SIEBEN

In der Kasemattenstraße schleppte ich mich schon halb schlafend die Treppe hoch. In meinem Zimmer merkte ich sofort, dass Ecki da gewesen war. Nichts schien berührt oder verändert zu sein. Sein großer Aluminiumkoffer stand noch exakt an der Stelle, an der er bei seinem Einzug abgestellt worden war. Aber im ganzen Raum hing dieser Geruch von frischem Heu und heißem Sommertag, unverkennbar Ecki.

»Ecki?«, rief ich leise.

Ich drehte eine Runde durch die dunkle Wohnung, fand ihn weder in der Küche noch im Wohnzimmer. Für einen Augenblick hatte ich wirklich gedacht, er sei noch hier und ich könnte ihm endlich mein wundes Herz entgegenstrecken, ihm den Kopf waschen, ihn ohrfeigen, ihn auf die Knie zwingen und ihn mit all den Vorwürfen und Fragen bombardieren, die sich in den letzten Tagen angehäuft hatten.

Wieder hatte er mich enttäuscht. Wenn er aber nicht meinetwegen zurückgekommen war, was hatte er dann gesucht? Ich riss Schranktüren und Schubladen auf. Zwei Hemden, drei T-Shirts, die Sportschuhe fehlten und der Reisepass, der in der zweiten Schreibtischschublade immer obenauf lag. Fiebrig fuhr ich den Rechner hoch und sah mir die zuletzt aufgerufenen Seiten im Internet an. Fluggesellschaften, die Flüge nach Übersee anboten. Da wollte sich einer aus dem Staub machen.

Die wirre Aufregung, die das frische Heu in mir ausgelöst hatte, das kurzfristige Hoffen und Bangen, das dann folgte, all das reduzierte sich auf ein einziges Gefühl: Wut. Ich kochte, ich schäumte, ich spuckte Feuer, als ich nach meinem Handy griff und Eckis Nummer wählte.

»Untersteh dich, hier noch einmal aufzulaufen, du widerlicher Feigling«, drohte ich der Mailbox. »Du elender Betrüger, du Miesnick, du Pissnelke, du strunzdummer Schlappschwanz, du Volltrottel, du Waschlappen!«

So lärmte ich weiter auf die seelenlose Box ein und trat dabei gegen die Wand, bis mir der Fuß wehtat und die Schimpfworte ausgingen. Das Schimpfen und Treten verhalf mir zu einem Gefühl der Leere, das der Müdigkeit Platz machte. Ich warf mich aufs Bett, vergrub den glühenden Kopf im Kissen und schlief tatsächlich ein.

Ich träumte von kernigen Masseuren inmitten von Weizenfeldern und von auf Kellnern reitenden schwarzen Witwen, die diesen gern die Peitsche gaben. Wirres Zeugs, wie ich am nächsten Morgen merkte, als mich das Telefon aus dem Bett klingelte.

»Ja«, nuschelte ich schlaftrunken, die kernigen Masseure und reitenden Witwen noch genau vor Augen.

»Oh, habe ich Sie geweckt? Ist zehn Uhr morgens für Köche eine unchristliche Zeit?«, erkundigte sich Sabine Mombauer. Ihre Stimme klang viel frischer, als ich sie in Erinnerung hatte.

»Schon zehn Uhr?«, wunderte ich mich und tastete nach meinem Wecker.

Tatsächlich.

»Sie können sich vorstellen, dass ich gestern not amused war, als Sie mich mit dem Vertrag in der ›Weißen Lilie‹ haben sitzen lassen«, begann sie, und sofort war wieder ein vorwurfsvoller Ton in ihrer Stimme.

War das erst gestern gewesen?, staunte ich. Es fiel mir schwer, die Ereignisse der letzten Tage zeitlich einzuordnen.

»Aber dann habe ich mit Irmchen gesprochen, die mir von Ihren Sorgen und Nöten erzählt hat. Ich wusste ja nur von Ihrer ermordeten Spülfrau. Wie furchtbar, die Sache mit Ihrem Freund!«

Die Wohnung, der Pachtvertrag, die Zukunft der »Weißen Lilie«. Für mich allein würde ich die Wohnung auf keinen Fall mieten wollen. Wieder kochte die Wut auf Ecki hoch, der all diese schönen Pläne zerstört hatte.

»Männer, da könnte ich Ihnen auch Geschichten erzählen«, griff Frau Mombauer das Thema auf. »Nur leidvolle Erfahrungen. Was glauben Sie, warum ich allein lebe? Mein vorletzter ist sang- und klanglos aus meinem Leben verschwunden, nachdem ich herausgefunden hatte, dass eine andere von ihm schwanger war. Dabei hatten wir schon von Zusammenziehen gesprochen. Und mein letzter hatte es nur aufs Geld abgesehen. Und dann war da noch der Supermarktchef aus Euskirchen, dem ich jede freie Minute widmen sollte.«

Die kernigen Masseure und peitschenden Witwen galoppierten aus meinen Kopf hinaus, ich konnte also Frau Mombauer zuhören. Aber ich verstand nicht, warum und wieso sie bereitwillig ihr unglückliches Liebesleben vor mir ausbreitete.

»Kurzum, menschliche Enttäuschungen sind mir nicht fremd, da bin ich eine Schwester im Leid sozusagen. Und als alte Feministin ist für mich Frauensolidarität nicht nur ein hohles Wort«, sprudelte es weiter aus ihr heraus.

War das ein Angebot, dass ich mich bei ihr ausheulen konnte, oder was? Nie und nimmer! Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, dachte ich und sagte: »Frau Mombauer, ich kann die Wohnung Ihres Vaters nicht mieten.«

»Das verstehe ich doch, was meinen Sie, warum ich Sie anrufe?«

Sie lachte, so wie man lachte, wenn das Gegenüber schwer von Kapee war. Irgendwie wirkte sie nicht mehr so in Enttäuschung und Groll eingewickelt wie bei unseren anderen Treffen.

»Tommi sagt, ich sei ein typischer Gutmensch. Er findet es unmöglich, dass ich nicht sofort verkaufe, nachdem ich ihm erzählt habe, wie Sie sich aufgeführt haben. Aber Tommi ist einer, der immer recht haben will, und ich hasse es, mir vorschreiben zu lassen, was ich tue. So allmählich glaube ich sogar, dass ich mich in ihm getäuscht habe. Dem Jungen, dem ich fast wie eine Mutter war! Seine eigene hatte ja keine Zeit dafür. Die musste sich selbst verwirklichen. Erst Flower Power, dann Poona, wenn Ihnen das noch etwas sagt. Formentera hatte es ihr angetan. Dort ist Tommi auf die Welt gekommen. Von Tommis Vater nicht mal ein Name! Damals haben die Frauen gedacht, dass es nicht wichtig für die Kinder ist, ihren Erzeuger zu kennen. Nach Formentera war Indien an der Reihe. In der Zeit hat Tommi zwei Jahre bei uns gelebt. Bis Hanna mit dieser Pfeife zurückkam und dann mit ihm und Tommi zurück nach Formentera gezogen ist. Hanna hat sich um sich selbst gekümmert, und Tommi ist hin und her geschubst worden. Ich habe Sozialarbeit studiert, ich weiß, was für Sozialkrüppel so entstehen. Damals als junges Mädchen wusste ich das noch nicht. Ich habe aber instinktiv gespürt, dass Tommi Liebe und Verlässlichkeit braucht. Und ich habe ihm alles gegeben, was ich hatte.«

Wenn sie nur endlich zum Punkt käme und sagen würde, was sie wollte, dachte ich, hielt das Telefon ein wenig vom Ohr weg und ließ meinen Blick im Zimmer kreisen. Ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Weiß, funktional und günstig. Mehr Möbel besaß ich bis heute nicht. Dazwischen ein paar Luxusgegenstände: Die Bang-&-Olufson-Stereoanlage, ein Quilt in Weiß- und Beigetönen, den ich mir aus selbst ausgesuchten Stoffen hatte nähen lassen, eine schöne Moreno-Glasvase, ein venezianischer Spiegel, ein Perserteppich aus Casablanca. Diese Schätze hatte ich im Laufe der Jahre zusammengetragen, und sie passten mehr oder weniger bis heute in eine Kiste. Sie hatten mich zu all den Stationen meines Köchinnenlebens begleitet. Colmar, Paris, Palermo, Wien, Brüssel, Köln. Mit diesen Sachen hatte ich mir jedes neue Zimmer gemütlich gemacht. Das hatte mir immer gereicht, nie hatte ich das Bedürfnis nach mehr gehabt. Bis ich die Wohnung des alten Mombauer zu Gesicht bekam.

