Ersatzschlüssel für die Pfeifer'sche Wohnung hat«, redete Brandt einfach weiter. »Wir sind gleich bei Ihnen, der Feuerwehrwagen überquert schon die Innere. Können Sie das Martinshorn hören?«

Ich lauschte einen Moment. Aber im dreizehnten Stock verpuffte ein Martinshorn zu einem feinen Ton im fernen Rauschen des Straßenverkehrs.

»Halten Sie durch«, feuerte mich Brandt an. »Hab ich Ihnen schon erzählt, dass die Melde in meinem Garten ganz ausgezeichnet wächst? Was würden Sie als Köchin damit machen?«

»Kurz in wenig Butter dünsten, leicht mit Muskatnuss würzen. Oder als Soufflé?«

 

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich hörte, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Dann traten leise mehrere Leute in Schutzanzügen mit Keschernetzen und langen Stecken bewaffnet in den Flur. Teilweise mit den Stecken, teilweise mit der bloßen Hand begannen sie, die Schlangen einzusammeln. Ich konnte nicht zusehen, legte meinen Kopf wieder auf Eckis Schulter und schloss die Augen.

»'s ist gleich vorbei, Kathi«, flüsterte er mir beruhigend ins Ohr. »Ich weiß doch, was für ein Graus die Viecherl für dich sind. Phobien! Weißt schon, dass man was dagegen machen kann. Vielleicht hättst du's doch mal mit systematischer Desensibilisierung versuchen soll'n?«

Ich hätte ihn am liebsten auf die Füße oder sonst wohin getreten, weil er jetzt mit diesem Psychoquatsch anfing. Aber noch konnte ich nirgendwohin treten, noch musste ich bewegungslos auf dem Tisch ausharren. Der Riss im Glastisch hatte sich weiter ausgedehnt.

»Da musst dich entspannen und dir dabei so eine schöne Blumenwies'n vorstellen«, machte Ecki weiter. »Dann eine harmlose kleine Ringelnatter, und wenn's das aushältst, zwei von der Sorte –«

»Hör auf, Ecki, oder ich fang an zu schreien«, zischte ich ihn an. »Entspannen kann ich mich wahrscheinlich mein ganzes Leben nicht mehr.«

»Sicher wird's das wieder geben«, tröstete mich Ecki, schlang seine Arme fest um meinen Körper und wiegte mich sacht. Unter meinen Füßen knirschte Glas.

Die Glasplatte hielt noch, bis wir vom Tisch sprangen, weil die Leute in den Schutzanzügen endlich alle Schlangen eingesammelt hatten. Ich hörte das Glas splittern und die Scherben zu Boden rieseln, begleitet vom wütenden Zischen und Rascheln der eingefangenen Schlangen. Ich sauste wie eine Wahnsinnige nach draußen und stolperte im Flur in ein Aufgebot an Feuerwehrleuten und Polizisten. Mein Kreislauf spielte verrückt, mein Kopf drehte sich, und mein Blick war nicht klar.

Wie im Nebel sah ich, wie zwei Sanitäter eine Trage aus dem Fahrstuhl rollten und gleichzeitig Brandt auf mich zukam. Aber ich konnte keine Sekunde länger hierbleiben, ich musste sofort raus aus dem dreizehnten Stock. Und so stürmte ich an all den Leuten vorbei ins Treppenhaus und sauste die Treppen hinunter, als wäre der Teufel hinter mir her.

»Brauchst nicht so zu rasen. 's ist doch jetzt alles vorbei, Kathi«, rief Ecki mir hinterher, und erst da merkte ich, dass er mir gefolgt war.

Ich hielt kurz inne und drehte mich zu ihm um. »Vorbei?« Meine Stimme krächzte noch zittrig vor Angst. »Die Nummer werde ich mein Leben lang nicht vergessen.« Dann rannte ich weiter. Frische Luft, ich brauchte frische Luft.

