NEUN

Bienen taumelten summend zu Boden. Was für Bienen? Die von Rosa? Hatte ich ihnen den Honig gestohlen und kein Zuckerwasser als Ersatz geboten? Wenn Rosa das merkte, würde sie mich ausschimpfen. Rosa war streng und herrisch, die Bienen ihre Passion. Nein, Rosa war tot, und ihre Bienen hatte ich zu Franz Trautwein an den Kaiserstuhl gebracht, dämmerte mir, und ich schlug die Augen auf.

Das viele Weiß im Zimmer tat weh, die Sonnenstrahlen taten weh, der Kopf tat weh, die Augenlider, die Ohren, alles tat weh. Und dann mein Bauch. Himmel, war mir schlecht! Keiner trank ungestraft ein Wasserglas Borbler, und schon gar nicht, wenn er nichts als ein halbes Frühstück, jede Menge Kaffee und ein paar Bier im Magen hatte. Dann meldete sich der Kopf wieder. Hinter meiner Stirn wurde mit Spitzhacken gehämmert. Aber die summenden Bienen übertönten das Hämmern im Kopf. Ich tastete das Bett ab, bis ich das Handy fand. Als ich die On-Taste drückte, verstummten die Bienen.

»Hallo, Katharina, hier ist Dany«, perlte die Stimme meines Exlehrlings aus dem »Goldenen Ochsen« quellfrisch an mein Ohr. Wieso rief der so früh an? Der stand doch nie vor Mittag auf, wenn er es nicht unbedingt musste. Ich grapschte mir meinen Wecker vom Nachttisch und hielt ihn mir vor die Nase. Es war schon halb eins.

»Also, ich habe noch mal mit Helen, meiner alten Chefin, über die ›All-inclusive‹-Kacke geredet«, sprudelte es aus ihm heraus. »Helen ist davon überzeugt, dass die generalstabsmäßig vorgehen. Schritt eins: Sie suchen sich ein geeignetes Objekt. Zentrale Lage, gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, in der gastronomischen Szene eingeführt. Pech, wenn genau da schon ein anderes Restaurant ist. Pech für das Restaurant, nicht Pech für ›All-inclusive‹. Schritt zwei: Das störende Restaurant wird in Augenschein genommen und nach Schwachstellen abgeklopft. Schritt drei: Das störende Restaurant bekommt ein lächerliches Kaufangebot, das mit einer Drohung verknüpft ist, es auf alle Fälle zu vernichten. Natürlich nicht so deutlich gesagt, ein bisschen verklausuliert, aber unmissverständlich. Schritt vier: Gäste beschweren sich lautstark über das schlechte Essen. Schritt fünf: Die entsprechenden Internetplattformen werden mit negativen Kritiken überschwemmt. Schritt sechs: Besuch des Gesundheitsamtes wegen der Fischvergiftung eines Gastes. Schritt sieben: Fensterscheiben werden eingeschlagen, Graffiti an die Türen gesprüht. Schritt acht: In anonymen Anrufen wird gedroht, das störende Restaurant anzuzünden. Schritt neun: Baustellen in der unmittelbaren Nähe verhindern freien Zugang. Schritt zehn: Die bisherigen Besitzer geben auf. So sind sie bei Helen vorgegangen und auch bei Luzia Saalfeld, der das ›Pfeffer & Salz‹ in der Südstadt gehört hat. Leider haben die zwei Ladys erst gemerkt, was da für ein Spiel gespielt wird, nachdem man sie schon mürbegekocht hatte. Katharina?« Dany stockte. »Bist du noch da?«

So ganz kapierte ich nicht, was Dany mir da erzählte, aber der eine oder andere Punkt hatte in meinem Kopf ein Alarmglöckchen ausgelöst, und das schrillte unangenehm weiter, während in meinen Gehirnwindungen die Gedanken Achterbahn fuhren. War ich jetzt auf der Agenda dieser »All-inclusive«-Mafia oder nicht? Ein Kaufangebot hatte mir schließlich keiner gemacht.