Mit einem Mal schien es mir, als ob mit dieser Wohnung all meine Schwierigkeiten begonnen hätten. Mit diesem finsteren Loch voll alter Kindertraurigkeit und unzähmbarer Erinnerungen. Plötzlich kam es mir anmaßend vor, diese Wohnung, in der so viel Unglück steckte, hell und licht machen zu wollen. Oder gar das Glück aufzufordern, sich dort mal wieder blicken zu lassen. Diese Wohnung war nicht gut für mich.

»Frau Mombauer, haben Sie mich nicht verstanden? Ich werde die Wohnung nicht mieten«, wiederholte ich.

»Natürlich, das weiß ich doch«, gurgelte sie. »Das habe ich auch Tommi gesagt. Wissen Sie, mit der Verlässlichkeit war es natürlich nach dem Umzug nach Spanien schwierig, unser Kontakt erzwungenermaßen nicht mehr so eng. Aber ich habe Tommi immer in den Ferien besucht, wir haben telefoniert und uns Postkarten geschrieben. Ich wünschte so sehr, dass er es mit meiner Unterstützung schafft! Doch die Vernachlässigung durch die Mutter und deren Laisser-faire in der Erziehung war schon weit fortgeschritten. Schwierige Schulkarriere, Schlägereien, kleinere Diebstähle, keine ordentliche Berufsausbildung. Da hat selbst Hanna gemerkt, dass alles in die falsche Richtung läuft.«

Wenn ich die Wohnung nicht mietete, würde Frau Mombauer auch den Pachtvertrag für die »Weiße Lilie« nicht verlängern, das hatte sie mehr als einmal betont. Warum sollte ich ihrer Geschichte um den missratenen Cousin weiter zuhören? Oder kam die Frau wirklich noch zu einem Punkt, der etwas mit mir zu tun hatte? Wieder stieg eine dieser Hitzewellen in mir auf, und ich konnte mich nicht entscheiden.

»Dann hat ihm Pedro Morales, Besitzer mehrerer Ferienanlagen auf Formentera, einen Job als Hausmeister angeboten, und Tommi hat seine Sache gut gemacht. Er hat sich zum Immobilienscout gemausert und kam dann nach Deutschland zurück«, kullerten die Worte weiter aus ihr heraus. »Ich habe mich gefreut, als er vor ein paar Jahren nach Köln gezogen ist. Habe gedacht, dass wir als Erwachsene wieder enger zusammenfinden, aber leider … Eine weitere Enttäuschung in meinem Leben. Muss ich nach den letzten Tagen sagen. Bei diesem ganzen Ärger mit dem Haus hat Tommi mich nie ordentlich beraten. Der wollte nur verkaufen, verkaufen, verkaufen. Hat nur die Provision gesehen, die er dann verdienen würde, wie überhaupt Geld für ihn eine unglaubliche Rolle –«

Jetzt reichte es. »Frau Mombauer, warum erzählen Sie mir das?«, unterbrach ich sie ungeduldig. »Ich weiß nicht, was ich mit Ihrem Cousin zu tun habe!«

»Eigentlich waren Sie es, die mich auf die Idee gebracht hat«, sprudelte es weiter aus ihr heraus. »Als Sie sagten, dass die Wohnung auch licht und hell sein kann. Da habe ich gedacht, dass es vielleicht wirklich möglich ist, die bösen Geister zu vertreiben, die mich immer heimsuchen, wenn ich da bin. Die mich auch in meiner neuen Wohnung nicht losgelassen haben. Die ich nie losgeworden bin in meinem Leben. Konfrontation mit der Vergangenheit, das meine ich. Frieden schließen, Versöhnung finden. Irmchen hat davon gesprochen, und das Fotoalbum hat mir den Weg gewiesen. Ich werde nicht mehr davonlaufen, ich werde zurückgehen. Ich bin Ihnen so dankbar, dass sie mir diesen Weg aufgezeigt haben! Und, bitte verstehen Sie das nicht falsch, aber ich bin froh, dass Sie wegen Ihres treulosen Freundes nicht mehr hier einziehen können. Langer Rede kurzer Schluss: Ich kehre in die Wohnung meiner Kindheit zurück und verlängere Ihren Pachtvertrag für die ›Weiße Lilie‹.«

Jetzt sprang ich aus dem Bett. Wie gut, dass ich den Hörer nicht aufgelegt hatte. Sie bot mir Sicherheit für die Zukunft der »Weißen Lilie«. Rumpelsteine der Last fielen von mir ab. Aber wie lange würde das Angebot gelten? Heute? Morgen? Was, wenn Tommi oder ein alter Groll sie wieder wankelmütig machten?

»Wann können wir den Pachtvertrag unterschreiben?«, fragte ich schnell.

Sie lachte. »Ich bin schon in der Wohnung meines Vaters. Das Entrümpeln tut der Seele gut, und damit bin ich noch ein Weilchen beschäftigt. Den Vertrag habe ich schon vorbereitet. Wann fangen Sie normalerweise an zu arbeiten? Vierzehn Uhr? Dann kommen Sie doch einfach ein wenig früher. Dann stoßen wir mit einem Gläschen Danziger Goldwasser, dem Lieblingsgetränk von meinem Vater und mir, darauf an und regeln das.«

Ich trank nie Liköre, zu süß, zu klebrig, aber das war egal.

»Danziger Goldwasser, Champagner, was immer Sie mögen!«

»Dann auf gleich!«

Frühlingshaft fröhlich klang die Stimme. Mit einem Mal glaubte ich, dass ihre Entscheidung stimmig war und die Mombauer nicht wie ein Fähnchen im Wind bei der nächsten Erschütterung einknicken würde.

 

Ich drückte die Off-Taste des Handys und trat ans Fenster. Die Morgensonne tauchte den grauen Hinterhof in ein freundliches Licht. Statt Eckis welker Lilien, die jemand aufgehoben und in den Müll geworfen hatte, grüßte in sattem Gelb der Löwenzahn, der zwischen Betonrissen spross. Die Pfingstrose, die einer irgendwann mal in den Topf neben der Wassertonne gepflanzt hatte, machte dem Löwenzahngelb mit einer prächtigen roten Blüte Konkurrenz. In dem verkrüppelten Schmetterlingsbaum tschilpten die Spatzen. Sag einer was gegen den Charme von Hinterhöfen, dachte ich.

Die »Weiße Lilie« gerettet, so leicht war mir schon lange nicht mehr ums Herz gewesen. Ich sprang unter die Dusche und störte mich nicht an Kunos morgendlicher Überschwemmung. Dann schüttelte ich meine roten Locken durch und schlüpfte in mein liebstes Sommerkleid. Giftgrün mit tomatenroten Streifen. Wie lang hatte ich mich schon nicht mehr schön gemacht?

In der Küche saß Kuno vor einer Tasse Kaffee und den Sonntagszeitungen. Das Radio lief, und Melina Mercouri sang von dem Schiff und dem einen, den man so liebt wie keinen. Ich suchte einen anderen Sender. Kunos Kopf tauchte kurz hinter der Zeitung auf. Er musterte mich mit diesem melancholischen Bullenblick, den ich von unserer ersten Begegnung kannte. Damals hatte ich ziemlich ramponiert im Achertal-Krankenhaus gelegen und Kuno die Aufgabe gehabt, herauszufinden, wer mich so zugerichtet hatte. Ich hatte es ihm nicht leicht gemacht.

»'s wundert mich, dass du schon auf bist«, meinte er. »Und du siehscht besser aus, als ich denkt hab.«

»Gute Nachrichten«, antwortete ich. »Ich unterschreibe gleich die Verlängerung des Pachtvertrags für die ›Weiße Lilie‹.« Ich goss mir einen Kaffee ein und klemmte zwei Weißbrotscheiben in den Toaster. »Schläft Adela noch?«

»Wie ein Stein. Halber viere isch s' heut Nacht bei ihr g'wäsä.« Kuno legte die Zeitung zur Seite und fuhr mit seinen Augen mein Gesicht ab, als wäre es ein Buch, in dem er lesen konnte. »Die Sache mit dem Eilert hat mir keine Ruh g'lasse. Ich hab halt ein bissele recherchiert«, sagte er dann und zog unter den Zeitungen ein paar DIN-A4-Blätter hervor. »Der Kerl ischd eine Krake. Wo der überall seine Finger drinhat. Hier, ich hab's dir mal aufg'malt!« Kuno reichte mir das Blatt.

