FÜNF

Ich suchte mein Auto. Es stand nicht am Von-Sandt-Platz, wo ich sonst meist noch irgendwo einen Parkplatz fand. Ich lief die Siegesstraße bis zum Finanzamt hinunter, ohne es zu entdecken. Hatte ich es auf dem Gotenring im absoluten Halteverbot geparkt? Hatte ich damit einen Unfall gebaut? Sosehr ich mich auch anstrengte, ich erinnerte mich nicht daran, wie ich gestern Nacht nach Hause gekommen war. Die Zeit zwischen dem Betrachten von Brandts Foto und dem Öffnen der Haustür in der Kasemattenstraße füllte nichts als ein schwarzes Loch.

Am Gotenring parkierten wie immer einige Wagen im absoluten Halteverbot, aber nicht meiner. War die Karre abgeschleppt worden? Oder sollte ich so klug gewesen sein, den Wagen vor der »Weißen Lilie« stehen zu lassen? Bevor ich die Telefon-Odyssee durch die Kölner Abschleppfirmen in Angriff nahm, wollte ich in Mülheim nachsehen.

Am Stadthaus nahm ich die Linie 4 und ließ mich damit zur Keupstraße bringen. Alle Zeitungen, die um mich herum gelesen wurden, titelten mit der Finanzkrise. Mehrmals las ich, dass die Kanzlerin sauer auf Griechenland war. Die Märkte, die Experten, die Politiker, überhaupt alle waren in Sorge um den Euro. Entgegen der allgemeinen politischen Großwetterlage hatten meine persönlichen Sorgen ausnahmsweise mal nichts mit Geld zu tun.

Die kleinste meiner Sorgen wurde ich schnell los. Mein Wagen stand tatsächlich brav zwischen zwei Bäumen vor dem Spielplatz, wo ich ihn gestern nach dem Besuch bei der Polizei abgestellt hatte.

Als das geklärt war, drängten sich die größeren Sorgen in die erste Reihe. Wer hatte die Fotomontage von Ecki und Minka gemacht? Oder sie in Auftrag gegeben? Was für eine Rolle spielte Minka dabei? Hatte dieses Foto etwas mit ihrem Tod zu tun? Fragen über Fragen und nicht die leiseste Idee einer Antwort. Wieder wählte ich Eckis Nummer, diesmal hörte ich, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei. Hatte er das Handy ausgestellt? War sein Akku leer? Wo steckte er?

Autohupen ließ mich zusammenfahren, Herr Yildiz parkte seinen Getränkelaster vor der Tür der »Weißen Lilie«. Stimmt, heute war Donnerstag, Yildiz kam immer am Donnerstag, nur ich hatte heute nicht an ihn gedacht.

»Schützenfest …« Yildiz deutete beim Aussteigen auf die blau-weiß-roten Fähnchen, die im Zickzack über die Straße gespannt waren. Fähnchen, die jedes Jahr zum Schützenfest aufgehängt wurden. Auch die hatte ich bisher nicht gesehen. »Wenn die Schützen in den nächsten Tagen so ein Wetterchen haben, dann geht im Festzelt ordentlich Kölsch weg. Das ist ein Sönnchen, was, Frau Schweitzer?«

Stimmt, auch dass die Sonne wieder schien, war mir bisher entgangen.

»Ein paar Kästen Wasser mehr, Frau Schweitzer? Und was ist mit Light-Bier? Das geht sehr gut bei Sonnenschein«, pries er seine Ware an. »Ich persönlich steh nicht auf dieses Light-Zeugs. Es ist doch eigentlich eine Schande, dass die Leute immer weniger Kölsch trinken, oder? Stattdessen dieses neumodische Zeugs. Mix hier, Brause da. Dabei gibt es doch gegen einen ordentlichen Sommerdurst nichts Besseres als ein frisch gezapftes Kölsch.« Ein sattes Rollern ertönte, als er die Tür des Transporters aufschob. »Können Sie mal die Tür festhaken, damit ich ausladen kann?«

Ich kramte meinen Schlüssel aus der Tasche und wollte die Tür aufsperren. Brauchte ich aber nicht, die Tür war offen. Mein Pulsschlag schoss in die Höhe und machte mich so wach, wie ich seit Tagen nicht gewesen war. In aller Eile inspizierte ich die »Weiße Lilie«. Gläser, ordentlich aufgereiht, die teure Kaffeemaschine an ihrem Ort, Teller, Besteck, alles im Restaurant war da, nur in der Küche fand ich eine Bratpfanne auf dem Boden. Keiner von uns Köchen ließ eine Bratpfanne am Boden liegen, jemand war in der Küche gewesen. Ich lief zurück zur Eingangstür.

»Dachte schon, Sie hätten mich vergessen«, meinte Yildiz, der mit einem Stapel Wasserkisten davor wartete.

Ich hielt ihm die Tür, kontrollierte das Schloss. Es wies keinerlei Kratzspuren auf. Entweder ein Profi oder jemand, der einen Schlüssel hatte. War Ecki gestern Nacht zurückgekommen? Warum?

»Was ist jetzt, Frau Schweitzer? Wasser wie immer oder ein paar Kästen mehr?«, fragte Yildiz.

»Wie viele Kästen stehen noch unten? Zwei? Dann stellen Sie noch zwei zusätzliche dazu. Das muss reichen, auch bei schönem Wetter. Drei Kästen Kölsch und noch einen Kasten Light, Mix, Brause gemischt.«

»Merhaba«, grüßte Yildiz Arîn, die jetzt zur Tür hereinkam, dann verschwand er, um die restlichen Getränke zu holen.

»Jemand war heute Nacht in der ›Weißen Lilie‹«, klärte ich Arîn auf. »Die Tür war offen, und in der Küche liegt eine Bratpfanne auf dem Boden. Ich muss in den Kühlräumen und im Weinkeller nachsehen, ob nichts geklaut wurde. Kontrolliere, was Yildiz gebracht hat, und zeichne dann den Lieferschein gegen.«

In den Kühlräumen fehlte nichts, auch im Weinkeller war nicht geräubert worden.

»Alles in Ordnung«, sagte ich zu Arîn, als sie mir den Lieferschein reichte. »Es ist nichts geklaut worden, dennoch beunruhigt es mich, dass jemand hier drin gewesen ist.«

»Ka… kann es nicht sein, dass du gestern vergessen hast, abzuschließen?«, stotterte sie.

Das schwarze Loch. Durchaus möglich, dass ich nicht nur das Auto stehen gelassen, sondern auch vergessen hatte, die Tür abzuschließen.

»Aber was ist mit der Bratpfanne?«

Jetzt sah Arîn mich sehr merkwürdig an. Hatte ich etwas Unsinniges gesagt? Ich kam nicht dazu, nachzufragen, denn das Klingeln des Telefons ließ Arîn fluchtartig ins Restaurant spurten.