»Was ist mit Spionage?«, fiel mir ein. »Hat deine Chefin davon was erzählt?«

»Nein, hat sie nicht. Aber am besten, du redest mit ihr selbst«, schlug Dany vor. »Sie weiß, dass die auch im Rechtsrheinischen eine Filiale aufmachen wollen. Das Rechtsrheinische ist ja kulinarisch noch Terra incognita, so was lockt immer Goldgräber an.«

Das wusste ich bereits. Wer hatte mir davon erzählt? Adela? Kuno? Die letzten Tage waren nicht so verlaufen, als dass ich Informationen in die richtigen Schubladen hätte einordnen können.

»Also ich würde an deiner Stelle in die Offensive gehen«, klugscheißerte Dany. »Ruf Helen an. Die ist ganz wild darauf, den ›All-inclusive‹-Leuten eins auszuwischen. Sie will jetzt übrigens so eine Guerilla-Kochnummer aufziehen.«

»Was will sie?«

»Guerilla-Kochen. Mobile Küchen, Hinterhof-Events, ›Soulkitchen‹«, zählte Daniel so selbstverständlich auf, als müsste mir das geläufig sein. »Wilde Küche, rebellisches Kochen. Ist eine coole Bewegung.«

Das konnte mir alles gestohlen bleiben. Bewegung hatte ich nun wahrlich genug, dafür musste ich nicht in den Koch-Untergrund gehen.

»Gib mir mal ihre Telefonnummer«, murmelte ich und tastete das Bett nach etwas zum Schreiben ab. Ich bekam ein Prospekt in die Finger und fischte einen Kugelschreiber aus der Nachttischschublade. Dany diktierte mir die Telefonnummer.

»Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid«, bot er großzügig an. »Ich fighte gerne und bei so einer David-gegen-Goliath-Nummer besonders.«

Mein Handy verstummte, und mein verwirrter Kopf schickte mir ein Bild, in dem sich Dany in Schwert und Rüstung vor der Zeremonienmeisterin aufbaute. Wasser spritzte aus dem japanischen Zierbrunnen, die Zigarettenfräuleins schrien Zeter und Mordio, Dany stürmte als strahlender Held die Treppe hoch auf einen vor Angst bibbernden Eilert zu. Ich schüttelte den Kopf und wischte das Bild weg.

In den Fingern hielt ich immer noch das Prospekt. Mit schmerzhafter Deutlichkeit fiel mir wieder ein, dass es dieses Papier war, das mir gestern Nacht den Rest gegeben hatte. Ich hatte den Flyer in Eckis Koffer gefunden. In den spanischen Farben Gelb und Rot gehalten, zeigte das Faltblatt eine Hotelanlage, die »El Solare« hieß. Das gleiche Prospekt hatte auf Minkas Wohnzimmertisch gelegen, als ich mit Arîn dort gewesen war. Auf dem in meiner Hand hatte sich Ecki verschiedene Küchenposten notiert und Varianten einer Küchenbrigade durchgespielt.

Nach all den Schlägen, die mir der Mann, mit dem ich bis ans Ende der Welt gehen wollte, in den letzten Tagen verpasst hatte, war es mir unvorstellbar erschienen, dass mich Ecki noch tiefer verletzen konnte.

Ich hatte mich geirrt. Es gelang ihm mit dem »El Solare«. Das Ganze war wie ein Déjà-vu. Nein, so ein feines Prospekt hatten wir von unserem Wiener Beisel nicht machen lassen, aber in den Zeiten, als auch er noch daran glaubte, hatte Ecki das »Paradeiser« gemalt und ebenfalls Variationen für die Küche durchgespielt.