Eilert hatte wirklich eine beeindruckende Menge an Posten und Funktionen inne: Er war Mitglied bei den Freien Demokraten, bei der Industrie- und Handelskammer, hatte mehrere Jahre im Vorstand der Stadtsparkasse gesessen, war Gesellschafter der Cölner Immobilientreuhand, Mitglied im Presbyterium der Matthäus-Kirche und im Vorstand der Kölner Narrenzunft von 1880.

»Der Karnevalsverein darf bei so einem in Köln nicht fehlen.« Kuno nahm das Blatt wieder an sich und legte es zu den anderen auf einen akkuraten Stapel. In allen Dingen war der Mann so ordentlich, wieso nur nicht bei seiner morgendlichen Badezimmerbenutzung? »Die Karnevalsseilschaften sind für eine Karriere in Köln Gold wert. Des ischd jetzt bei uns Schwobe ned so entscheidend.«

Und das fand Kuno gut. Adela hatte ihn in seinem ersten Kölner Jahr zu den Sangesabenden von »Loss mer singe« mitgeschleppt und fünf Tage lang durch den Kölner Straßenkarneval geschleift. Diese hautnahen Begegnungen mit rheinischer Fröhlichkeit genügten ihm für den Rest seines Lebens. Sagte er zumindest jedes Jahr, wenn Adela ihn wieder zum Mitfeiern bewegen wollte.

»Des sind jetzt nur die offizielle Posten und Pöstle«, kam er auf Eilert zurück. »Der Kerle rührt mit seine Finger in der ganze Stadt rum. An so einem kannscht du dir schnell die eigene Finger verbrenne.«

»Und das ›All-inclusive‹? Was hat das damit zu tun?«, wollte ich wissen, weil mich Eilerts andere Geschäfte nicht interessierten.

»Des ischd sei aktuelles Hätschelkind, aber bestimmt nicht sei letztes. An den Start gange mit dem typischen Kölner Größenwahn. Was hat des IHK-Blättle g'schriebe? ›Eilerts ehrgeiziges Ziel ist es, in fünf Jahren Marktführer in der gehobenen Systemgastronomie zu sein.‹ Nur mit so blumige Versprechungen kriegsch du heut noch Geld von Banken und Investoren. Aber 's ischd wie überall. Auf des, was der Eilert will, sind andere auch scharf. Da wird mit harten Bandagen gekämpft. Zimperlich darfsch du da nicht sein. Vetterleswirtschaft, Schmiergeldzahlungen, so ebbes beherrscht der Eilert bestimmt aus dem Effeff. Aber der ischd koi Killer. Viel zu auffällig. Die G'schäftle müsset in der Grauzone laufen. 's Wichtigschde dabei ischd, dass es koiner merkt.«

»Du meinst, er hat nichts mit Minkas Tod zu schaffen?«

Kuno nickte. »Außer 's ischd eine Beziehungstat«, schränkte er ein. »Schwelende Eifersucht, krankhafte Besitzansprüche, so ebbes in der Art. Ein Ausraschter, einer dreht dir die Luft ab, verletzte Mannesehre. Du glaubsch manchmal nicht, wegen was die Leut einander umbringen.«

Gab es eine Spur von Minka zu Eilert? Ich hatte keine Ahnung, ob er ihr je begegnet war. Bestimmt kannte er nicht jeden seiner Vierhundert-Euro-Jobber. Ich dachte an das Bause-Fest. Minka im Kreis der jungen Leute, Minka, der flirrende Anziehungspunkt von Männerblicken, Minka, die später mit Chidamber gegangen war. Ich hatte nicht gesehen, ob sie mit Eilert zusammengestanden oder geredet hatte. Aber mit Ecki hatte sie auch nicht geredet, und die zwei hatten sich nur zu gut gekannt, wie ich in der Zwischenzeit erfahren hatte.

Eilert war erfolgsverwöhnt, der nahm sich, was er wollte. Hatte er Minka gewollt? Was sie sein Typ? Die Blondine, mit der Eilert in der »Weißen Lilie« war, fiel mir ein. Die hatte sehr wohl eine gewisse Ähnlichkeit mit Minka. Und dann war da noch Minkas Büchlein mit den Interna über die »Weiße Lilie«. Hatte Eilert den Auftrag dazu erteilt? Waren sich die zwei bei Minkas Berichterstattung nähergekommen? Hatte Minka ihn mit Lingum-Massage sexuell hörig gemacht und dann Geld von ihm verlangt? Die sechstausend Euro, die sie Chidamber schuldete? Und dann drehte Eilert als gekränkter Liebhaber durch? All diese Fragen, auf die ich keine Antwort wusste, genauso wenig wie Kuno.

»Wer leitet eigentlich die polizeilichen Ermittlungen?«, wollte der wissen, und ich sagte es ihm.

»D'r Alban?«

»Du kennst Brandt?«

»Mir waret mal zusamme auf einer Ballistik-Fortbildung beim BKA in Wiesbaden. Damals bin ich noch beim Stuttgarter KK 11 g'wäsä«, erklärte Kuno. »Und dann hab ich ihn vor einiger Zeit im ›Casino‹ vom Polizeipräsidium troffe.«

Die Welt war klein und in Köln besonders klein. Obwohl Kuno nie bei der Kölner Polizei gearbeitet hatte und erst nach seiner Pensionierung in die Domstadt gezogen war, ging er regelmäßig im »Casino« am Walter-Pauli-Ring Kaffee trinken. Dort hatte er ein paar ebenfalls pensionierte Polizisten kennengelernt und sich mit ihnen angefreundet. Er kannte zudem auch aktive Polizisten und wusste erstaunlich viel darüber, was bei der Kölner Polizei lief.

»D'r Alban ischd ein guter Polizist, auch wenn manche denke, er tät auf Samtpfoten durch die Welt tappe«, behauptete Kuno.

Er sagte dies etwas trotzig, so als ob nicht viele diese Einschätzung teilen würden. Und dann erzählte er, dass Alban Brandt schon immer etwas eigenwillig gewesen war, ein sanftmütiger Eigenbrötler, der von den Kollegen den Spitznamen »Dangerous Fire« erhalten hatte, weil an ihm so gar nichts gefährlich oder angsteinflößend wirkte und er oft bei ganz bestimmten Fällen eingesetzt wurde.

»'s ischd so, dass d'r Alban gern bei vermutetem Selbstmord, der ja dann meistens tatsächlicher Selbstmord ist, eingesetzt wird. So ist der auch an den Fall von der Minka gekommen. Und da war's halt koi Selbstmord, sondern Mord, und deshalb leitet er jetzt die Ermittlungen. D'r Alban ist koi Schlamper, der tut alles, um rauszufinden, wer's gewesen ischd.«

Wenn es so war, konnte ich nur hoffen, dass von den vielen offenen Fragen, die sich mir stellten, Brandt zumindest einige schon beantworten konnte. Nichts wäre mir lieber, als dass der Mord an Minka schnell aufgeklärt wurde. Kuno versank wieder hinter seiner Zeitung. Ich aß den kalt gewordenen Toast und schob noch einen warmen hinterher, den ich mit holländischen Schokoladenstreuseln bestreute. Darüber hatte Ecki sich immer lustig gemacht, genauso wie über Adelas Brötchen mit Schnittkäse und Marmelade. Es hatte so viele fröhliche Frühstücke zu viert an diesem Küchentisch gegeben.

Ecki! Die mächtige Wut, die ich gestern Nacht auf ihn hatte, war verraucht, stattdessen meldete sich das wunde Herz wieder.

Kuno war allerdings kein Spezialist für wunde Herzen. Wilde Gefühle verängstigten ihn, deshalb wollte ich über das Herzeleid gar nicht mit ihm sprechen. Aber etwas anderes musste ich von ihm wissen.

»Kuno …« Ich versuchte, so locker wie möglich zu klingen. »Gestern war Ecki hier. Hast du ihn getroffen?«

Ein langsames Kopfschütteln hinter der Zeitung.