»Einen Moment, ich muss nachsehen, ob sie schon da ist«, hörte ich sie antworten.

»Das ist Frau Mombauer für dich«, flüsterte sie, die Hand über die Sprechmuschel gelegt beim Zurückkommen. »Soll ich ihr sagen, dass du sie zurückrufst?«

Der Pachtvertrag. Die Wohnung. Dafür hatte ich nun wirklich keine Zeit, das musste warten. Ich nickte.

»Sie sagt, dass sie heute Abend vorbeikommt, damit du den Mietvertrag unterschreiben kannst«, berichtete Arîn, nachdem sie den Off-Knopf gedrückt hatte. Wieder sah sie mich so merkwürdig an. »Wie fühlst du dich? Willst du die ›Weiße Lilie‹ heute überhaupt aufmachen?«

»Natürlich! Gülbahar kommt doch, oder? Und Ecki hat mich, wenn es wichtig war, noch nie im Stich gelassen.«

»Ecki kocht heute hier?« Jetzt sah Arîn mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.

Natürlich, ich musste es ihr erklären. »Ich war gestern von dem Foto genauso schockiert wie ihr. Aber dieses Foto ist nicht echt, das ist montiert, zusammengepuzzelt. Ecki und Minka hatten nichts miteinander, oder? Ganz ehrlich, Arîn, und du brauchst keine Angst zu haben, dass du mich verletzt oder so. Hast du jemals mitbekommen, dass zwischen den beiden etwas lief?«

»Ich schwör's dir, niemals«, flüsterte Arîn. »Minka hat mir doch immer nur von diesem verheirateten Liebhaber erzählt, ohne je seinen Namen zu nennen.«

»Siehst du, und das kann nicht Ecki gewesen sein. Denn Ecki ist nicht verheiratet. Ich sage dir, da läuft eine ganz, ganz miese Sache gegen uns. Wir müssen Ecki aus der Schusslinie bringen. Der hat mit alldem nichts zu tun.«

»Aber«, setzte Arîn an und stockte.

»Was, aber?« Ich schickte ihr einen Blick, der sagen sollte, egal, was jetzt kommt, es bringt mich nicht um.

»Gestern, als du bei der Polizei warst, da habe ich mitbekommen, dass Ecki einen Anruf von Tomasz gekriegt hat. Und Tomasz heißt ein Freund von Minka aus dem ›All-inclusive‹.«

»All-inclusive«, schon wieder das »All-inclusive«. Liefen dort alle Fäden dieser Intrige zusammen?

»Wer ist dieser Tomasz? Was macht er im ›All-inclusive‹?«

»Mitte dreißig, schätze ich. Was er genau macht, weiß ich nicht. Das ist einer, der Gott und die Welt kennt und in vielen Töpfen rumrührt. Sieht sehr gut aus, die Mädels im ›All-inclusive‹ stehen alle auf ihn.«

»Auch Minka?«

»Die hatte mal was mit ihm. Aber nur kurz.«

»So, so.« Das war doch ein Hinweis. »Tomasz und weiter?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ich kenne ihn nur als Tomasz. Und der Name ist doch so ungewöhnlich, dass ich gestern, als Ecki telefoniert hat, natürlich sofort an Minkas Tomasz gedacht habe. Deshalb hat es mich doch so gewundert, dass Ecki ihn auch kennt.«

»Tomasz und ›All-inclusive‹. Darum kümmere ich mich später. Jetzt müssen wir uns an die Arbeit machen.«

»Da ist noch was …« Sie ging zur Kasse ins Restaurant und fuhr den Rechner hoch. »Ich weiß nicht, ob ich dir das heute noch zumuten kann. Du wirst ausflippen«, fürchtete sie, als sie ein paar Internetseiten aufrief und mir zeigte, was sie im Netz zur »Weißen Lilie« entdeckt hatte.

»Die ›Weiße Lilie‹. Keine gute Erfahrung! Machen auf fein. Teuer und nicht gut für den Preis! Wurde leider auch nicht satt. Und dafür war ich extra auf die andere Rheinseite gefahren. Sonnyboy

»Das Essen, für das Katharina Schweitzer immer wieder hoch gelobt wurde, war so lala. Und der Rest war medioker. Was meine ich damit? Ich muss jetzt aufpassen, dass das, was ich schreibe, nicht arrogant oder abschätzig klingt. Der ›Weißen Lilie‹ fehlt es letztlich an allen Ecken und Enden an dem, was der Franzose ›classe‹ (Klasse) nennt. GretaG

»Der Spargel in der ›Weißen Lilie‹ ganz schlechte Qualität! Holzig bis zum Gehtnichtmehr. Zerlassene Butter war ganz schwer aufzutreiben. Stattdessen brachte man Olivenöl und Zitrone, damit wir uns selber eine Soße basteln können. Das Öl hatte eine ausgesprochen schlechte Qualität. Es schmeckte außerdem etwas ranzig. Trulala13

»Ein langweiliges Publikum, ein bemühter Service, eine mittelmäßige Küche. Die ›Weiße Lilie‹ ist nicht zu empfehlen. Ganz schmieriger Laden. Große Töne und nix dahinter. GuterEsser

»Alles erst gestern ins Netz gestellt, als hätten sich die Gäste abgesprochen«, erklärte mir Arîn. »Und glatt gelogen. Wir haben kein schlechtes Olivenöl, und unser Spargel ist frisch wie sonst was. Und diese GretaG macht auf fein und intellektuell, schreibt aber schlechter als Mittelmaß.«

Ich wusste sofort, woher der Wind wehte. Dahinter steckte bestimmt dieser Giftzwerg. Hatte drei Freunden was in die Feder diktiert und das Geschmiere ins Netz gestellt. Ich ging nach draußen ins Restaurant und sah im Reservierungsbuch nach. Ausgebucht heute und das komplette Wochenende. Der Mistkerl konnte mich mal.

»Wenn die Kacke am Dampfen ist, dann richtig.« Arîn schloss den Rechner.

»Los, ran an den holzigen Spargel und das ranzige Olivenöl!«, rief ich ihr auf dem Rückweg in die Küche zu. »Unser schmieriger Laden ist heute nämlich ausgebucht. Ganz viele Leute wollen unsere mediokre Küche kosten.«

»Du lässt dich echt nicht unterkriegen, Katharina!« In Arîns Blick leuchtete ungläubige Bewunderung. Sofort machte sie sich eifrig und wahrscheinlich erleichtert, weil ich nicht ausgeflippt war, an ihr Mise en place.

Ein Würfel aus Gurkengelee mit Gin-Schaum, Radieschen und asiatischer Kresse als Amuse-Bouche. Heute war mir die Idee dazu wie von selbst gekommen. Der Rest wie gehabt, an dem Rhabarber-Kompott mit Berberitzen galt es noch ein wenig zu feilen.