Was das »Paradeiser« für Ecki und mich war, bedeutete das »El Solare« für Minka und Ecki. Er wollte mit ihr nach Spanien gehen. Keine kleine Affäre. Eine Entscheidung fürs Leben. Allein die Vorstellung, dass er mit Minka über so ein Projekt gesprochen hatte, zertrümmerte mir die Knie und haute mir den Boden unter den Füßen dreimal weg. Der Verrat wog zentnerschwer, dagegen mutierte die Tatsache, dass er mit ihr im Bett gewesen war, zu einem Fliegengewicht.

»Verräter! Mörder!«, brüllte ich die zerrissene Fotohälfte auf dem Fußboden an, die Eckis Gesicht zeigte. Die andere Hälfte des Fotos, mich selbst, hatte ich gestern Abend schon unters Bett gefegt. Das Foto von uns beiden, aufgenommen bei einem Paris-Besuch, hatte uns freudestrahlend vor dem fröhlich bunten Tinguely-Brunnen gezeigt. Dass dieses Foto zu Eckis Schätzen gehörte, hatte mich gerührt und mal wieder windige Sehnsüchte geweckt. Für einen Moment hatte ich gehofft, dass alles gut werden würde. Bis ich das »El Solare«-Prospekt entdeckte. Danach hatte ich mich mit dem Borbler-Teufelszeug ins Nirwana befördern müssen.

»Lumpesiach, Drecksbolle, Lugebaidl!«, schrie ich auf Badisch weiter, weil mir der Kopf aus den Tiefen der Erinnerung ewig nicht gebrauchte Kindheitsschimpfworte schickte. Als mir diese ausgingen, trampelte ich auf dem Foto herum, als könnte ich Ecki wie einen Wurm zerquetschen.

Kuno streckte besorgt den Kopf ins Zimmer, ich warf den Wecker in seine Richtung, sprang auf, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Die Sonne regte mich auf. Was fiel ihr ein, an so einem Elendstag so strahlend zu scheinen? Ich zog die Jalousien zu und fing an zu heulen. Den Kopf mit den Händen festhaltend, ließ ich mich aufs Bett fallen, rollte mich wie ein Embryo ein und zog die Steppdecke über den Kopf. Götter und Menschen hatten mich verlassen. Niemand half mir, niemand tröstete mich, niemand trocknete meine Tränen. Ich schwor mir, nie mehr aufzustehen. Ich wollte verschwinden, im Meer des ewigen Vergessens ertrinken. Ich wollte nicht mehr sein.

Irgendwann tauchte ich doch wieder aus meiner Höhle auf. Schweißnass, alles an mir stank. Ein Klopfen an der Tür, Adelas Stimme, ich reagierte nicht. Eckis Kopfkissen in meinem Bett entfachte neuen Zorn. Ich stach mit dem Kugelschreiber hinein, rupfte es auseinander, riss, zerrte, schüttelte. Federn wirbelten lautlos Staub auf, bevor sie ermattet zu Boden rieselten. Wieder summten die Bienen, ich drückte den Off-Knopf, schleuderte das Handy weg und kroch zurück in die Höhle. Ich fiel in einen unguten Sekundenschlaf, der Geschmack von Salz auf den Wangen und mein eigenes klägliches Wimmern ließen mich hochschrecken. Ich dämmerte erneut weg, träumte davon, hilflos dämonischen Furien ausgeliefert zu sein. Mein Herz pochte wie ein blutender Fleischklumpen.

Irgendwann trieb mich brennender Durst aus der Höhle. Im Zimmer herrschte gnädige Dunkelheit, es musste mitten in der Nacht sein. Kein Licht nirgends, kein Mensch nirgends. Gut so, ich wollte keinem begegnen. Ich schlich ins Bad, hängte den Kopf unter den Wasserhahn und trank wie eine Verdurstende. Aus der Anzeige des Badezimmerradios tropfte die Zeit. Das Licht auf dem Display spiegelte giftiges Grün in den Armaturen. Kein Blick in den Spiegel, wie hätte ich den aushalten können? Wie ein Schatten meiner selbst schlich ich zurück in die Höhle.