»Er hat sich seinen Reisepass geholt.«

Kuno ließ die Zeitung sinken. »Du weischd doch, dass ich manchmal ins ›Café Central‹ gehe.«

Ich wartete auf eine Erklärung, weil ich nicht riechen konnte, was das »Café Central« mit Eckis Reisepass zu tun hatte. Aber Kuno vergrub sich wieder hinter der Zeitung und schwieg.

»Ja und?«, fragte ich irgendwann ungeduldig.

»Das Belgische Viertel ist halt ein bissele urbaner als Deutz. Und ich beobacht halt so gern Flaneure. Und dann sitz ich da und trink Kaffee und guck durch die Gegend«, druckste er hinter der Zeitung.

»Kuno!«

Ich packte die Zeitung, legte sie zur Seite und sah ihn direkt an. Kuno suchte wieder mit seinem Blick meine Gemütslage einzuschätzen. Er kam wohl zu dem Ergebnis, dass ich das, was er mir mitteilen musste, verkraften konnte.

»Vor zwei Woche hab ich ihn vor dem ›Café Central‹ gesähä, mit dere Minka.«

»Was hast du?«, flüsterte ich und spürte den Dolch, der sich in meinem Magen drehte.

»Auf d'r Straße habe ich ihn natürlich nicht ang'sproche, aber daheim bei nächschter Gelegenheit hab ich ihn mir zur Bruscht g'nomme. Ich hab ihm g'sagt, dass er dir reinen Wein einschenken muss, und wenn er's nicht macht, dass ich's dann tue«, versuchte Kuno, sein Verhalten zu erklären.

»Du hast seit zwei Wochen gewusst, dass Ecki mit Minka ein Verhältnis hat, und mir keinen Ton dazu gesagt? Was ist das für eine Scheißmännersolidarität!«

Ich rang nach Luft. Mein ganzer Körper vibrierte. Verraten von Kuno. Die Empörung darüber schoss mir durch die Blutbahnen. Alles brannte. Ich stand in Flammen.

»Ich hab koin'm was g'sagt. Auch d'r Adela nicht«, versuchte Kuno den Brand zu löschen und goss dabei nur Öl ins Feuer. »Ich wollt dem Ecki die Chance geben, die Sach selber in Ordnung zu bringen. Du weißt selber, wie heikel so ebbes ischd mit Paaren, wo man beide gern hat. Ich hätt doch was g'sagt, wenn der Ecki die Zähn nicht auseinanderkriegt.«

»Wann denn?«, höhnte ich kochend vor Wut. »Wenn er über alle Berge ist? Nachdem er ausgerastet ist und sie umgebracht hat?«

Jetzt hatte ich das Unmögliche ausgesprochen und merkte sofort, dass das nicht das Schlimmste war. Das Schlimmste war Kunos Blick, der mir nicht widersprach. Auch Kuno hielt das Unmögliche für möglich. Vielleicht weil ihm das sein alter Bulleninstinkt sagte, vielleicht weil sein Buschfunk bei der Polizei ihm etwas zugetragen hatte. Ecki war ein Mörder.

Das Buschfeuer drohte mich zu verbrennen. Ich sprang auf, raste ins Badezimmer, hielt den Kopf unter kaltes Wasser. Dem Gesicht, das ich danach im Spiegel sah, traute ich nicht mehr. Ich blickte hinunter ins Waschbecken. Das Wasser brach sich am Rand des Beckens, rauschte zurück in den Abfluss und gurgelte durch das Abwasserrohr davon. Ich folgte dem Wasser bis zur hohen See, sah mich inmitten peitschender Wellen. Das Meer ein geiferndes Ungeheuer, der Himmel von brutaler Gleichgültigkeit. Von nirgendwo Rettung in Sicht.

Doch. Ich hob den Kopf. In dem fremden Gesicht im Spiegel loderte wilde Entschlossenheit auf. Sabine Mombauer. Die »Weiße Lilie«. Ich würde mir von Ecki nicht alles kaputt machen lassen.

 

Die Umleitungsschilder unter der Mülheimer Brücke und die immer noch über den Straßen flatternden blau-weiß-roten Fähnchen riefen mir ins Gedächtnis, dass heute der Schützenfestumzug durchs Viertel paradierte. Es dauerte, bis ich durch das Gewirr der Umleitungen endlich von der Mülheimer Freiheit in die Regentenstraße abbiegen konnte. Wie ein Sechser im Lotto kam es mir vor, dass direkt vor der »Weißen Lilie« noch ein Parkplatz frei war. Die Keupstraße, das wusste ich aus den letzten Jahren, war für den Zug gesperrt, der bog nämlich genau vor der »Weißen Lilie« aus Richtung Süden kommend von der Regentenstraße in die Keupstraße ab.

Ich sah auf die Uhr, ich war pünktlich, diesmal würde ich Sabine Mombauer nicht warten lassen. Ich rief mir noch einmal die kritischen Punkte in Erinnerung, die ich mit dem alten Mombauer besprochen hatte und die ich im Vertrag geregelt haben wollte. Fünf Jahre, länger mochte ich auch bei seiner Tochter nicht unterschreiben.

Beim Versuch, auszusteigen, presste mich eine dieser widerlichen Hitzewellen in den Sitz zurück. Ich transpirierte aus allen Poren, innerhalb weniger Sekunden klebten meine Schenkel aneinander, und das Sommerkleid an meinem Rücken saugte sich mit Schweiß voll.

Als die Attacke vorbei war und ich nach dem Türöffner griff, zerriss ein schriller Schrei die Luft, und etwas Schweres donnerte auf mein Autodach. Das Dachblech beulte sich nach innen und drückte mir auf den Kopf.

Automatisch duckte ich mich, schützte den Kopf mit den Händen und verbarg mein Gesicht unter den Unterarmen. Mein Herz raste. Ich dachte an Erdbeben und das Letzte Gericht und wartete auf den nächsten Schlag. Aber der folgte nicht. Stattdessen hörte ich Trommelschläge, und leise drang das Glockenspiel eines Spielmannszugs an meine Ohren. »Schön ist es, auf der Welt zu sein« spielten sie. Der Umzug und die Schützen fielen mir ein, und ich wusste, dass die bestimmt nicht bei Erdbeben marschierten.

Erleichtert ließ ich meinen Kopf los, öffnete die Augen und starrte direkt auf das Blut, das über die Frontscheibe lief. Von einer Stelle aus verteilte es sich in kleinen Rinnsalen über das Glas wie ein rotes Spinnennetz. Wieso war da Blut? Ich verstand gar nichts mehr. Mit zittrigen Fingern nestelte ich am Sicherheitsgurt herum, und dann passierte alles gleichzeitig.

Der Spielmannszug verstummte, Schreie gellten durch die Straße. »Sie ist einfach gesprungen!«, hörte ich jemanden rufen. Leute umringten mein Auto, deuteten auf die Windschutzscheibe und immer wieder nach oben. Im Auto sitzend konnte ich nicht sehen, wohin. Jemand öffnete mir die Tür und half mir aus dem Wagen. Blut verschmierte auch die Motorhaube.

Auf wackeligen Beinen stolperte ich um das Auto herum, drängelte mich in die Menschentraube auf dem Bürgersteig und sah Sabine Mombauer mit verrenkten Gliedern, toten Augen und nackten Füßen in einer Blutlache liegen.

»Wir müssen die Polizei rufen«, rief einer.

»Wie furchtbar!«, rief ein anderer.

Meine Zähne klapperten, und meine Beine wollten mich nicht mehr länger tragen. Alles drehte sich. Jemand griff mir unter die Arme, ich fühlte den sehr rauen Stoff einer Schützenuniform auf der Haut.

»Der Schock«, erklärte der Schütze. »Sie müssen sich setzen.«

Er führte mich weg von der Toten und drückte mich auf das kleine Spielplatzmäuerchen. Ein Schüttelfrost wütete durch meinen Körper. Arme, Beine und Hände schlackerten wirr hin und her, so als würden sie ein Eigenleben führten, so als gehörten sie nicht zu mir. Ich fror furchtbar. Wie unter einer Glasglocke oder so, als würde ich vor einer riesigen dreidimensionalen Leinwand sitzen, nahm ich das Treiben um mich herum wahr.