Evas besorgtem Blick wich ich aus, als sie etwa eine Stunde später in die Küche kam, um nach dem heutigen Amuse-Bouche zu fragen. Die Gurkenwürfel im Kühlschrank, das Rhabarber-Kompott mit Berberitzen von der Speisekarte genommen – doch zu herb –, stattdessen einen Klassiker der badischen Nachtischküche hinzugefügt: Biskuit in Weinschaumsoße, dazu ein in Cointreau marinierter Erdbeersalat. Den Biskuitteig füllte ich in eine Palette kleiner Silikongugelhupfe. Lange hatte ich mich gegen dieses Plastikzeugs in der Küche gewehrt, aber so ein empfindlicher Kuchen wie Biskuit lässt sich aus nichts besser lösen als aus Silikon. Biskuit in den Ofen, Wecker stellen, die ersten Amuse-Bouche anrichten. Fliegender Wechsel auf dem Fleischposten, Fisch heute auch, denn Ecki kam nicht. Lamm parieren, Fisch filetieren. Nicht an Ecki denken. Nicht an Ecki denken!

»Zweimal Spargelsalat, dreimal Radieschen-Carpaccio, zweimal Lamm, einmal Lachs, einmal Schwarzwälder. Einmal das Lamm ohne Couscous. Was hast du als Alternative, Katharina?« Eva läutete den täglichen Wahnsinn ein.

»Polenta«, rief ich zurück.

»Arîn?« Noch einmal Eva. »Einen Spargelsalat ohne Walnussöl.«

»Alles klar«, bestätigte Arîn.

Wir brauchten Ecki nicht in der Küche, unsere Frauenwirtschaft funktionierte wunderbar. Aber ich brauchte Ecki. Ich. Ecki. Ecki und ich. Nicht dran denken, arbeiten, den Tag überstehen.

»Dreimal Schwarzwälder, einmal ohne Kratzede, stattdessen Kartoffeln, und da ist ein Typ, der sich nicht abwimmeln lässt«, meldete Eva eine Viertelstunde später, und schon drängelte hinter ihr Keanu Chidamber in unsere Küche.

Er trug eine Zeitung unter dem Arm und wirkte nicht mehr so massagemäßig entspannt wie bei unserer ersten Begegnung vor zwei Tagen. Wieder trug er Leinen und so einen albernen Hawaiischal. War dieser Geck Minkas Mörder? Ziemlich dreist von ihm, dann hier in der »Weißen Lilie« aufzutauchen!

Vom Gardemanger-Posten kam ein wütendes Knurren. Arîn wetzte die Messer, sie würde dem Kerl an die Gurgel gehen, wenn ich ihn nicht schnell wieder vor die Tür setzte. Er bemerkte das gar nicht, er schlängelte sich frech an Eva und dem Pass vorbei direkt neben mich an den Herd.

»Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen, aber –«

»Was immer Sie wollen, ich habe jetzt keine Zeit dafür. Weg da! Gäste haben hier keinen Zutritt.« Mit einer heißen Pfanne in der Hand drängte ich ihn hinter den Pass zurück.

»Minka Nowak ist tot. Man hat sie aus dem Rhein gefischt. Sie ist ermordet worden, sagt die Polizei. Ich kann es nicht glauben, eine so begabte junge Frau. So blühend, so mitten im Leben. Noch einen Aufbaukurs und sie hätte ihren Meister in Lomi-Lomi-Massage machen können. Wissen Sie Näheres? Wissen Sie, wer der Schurke –?«

»Was wollen Sie hier?«, bellte ich ihn an, weil sich Arîns Knurren zu einem wütenden Grollen aufbaute.

»Den Schwarzwälder, Katharina!« Eva schob Chidamber vom Pass weg zum Fenster und stellte mir die Teller zum Anrichten parat.

Die Kratzede noch einmal in der Pfanne durchschütteln, die Kartoffeln abschütten, den Schwarzwälder aufschneiden.

»Arîn, der Spargel!«

»Mörder«, zischte Arîn in Richtung Fenster, als sie den Spargel auf die Teller verteilte.

»Wie können Sie so etwas überhaupt nur denken?«, empörte sich Chidamber und rückte wieder zum Pass vor. »Niemals hätte ich dieser Frau etwas antun können. Sie hatte Hände, wie man sie selbst in unserer Branche nur sehr selten findet. Heilende Hände, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine Gabe, die nur sehr wenigen gegeben ist.«

Endlich war meine Hollandaise aufgeschlagen. Ich löffelte sie über den Spargel, dekorierte mit Schnittlauchstängeln, und schon schob Eva sich die fertigen Teller auf den Arm. Die Hauptgänge waren durch. Ich besah mir auf den Bestellzetteln die gewünschten Nachtische. Dreimal Weinschaumsoße, die musste immer frisch aufgeschlagen sein, ich musste warten, bis Eva die brauchte.

»Also: Was wollen Sie hier?«, fragte ich Chidamber.

»Mich macht der Tod von Minka völlig verzweifelt. Nicht nur weil eine so große Begabung ein so gewaltsames Ende gefunden hat. Es ist so …« Er stakste von einem Bein aufs andere und pumpte sich seinen Altherrencharme ins Gesicht. »Minka hatte etwas von mir, für mich, wie Sie wollen. Deswegen habe ich ja bereits vor zwei Tagen nach ihr gefragt. Bestimmt haben Sie hier für Ihre Angestellten einen Spind, ein Schließfach, einen Schrank für Privates. Sie verstehen, was ich meine?«

»Nein«, sagte ich.

»Nun, vielleicht hat sie das, was sie mir geben wollte, hier bei Ihnen deponiert? Wenn Sie mir also die Gelegenheit geben würden, einen Blick auf Minkas zurückgelassene Privatissime zu werfen?«

»Nein«, wiederholte ich.

»Ich kann Ihr Misstrauen verstehen, schließlich bin ich ein völlig Fremder für Sie, aber glauben Sie mir, Minka« – ein Blick gen Himmel – »wäre damit völlig einverstanden, wenn –«

»Was wollte Minka Ihnen geben?«, unterbrach Arîn ihn.

»Pardon, aber darüber …« Es gelang ihm, zentnerschweres Bedauern in seinen Blick zu legen.

»Egal, ob Minka Ihnen etwas schuldete oder nicht, wir sind dafür nicht zuständig. Wenden Sie sich an die Polizei.« Ich deutete mit dem Kopf in Richtung Ausgang.

