SECHS

»Frau Schweitzer«, sagte Brandt. »Ich spiele nicht falsch, ich will Ihnen nichts, ich versuche nur, die Wahrheit zu finden. Aber der gestrige Abend und dieses kaputte Fenster machen mir das verdammt schwer. Wer immer die Scheibe eingetreten hat, ich wette, der hat auch Minka Nowaks Spind leer geräumt.«

»Wenn es nur das ist«, murmelte ich und besah mir die Sauerei.

Das Glas des Fensters direkt neben der Tür war zerbrochen. Es war ein Leichtes, dann nach drinnen zu greifen und das Fenster zu öffnen, was auch passiert war. Ich musste gestern Abend vergessen haben, die Rollläden runterzulassen.

»Es ist Samstagvormittag, wie soll ich jetzt auf die Schnelle einen Glaser finden, der mir die Scheibe repariert? Und dann der Ärger mit der Versicherung!«, jammerte ich.

Vorgestern die Tür, gestern die Rollläden, so nachlässig war ich sonst nie. War ich so durch den Wind, war ich von allen guten Geistern verlassen, dass ich in meinen eigenen Laden einbrach und es hinterher nicht mehr wusste? Denn das unterstellte mir Brandt doch.

Nein, für den gestrigen Abend gab es kein schwarzes Loch, ich erinnerte mich genau, wie ich nach Hause gekommen war und dass ich mich danach nicht mehr fortbewegt hatte. Das Schützenfest, das Strandfeuer, der Fluss, die leere Wohnung. Adela und Kuno noch auf ihrem Camp, keine Nachricht von Ecki, das letzte Bier aus dem Kühlschrank. Der Tag und der lange Marsch hatten mich so erschöpft, dass ich tatsächlich schlafen konnte und sogar vor wirren Träumen verschont wurde.

Als der Wecker geklingelt hatte, hatte er mich aus einem Tiefschlaf der Extraklasse gerissen. Erst als ich mit der Hand nach Ecki tastete und nur ein leeres Laken fand, kehrte das Bewusstsein zurück. Ich lag in meinem Bett, und ich war allein. Am liebsten hätte ich den Wecker ausgestellt und mich umgedreht, um weiter in der Schwerelosigkeit des Schlafes zu treiben, aber pflichtbewusst, wie ich nun mal bin, war ich nach einem einsamen Frühstück direkt nach Mülheim gefahren, um der Spurensicherung aufzuschließen, wie ich es Brandt gestern Abend versprochen hatte.

Die Spurensicherung, in Gestalt eines kleinen und eines sehr kleinen Mannes, wartete bereits. Brandt wartete bereits. Alle standen vor dem kaputten Fenster, das in der Nacht eingeschlagen worden war.

»Sperren Sie die Tür auf und lassen Sie uns vorgehen«, schlug der Kleine von der Spurensicherung vor, und ich gehorchte brav.

Der Kleine befahl mir, an der Tür stehen zu bleiben, bis die Spuren gesichert waren. Aber natürlich streckte ich den Kopf vor, um einen Blick in mein Restaurant zu werfen. Die Kaffeemaschine stand an ihrem Ort, auch sonst schien alles in Ordnung zu sein.

»Hinter der Küche ist ein kleiner Raum, in dem Spinde und eine Waschmaschine stehen«, erklärte Brandt dem sehr kleinen Kollegen, der sich die weißen Überzieher über die Schuhe stülpte und dann vorsichtig durch den Raum glitt.

»Deine Nase hat dich nicht betrogen«, meinte er beim Zurückkommen. »Sämtliche Spinde sind aufgebrochen.«

»Wie lange braucht ihr, bis ihr durch seid?«, fragte Brandt. »Eine Stunde? Tut mir leid, Frau Schweitzer, so lange müssen Sie noch warten.«

Und so lange sollte ich vor meinem eigenen Laden Däumchen drehen, oder was?

»In Küche und Kühlräumen wird nichts angerührt, ohne dass ich gefragt werde«, befahl ich den beiden.

»Wenn wir wollen, merken Sie überhaupt nicht, dass wir da waren. So vorsichtig können wir sein«, gab der Kleine zurück, und der sehr Kleine grinste. Mich beruhigte das in keiner Weise.

»Kaffee? Oder einen Spaziergang?«, schlug Brandt vor. »Irgendwie müssen wir uns die Zeit doch vertreiben, bis die Kollegen fertig sind.«

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich weggehe, wenn fremde Leute meinen Laden auf den Kopf stellen? Außerdem muss ich einen Glaser finden.« Ich rief mir das Adressverzeichnis in meinem Handy auf. Wie hieß der noch, den ich damals bestellt hatte, als mir die Fußballer die Scheibe kaputt geschossen hatten?

»Bin gleich zurück.« Brandt lief in Richtung Mülheimer Freiheit davon.

Koschinski, genau. Konrad Koschinski. Ein Mann wie ein Bär mit Tattoos bis zum Abwinken, aber er machte faire Preise und war schnell zur Stelle gewesen.

Er meldete sich sofort. »Kostet Wochenendzuschlag«, sagte er, als ich ihm das Problem schilderte.

»Wenn ich den auch nehmen könnte, würde ich mir 'ne goldene Nase verdienen«, gab ich zurück. »Wann können Sie hier sein?«

Er wollte gegen vier kommen, rechtzeitig bevor der Betrieb losging. Ich fühlte mich gut, als ich das Handy ausstellte. Es war schön, dass es tatsächlich noch Probleme gab, die man schnell und einfach lösen konnte.

»Schwarz? Oder mit Milch und Zucker?« Brandt hielt mir einen der zwei Pappbecher mit Kaffee hin, die er bei dem Büdchen auf der Mülheimer Freiheit besorgt hatte.