Ich sah, wie der Schützenzug in der Kurve zum Stocken kam, hörte, wie Spielmannszüge und Blaskapellen aus dem Takt gerieten, beobachtete, wie sich die Altenheimbewohner mit ihren Rollatoren vor dem Spielplatz sammelten. Alle Möglichkeiten abwägend, schwängerten die Pensionisten die Luft mit Gerüchten, Betroffenheit und Sensationslust.

Bald zerriss das Heulen einer Sirene das Gemisch aus Dichtung und Wahrheit, und wenig später versperrten Kranken- und Polizeiwagen, auf denen sich noch das Blaulicht drehte, die Regentenstraße. Notarzt und Sanitäter bahnten sich einen Weg zu Sabine Mombauer, Polizisten bellten die hartnäckig an ihren Plätzen in der ersten Reihe festhaltenden Gaffer an, trieben sie knurrend von der Unfallstelle weg und legten dann routiniert mit Absperrband eine Bannmeile drum herum.

Ich konnte sehen, wie der Notarzt sich über Sabine Mombauer beugte, in die Knie ging, damit aus meinem Blick verschwand, irgendwann wieder hinter meinem Auto auftauchte, nach oben deutete und in Richtung Polizei den Kopf schüttelte. Ich wusste, was das bedeutete. Ich wusste es schon länger: tot, finito, nichts mehr zu machen.

Zudem war mir sonnenklar, dass sie sich nicht das Leben genommen hatte. So fröhlich und gelöst wie heute Morgen hatte Sabine Mombauer noch nie geklungen. Außerdem erschien es mir irrsinnig, sich zu einem Vertragsabschluss zu verabreden und dann kurz davor Selbstmord zu begehen.

»Sie ist nicht gesprungen«, rief ich dem Sanitäter zu, der irgendetwas aus dem Wagen holte. Das Klappern meiner Zähne konnte man auf der ganzen Straße hören. »Wir waren verabredet, wir wollten zusammen einen Vertrag unterschreiben.«

Er klemmte sich etwas unter die Achsel, kam auf mich zu, bat ruhig um meinen Arm, fühlte den Puls, maß danach den Blutdruck, faltete dann eine Goldfolie auseinander und legte sie mir um die Schultern.

»Sie stehen unter Schock«, sagte er. »Ich sag dem Arzt Bescheid!«

»Sie ist nicht gesprungen!«, rief ich in das geschäftige Treiben um die Tote hinein und wunderte mich nicht, dass zwischen Polizisten und Sanitätern plötzlich die lange, dürre Gestalt von Brandt auftauchte. Er nickte nach rechts und links und klopfte auf Schultern.

»Alban«, hörte ich einen der Polizisten sagen. »Riechst du die Selbstmörder schon?«

Brandt zuckte mit den Schultern und beugte sich zu dem Kollegen hinunter. Ich vermutete, dass er sich erklären ließ, was passiert war.

»Sie hat sich nicht umgebracht!«, schrie ich wieder.

Ich wollte aufstehen, zu den Leuten hinrennen, sie aufrütteln, ihnen die Wahrheit einprügeln, aber meine Beine trugen mich immer noch nicht. Alles in mir drehte sich wie ein verrücktes Riesenrad. Ich stemmte mich gegen das Mäuerchen, aber ich konnte nichts gegen den Schwindel ausrichten, genauso wenig gegen den Zitterteufel, der durch meinen Körper fegte und ihn in ein Wechselbad von Heiß und Kalt tauchte. Und am allerwenigsten konnte ich mein wundes Herz beruhigen, das entweder viel zu schnell raste oder ganz auszusetzen drohte. Ich wusste nicht mal, ob ich wirklich geschrien hatte oder ob mich jemand hören konnte. Eingesperrt unter dieser Glasglocke sah ich hilflos dem zu, was um mich herum geschah.

Brandt redete jetzt mit dem Notarzt, gemeinsam beugten sie sich hinter meinem blutverschmierten Auto über die Tote, sie tauchten wieder auf, diskutierten etwas, beugten sich erneut herab. Während sie noch debattierten, rollte ein schwarzer Leichenwagen heran und schob sich zwischen die Rettungs- und Polizeiwagen.

Endlich kam Brandt zu mir herüber. Ich griff nach seinem Arm, zog ihn zu mir auf das Mäuerchen herunter und packte nach seiner Hand. Ich spürte sie, die Hand war rau und real, ich hockte nicht mehr unter einer Glasglocke.

»Niemand glaubt mir«, stammelte ich fiebrig, »Frau Mombauer hat sich nicht umgebracht.«

Brandt nickte, er redete leise und ruhig, aber ich verstand nicht, was. Dann tauchte plötzlich Arîn auf. Mit vor Schreck geweiteten Augen deutete sie auf mein blutverschmiertes Auto, auf den Leichenwagen, auf den ganzen Irrsinn hier. Brandt löste behutsam seine Hand aus der meinen und stand auf. Er beugte sich zu Arîn und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte, bat mich um den Schlüssel, vom dem ich nicht wusste, wo er war. Sie fischte ihn aus meiner Handtasche, packte mich am Arm, half beim Aufstehen, ließ mich nicht los, als ich in meinem Goldmantel mühsam ein Bein vor das andere setzte, so lange, bis wir in der »Weißen Lilie« standen.

Der große Tisch, die Stühle, die alte Anrichte, alles vertraut und fremd zugleich, und dann sah ich durch die Fenster nach draußen auf das Spielplatzmäuerchen.

»Da«, sagte ich zu Arîn und deutete auf die Blutstropfen, die bis hoch ans Fenster gespritzt waren. »Und da und da!«

Der Goldmantel knisterte bei jeder Bewegung.

»Das mache ich gleich weg«, versprach sie. »Komm in die Küche, damit du das Blut nicht mehr sehen musst.«

Willenlos ließ ich mich ziehen, willenlos ließ ich mich auf einen Stuhl am Pass drücken.

»Ich koch dir einen Tee«, entschied Arîn, und auch das nahm ich einfach so hin.

Der Goldmantel rutschte mir von den Schultern. Mir war nicht mehr kalt. Die Sonne, die durch die Keupstraße in die Küche schien, wärmte mir den Rücken. Mir fiel auf, dass ihr Licht den Tisch fast mittig teilte. Licht und Schatten, Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Auf dem Tisch war es gerecht verteilt, in meinem Leben nicht. Das wurde von Tag zu Tag düsterer, da konnte die Sonne noch so eifrig Schönwetter machen.

Arîn schob mir eine dampfende Tasse hin. Fencheltee hatte sie gekocht, den hasste ich wie die Pest, aber das war egal. Ich legte die Hände um das warme Porzellan und trank den Tee brav in kleinen Schlucken, weil ich wollte, dass sich der schwere Klumpen im Bauch löste, weil ich wollte, dass das Zittern aufhörte und mein Körper mir wieder gehorchte. Ich hörte mein Herz schlagen, immer noch viel zu schnell, aber immerhin in einem Rhythmus, der nicht mehr wie eine defekte Tachonadel wild nach ob und unten ausschlug.

»Frau Schweitzer?«

Brandt stand plötzlich neben mir. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben mich. Vorsichtig stellte ich die Tasse auf den Pass, meine Hände zitterten kaum noch. Eine schwere, ungesunde Ruhe machte sich in mir breit. Was sollte jetzt noch kommen? Irgendwie war doch alles egal.

»Fühlen Sie sich in der Lage zu reden?«

Ich nickte und sah an ihm vorbei auf die Schöpfkellen und Schneebesen, die über dem Herd baumelten und unschuldig auf ihren nächsten Einsatz warteten. Wie spät es wohl war? Mussten wir schon anfangen zu kochen? Was hatten wir heute für Gäste? Wie sah es mit den Vorräten aus? Musste ich improvisieren? Sonntag war immer der letzte Tag vor dem wöchentlichen Großeinkauf.

»Warum ist Frau Mombauer Ihrer Meinung nach nicht freiwillig gesprungen?«

Ich erzählte von ihrem Anruf, von unserem Gespräch. Meine Stimme klang blechern und fern.