»Erschöpfung« – er schickte mir einen Röntgenblick – »kann sehr schnell zu Verspannungen führen. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Sie pfeifen auf dem letzten Loch. Mörderische Kopfschmerzen, Rückenprobleme, teils irreparable, können die Folge sein. Lomi-Lomi hilft Ihnen, zu entspannen und wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Wie heißt es so schön? Eine Hand wäscht die andere. Eine Lomi-Lomi-Massage von Meisterhand und im Gegenzug –«

»Raus«, brüllte ich, »und zwar sofort!«

»Du lässt ihn doch nicht einfach so hinausspazieren«, platzte Arîn dazwischen. »Ruf doch diesen Bullen an, der gestern hier war, damit er sich den Windhund vorknöpfen kann.«

»Raus!«, wiederholte ich, und tatsächlich, Chidamber drängelte sich mit der gleichen Hast nach draußen, mit der er hereingekommen war.

Er rannte dabei fast Irmchen über den Haufen, die plötzlich auch in der Küche stand. Heute war hier ein Betrieb wie in einem Hühnerstall.

»Nachtische«, rief ich Arîn zu und kitzelte alles an Chefin in meinen Blick, was noch in mir war. »Tempo, Tempo. Irmchen, setz dich, komm später wieder oder hilf Gülbahar. Wir haben zu tun!«

Ruhige Patissier-Finger waren etwas anderes, feines Ziselieren ging heute nicht, aber irgendwie schafften wir es dennoch, die Nachtische grandios aussehen zu lassen.

Endlich durchatmen, der erste Schluck Wasser, ein Blick über das Schlachtfeld. Die Spülmaschine rumpelte und rauschte, Gülbahar spülte mit der Handbrause das schmutzige Geschirr vor, und auf einem Stuhl daneben saß Irmchen und trocknete Besteck ab.

»Irmchen«, sagte ich, weil ich sie ganz vergessen hatte.

»Habt ihr denn nicht ein anständiges Poliertuch? Ohne so was kriegt man doch das Besteck nicht glänzend.« Irmchen musterte das Messer in der Hand kritisch und rieb noch ein bisschen weiter an ihm herum. »Auf der Frankfurter Straße, da gab es früher so ein Haushaltswarengeschäft, die hatten Eins-a-Poliertücher, das gibt es aber nicht mehr. Ist jetzt so ein Ein-Euro-Laden oder so eine Deko-Kette drin. Gut einkaufen kann man auf der Frankfurter schon lang nicht mehr.«

»Du bist bestimmt nicht zum Besteckpolieren runtergekommen, oder, Irmchen?« Ich goss mir das nächste Glas Wasser ein. Ein paar Minuten ruhig stehen, dann würde ich mich ans Aufräumen machen.

»Das Haus macht mir Sorgen, jetzt, wo der alte Mombauer tot ist. Was, wenn Sabine es verkauft? Dann schmeißen sie mich raus oder erhöhen die Miete. Dabei würde ich gerne noch hier wohnen bleiben. Solange es eben geht. Direktumzug zum Ostfriedhof wäre mir am liebsten.« Sie legte das polierte Messer in den Besteckkasten, griff dann nach ihrem Stock und kam zu mir. »Weißte, was ich mir gedacht hab?« Sie lehnte sich neben mich an den Pass und fuchtelte ein wenig mit ihrem Stock in der Luft herum. »Du kannst das Haus kaufen. Dein Laden brummt doch, und jung genug für einen Kredit bei der Bank bist du auch noch.«

Sie sah mich an, als hätte sie einen verdammt guten Vorschlag aus ihrem Stock gezaubert.

Die Wohnung, der Pachtvertrag, das Haus, die Mombauer, die gleich vorbeikommen wollte. Die Pläne, die Zukunft. Für alles brauchte ich Ecki. Ein Kontrollblick aufs Handy. Er hatte nicht angerufen, und als ich es erneut versuchte, meldete sich wieder die Stimme, die mir sagte, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei.

»Na, was hältst du davon?« Irmchen tippte mich leicht mit dem Stock an.

»Ich hab kein Geld«, murmelte ich ausweichend. »Und mein Kredit für die Küchenausstattung ist noch lang nicht abbezahlt.«

»Aber für dich wär's doch auch schlimm, wenn du hier rausmüsstest, oder?«, hakte Irmchen nach.

»Eine Katastrophe! Aber noch reden wir über ungelegte Eier. Und dich kriegt keiner so schnell hier raus, so lange, wie du schon hier wohnst!« Ich trank das Wasser aus und versuchte, zuversichtlich zu gucken.

Arîn drängelte sich an uns vorbei zur Spüle, um sich einen Eimer Wasser zum Saubermachen zu holen.

»Ich hätte den Kerl nicht so einfach gehen lassen. Ich meine, was wollte der von Minka? Und die Nummer mit dem Spind war doch megamerkwürdig, oder?«

»Redet ihr von dem, der aussieht wie dieser Silvester-Geiger aus dem Fernsehen? Der mich fast umgerannt hat? Der ist schon mal hier gewesen und hat Minka abgeholt«, mischte sich Irmchen ein. »Ecki hat noch mit den beiden geschwätzt. Bestimmt weiß der mehr.«

Mit Sicherheit wusste Ecki mehr, aber was nutzte das, wenn er sich nicht meldete? So viel gäbe es mit ihm zu klären. Das Foto, dieses widerliche Foto. Wenn ich nur schon sein Kopfschütteln sehen, sein befreites Lachen hören könnte, denn so würde er zweifellos beim Betrachten des Fotos reagieren. Und dann würde er fragen: »Geh her, Kathi. Willst mi auf den Arm nehmen? Ich und die Minka? Was soll der Scheiß?«

»Ich finde, wir sollten nachsehen, was in Minkas Spind ist«, schlug Arîn vor, als sie mit dem jetzt vollen Wassereimer wieder an uns vorbeikam.

»Wenn wir fertig sind«, entschied ich und nickte Irmchen zu. »Wir müssen.«

»Ich auch«, seufzte sie und stakste mit ihrem Stock dem Ausgang zu.

An der Tür drehte sie sich um und sah mich an. Überleg es dir noch mal, sagte ihr Blick. Ich zuckte zusammen, weil eine weitere Last auf meine Schultern gelegt wurde. Mühselig und beladen fühlte ich mich, und genauso schleppte ich mich zum Spülbecken und mit dem Putzwasser zurück zum Herd. Arîn, die bereits mit Aufräumen fertig war, nahm mir die Pfannen ab, schüttete die Reste für ein spätes Abendmahl auf Teller und stellte sie unter den Salamander am Pass.

»Lass uns erst nachgucken, bevor wir essen«, bat sie.

Wie uns allen hatte ich Minka einen Spind in dem kleinen Raum mit Waschmaschine und Trockner zugewiesen, den wir auch zum Umziehen nutzten. In Minkas steckte ein metallrotes Vorhängeschloss, wie sie zu Tausenden am Zaun der Hohenzollernbrücke hingen. Hohenzollernbrücke, das Foto von Ecki und mir in unserem Hausflur, aufgenommen an einem glücklichen Tag. Mir war nach Heulen, aber ich hatte das ungute Gefühl, dass ich, wenn ich damit anfing, nie mehr aufhören würde.