»Schwarz.« Ich nahm ihm den Becher ab und schlenderte hinüber zu dem Spielplatzmäuerchen, auf dem Arîn neulich gesessen hatte. Es lag in der Sonne, und von dort hatte man die »Weiße Lilie« voll im Blick. Ich setzte mich. Brandt tat es mir gleich.

»Die Spinde …«, sagte er und fischte ein Tütchen Zucker aus der Jackentasche.

»Ich breche nicht bei mir selbst ein. Ich hätte Ihnen überhaupt nicht zu sagen brauchen, dass Minka einen Spind hat, wenn mir daran gelegen wäre, dies zu verschleiern.« Ich nahm einen Schluck Kaffee. Viel zu heiß.

»Stimmt, und das entlastet Sie sehr. Bleiben noch Ihre kleine Köchin, Ihr Freund und Herr Chidamber. Hat sich Herr Matuschek in der Zwischenzeit bei Ihnen gemeldet?«

»Wieso steht Arîn auf Ihrer Liste?«, überging ich seine Frage.

»Sie traut mir nicht, weil sie wahrscheinlich keinem Polizisten traut. Sie war mit Minka Nowak befreundet. Also will sie selbst nachsehen, was in dem Spind ist.« Brandt rührte seinen Kaffee mit einem Holzstäbchen, nahm den ersten Schluck und sah mich dann direkt an. »Hat Frau Kalay einen Schlüssel für die ›Weiße Lilie‹?«

»Nein, nur Ecki und ich haben einen Schlüssel. Trotzdem würde Arîn niemals eines meiner Fenster kaputt machen.«

»Wie schön, dass Sie so viel Vertrauen zu Ihren Mitarbeitern haben.« Brandt sagte dies ohne zynischen Unterton. »Hat Herr Matuschek sich gemeldet?«, fragte er dann wieder.

»Nein.« Der nächste Schluck Kaffee, schnell und hastig, ich verbrannte mir die Zunge.

Brandt seufzte und rührte wieder in dem Pappbecher herum.

»Das ist nicht gut«, flüsterte er, »weil ich ihn wirklich unbedingt sprechen muss. Ich bin gestern Abend auf der Suche nach diesem Tomasz im ›All-inclusive‹ gewesen. Ich habe ihn angetroffen und erfahren, dass Herr Matuschek vor vier Tagen da war, gemeinsam mit Minka Nowak. Die zwei haben sich lautstark gestritten, berichten einhellig die Garderobiere, die Klofrau und zwei Bedienungen und dieser Tomasz. Für alle klang es nach einem Beziehungsstreit. Frau Nowak soll das Lokal weinend verlassen haben.«

Ich merkte, wie er mich vorsichtig von der Seite ansah. Ich erwiderte seinen Blick nicht. Ich hasste diesen Mann, weil er den Strohhalm zerbrach, an den ich mich seit zwei Tagen klammerte.

Ecki und Minka, die beiden hatten etwas miteinander, das Foto war keine Fälschung. Mein Ecki ein Windhund, ein Schaumschläger, ein elender Betrüger. Ich spürte, dass mich Brandt weiter ansah. Besorgt und bekümmert wahrscheinlich. Das leichte Kratzen des Holzstäbchens, mit dem er weiter seinen Kaffee rührte, schmerzte in meinen Ohren. Der Junkie mit dem glasigen Blick schlurfte wieder vorbei und begann, in dem Mülleimer an der Ecke zu wühlen. Die Büsche des Spielplatzes warfen zittrige Schatten auf die Straße.

Als ob es im Augenblick nichts Wichtigeres gäbe, verwendete ich meine ganze Konzentration darauf, nicht loszuheulen. Ich würde nicht zusammenbrechen, nicht vor diesem Polizisten. Erleichtert registrierte ich das Klingeln meines Handys, weil es mir vorkam, als wollte es mich von meiner Pein erlösen. Ich riss es förmlich aus der Tasche und meldete mich.

»Servus, Kathi, ich weiß gar nicht, wo ich anfang'n soll –«

Ich drückte das Gespräch weg. Seit zwei Tagen war ich krank vor Sorge um Ecki. Zwei Tage hatte er verstreichen lassen, ohne sich zu melden. Hatte, obwohl er wusste, dass Minka tot, ermordet war, nicht einmal versucht, mir zu erklären, was zwischen ihm und Minka gelaufen war. Wieder klingelte das Handy. Ohne das Gespräch anzunehmen, drücke ich den Aus-Knopf.

»Das war er, nicht wahr?«

Brandt zwang mich, ihn anzusehen.

»Das geht Sie nichts an.«

Ich hielt seinem Blick stand.

»Glauben Sie mir, ich weiß, wie schmerzhaft Sie diese Information trifft«, kam Brandt auf seinen »All-inclusive«-Besuch zurück, ohne weiter auf das Telefonat einzugehen. »Ihre These, dass es sich bei dem Foto der beiden um eine Fälschung handelt, ist nicht mehr haltbar. Die Indizien, dass Ihr Freund Sie mit Minka Nowak betrogen hat, häufen sich. Und leider auch die Indizien für etwas viel Schwerwiegenderes. Matuscheks Verschwinden, sein Streit mit Frau Nowak kurz vor deren Ermordung machen ihn zum Tatverdächtigen. Falls er sich doch bei Ihnen melden sollte, raten Sie ihm dringend, sich zu stellen. Ich muss ihn sonst zur Fahndung ausschreiben.«

Ich schoss von dem Mäuerchen hoch, Kaffee spritzte durch die Luft und schwappte mir über die Hand, am liebsten hätte ich ihn über Brandt ausgeschüttet.