»Mit Danziger Goldwasser wollte sie mit mir auf den Vertrag anstoßen«, erklärte ich. »Sie war klar und entschieden. Erleichtert, fast fröhlich. Keiner bringt sich um, der beschlossen hat, sein Leben neu zu regeln.«

»Bei Selbstmördern gibt es nichts, was es nicht gibt. Viele nehmen die Gründe für ihre Tat mit ins Grab.«

Brandt sah mich wieder mit diesem mitfühlenden Hundeblick an, den ich heute noch weniger aushielt als an den letzten Tagen. Deshalb lenkte ich meine Augen zu dem wässrigen Gelb des Teerestes in der Tasse.

»Trotzdem«, murmelte ich.

»Frau Kalay hat mir bereits erzählt, dass Herr Mombauer keine Tiere in seiner Wohnung hielt. Wissen Sie vielleicht, ob seine Tochter Haustiere hatte?«, wechselte Brandt das Thema.

Tiere? Warum interessierte sich Brandt in einer solchen Situation für Tiere? Ich verstand es nicht, aber das war egal.

»Auf keinen Fall Reptilien«, fiel mir ein. »Vor denen ekelt sie sich selbst auf Bildern. Aber, sorry, ist das nicht ziemlich nebensächlich?«

»Der Notarzt hat mich auf zwei kleine Einstiche an ihrem Knöchel aufmerksam gemacht«, erklärte Brandt. »Kann sein, dass sie gebissen wurde.«

Ich verstand nicht, was das eine mit dem anderen zu schaffen hatte.

»Sie trug keine Schuhe«, murmelte ich.

»Auch das ist merkwürdig«, stimmte Brandt mir zu.

»Also?«, fragte ich.

»Ich weiß noch nicht, was das alles zu bedeuten hat«, erklärte er. »So wenig, wie ich die Spurenlage in dem Raum einschätzen kann, aus dem sie gesprungen oder gefallen ist. Da ist einiges sehr untypisch und spricht gegen Selbstmord, aber das ist noch kein Beweis für einen Mord. Wir müssen jetzt die Ergebnisse der Obduktion abwarten. Vielleicht bringen die neue Erkenntnisse.«

»Sie ist nicht gesprungen«, murmelte ich trotzig in meinen Teerest.

»Von der Statistik her muss ich Ihnen widersprechen. Zwei Selbstmorde, innerhalb einer Woche, die sich als Morde …« Er versuchte es mit einem Lächeln, aber darauf sprang ich nicht an. »Kann ich noch kurz auf unseren anderen Fall zurückkommen?«, erkundigte sich Brandt dann vorsichtig. »Deshalb bin ich nämlich eigentlich hier.«

»Ecki hat sich nicht bei mir gemeldet, falls es das ist, was Sie wissen wollen. Wenn er es getan hätte, hätte ich ihn Ihnen mit Freuden ans Messer geliefert. Aber er muss gestern in unserer Wohnung gewesen sein. Er hat sich seinen Reisepass geholt.«

»Phase zwei«, nickte Brandt. »Trotz und Wut, der Trennungsprozess schreitet voran. Ob Ihnen meine Neuigkeiten beim weiteren Verlauf helfen, weiß ich allerdings nicht. Es sieht nämlich nicht gut aus für Ihren Freund. Wir wissen mittlerweile, dass sich Herr Matuschek am Tage des Streits ein Motorboot geliehen hat, das einem Herrn Eilert gehört, der wiederum der Chef von ›All-inclusive‹ ist.«

Na los, prügelt ruhig weiter auf mich ein, hätte ich am liebsten geschrien. Noch einen Schlag mehr ins Kontor, darauf kam es nun wirklich nicht mehr an! Ich fasste es nicht, dass Ecki mit diesem Giftzwerg Eilert so eng war, dass er sich ein Boot von ihm auslieh!

»In diesem Motorboot haben wir die Handtasche von Frau Nowak gefunden. Das verstärkt den Verdacht gegen Herrn Matuschek. Deshalb habe ich ihn gestern zur Fahndung ausschreiben lassen.«

Eilert, Minka, Ecki. Neue Abgründe. Wie weit ging Eckis Verrat? Ich wagte es nicht, weiterzudenken. Aus Angst vor dem, was plötzlich möglich schien, umklammerte ich die Teetasse wie einen Rettungsanker. Als ob mir die Halt geben könnte!

»Entschuldigung«, unterbrach Eva die Schockstille im Raum. »Was machen wir mit heute Abend? Soll ich den Gästen absagen?«

»Was sagt die Gästeliste?«, fragte ich ganz automatisch.

»Übliche Sonntagabendauslastung. Dreißig Voranmeldungen«, wusste Eva.

»Na dann, auf in den Kampf!« Ich ließ die Tasse los und zwang mich zum Aufstehen. Arbeit, Alltag, Routine, das waren meine Rettungsanker.

Brandt schickte mir einen zweifelnden Hundeblick.

»Wenn ich nicht mehr koche«, erklärte ich ihm, »können Sie mir direkt die Kugel geben.«

Der Weg in die Kühlräume war weiter als sonst, die Vorräte, wie befürchtet, begrenzt. Sonntagabend halt. Ich besah mir die Reste und kombinierte.

»Arîn, bei den Vorspeisen anstelle der Zuckerschoten eine Mousse aus geräucherten Forellen, und den Spargelsalat ersetzen wir durch eine Suppe aus Petersilienwurzeln mit marinierten Radieschen. Eva, als Amuse-Bouche eine Scheibe Schwarzwälder auf geröstetem Graubrot mit Meerrettichschaum«, rief ich in die Küche.

Dann holte ich mir Fleisch und Fisch aus der Kühlung, schleppte sie in die Küche zu meinem Arbeitsplatz und begann zu kochen.

An diesem Abend kochte ich, um zu vergessen. Es funktionierte, ich konnte den Schalter in meinem Gehirn umlegen. Hände, die ihr Handwerk verstanden, eine Zunge, die feinste Nuancen schmeckte, Ohren, für die das Klappern der Schneebesen Musik war, Füße, die fest auf dem Boden standen. All das hatte mich immer geerdet, und all das gab mir auch jetzt Kraft. Die Köchin in mir hatte keinen Schaden genommen, und das war gut so.

Wie von selbst fanden Arîn und ich einen gemeinsamen Rhythmus, Gülbahar stand rechtzeitig auf dem Spülposten, Eva dosierte die Bestellungen so, dass wir nicht mehr als üblich in Stress gerieten.

 

Alles lief gut an diesem Abend, bis Irmchen Pütz zu später Stunde – wir waren bereits beim Saubermachen – Sabine Mombauers Tod in die Küche zurückbrachte. Sie trug ihr Sommerkostüm aus sandfarbenem Leinen mit dem türkisfarbenen Einstecktuch in der Brusttasche und türkisfarbene Schuhe. Die Haare waren frisch geschnitten und in Form geföhnt. So schick machte sich Irmchen nur, wenn sie ausging.

Jeden Sonntagnachmittag traf sie sich mit ihren Freundinnen im Eiscafé »Venezia« auf der Buchheimer Straße. Heute waren die rüstigen Damen nach Kaffee und Kuchen bestimmt weiter zum Festzelt der Schützen gezogen, wie die »alten Mülheimer Mädchen« dies jedes Jahr taten. Irmchen wirkte gleichzeitig erschöpft und aufgebracht. Ein bisschen merkte man das auch an der Frisur, wo auf der linken Seite einige Strähnen wild abstanden, so als hätte sich Irmchen an dieser Stelle die Haare gerauft. Mit ihrem Stock hinkte sie zu einem der Stühle am Pass und ließ sich darauf nieder.

»Stimmt es, was im Festzelt erzählt wird?«, fragte sie. »Dass Sabine aus dem Fenster gesprungen ist?«

»Sie ist nicht gesprungen.« Ich wusste nicht, zum wievielten Mal ich diesen Satz wiederholte.

»Aber tot ist sie. Ich brauche einen Schnaps«, sagte Irmchen. »Hast du Sechsämtertropfen?«

Sechsämtertropfen? Wer führte heute noch Sechsämtertropfen? Ich ging nach draußen ins Restaurant, wo Eva die Tageseinnahmen in eine Geldkassette legte, und nahm eine Flasche Topinambur aus dem Spirituosenregal. »Rossler« nannte man diesen Schnaps im Badischen, denn sein Genuss hatte etwas von einer Rosskur. Dieser Schnaps putzte die Eingeweide so gründlich durch wie »Rohrfrei« die Abwasserleitungen.