»Beißzange, Metallsäge, haben wir so was?«, wollte Arîn wissen.

»Was hältst du von einer Haarnadel?« Ich zog eine aus dem Knoten, zu dem ich meine Haare beim Kochen immer zwirbelte.

Keine von uns verfügte über die Fingerfertigkeit eines Schlossknackers. Wir verbogen eine Haarnadel nach der nächsten, ohne dass sich auch nur eine als Sesam-öffne-dich für dieses pisselige kleine Schloss erwies. Arîn probierte es danach mit dem Hammer, was einen Heidenkrach machte, ohne wirklich weiterzuhelfen.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte Eva, die, angelockt durch den Lärm, den Kopf durch die Tür steckte. »Und, Katharina, da ist Besuch für dich.«

Sabine Mombauer, fiel mir siedend heiß ein, die hatte ich den Tag über komplett verdrängt! Doch als Eva zur Seite trat, um wieder zurück ins Restaurant zu gehen, sah ich, dass ich mich irrte. Der Besucher war Kommissar Brandt.

»Entschuldigen Sie, dass ich schon wieder unangemeldet bei Ihnen hereinplatze, aber während der Arbeitszeit wollte ich Sie nicht stören, und seit gestern weiß ich ja, dass Sie um diese Zeit Feierabend machen.« Er ließ seinen Blick durch den Raum kreisen und blieb bei Arîn, dem Hammer und Minkas Spind hängen. »Haben Sie Ihren Schlüssel verloren? Grade diese kleinen Schlösser stellen sich manchmal als verflixt hartnäckig heraus. Darf ich es mal versuchen?«

Er kramte eine kleine Nagelfeile aus der Tasche.

Arîn nickte eifrig, ich aber schloss kurz die Augen. Was immer in dem Spind war, Brandt würde es sehen. War das gut oder schlecht? Ich wusste es nicht. Als ich die Augen öffnete, musterte Brandt Arîn und mich interessiert.

»Hatte Minka Nowak eigentlich auch einen Spind?«, fragte er.

Der Mann entschuldigte sich zu viel, er war mitfühlend umständlich, aber er war nicht dumm. Ich musste mich schnell zwischen Lüge und Wahrheit entscheiden. Ich spürte Arîns wütenden Blick im Nacken, Arîn, die keinem Bullen traute, würde lügen, aber ich vertraute meinem Bauchgefühl.

»Das ist der Spind von Minka«, sagte ich und erzählte von Chidambers Besuch und seinem Ansinnen. »Bis der Mann aufgetaucht ist, hatte keine von uns an diesen Spind gedacht. Aber jetzt –«

»Natürlich, das hätte mich auch neugierig gemacht«, ersparte mir Brandt weitere Erklärungsversuche. »Und ich hätte als Polizist schon viel früher daran denken müssen! Aber sosehr es mich in den Fingern juckt, so gerne ich sofort wüsste, was in dem Schrank liegt, als Polizist muss ich jetzt leider sagen: Stopp! Der Spind muss zubleiben. Das Öffnen ist Aufgabe der Spurensicherung. Ich schicke Ihnen die Kollegen direkt morgen früh vorbei, einverstanden?«

Arîn schnaubte, ich nickte, Brandt lächelte, und Eva steckte wieder den Kopf durch die Tür.

»Katharina, da ist Frau Mombauer für dich.«

Jetzt nicht, jetzt auf gar keinen Fall. Abtauchen, im Erdboden versinken, unsichtbar sein. Ich wünschte mich zurück in die Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hatte, aber es half nichts. Schon schob sich Sabine Mombauer hinter Eva in den kleinen Raum, der mit einem Mal so überfüllt war, dass ich glaubte, keine Luft mehr zu kriegen.

»Lassen Sie uns in die Küche gehen«, befahl ich und griff mir auf dem Weg nach draußen den Arm von Sabine Mombauer.

»Ich weiß nicht, ob Sie es schon gehört haben«, flüsterte ich ihr zu, »aber meine Spülfrau ist ermordet worden. Der Herr ist der ermittelnde Kommissar, grade unangemeldet vorbeigekommen, er hat eine Menge Fragen. Bestimmt können Sie sich vorstellen, dass ich jetzt keinen Kopf für den Mietvertrag –«

»Okay«, unterbrach sie mich säuerlich. »Ich warte oben in der Wohnung meines Vaters oder bei Irmchen auf Sie. Ewig wird diese Fragerei ja wohl nicht dauern.«

»Bestimmt nicht. Und vielen Dank für Ihr Verständnis.« Ein Aufschub, nicht lang, aber ein Aufschub. Mehr interessierte mich im Augenblick nicht. Jetzt musste ich nur noch Brandt loswerden. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte ich ihn, als die Mombauer gegangen war.

»Ein Glas Wasser, wenn es Ihnen keine Umstände macht. Leitungswasser genügt. Das Kölner Wasser ist tatsächlich so gut, wie die Bläck Fööss singen. Das rechtsrheinische sogar noch besser als das linksrheinische, weil es direkt aus dem Bergischen kommt.«

Ich füllte ein Glas mit Kranenwasser, stellte es ihm auf den Pass, wo das Essen, das Arîn vorhin unter den Salamander gestellt hatte, verbrannt war.

»Es tut mir leid, dass ich Sie schon wieder beim Essen störe –«

»Kein Problem«, unterbrach ich ihn, schüttete das Essen in den Müll und griff nach einem Stück Brot.

»Kann ich gehen?«, fragte Arîn Brandt und mich gleichermaßen und nahm sich ebenfalls ein Brot.

»Klar«, sagte ich.

»Ich habe noch Fragen, aber die können auch bis morgen warten. Ich sehe doch, wie erschöpft Sie sind«, meinte Brandt. »Heute bin ich hauptsächlich wegen Frau Schweitzer gekommen.«

»Also?«, fragte ich, als Arîn gegangen war.

»Herr Matuschek«, begann er. »Es ist uns nicht gelungen, ihn zu erreichen. Er geht weder ans Festnetz noch ans Handy. In der Kasemattenstraße haben wir ihn nicht angetroffen. Wissen Sie, wo er steckt?«

»Nein.«

»Gibt es Freunde, bei denen er Unterschlupf gefunden haben könnte?«

Darüber hatte ich natürlich auch nachgedacht. Ecki hatte ein paar alte Freunde in Wien, einige all around the world, die er auf seinen Reisen kennengelernt hatte und mit denen er über Facebook Kontakt hielt, aber hier in Köln? Für tiefe Freundschaften war er noch nicht lange genug in der Stadt, Bekanntschaften gab's sicher, aber keine, über die er mit mir redete.