»Ecki ist kein Mörder«, schrie ich ihn an. »Was immer zwischen ihm und Minka war, er hat sie nicht umgebracht.«

Der Junkie am Mülleimer zuckte zusammen und suchte das Weite, eine Passantin auf der Keupstraße sah erschrocken zu mir herüber, Brandt dagegen blieb ganz ruhig sitzen.

»Ich weiß nicht, ob Herr Matuschek es verdient, dass Sie ihn verteidigen. Bitte tun Sie es nicht blind! Suchen Sie wie ich nach der Wahrheit.«

»Die Wahrheit, was ist das schon?«, schrie ich weiter. »Sie sieht doch jedes Mal anders aus, je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtet.«

Er kramte eine Packung Papiertaschentücher aus der Hosentasche und reichte mir eines davon, damit ich meine Hand abwischen konnte. Keine Brandblasen, nur leicht gerötete Haut, kein Problem für eine Köchin. Verbrennungen gehörten in unserem Job zur Tagesordnung. Ich knüllte das Papiertuch zusammen und warf es in den Müll.

Als ich vom Mülleimer zu Brandt zurückkam, stand er auf und sagte: »Woran wollen Sie sich bei einem dreckigen Geschäft wie dem unseren denn festhalten, wenn nicht an der Wahrheit? Ich suche Minka Nowaks Mörder. Bei allem, was ich finde, was ich höre, was ich sehe, muss ich mich fragen: Stimmt es, oder stimmt es nicht? Kann ich es beweisen, oder kann ich es nicht? Ist es die Wahrheit oder nicht? Verstehen Sie, was ich meine?«

»Sie wissen noch nicht einmal, ob ich Ihnen die Wahrheit sage!« Meine Stimme fand wieder zu normaler Lautstärke zurück.

»Stimmt«, gab er unumwunden zu. »Aber ich finde es heraus.«

Obwohl mir eigentlich nicht danach war, lächelte ich.

»Bevor ich es vergesse, ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Brandt warf seinen Kaffeebecher ebenfalls in den Mülleimer und ließ dann mit einem Autoschlüssel die Türen eines metallicblau lackierten Passats daneben aufklicken. Aus dem Kofferraum holte er einen durchsichtigen Plastikbeutel heraus. »Das wächst in meinem Schrebergarten, und ich kann mir vorstellen, dass Sie eine der wenigen sind, die daraus etwas anderes als Bowle machen können.«

Er reichte mir die Tüte, ich steckte meine Nase hinein. Waldmeister.

»Grün, aber kein Brokkoli«, murmelte ich.

»Wie bitte?«, fragte Brandt irritiert.

»Ach nichts.« Ich zerrieb eines der zarten Pflänzchen mit den filigranen Blättern zwischen den Fingern. Sofort hatte ich den intensiven Duft von Waldmeister in der Nase. Das frische Grün der Pflanze ähnelte in nichts dem Giftgrün der künstlich hergestellten Sirups und Puddings.

»Ein bisschen aus der Mode gekommen«, sagte ich. »Hat so einen Fünfziger-Jahre-Charme. Wie Käseigel, Tomatenpilze, Spargelröllchen und Wackelpudding. Echter Waldmeister ist wirklich eine Herausforderung.«

Wieder schnupperte ich. Waldmeister, musste man den vor dem Verwenden antrocknen oder nicht? Und wie war noch mal der Grünton von nicht künstlich hergestelltem Waldmeistersirup? Ziemlich unansehnlich, eher oliv, oder? Normalerweise liebte ich Herausforderungen beim Kochen. Dass ich denen allerdings heute gewachsen war, bezweifelte ich sehr.

»Es würde mich freuen, wenn ich von dem Ergebnis testen dürfte.« Brandt verschloss das Auto wieder. »Wir können zurück ins Haus«, sagte er dann und deutete auf den Kleinen, der uns von der Eingangstür zunickte.

 

Ich überprüfte zuerst Küche und Vorräte, ohne Spuren eines Einbruchs zu entdecken, und folgte dann Brandt in die Waschküche. Fünf offene Spindtüren, Kochjacken, Schürzen und Arbeitsschuhe auf dem Fußboden verteilt, dazwischen lag Kleinkram wie Handcremes, Regenschirme, zerlesene Zeitschriften und eine alte Pappnase. Ganz obenauf das schwarze Tuch, das Ecki sich beim Kochen piratenmäßig um den Kopf band und dessen Anblick mir einen Stich in die Herzgegend versetzte.

»Können Sie die Sachen Ihren Mitarbeitern zuordnen?«, fragte Brandt.

Bei Kochjacken und Schuhen war das kein Problem, meine und Eckis Sachen kannte ich sowieso, die schmale Kochjacke und die kleinsten Schuhe gehörten Arîn, die sauberen, glatt gebügelten Schürzen Eva. Der einzige Minka zuzuordnende Gegenstand war ein graues T-Shirt.

»Ich hätte gestern doch über meinen Schatten springen und das Schloss von Frau Nowaks Spind knacken sollen«, bedauerte Brandt, den Blick auf die Häufchen am Boden gerichtet, die ich zusammengestellt hatte. »Ob der oder die Einbrecher gefunden haben, was sie suchten? Oder sind sie mit leeren Händen gegangen? Was, denken Sie, war das Objekt ihrer Begierde, Frau Schweitzer?«

Dem Tonfall seiner Stimme konnte ich nicht entnehmen, ob ihn eine Antwort wirklich interessierte.