»Katharina, ich muss. Der Babysitter wartet«, verabschiedete sich Eva.

Ich wusste, dass sie auf dem Heimweg wie immer bei der Bank vorbeifuhr und die Geldkassette einwarf. An der Tür traf sie mit Pawan zusammen, Arîns Freund oder Bekanntem, so klar war das für Arîn noch nicht. Pawan jedenfalls wollte sie unbedingt, auch Arîns Familie hätte eine enge Verbindung gern gesehen, aber Arîn wollte vielleicht noch hinaus in die große weite Welt. Deshalb hielt sie Pawan auf Abstand und hatte immer wieder mit mir über Liebe, Karriere, Kinder und all ihre Zweifel geredet, mich sogar zu ihrem Vorbild erklärt, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem dieses ganze Durcheinander begann.

»Guten Abend, Frau Schweitzer. Ist Arîn schon fertig?«, fragte Pawan. Er war ein höflicher und sehr ernsthafter junger Mann, der an der Fachhochschule in Deutz Maschinenbau studierte. Ich konnte verstehen, warum die Kalays ihn gern an Arîns Seite sahen.

»Denk schon. Komm mit«, antwortete ich, klemmte die Flasche unter den Arm, holte zwei Schnapsgläser aus dem Regal und ging mit Pawan zurück in die Küche. Seine Augen leuchteten, als ihm Arîn, die die Kochklamotten gegen ein luftiges Sommerkleid getauscht hatte, aus der Waschküche entgegenkam.

»Ein Cousin von Pawan hat Geburtstag«, erklärte sie mir und rollte dabei mit den Augen. »Ich kann aber auch bleiben, wenn du mich noch brauchst.«

»Ab mit euch«, sagte ich. »Nach dem Tag tut dir ein bisschen Abwechslung gut.«

Für einen Augenblick wäre ich am liebsten mit den beiden gegangen, hätte mich gern an den mit allerlei Spezialitäten beladenen Couchtisch gesetzt, wie ich ihn von Besuchen bei Arîns Familie kannte und wie es ihn bestimmt auch im Wohnzimmer von Pawans Cousin gab. Immer wurde viel aufgefahren, immer zeigten die kurdischen Köchinnen, wie vielfältig ihre Küche und ihr Können waren: Kichererbsen mit Sesam, Bulgur mit Nüssen und Datteln, Granatapfel-Gurken-Salat, Lamm-Kebab, in Rosensirup gebackene Feigen, Basbousa, dieses feine Gebäck aus Grieß und Mohn, und noch tausend andere Dinge. Für mich jedes Mal eine kulinarische Entdeckungsreise.

Zu gern hätte ich beim Essen mit fremden Leuten über dies und das und auf gar keinen Fall über mich geredet und dem kehligen Kurdisch gelauscht. Stattdessen stellte ich die Flasche Schnaps auf den Tisch und goss Irmchen und mir einen Rossler ein.

»Ich weiß es noch so, als wär's gestern gewesen«, orakelte Irmchen und sah auf die Keupstraße hinaus, als stünde dort eine Leinwand. »Trübes Novemberwetter, schon seit Wochen kalt und feucht, der Rhein eine dicke Nebelsuppe. Ich hab damals bei KHD auf der Schanzenstraße gearbeitet und konnte in der Mittagspause nach Hause gehen. Schon vom Clevischen Ring aus hab ich den Auflauf gesehen. Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen. Die Rosi Mombauer ist einfach gesprungen. Ohne Abschiedsbrief, ohne alles. ›Selbstmörderwetter‹, hat einer von den Sanitätern gemeint.«

Irmchen sah mich an, als wäre damit alles gesagt, und kippte den Schnaps in einem einzigen Zug hinunter.

»Nur weil die Mutter gesprungen ist, muss es die Tochter nicht auch tun«, widersprach ich.

»›Gemütskrank‹, hat es damals geheißen. Sanft und scheu ist sie gewesen, die Rosi Mombauer. Im Treppenhaus haben wir manchmal ein bisschen miteinander geredet oder uns Eier und Mehl ausgeliehen, wenn eine von uns das beim Einkauf vergessen hatte. Ich habe sie mal zum Kaffee eingeladen, aber sie wollte nicht. Angeblich keine Zeit, aber ich glaube, das war die Krankheit. Gemütskrank, heute heißt das Depression. Ist vererbbar, hab ich gelesen. Aber dass die Krankheit die Sabine gerade jetzt packt, wo der Vater tot ist.« Irmchen schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Ehe soll wohl nicht gut gewesen sein. ›Stumm‹, hat Sabine immer gesagt. Sie hat immer dem Vater die Schuld am Selbstmord der Mutter gegeben. Ich meine, sie war siebzehn damals. Da denkt man noch schwarz-weiß. Mit achtzehn ist sie sofort ausgezogen. Er konnte nicht auf sie zugehen und sie nicht auf ihn. Wie's halt in manchen Familien so geht. Sie hat dem Vater bis zum Schluss nicht verziehen.«

»Doch, hat sie«, widersprach ich. »Sie wollte Frieden mit der Vergangenheit schließen, so wie du es ihr geraten hast. Alles entrümpeln, klar Schiff machen, sogar hierher zurückziehen. Da bringt man sich doch nicht um!«

»Weißt du's?« Irmchen deutete auf die Flasche, ich schüttete ihr ein zweites Mal ein. Wieder trank sie das Glas in einem Zug leer. »Verdammich«, fluchte sie, als sie wieder Luft bekam. »Der räumt einem wirklich den Magen auf.«

»Gilt im Badischen als Medizin.« Ich trank auch einen Schluck. Karin Kilius hatte den Schnaps gebrannt. Eine junge Brennerin, die es verstand, der Topinambur die Schärfe zu nehmen und dafür das Nussige der Wurzel zu betonen.

»Ich frag mich, was jetzt mit dem Haus wird.« Irmchen hickste leicht, schob mir aber das Glas noch einmal hin. »Wohin sollen wir denn jetzt die Miete überweisen?«

»Erst mal weiter auf Mombauers Konto. Und dann gibt es eine festgelegte Erbfolge«, sagte ich. »Immer der oder die nächste noch lebende Angehörige. Wenn es im Testament nicht anders geregelt ist.«

»Lebende Angehörige, das ist bei Mombauers leicht, weil es so gut wie keine gibt«, nuschelte Irmchen, unterbrochen von gelegentlichen Hicksern. »Rosi hatte keine Geschwister, Mombauer nur eine Schwester, Hanna. Die ist auch schon tot. Brustkrebs vor zehn Jahren, glaub ich. Sabine war nicht verheiratet und hat keine Kinder. Hanna hat ein Kind, Tommi. Also Tommi.« Nicht mehr ganz zielsicher griff sie nach dem Schnapsglas und leerte es. »Der wird das Haus ratzfatz verkaufen. Den interessiert nur Geld und ein feines Leben.«

Mit trübem Blick plierte Irmchen erst das leere Schnapsglas und dann mich an. Sie war keine geübte Trinkerin.

»Eigentlich wollte ich noch ein paar Jährchen warten, bis ich auf den Ostfriedhof ziehe. Aber jetzt ist es am besten, ich rede mal ein ernstes Wörtchen mit dem Herrgott, dass er mich schneller nach Hause holt.« Noch ein trüber Blick in meine Richtung, dann schloss sie die Augen, und ihr Kopf sackte tiefer und tiefer.

»Wach bleiben, Irmchen!«, rief ich. Vergebens, denn schon schlug sie mit der Stirn auf dem Pass auf.

Ich half ihr auf die Beine und die Treppen hoch zu ihrer Wohnung, wo sie schon wieder sicher war, allein klarzukommen. Um mir das zu demonstrieren, schleuderte sie mit keckem Tritt die türkisfarbenen Pumps von den Füßen und schlüpfte in bequeme Hausschuhe.

»Vielleicht ist Tommi doch nicht so ein Windhund? Sabine hat ja immer an ihn geglaubt«, beschloss sie und hauchte so dem Abend beim Abschied noch etwas Optimismus ein.

Nicht mehr, das wusste ich aus meinem letzten Gespräch mit Sabine Mombauer. Und er erbte das Haus. Wenn die Ergebnisse der Spurensicherung und der Obduktion ergaben, dass Sabine Mombauer ermordet worden war, stand er auf der Liste der Verdächtigen ganz oben. Ungefähr da, wo Ecki beim Minka-Mord positioniert war.