Gestern Nacht war mir nur dieser zitherspielende Wiener Kumpel Benedikt Hofbauer eingefallen, mit dem Ecki mal ein »Event« in der »Weißen Lilie« veranstaltet hatte, als ich im Badischen war. Der hatte keine Ahnung, wo mein Wiener steckte. Und wen Ecki traf, wenn er allein unterwegs war, wusste ich nicht. Verbotenes Terrain für mich, Restfreiheit für Ecki.

»Ecki wohnt noch nicht so lange in Köln«, erklärte ich Brandt. »Neben mir und den Kolleginnen hat er die engsten Kontakte zu Adela Mohnlein und Kuno Eberle, mit denen wir in einer WG leben. Die zwei sind aber zurzeit in einem Camp irgendwo in der Eifel und kommen erst morgen wieder zurück.«

»Wenn er sich bei Ihnen nicht meldet, wird er sich bei den beiden bestimmt auch nicht melden«, vermutete Brandt. »Sie glauben also, er hat hier keinen, zu dem er sonst gehen kann. Was denken Sie? Sitzt er einsam in einer Pension und verkriecht sich vor der Welt? Oder rennt er durch die Gegend und zündet jede Menge Rauchbomben, um von sich und seinen Problemen abzulenken?«

»Bewusste Verschleierung, das ist nicht Eckis Ding. Aber er lässt oft fünfe grade sein oder wirbelt Schaum auf. Im übertragenen und im wahrsten Sinn des Wortes. Er fährt nämlich für sein Leben gerne Motorboot. Besonders wenn ihm alles zu viel wird. Nein«, sagte ich, als ich Brandts fragenden Blick bemerkte, »er hat kein eigenes Boot. Manchmal leiht er sich eines bei der Rheinischen Segelschule oder sonst wo. Das ist eine Leidenschaft, die wir nicht teilen.«

Brandt musterte mich und zögerte ein wenig, bevor er fortfuhr: »Gestern, dieses Foto, ich weiß, das muss furchtbar für Sie gewesen sein. Von dem Menschen, den man am meisten liebt, verraten zu werden ist eines der schlimmsten Dinge auf Erden. Aber –«

»Wie können Sie so sicher sein, dass das Foto echt ist?«, unterbrach ich ihn schnell. »Es kann doch gestellt, montiert sein. Ich bin überzeugt, dass es so ist.«

Er trank einen Schluck Wasser, bevor er antwortete: »Ich glaube, dass Sie eine kluge Frau sind, Frau Schweitzer, und dies ist bestimmt nicht die erste Krisensituation, die Sie in Ihrem Leben meistern müssen. Sicherlich haben Sie auch schon von diesem Phasenmodell zur Trauerbewältigung gehört. Eine der ersten Phasen ist die der Negation. Man kann nicht glauben, was passiert ist, beziehungsweise man will das Geschehene ungeschehen machen. Man steckt den Kopf in den Sand, man –«

»Heißt das, Sie schließen aus, dass es sich bei dieser Fotografie um eine Fälschung handeln kann?«, schnitt ich ihm das Wort ab.

»Nun … jeder hat schon Pferde kotzen sehen, aber die Wahrscheinlichkeit ist minimal, liegt, wenn ich es in Zahlen ausdrücken darf, unter einem Prozent. Und am besten könnte uns Herr Matuschek helfen, die Wahrheit herauszufinden. Auch Sie wollen doch wissen, was stimmt und was nicht. Sie haben wirklich keine Ahnung, wo er sich –?«

»Nein. Sein Handy ist ausgeschaltet. Gestern Nacht ist er nicht nach Hause gekommen, ich habe nicht den leisesten Schimmer, ich kann Ihnen nicht helfen.«

Nicht mal mir selbst konnte ich helfen, denn Brandt drängte mich zurück in die dunkle Verzweiflung der gestrigen Nacht. Er wollte mir nicht glauben, dass zwischen Ecki und Minka nichts gewesen war. Und mir fiel es mit einem Mal selbst schwer, daran zu glauben.

»Herr Brandt, ich habe einen harten Tag hinter mir und brauche dringend Schlaf. Können Ihre anderen Fragen auch bis morgen warten?«

»Gibt es denn nicht den leisesten Hinweis, den Sie mir geben könnten, um Herrn Matuschek zu finden?«

Brandt ließ mich so schnell nicht von der Angel, aber ich konnte nicht mehr. Also servierte ich ihm den einzigen Informationsbrocken, den ich hatte.

»Laut Arîn hat er gestern mit einem Tomasz aus dem ›All-inclusive‹ telefoniert, das ist ein neues Restaurant auf der anderen Rheinseite.«

»Tomasz? Ein Landsmann von Minka?«

»Klingt so. Die zwei kannten sich. Und mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Bitte, Herr Brandt, ich muss ins Bett.«

Brandt sah mich an, als ob er mir nicht glaubte, aber dann nickte er.

»Also gut«, sagte er. »Ich begleite Sie nach draußen.« Er wartete, bis ich alle Lichter gelöscht und die Eingangstür verschlossen hatte. »Darf ich Sie nach Hause fahren?«, fragte er dann. »Ich könnte ruhiger schlafen, wüsste ich, dass Sie Ihr Auto stehen lassen.«

»Keine Sorge«, antwortete ich. »Ich gehe zu Fuß. Ein Spaziergang durch die laue Sommernacht wird mir guttun.«

 

Ich sehnte mich nach Bier, nach Betäubung, nach Schlaf. Wenn es nur Curt und die »Vielharmonie« noch gäbe! Aber mein altes Stammlokal war geschlossen. Zu oft hatte Curt den Abend mit ein, zwei Gästen allein verbracht, von denen ich spätabends gern einer war. Er hatte mit mir geredet, wenn ich reden wollte, und geschwiegen, wenn er merkte, dass mir nicht nach Reden war. So wie das nur ein guter Wirt kann. »Dat reicht nicht zum Leben und nicht zum Sterben«, hatte er mir an seinem letzten Abend gesagt und mir ein letztes Kölsch spendiert.

Ich vermisste ihn und heute ganz besonders. Wütend trat ich gegen die Tür des Bailaan-Massagesalons, der sich jetzt in den Räumen befand, die so lange Zeit die »Vielharmonie« beheimatet hatten. Anstelle von Curts verstaubten Grünpflanzen baumelten kleine Papierlampions im großen Fenster zur Straße, und die tönerne Gruppe Jazzmusiker hatte man durch die Statuen von zwei lachenden Kinder-Buddhas ersetzt.