»Die Geheimnisse der Lomi-Lomi- oder Yoni-Massage, was weiß ich?«

»Ach?« Brandt blickte vom Boden auf. »Dieses Plakat in Frau Nowaks Schlafzimmer ist Ihnen also auch aufgefallen?«

»Groß genug ist es ja. Da muss man schon blind sein, damit einem das nicht auffällt.«

»Yoni-Massage. Wussten Sie, was das ist? Ich gestehe, ich hatte keine Ahnung. Das Internet hat mich klüger gemacht. Bei Yoni werden die weiblichen, bei Lingum die männlichen Geschlechtsteile massiert. Ich stelle mir das als eine Art externe Selbstbefriedigung gegen Bezahlung vor.«

Ich stellte mir Minka und Ecki dabei vor. Mir wurde schlecht.

»Wir haben in Frau Nowaks Unterlagen gesehen, dass sie einen Kurs dazu bei einem tantrischen Massagezentrum in Köln belegt hat«, berichtete Brandt. »Wir wissen nicht, ob sie diese Technik praktiziert hat oder ob sie Kunden dafür hatte. Sagt man das dann? Kunden? Oder Patienten? Ich nehme nicht an, dass Sie –«

»Nein«, unterbrach ich ihn schroff, weil immer noch schwüle Bilder durch meinen Kopf schwirrten. War es Sex, der Ecki zu Minka getrieben hatte? Sex mit einer Expertin in tantrischer Erotikmassage, die vielleicht Geheimnisse der Stimulation und Praktiken kannte, von denen ich noch nie etwas gehört hatte?

Unser Sex war doch gut, verdammt! Klar, nicht mehr so wild und rauschhaft wie in den Zeiten, als Ecki noch irgendwo in der Welt arbeitete und wir uns nur selten sahen. Wo wir es nicht erwarten konnten, miteinander im Bett zu landen, und manchmal den ganzen Tag nicht aufgestanden waren. Ruhiger, fließender, genießerischer. Noch in dieser Woche hatten wir tollen Sex gehabt. Oder hatte nur ich das so erlebt? Genügte Ecki das nicht? Genügte ich ihm nicht?

Jede Frage ein neuer Stich ins Herz. Minka, dieses Miststück! Wie ein Chamäleon kam sie mir vor. In meiner Küche still und blass, auf Bauses Fest ein heißer Feger. Wen hatte sie noch alles mit ihren speziellen Fähigkeiten umgarnt?

»Bestimmt hatte sie Kunden in Lomi-Lomi, Yoni, Lingum, was weiß ich! Schwarz und unter der Hand. Einer wollte mehr, als im Preis inbegriffen war. Soll ja vorkommen, dass die Kerle dann durchdrehen. Da müssen Sie nachforschen. Außerdem hat sich dieser Chidamber mehr als verdächtig gemacht!«

Brandt nickte vage, bevor er sagte: »Ungewöhnlich ist es auf alle Fälle, dass jemand solche Kurse belegt. Helfen Sie mir, damit ich mir die junge Frau vorstellen kann! War sie so der Stille-Wasser- oder eher der Die-Unschuld-vom-Lande-Typ?«

»Da fragen Sie ja die Richtige«, schnaubte ich. »Für mich war Minka, bis ich sie schwer aufgebrezelt auf dem Bause-Fest gesehen habe, eine unscheinbare junge Frau, die den Spül machte. Sie war pünktlich, zuverlässig und redete nicht über sich. Zumindest nicht mit mir. Sie hat nie mit uns gegessen, weil sie ab Mitternacht noch einen weiteren Job hatte. Als Garderobiere im ›All-inclusive‹, wie ich in der Zwischenzeit von Arîn erfahren habe.«

Brandt notierte sich irgendwas und fragte dann: »Wie sind Sie an Frau Nowak gekommen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wie das halt so läuft, wenn man in der Gastronomie jemanden sucht. Man fragt erst mal die Kollegen, man fragt seine Lieferanten, man fragt seine Bekannten«, erklärte ich. »Weil man jemanden mit Empfehlung lieber nimmt als einen Fremden. So ein Spülposten muss auf Zack sein, da können Sie keine Schnecke gebrauchen. Wenn in der Küche das dreckige Geschirr unsere Arbeitsflächen blockiert, ist die Hölle los. Ich habe also meine Fühler ausgestreckt, wir alle haben unsere Fühler ausgestreckt. Na, und eines Abends stand Minka in der ›Weißen Lilie‹ und fragte, ob der Spülposten noch frei sei. ›Klar‹, habe ich gesagt, ›kannst sofort anfangen.‹ Das hat sie getan, hat gut gearbeitet, und ich hab sie auf Vierhundert-Euro-Basis eingestellt.«

»Haben Sie sie mal gefragt, wie sie von dem freien Posten erfahren hat?«

Hatte ich das? Ich wusste es nicht mehr. Vielleicht hatte ich vergessen, sie danach zu fragen, weil sie so gut arbeitete, weil sie sich unsichtbar machen konnte, weil ich froh war, dass der Posten besetzt war. Vielleicht hatte sie es mir auch gesagt, und der Name, den sie genannt hatte, war mir so naheliegend vorgekommen, dass ich ihn schnell vergessen hatte.

»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete ich wahrheitsgemäß, und dann fiel mir das Heft wieder ein.

Das Heft, in dem Minka Interna der »Weißen Lilie« gesammelt hatte und das aus meinem Kopf verschwunden war, nachdem ich Eva das verfluchte Foto aus der Hand gerissen hatte. Hatte man Minka bei mir eingeschleust? Hatte sie von Anfang an spioniert?

Um das herauszufinden, musste ich mir das Heft noch einmal genau ansehen. Also noch kein Wort dazu zu Brandt. Bestimmt konnte ich anhand ihrer Notizen nachvollziehen, wann sie damit begonnen hatte. Wo hatte ich das Heft überhaupt? Immer noch in der Handtasche?

»Wie schade, dass Sie nicht mehr wissen, durch wen Frau Nowak zu Ihnen kam«, seufzte Brandt.

»Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich es bereue, dass ich ihr gegenüber nicht misstrauischer war.«

»Glauben Sie wirklich, dass Misstrauen vor Unglück schützt?«, fragte er erstaunt. »Dinge passieren, Menschen sind kompliziert, Katastrophen gehören zum Leben. Misstrauen hilft Ihnen nie, einen Menschen besser zu beurteilen.«

»Ach ja?«, spottete ich und dachte, dass ich noch nie einen Polizisten mit einer so menschenfreundlichen Grundhaltung kennengelernt hatte.

»Interesse, Beobachtung, Neugier, Nachfragen«, zählte er auf. »Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich darf Ihnen ein anderer völlig gleichgültig sein. Jedem von uns sind Millionen von Menschen völlig gleichgültig, sonst könnten wir das Elend dieser Welt nicht aushalten. Aber wenn einem jemand nicht gleichgültig ist, dann ist es besser, positive Energien auf ihn zu verwenden als negative. Und Misstrauen kostet nicht mehr und nicht weniger Kraft als das Gegenteil.«

Gleichgültigkeit, damit traf es Brandt genau. Minka war mir gleichgültig gewesen. Deshalb wusste ich nicht, wer sie zu mir geschickt hatte. Deshalb hatte ich nicht mitbekommen, wie sie sich mit Arîn angefreundet, sie spioniert, sie Ecki schöne Augen gemacht hatte. War es so gewesen? Oder hatte Ecki den aktiven Part gespielt? Da waren sie wieder, die Stiche ins Herz. Der kleine Muskel musste schon völlig zerfetzt sein. Zumindest fühlte er sich so an.

»Entspricht wahrscheinlich nicht dem Bild, das Sie von einem Polizisten haben, oder?« Brandt steckte seinen Block ein, lehnte sich an die große Waschmaschine und betrachtete mich neugierig.

Noch zu sehr mit meinem zerfetzten Herzmuskel beschäftigt, fiel mir dazu nicht viel ein, deshalb sagte ich nur: »Stimmt.«

Brandt verzog den Mund zu einem wissenden Lächeln, weil das wahrscheinlich die Antwort war, die er immer bekam.

»Alban, wir sind durch«, hörte ich plötzlich den Kleinen sagen. Ich wusste nicht, ob er gerade gekommen oder schon die ganze Zeit mit im Raum gewesen war. Was wusste ich überhaupt noch?

»Es gibt nirgendwo Einbruchspuren außer am Fenster und in diesem Raum. Die Schlösser sind mit einem kleinen Schraubenzieher oder einer Nagelfeile geknackt worden. Ist ja nicht so schwer bei den billigen Dingern. Fingerabdrücke sind verwischt, wenig verwertbare. Fuselspuren en masse, das ist Sisyphusarbeit wie immer. Wir wissen mehr, wenn der Laborbericht vorliegt«, rapportierte er. »Montag hast du den Bericht.«

Der Spurensicherer verstaute die Plastiktüten mit Minkas Sachen in einem Koffer, Brandt wünschte den Kollegen ein schönes Wochenende, und von draußen hörte ich Arîn nach mir rufen.

»Hast du die kaputte Scheibe gesehen? Ist was geklaut worden?«, fragte sie auf dem Weg zu uns weiter. »Hast du vergessen, die Rollläden runterzulassen, oder was? Ausgerechnet an einem Abend, wo nach dem Schützenfest die Besoffenen durch die Mülheimer Straßen torkeln. Da muss gestern Nacht echt die Post abgegangen sein.« Als sie in den Raum trat und die aufgebrochenen Spinde sah, verstummte sie. »Malmerat«, fluchte sie kurz auf Kurdisch, schickte Brandt ein wütendes Funkeln, mir einen Habe-ich-es-dir-nicht-gesagt-Blick, dem sie hinzufügte: »Wenn wir gestern den Spind geknackt hätten, wär das nicht passiert.«

»Hinterher ist man immer klüger«, stimmte ihr Brandt bereitwillig zu. »Sicherlich können Sie mir auch bei ein paar anderen Dingen weiterhelfen, Frau Kalay. Ich möchte Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

Jetzt sah sie mich wütend an, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Schlechte Erfahrungen mit der Polizei hin oder her, irgendwann musste sie mit Brandt reden. Ich konnte ihr das nicht abnehmen. So wie ich im Moment tickte, konnte ich niemandem etwas abnehmen. Brandt, davon war ich überzeugt, würde ihr nicht den Kopf abreißen.

»Draußen wartet Frau Mombauer auf dich«, warnte sie mich, als ich mich zur Tür schleppte.

Nein, nicht auch noch die! Die hatte ich seit gestern Abend vergessen. Wieder dachte ich an Flucht, aber dann merkte ich, dass sich tatsächlich noch ein Rest von Kampfgeist in mir regte. So schnell würde ich die »Weiße Lilie« nicht aufgeben! Und was war mit der Wohnung? Auch dafür würde mir eine Lösung einfallen, nur nicht jetzt. Ich musste Druck aus der Sache herausnehmen, ich brauchte Zeit.

Durch die Glasfront der Küche sah ich Frau Mombauer fingerklopfend an meiner großen Tafel stehen, den Mund wieder zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

»Frau Mombauer«, begrüßte ich sie und bemühte mich zumindest um einen freundlichen Tonfall. »Möchten Sie einen Kaffee? Also ich brauche unbedingt einen.« Ich stellte das Mahlwerk an, füllte den kleinen Aufsatz mit frischem Kaffeepulver, klemmte diesen in die Maschine und drückte den Startknopf. Schon der Geruch von frisch gebrühtem Espresso wirkte belebend.