»Sicher wirst das. Der Mensch kann alles vergessen«, schnaufte Ecki hinter mir. »'s ist doch gut ausgang'n. Ich hab uns doch zu guter Letzt aus dem Schlamassel zog'n.«

»Was hast du?« Wie eine heiße Fontäne schoss die Wut aus meiner Gefühlssuppe hervor und vertrieb die Angst, die mich bis jetzt gefangen gehalten hatte.

»Weißt doch, dass ich immer bei dir bin, wenn's brenzlig wird«, brabbelte Ecki weiter, und mir stieg die Galle hoch bei dem Blödsinn, den er von sich gab.

»Ein Lügner und Betrüger bist du«, brüllte ich im Weiterlaufen, und merkte, dass es verdammt guttat, wieder brüllen zu können. »Der ganze Horror ist doch nur passiert, weil du so ein elender, feiger Hund bist.«

»Geh, Kathi, hast schon recht, dass du ordentlich bös mit mir bist«, lenkte Ecki schnell ein. »Aber 's wird wieder bess're Zeiten geb'n.«

Ich fasste es nicht! Kaum dem totalen Horror entronnen, redete Ecki schon von besseren Zeiten. »Neunter Stock«, las ich auf einer Tür und rannte weiter. Nackte, graue Betonstufen unter meinen Füßen, die Wände in einem sumpfigen Grün gestrichen, das mich verdammt an den Farbton einer der Schlangen erinnerte, und die kühlfeuchte, modrige Luft von fensterlosen Räumen trieben mich nach unten. Während ich immer weiter rannte, passierten in meinem Kopf diese furchtbaren vierzehn Tage Revue. Der Abend der Schaumschläger, Angeber, Geschäftemacher und Bankrotteure auf dem LVR-Turm, wo ich schon so vieles hätte erfahren können. Mombauers Tod und die Sorge um die Zukunft der »Weißen Lilie«. Minkas Ermordung und Eckis Verrat. Der furchtbare Verdacht, dass er ein Mörder sein könnte. Die tote Sabine Mombauer vor der »Weißen Lilie«. Die Hölle aus Enttäuschung, Verletzung, Trauer, Verzweiflung und Wut, durch die ich gegangen war.

Sechster Stock, die Wut trieb mich weiter die Treppe hinunter und führte mich für einen Augenblick zurück in Pfeifers Wohnung, die ich mit den Männern in Schutzanzügen betrat. Mit ihren Augen betrachtete ich dieses eng umschlungene Paar auf dem Glastisch, und im Gegensatz zu den Männern in den Schutzanzügen wusste ich, dass die zwei kein Paar mehr waren.

Diese Erkenntnis traf mich mit bitterer Gewissheit im vierten Stock. Ich liebte Ecki nicht mehr. Die Liebe war ertränkt worden in tiefen Verletzungen, vergiftet von Nächten voller Verzweiflung, zu Tode geritten von falschen Hoffnungen, zerrieben an Gegensätzen und Missverständnissen. Sie war aufgebraucht, abhandengekommen, hatte sich erschöpft. Es würde keinen Neuanfang, kein wie auch immer geartetes Weitermachen mit Ecki geben.

Das machte mich gleichzeitig traurig und froh, erleichtert und ängstlich, aber ich wusste genau, dass diese Entscheidung richtig war. Je weiter ich nach unten rannte, desto mehr verrauchte die Wut. Sie machte in der zweiten Etage der Erschöpfung Platz, die mich wie ein Bleimantel einhüllte und jeden weiteren Schritt schwer machte. Ich schleppte mich die letzten beiden Stockwerke wie in Trance nach unten, und das glühende Abendlicht ließ mich schwindeln, als ich endlich vor die Tür des Hochhauses taumelte.

Brandt erwartete mich und zeigte wieder diesen besorgten Hundeblick. »Sie haben einen Schock, Sie sollten sich untersuchen lassen«, sagte er, aber ich schüttelte den Kopf.

»Ich werd mich um sie kümmern«, schnaufte Ecki, den ich seit der vierten Etage nicht mehr wahrgenommen hatte und der noch nicht wusste, dass ich ihn auf dem Weg nach unten endgültig aus meinem Leben gefegt hatte.