Ein Massagesalon! Hätte nicht ein Schneider oder ein Friseur die »Vielharmonie« übernehmen können? Irgendein Berufsstand, der mich nicht an meine aktuellen Probleme erinnerte? Natürlich hätte ich mit Curt über Massagen geredet. Die verfolgten mich, seit ich vor zwei Tagen in Minkas Wohnung gewesen war. Bailaan hier, Lomi-Lomi da.

»Wat et all jit«, hätte Curt gesagt. »Vergiss aber nicht, was dieser Chidamb-Dingsbums bei dir suchen wollt.«

Ja, was suchte Chidamber? Warum machte er daraus so ein Geheimnis? Ich dachte an das Plakat über Minkas Bett und an »Die Geheimnisse der Yoni Massage«. Sex und Massage, lag da der Schlüssel zu Chidambers Geheimnis?

»Sex«, würde Curt sagen, »kannste für alles nehmen, deswegen ist schon mehr als einer umgebracht worden. Vergiss aber nicht, dass du Sex auch klasse zum Erpressen einsetzen kannst.«

Guter Gedanke, Curt. Besaß Minka vielleicht auch kompromittierende Fotos von Chidamber? War Minka nicht nur eine Fast-Meisterin in Lomi-Lomi, sondern eine echte Meisterin im Fotofälschen gewesen? Und war ihr genau das zum Verhängnis geworden? Hatte sie Chidamber erpresst und war deshalb von ihm ermordet worden? Und versuchte Chidamber jetzt, alle Spuren zu verwischen, die zu ihm führten? War er aus diesem Grund in der »Weißen Lilie« gewesen?

»Möglich ist alles«, würde Curt sagen, »aber Wissen ist was anderes.«

Wie spät war es eigentlich? Der Zeiger meiner Uhr schlich auf Mitternacht zu. Egal. Ich lief weiter, einfach weiter, mitten hinein in ein Inferno kölscher Fröhlichkeit. Ohne es zu wollen, war ich auf dem Rummel unter der Mülheimer Brücke gelandet, wo auch das Festzelt des Schützenfestes aufgebaut war. Autoskooter, Schießstände, Paradiesäpfel, gebrannte Mandeln, Schwenkgrills. Menschen dicht an dicht, Schützen in Ausgehuniform, Familien in Feierlaune, Kinder, die schon lange ins Bett gehörten, junge Paare mit Lebkuchenherzen, alte Trinker mit trübem Blick, auf Krawall gebürstete Halbwüchsige, Teenager auf Freiersfüßen. Und viele, die aussahen, als wollten sie in dieser lärmenden, fröhlichen Masse für ein paar Stunden ihr ganz persönliches Elend vergessen.

Ich wurde geschoben und geschubst, gedrängt und gestoppt. Im Festzelt sangen Brings von der »Superjeilenzick«. Das Lied hatte sogar ich an Karneval schon mal mitgesungen, und beim Mülheimer Schützenfest grölten es alle, die im Zelt und die im Freien, und das mit so viel Inbrunst, dass man tatsächlich glauben konnte, es habe für alle einmal eine tolle Zeit gegeben. Auf die tolle Zeit stieß man drinnen und draußen miteinander an, dafür hakte man sich unter, dafür schob man sich drinnen über die Tanzfläche.

Als das Stück zu Ende war, stolperten erhitzte Gestalten aus dem Zelt, um ein wenig Luft zu schnappen, um eine Pause vom Tanzen zu machen, um auf den nächsten Hit des Abends zu warten. Ich bewegte mich zwischen all diesen Feierfreudigen wie ein Marsmännchen, eher wie ein Marsfrauchen, das keine Ahnung hatte, was es in dieser fremden Welt verloren hatte.

»Katharina! Das Brokkoli-Patent. Erinnerst du dich?«

Er lehnte an einem der Bierstände und winkte mich zu sich. Ich brauchte einen Moment, bis ich den Mann zuordnen konnte. Er gehörte zu den Kölner Slow-Food-Leuten, deren Veranstaltungen ich gelegentlich besuchte. Stimmt. Das hatte es auch mal gegeben. Zeiten, in denen ich Veranstaltungen von Slow Food besuchen, Zeiten, in denen ich mich mit Lebensmittelskandalen beschäftigen konnte. Das letzte Mal war ich bei einem Vortrag gewesen, in dem es um die Patentierung von Saatgut ging. Eine ungeheure Schweinerei, die mich umtrieb, seit mir der Zusammenhang zwischen Saatmais und dem Bienensterben am Oberrhein klar geworden war. Bislang sind Patente auf Saatgut und Pflanzen in Europa verboten, aber die Industrie versucht, dieses Verbot mehr und mehr auszuhebeln, aktuell mit einer besonderen Züchtung von Brokkoli. Was mir als Brokkoli-Hasserin ziemlich wurscht war, aber es ging bei der Sache natürlich ums Grundsätzliche. Mit dem Mann hatte ich nach der Veranstaltung noch darüber diskutiert. Sein Name wollte mir partout nicht einfallen.

»Jawohl, Leute! Wir müssen den Brokkoli retten!«, rief er den Passanten zu und erntete damit Gelächter. Jemand rief: »Und warum nicht den Blumenkohl?«

Er war Gärtner, fiel mir ein, aber ob er das selbst noch wusste, bezweifelte ich. Im Gegensatz zu mir hatte er schon eine gehörige Menge Kölsch intus.

»Die Schweine von ›Plant Bioscience‹ haben es tatsächlich geschafft, ihren Brokkoli vom Europäischen Patentamt schützen zu lassen«, flüsterte er mir verschwörerisch zu. »Freiheit für den Brokkoli«, schrie er über den weiten Rummelplatz, dann wieder leiser zu mir: »Ein Patent auf eine Pflanze, stell dir das vor! Und das ist nur der Anfang. Wann gibt es eines auf Wasser? Oder eines auf Luft? Das muss verhindert werden. Kein Patent auf Saatgut. Nirgends! Rettet den Brokkoli!«

Er rettete im Augenblick nur sein Kölschglas, das er, bevor er damit stolperte, an dem Bierstand abstellte.

»Wenn du für die Tomate kämpfst, bin ich dabei. Man sieht sich, bis dann«, versuchte ich, mich elegant aus der Affäre zu ziehen, wurde aber von zwei schwergewichtigen Omas in Himmelblau und Mintgrün, die hinter mir mit geballter Masse zum Bierstand drängten, an einem unauffälligen Weiterschlendern gehindert. Sie schoben mich direkt auf den Brokkoli-Freund zu.

»Die Gen-Kartoffel für Chips, die BASF beantragt hat, ist ein weiteres Problem. Die muss natürlich auf alle Fälle verhindert werden.« Er hatte im Gegensatz zu mir nichts gegen Tuchfühlung und plierte mich aus kleinen Augen verwegen an. »Darauf müssen wir ein Kölsch trinken. Hallo, zwei Kölsch!«

Er drehte sich zur Bedienung um, für mich eine neue Chance zum Entwischen, wieder hinderte mich die geballte Masse.