»Sie haben es nur Irmchen zu verdanken, dass ich noch mal gekommen bin«, lamentierte Frau Mombauer hinter meinem Rücken. »Wissen Sie, wie lange ich gestern Abend auf Sie gewartet habe? Und habe ich nicht klar genug gesagt, dass wir die Sache schnell hinter uns bringen müssen? Dieses Haus belastet mich ungemein. Das hat nichts mit Ihnen, das hat etwas mit meiner Geschichte zu tun.«

»Auch einen?«, fragte ich, als ich mich umgedreht und die Tasse vor mich auf den Tresen gestellt hatte.

Sie nickte gnädig, und in ihrem Blick schimmerten wieder alte Verletzungen durch. Ich drehte mich zur Kaffeemaschine um, konzentrierte mich auf den zweiten Espresso und hoffte, dass sie nicht mehr von ihrer bestimmt traurigen Geschichte erzählen würde. Ich war keine, zu der die Mühseligen und Beladenen kommen konnten. Zum Glück beließ sie es bei dieser Andeutung und kam stattdessen auf ihren Cousin Tommi zu sprechen.

»Der steht in den Startlöchern, der verkauft das Haus sofort für mich. Der findet sowieso, dass ich viel zu langmütig bin. Jetzt unterschreiben Sie endlich den Vertrag, damit die Sache erledigt ist.«

Ich balancierte die beiden Espressi zu ihr und stellte sie ab. Noch bevor ich mich setzen konnte, riss sie mit einer zackigen Bewegung den Vertrag aus der Tasche und schob ihn über den Tisch, ich schob ihr im Gegenzug den Espresso hin.

Die Mitleidstour, dachte ich, probier doch einmal, ob du das nicht auch kannst. Sag doch einfach: Meine Spülfrau ist ermordet worden, mein Freund hat mich betrogen, bei mir wurde eingebrochen. Mein Leben ist ein Scherbenhaufen, ich kann nicht mehr. Aber ich brachte keinen Ton heraus, stattdessen stieg wieder diese Hitze in mir auf. Schweiß brach aus allen Poren, und, um das Unglück perfekt zu machen, kamen noch die Tränen. Erst nur ein paar, aber dann flossen sie mit Wucht, so als würde ein Staudamm brechen. Ich konnte nicht mehr aufhören. Ich schniefte und schluchzte, schwitzte und schweißte, rammte meinen Körper blind in die Höhe, kippte mit zittriger Hand die Espressotasse um, stürzte nach draußen, lief Eva in die Arme, wehrte mich, als sie mich festhalten wollte, strampelte mich frei und lief heulend weiter.

 

Ich stolperte die Keupstraße entlang, achtete nicht auf quietschende Bremsen und wütendes Gehupe und lief über den Clevischen Ring, immer weiter, einfach nur weiter, bis ich irgendwann mein Gesicht im Schaufenster einer türkischen Konditorei gespiegelt sah. Aufgequollene, rot geheulte Augen zwischen Baklava, Lokum und türkischem Honig. Die verschleierte Türkin neben mir bemerkte ich erst, als sie mich sanft anstupste, mir ein Papiertaschentuch in die Hand drückte und mich durch ein Deuten auf meine Hosentasche darauf hinwies, dass mein Handy klingelte. Ich nestelte es heraus. Ecki? Würde ich rangehen?

Aber es war Adela, die anrief. Gott sei Dank, Adela war zurück.

»Wie war dein Camp?«, schniefte ich.

»Schätzelchen, das Camp ist völlig egal«, schnaufte sie. »Ich bin so froh, dass du endlich drangehst! Ich telefoniere mir seit zehn Minuten die Finger wund, nachdem mich eine maßlos besorgte Eva angerufen hat. Wo steckst du?«

Ich sagte es ihr.

»Puls? Herzschlag? Knie?«

Ach, meine liebe Adela. Wenn sie um einen besorgt war, kam bei der alten Hebamme immer erst die Krankenschwester durch.

»Erhöht und zittrig«, berichtete ich.

»Geh rein und kauf dir eine von diesen Zuckerbomben, damit dein Blutzuckerspiegel nicht absackt.«

Ich tat wie geheißen und suchte mir in der Konditorei zwei, drei süße Teilchen aus. Wieder auf der Straße, schob ich mir ein klebriges Baklava-Stückchen in den Mund. Pistazien und Zucker knirschten zwischen meinen Zähnen.

»Jetzt zum schwierigen Teil«, tönte Adela. »Was ist los? Klär mich auf. Präzise und in eins dreißig. Konzentrier dich auf das Wesentliche.«

»Jetzt wird die Mombauer das Haus verkaufen«, presste ich hervor. »Und der neue Besitzer kann mich sofort auf die Straße setzen, weil mein Pachtvertrag Ende des Monats ausläuft.«

»Ich glaube nicht, dass der Pachtvertrag zurzeit dein größtes Problem ist. Was ist mit Minka passiert? Wo steckt Ecki? Entwirre mir mal das Gestammel von Eva!«, befahl Adela.

Ich versuchte es. Bestimmt nicht präzise und auch nicht in eins dreißig, aber Adela hörte zu und fragte nach.

»Wie kann Ecki nur so doof sein und das Risiko eingehen, eine Frau wie dich zu verlieren?«, regte sie sich auf, als ich zu Ende erzählt hatte.

Ich kannte Adela gut genug und wusste genau, dass sie es nicht bei dieser Solidaritätsbekundung belassen würde. Gleich würde einer ihrer berühmten Aber-Sätze kommen. Und so war es auch.

»Aber dass Minka eine ist, die Männer zu läufigen Hunden macht, hab ich dir schon nach der Bause-Sause erzählt. Erinnerst du dich, Schätzelchen?«

»Soll das jetzt eine Entschuldigung sein, oder was?«, blaffte ich sie an.