»Sie müssen mir zuerst eine ganze Reihe von Fragen beantworten, Herr Matuschek!«, wies Brandt ihn zurecht. Dann drehte er sich wieder zu mir und fragte, ob mich ein Polizeiwagen nach Hause fahren sollte.

»Wenn's sofort geht, ja.«

Brandt telefonierte kurz, und die paar Minuten, bis der Streifenbeamte mich abholte, verbrachten wir drei in müdem Schweigen. Ich ging weg, ohne mich noch einmal nach Ecki umzudrehen.

 

Auf der Fahrt nach Deutz rief ich Adela an. Ich konnte jetzt auf keinen Fall allein sein. Die Treppen zu unserer Wohnung stieg ich zähneklappernd nach oben, mir war plötzlich so kalt, als hätte ich Tage in einer Eishöhle gesessen. Adela erwartete mich an der Wohnungstür und steckte mich sofort in eine warme, nach Lavendel duftende Badewanne. Ich stopfte alle Kleider in den Wäschesack, und der Gestank der Angst, der noch in allen Poren steckte, machte sich im Bad breit. Das Wasser tat gut und reinigte zumindest die Haut. Adela kam mit Tee und ihrem Medizinkästchen zurück, verabreichte mir ein paar Globuli, die mich beruhigen sollten, setzte sich dann an den Wannenrand und tätschelte mal wieder meine Hand.

»Es ist aus«, sagte ich. »Aus und vorbei mit Ecki.«

Adela nickte und tätschelte. »Aber er hat Minka nicht umgebracht, oder?«

Ich tauchte einmal kurz unter und wieder auf, bevor ich Nein sagte. In diesem Punkt glaubte ich Ecki.

»Gut«, seufzte sie erleichtert. »Es ist viel besser und fällt leichter, sich von einem freien Mann zu trennen als von einem, der auf dem Weg in Gefängnis ist. Gib zu, dass ich in dem Punkt recht hatte.«

»Ja«, gab ich zu.

»Er wird mir fehlen. Diese Wiener Leichtigkeit, sein Küss-die-Hand-Charme, und du weißt ja, wie gern ich mit ihm über Oldtimer gefachsimpelt habe …«

Ich tauchte wieder unter und hörte nicht zu.

»Schon recht«, sagte Adela, als ich auftauchte. »Weiß er's schon?«

»Ich sag es ihm, wenn er von der Polizei zurückkommt.«

 

Am nächsten Morgen saßen wir zum letzten Mal zu viert in unserer Küche. Ecki war erst spät in der Nacht wiedergekommen. Ich hatte gehört, wie Adela ihn im Wohnzimmer einquartierte, als ich aus einem Alptraum aufgeschreckt war, in dem ich bewegungsunfähig in einem Schlangennest gelegen hatte. Es dauerte, bis ich wieder einschlafen konnte und den Rest der Nacht von Schlangen verschont wurde.

Ecki berichtete von einem stundenlangen Verhör und davon, dass parallel zu ihm Thomas Pfeifer befragt wurde, der von der Polizei am Flughafen gefasst worden war, als er eine Maschine nach Ibiza besteigen wollte.

Adela verteilte Kaffee und Brötchen und wollte wissen, ob die Beweislage in Minkas Fall genauso erdrückend war. Ecki zuckte mit den Schultern und gestand, dass er noch lange nicht aus dem Schneider war. Er müsse sich für weitere Verhöre bereithalten und dürfe die Stadt nicht verlassen.

»Dann musst du dir für die Zeit ein anderes Quartier suchen«, sagte ich und forderte Ecki auf, nach dem Frühstück mit mir einmal um den Block zu spazieren.

Es gab nicht mehr viel zu sagen. Ich sprach klar und eindeutig, wie ich es immer tat, wenn ich eine Entscheidung gefällt hatte. Eckis halbherzige Versuche, mich vom Gegenteil zu überzeugen, wehrte ich ab. Wieder zurück in der Kasemattenstraße, packte er seinen großen Koffer, den ich schon vor die Tür gesetzt hatte, und verschwand.