»Tun Sie für uns direkt auch zwei«, rief die Mintgrüne.

»Sie sind doch auch gegen Gen-Kartoffeln für Chips?«, fragte der Brokkoli-Freund, als er die ersten Kölsch an mir vorbei nach hinten reichte.

»Chips, so was essen wir gar nicht, das hat doch viel zu viele Kalorien. Wir haben genügend Hüftgold«, bedauerte die Himmelblaue.

»Na denn, prösterchen! So jung kommen wir nicht mehr zusammen«, trällerte die Mintgrüne. »Die nächste Runde geht auf uns.«

Die nächste Runde, ich wollte nicht mal für diese bleiben. Brokkoli und Bier, nichts wie weg von hier. Ich hielt Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit und fand sie.

»Taifun«, rief ich, drückte dem Brokkoli-Freund mein Kölschglas in die Hand und kämpfte mich frei. »Taifun, hier bin ich!«

Ich winkte wie verrückt und drängte vom Bierstand weg auf ihn zu.

Endlich hatte er mich bemerkt und blieb stehen. »Katharina, dich hätte ich hier wirklich nicht vermutet.«

»Ich dich auch nicht.«

Und dann blickten wir uns ein bisschen ratlos an und wussten nicht weiter. Was sollte man sagen, was sich erzählen, wenn man sich mal sehr nahe und dann fremd geworden war? Mit Taifun verband mich eine heiße Affäre, eisig beendet, nachdem ich ihn mit einer anderen im Bett erwischt hatte. Bitter geworden durch eine abgebrochene Schwangerschaft, zu der ich mich allein und ohne Taifun jemals darüber zu informieren, entschieden hatte.

Das war ein paar Jahre her, ich hatte Taifun lange nicht gesehen. Er trug jetzt eine Brille, die ihn ein bisschen strenger und intellektueller aussehen ließ, und in seinem schwarzen Haar war das Grau auf dem Vormarsch. Nichts, was ihn unattraktiver machte, im Gegenteil. Er hatte noch immer diese sexy Ausstrahlung, die mich damals so verrückt gemacht hatte.

»Ich bin mit Freunden hier, ich muss weiter«, beendete Taifun das Schweigen. »Aber es war schön, dich mal wiederzusehen!«

»Gleichfalls«, murmelte ich und überlegte, was es zu bedeuten hatte, dass meine verflossenen Lieben zurück in mein Leben drängten. Gestern Spielmann, heute Taifun. Ecki, natürlich Ecki. Weder Spielmann noch Taifun hatte ich so viele Chancen gegeben wie meinem Wiener. Die zwei waren Episoden, kurze, heftige Strohfeuer gewesen, Ecki aber war der beständige Fluss, der sich durch mein Leben schlängelte.

Ich schlängelte mich durch das Menschengewühl hinunter zum Rhein und wählte mal wieder Eckis Nummer. Wieder teilte mir die verhasste Automatenstimme mit, dass er nicht erreichbar war. Vielleicht war er zu Hause? Auch in der Kasemattenstraße blieb mein Anruf ohne Antwort.

Vom Fluss her zog Kühle auf den Gehweg, aber die Luft roch immer noch leicht und mild. Die Musik aus dem Festzelt und der Lärm des Rummelplatzes verschmolzen zu einem fernen Klangteppich, der nach und nach verebbte. Als ich am WDR-Gelände mit den Bauten der »Anrheiner« vorbeilief, durchfuhr mich die Erinnerung an einen Sonntagvormittag im Winter wie ein scharfer Stich.

Der Rhein war nach der Schneeschmelze über die Ufer getreten und hatte schon die Gehwege überflutet. Genau hier hatte ich bei diesem Hochwasser mit Ecki gestanden und zugesehen, wie eilig Requisiten auf Lastwagen geladen wurden, um sie vor dem steigenden Wasser in Sicherheit zu bringen. Wir hatten die Schiffe gezählt, die mitten im Rhein vor Anker lagen, weil sie wegen des Hochwassers nicht mehr weiterfahren durften. Verlorene Inseln in einer reißenden Flut.

»Was machen die Schiffer den ganzen Tag? An Land gehen können sie ja schlecht«, hatte ich gefragt.

»Wenn sie frisch verliebt sind und ihre Braut dabeihaben, dann haben s' eine wunderbare Zeit«, hatte Ecki gemeint. »Ansonsten: Karten spiel'n und Trübsal blas'n.«

»Und was würden wir tun?«

»Geh, Kathi, was schon? Bei uns würd's Mord und Totschlag geben, wenn wir so eng aufeinanderhocken müssten.«

»Quatsch«, hatte ich geantwortet, »wir würden's uns gut gehen lassen.«

»Freilich«, hatte er mir zugestimmt und gelacht.

Gut gehen lassen, na klar! Aber jetzt war Ecki abgetaucht und hatte mich mit einem Foto zurückgelassen, das nur er erklären konnte. Schnell weitergehen, nicht stehen bleiben, nicht zweifeln. Vorbei an dem Beach-Club an der Einfahrt zum Hafen, dessen Sand und Palmen vorgaukelten, dass Dolce Vita auch in Köln-Mülheim möglich war. Schnell über die schmale Fußgängerbrücke hinüber auf die kleine Landzunge, die sich von der Zoobrücke aus in den Rhein schob. Verschluckt werden von der Dunkelheit, hineingleiten in die nächtliche Stille, unsichtbar werden.

Dichtes Gestrüpp, dazwischen ein ausgetretener schmaler Fußweg, der am Fluss endete. Ich lief am Ufer entlang, das viel breiter war als sonst, der Rhein führte Niedrigwasser. Auf der anderen Flussseite glitzerte das nächtliche Köln, der Dom bohrte sich mit majestätischer Wucht in den Nachthimmel. Wind zuckte durch die Uferböschung, Steine knirschten unter meinen Füßen. Auf der Höhe des Jugendparks flammte ein Strandfeuer auf. Der Geruch von Holzkohle und das Lachen der Wurstesser füllten die Luft. Junge Leute, die eine nächtliche Party am Fluss feierten. Bier und Wodka kühlten sie im Rhein, und das sorgte für ein reges Treiben zwischen Feuer und Fluss.

Als ich den improvisierten Kühlschrank passierte, stolperte ein breitschultriger Kerl direkt auf mich zu. Ich sah ihm in die Augen und lief ruhig weiter. Ich hatte keine Angst vor ihm, keine Angst vor den anderen Biertrinkern und Wurstessern, und ich hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Ich hatte Angst vor dem Nachhausekommen, vor dem leeren Bett und vor einem Foto, das vielleicht doch nicht gefälscht war.