 

Ich ging zurück in die »Weiße Lilie«, ließ die Rollläden herunter und schloss die Tür ab. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich in zwanzig Minuten noch eine letzte Linie 4 erwischen würde. Die Spurensicherung hatte mein blutverschmiertes Auto zwecks weiterer Untersuchungen mitgenommen. Ich hatte keine Ahnung, wann ich es zurückbekam. Egal, jetzt würde ich mich sowieso nicht mehr hinters Steuer setzen. Zwanzig Minuten.

Was sollte ich so lange an der Haltestelle Keupstraße auf die Bahn warten? Die Zeit reichte üppig, um noch bis zum Wiener Platz zu gehen, und die Nacht war mild. Ein leichter Wind blies durch die Mülheimer Straßen und ließ die blau-weiß-roten Fähnchen noch den einen oder anderen Salto turnen oder in fiebriger Hektik hin und her flattern. So, als wüssten die kleinen Dreiecke, dass sie spätestens morgen wieder für ein Jahr eingemottet wurden. Wie schon vor ein paar Tagen trug die Luft traurige Akkordeonklänge durch das Veedel und träufelte diese in die Ohren später Passanten und somit auch in meine. Ich erkannte »Les mots d'amour« von Edith Piaf. »Wenn du mich für immer verlässt, schwöre ich dir, dass ich an der Liebe sterben werde«, hatte mir mal ein Koch in Paris den Text übersetzt. Wer starb schon an der Liebe? Liebe war nicht tödlich. Eher eine hartnäckige Krankheit, die im Laufe des Lebens immer mehr Narben hinterließ.

Mein Handy klingelte, als ich an dem geschlossenen Büdchen Ecke Ratsstraße vorbeiging. Das hieß in der Gegend »Kiosk des Grauens«, weil seine verstaubten Auslagen dem mageren Angebot eines karpatischen Konsums in übelsten Ceauçescu-Zeiten glichen.

»Servus, Kathi.«

Eckis Stimme verschlug mir die Sprache und trieb meinen Puls in die Höhe. »Nudeln, Dosensuppen, Reis« las ich auf einem handgemalten Schild im Fenster des Kiosks. Die Buchstaben verschwammen mir vor den Augen, und meine Gefühle wurden im Schleudergang durcheinandergewirbelt.

»Kathi? Bist noch da?« Ein nervöses Glucksen. »Weißt schon, dass ich in einem sauberen Schlamassel gelandet bin.«

Meine Gefühlswaschmaschine destillierte Wut aus dem Schleudergang.

»Kannst du deinen Schwanz nicht einmal in der Hose lassen, wenn es dich juckt, du elender Dreckskerl?«, presste ich heraus, als meine Stimme mir wieder gehorchte.

»Geh Kathi, ich versteh schon, dass du verletzt bist, aber das ist doch eh ein Nebenschauplatz«, gurrte Ecki besänftigend.

Wenn er glaubte, mich mit diesem Gurren einlullen zu können, dann irrte er sich gewaltig.

»Nebenschauplatz, dass ich nicht lache! Direkt vor meinen Augen in der ›Weißen Lilie‹! Wenn das nicht große Bühne ist.«

»Des hätt sich doch alles ausgehen können, wenn nicht einer die Minka umbracht hätt«, wiegelte Ecki ab. »Und jetzt schaut es aus, als ob ich der Killer bin. Kathi, du kennst mich. Ich bin ein Hallodri, ein treuloser Husar, aber kein Mörder.«

»Kennen tu ich dich überhaupt nicht mehr«, schäumte ich die verstaubten Schnapsflaschen und ausgebleichten Nudelpackungen im Schaufenster des »Kiosks des Grauens« an. »Vor meinen Augen, Ecki! In meinem Laden!«

»Kathi, darfst gern beleidigt sein und Pech und Schwefel über mir ausschütten, wenn dieser Killerverdacht aus der Welt ist. Da will mich einer in ein Odlfass stecken und drin verrecken lassen für nichts und wieder nichts. Ich hab die Minka nicht um'bracht«, greinte Ecki mitleidig in mein Ohr.

»Ecki, das interessiert mich nicht«, tobte ich weiter und drehte mich zu dem kleinen Platz vor der Luther-Kirche um. »Für mich bist du tot, erledigt, endgültig passé.«

»Geh, Kathi, da will ich einmal, dass du mir hilfst, und dann –«

»Hilfe? Nach der Nummer?« Ich schrie jetzt so laut, dass die Blüten der japanischen Zierkirschenbäume auf dem Platz erzitterten. Zumindest glaubte ich das.

»Aber ich hab die Minka nicht um'bracht.«

»Erzähl das der Polizei!«, brüllte ich über den Platz. »Die hat dich sowieso schon zur Fahndung ausgeschrieben. Wo steckst du eigentlich? Hast du dich wieder nach Bombay abgesetzt?«

»Ich kann nicht zur Polizei! Weißt, was die Kieberer mit mir mach'n? Die werden mich ins Häfn stecken. Ich kann aber nicht einsperrt sein. Da dreh ich durch. Hinter Gittern halt ich keine Stund'n aus.«

»Du bist ein solcher Egoist, Ecki! Du brichst mir das Herz und machst alles kaputt. Und das Einzige, was dich plagt, ist deine Platzangst. Werde erwachsen oder lass es bleiben. Ist mir wurscht. Du kannst mich mal.«

»Kathi!« Eckis Stimme veränderte sich. Die Panik wurde ein wenig zurückgefahren und durch Eindringlichkeit ersetzt. »Ich weiß, dass die Kieberer mit dir reden. Sag ihnen, dass ich es nicht war. Und sag ihnen, dass die Minka ein Kettl tragen hat. Silbern mit einem kleinen Granatsteinanhänger. Das Kettl hat g'fehlt auf dem Suchbild in der Zeitung. Wenn ihr das Kettl habt, dann habt's ihr den Täter.«

»Das ist das Einzige, was du zu einer Entlastung vorbringen kannst? Eine fehlende Kette?« Ich japste nach Luft und trat mit den Füßen gegen die Bordsteinkante, bis meine Zehen vor Schmerz glühten. »Vielleicht ist die Kette in ihrer Handtasche in Eilerts Boot?«, schäumte ich weiter. »Damit bist du ja nach dem Streit mit Minka über den Rhein gezischt. Das weiß ich von der Polizei, und von dir würde ich zu gerne wissen, was du mit diesem Giftzwerg zu tun hast. Eilert! Weißt du, was der für eine Drecksnummer in der ›Weißen Lilie‹ abgezogen hat? Was will der überhaupt von mir? Hast du hinter meinem Rücken versucht, die ›Weiße Lilie‹ zu –?«

»Wie kommt denn das Tascherl von der Minka in das Boot?«, unterbrach mich Ecki panisch. »Bist ganz blind, Kathi? Siehst nicht, wie mich da einer pflanz'n will? Mich zum Sündenbock macht?«

»Ecki! Du hast dich in den Schlamassel hineingebracht, jetzt sieh zu, dass du wieder rauskommst.«

»Schad, dass du nicht über den Tellerrand gucken kannst, Kathi. Hab ich mich halt geirrt bei dir.«

»Genau, Ecki! Unsere ganze Beziehung war ein riesiger, beschissener Irrtum!«, brüllte ich wieder über den Platz. »Irrtum, Irrtum, Irrtum«, wiederholte ich so lange, bis in der Regentenstraße ein Fenster aufgerissen wurde und jemand »Ruhe« nach unten donnerte.

Da wurde ich still, und plötzlich war die Leitung tot, und ich konnte nicht sagen, ob Ecki oder ob ich aufgelegt hatte.

Ich steckte das Handy ein und stand einfach nur da. Hinter mir der »Kiosk des Grauens«, vor mir der kleine Platz mit seinen Zierkirschen, Tischtennisplatten und der Kletterspinne. Rechts von mir die Luther-Kirche mit der zugenagelten Eingangstür. Wieder hörte ich das Akkordeon. Es jammerte nun ganz leise. Als es ganz verstummte, verpuffte auch meine Wut und machte einer tiefen Traurigkeit Platz. Ich fühlte mich allein und einsam und verstand einfach nicht, wie alles so weit gekommen war.