»Natürlich nicht!«, empörte sich Adela. »Aber na ja, Ecki ist kein Kind von Traurigkeit, du ja eigentlich auch nicht. Ihr zwei habt Erfahrungen im Betrügen und Betrogenwerden, aber …«

»Es ist doch was ganz anderes, in weiter Ferne mit einer anderen ins Bett zu steigen, als direkt vor meiner Nase fremdzugehen«, jammerte ich. »Das ist, als würde man auf meinem Herzen herumtrampeln …«

»Wunden lecken muss auf später verschoben werden«, unterbrach mich Adela ohne Rücksicht auf Gefühle. »Ecki ist ein Fremdgeher, ein Schaumschläger, ein Drückeberger. Aber ein Mörder? Nie und nimmer. Dein Wiener Hallodri ist nicht blöd. Der weiß, dass er für die Polizei der Hauptverdächtige ist. Der steckt nicht den Kopf in den Sand, weil er Minka umgebracht hat, sondern weil er verdächtigt wird. Bestimmt hat er kein Alibi und ist deshalb untergetaucht. Was hast du unternommen, um ihn zu finden? Weiß sein Kumpel Benedikt was? Nein? Hast du bei Motorboot-Verleihern angerufen? Okay, das übernehme ich gleich. Wobei er ja nicht Tag und Nacht auf dem Rhein auf und ab fahren kann. Ich telefoniere also besser noch Hotels und Pensionen ab. Wir müssen den Volltrottel finden, bevor es die Polizei tut, damit wir ihm aus der Bredouille helfen können. Und da steckt er hüfttief drin, und meine Nase sagt mir, dass jemand kräftig nachhilft, damit er aus dem Mist nicht rauskommt.«

»Adela, bitte jetzt keine von deinen Verschwörungstheorien«, flehte ich, weil mir ihre misstrauischen Fragen zu Mombauers Tod wieder einfielen. »Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass das alles damit zusammenhängt.«

»Mombauer, Quatsch!« Adela wischte meinen Einwand hinweg, als hätte sie niemals über seinen Tod spekuliert. »Wir müssen uns Eilert vorknöpfen. Der ist der Schlüssel zu dieser ganzen Schweinerei.«

Es war zum Verzweifeln! Kaum war eine Verschwörungstheorie vom Tisch, zauberte Adela die nächste aus der Kiste.

»Eilert? Jetzt vermisch nicht alles! Klar ist der Kerl nicht koscher, aber nur weil er Gift auf die ›Weiße Lilie‹ sprüht, muss er noch lange nichts mit Minkas Tod oder Eckis Verschwinden zu tun haben.«

»Kuno«, antwortete Adela, und der Stolz auf ihren Liebsten war nicht zu überhören, »hat herausgefunden, woher er den Namen kennt. Eine Notiz in der Zeitschrift der IHK Köln vor einem Jahr. Da wurde berichtet, dass der bekannte Kölner Immobilienmakler Eike Eilert sein Geld in ein weiteres Betätigungsfeld investiert. Der ist nämlich zurück in die Gastronomie gegangen, wo er seine beruflichen Wurzeln hat. Mit einer neuen Restaurantkette, deren Idee es ist, gehobene Gastronomie mit aktuellem Lifestyle zu kombinieren. ›Was McDonald's für den schnellen Hunger von Otto Normalverbraucher ist, das ist ›All-inclusive‹ für den genüsslichen Feinschmecker‹. So wirbt er dafür. In Köln sind drei Standorte für die Kette geplant. Zwei im Linksrheinischen und eine im Rechts–«

»Eilert ist der Chef von ›All-inclusive‹?« Diese Neuigkeit schockierte mich wirklich. Ich verschluckte mich an dem letzten Stückchen Baklava. »Wo im Rechtsrheinischen?«, fragte ich, als ich wieder sprechen konnte.

»Na, wo wohl? In Mülheim natürlich. Im Schanzenviertel. Mit der IT-Branche, den TV-Machern und dem neuen Verlagshaus von Bastei Lübbe gäbe es da eine potente Klientel, sagt Eilert.«

»Das ist meine Klientel«, zischte ich. »Die habe ich mir in den letzten Jahren erobert.«

»Es sieht so aus, als ob dir da einer die Butter vom Brot nehmen will«, folgerte Adela gnadenlos. »Getreu dem Motto, dass man den Feind kennen muss, um ihn vernichten zu können, habe ich für heute Abend einen Tisch im ›All-inclusive‹ im Belgischen Viertel reserviert.«

»Aber ich muss doch arbeiten.«

»Klar musst du das. Doch das ›All-inclusive‹ macht erst um drei Uhr morgens zu, und so lange kriegst du auch was zu essen. Ich hol dich ab, wenn du mit Kochen fertig bist.«

Ich steckte das Handy zurück in die Hosentasche. Im Schaufenster der Konditorei sah mein Spiegelbild wieder halbwegs normal aus, und in meinem Kopf wirbelten Adelas Neuigkeiten herum. Eilert. Hatte Minka für ihn spioniert? Oder war sie ihm in die Quere gekommen? Wer hatte sie umgebracht? Und wie hing Ecki in dieser Geschichte drin?

Egal, wie ich die Fragen drehte und wendete, Antworten dazu fielen mir keine ein. Ich starrte immer noch auf das Fenster der Konditorei, wo hinter zwei mehrstöckigen pastellenen Hochzeitstorten eine mit Halbmonden verzierte Uhr hing. Halb vier, ich musste dringend wieder in die »Weiße Lilie«.

Also lief ich durch die Straße zurück, die nicht umsonst Kölns Klein-Istanbul hieß. Ich hatte den Überblick darüber verloren, wie viele türkische Konditoreien es hier gab, ganz zu schweigen von den vielen türkischen Bäckereien. Manchmal duftete die ganze Straße wie ein riesiges frisches Fladenbrot. Nicht zu vergessen die Dönerläden, Teehäuser und Restaurants, die auch außerhalb des Viertels einen guten Ruf hatten und viel Publikum anzogen.

Am Wochenende war hier manchmal die Hölle los. Türkische Großfamilien beim Essen in den Restaurants, aber auch junge Leute, die sich in einem der Dönerläden noch schnell etwas in den Mund schoben, bevor es ins E-Werk oder ins Palladium zum Feiern ging. Dann strahlte die Straße lebendig und friedlich, und nichts erinnerte an die traurige Berühmtheit, zu der sie 2004 gelangte, als vor dem Friseursalon Yildirim eine Nagelbombe explodierte. Aber natürlich hatte man dieses Attentat hier nie vergessen.

Als im Herbst eher zufällig herauskam, dass die Zwickauer Terrorzelle für das Attentat verantwortlich war, hatte das zwar Erleichterung, aber auch viele neue Fragen ausgelöst. Warum hatte man so früh eine Spur ins rechtsradikale Milieu verworfen? Warum nicht Parallelen zu den sogenannten Döner-Morden weiterverfolgt? Warum überhaupt konnten drei polizeibekannte Rechtsradikale zehn Jahre mordend durch die Lande ziehen, ohne jemals gefasst zu werden?

»Friseure, ich meine, wer kümmert sich schon um Friseure und dann noch um türkischstämmige?«, regte sich Fatma Yavuz, meine Friseurin auf, deren Salon schräg vis-à-vis von Yildirims Herrenladen lag, und ich konnte ihr nicht widersprechen. »Stell dir vor, das hätte auch mich treffen können. Da nützt es nichts, wenn die Politiker dann mal wieder einen ihrer Betroffenheitsbesuche machen.«

Immer wenn ich zum Haareschneiden kam, redeten wir zuerst darüber.

»Aber wenn du nur noch daran denkst, kannst du deinen Laden direkt dichtmachen«, sagte Fatma. »Und wie heißt es in Köln? Et hätt noch immer joot jejange.« Und dann schüttete sie leichteren Herzens ihr Füllhorn an alltäglichem Keupstraßen-Tratsch über mich aus, weil man doch mit dem Schrecken und der Furcht nicht weiterleben konnte.

Eine bremsende Linie 4 ließ mich aus meinen Gedanken auffahren, ich hatte den Clevischen Ring wieder erreicht. Diesmal wartete ich, bis die Ampel auf Grün schaltete, bevor ich die Straße überquerte. Auf der anderen Straßenseite ging die Keupstraße weiter, aber Klein-Istanbul war zu Ende. Da waren der Spielplatz, die »Weiße Lilie«, das Altenheim. Zudem standen hier ein paar bemerkenswerte Häuser aus den Anfängen des neunzehnten Jahrhunderts, als das wohlhabende protestantische Mülheim blühte, während man auf der anderen Rheinseite auf die napoleonischen Truppen warten musste, um den Mittelaltermief aus der Stadt zu kehren.

 

Am Spielplatz fuhr Brandt seinen metallicblauen Wagen aus der Parklücke. Hatte er noch so lange mit Arîn gesprochen? Wie lange war ich überhaupt weg gewesen? Er kurbelte die Scheibe herunter und sah mich wieder mit diesem besorgten Menschenfreund-Blick an. Hatte er mitbekommen, wie ich als brennender Busch und heulend aus dem Haus gestürzt war?

Wenn ja, dann erwähnte er es mit keinem Wort. »Wenn Sie nicht dazu kommen, den Waldmeister zu verarbeiten, kann ich Ihnen noch mal neuen bringen. Ich habe noch jede Menge davon in meinem Schrebergarten.«

Waldmeister, stimmt. Vielleicht fiel mir dazu etwas ein.

»Und Sie?«, fragte ich. »Müssen Sie noch arbeiten, oder können Sie das Wochenende in Ihrem Schrebergarten genießen?«

»Bei einem Mordfall gibt es kein Wochenende. Ich fahre jetzt in dieses tantrische Massagezentrum.« Er sah nicht aus, als ob er sich darauf freute. »Drücken Sie mir mal die Daumen, dass ich da nicht verwirrter rauskomme, als ich reingehe.«

»Daumen drücken, das werde ich grade noch schaffen.«

Brandt lächelte und fuhr davon.

Als ich mich der Tür der »Weißen Lilie« näherte, stürzten Arîn und Eva gleichzeitig heraus. Sie überzogen mich mit ihren Mitleidsblicken und erinnerten mich damit ebenfalls an meinen panischen Aufbruch.

»Kein Wort«, befahl ich. »Was ist mit Frau Mombauer? Hat sie noch irgendwas gesagt?«

»Na ja, sie war nicht begeistert, dass ihre Verträge ein Espressobad genommen haben. Sie hat sie in den Müll geworfen und ist gegangen.«

»Wollte sie wiederkommen? Soll ich sie anrufen?«

Eva zuckte mit den Schultern.

»Wie auch immer«, murmelte ich. »Wir müssen kochen.«

»Willst du heute wirklich aufmachen?« Eva musterte mich wie eine Kranke, die zu früh ins gesunde Leben zurückdrängte. »Ich könnte den Gästen absagen. So was passiert in den besten Häusern.«

»Ich koche bei Fieber, ich koche mit gezerrtem Knöchel, da werde ich doch auch mit gebrochenem Herzen kochen können. – Also frisch ans Werk, wir haben Full House.«

»Nicht mehr.« Eva setzte dieses bedauernde Lächeln auf, mit dem sie Gäste besänftigte, wenn uns in der Küche ein Gericht ausgegangen war. »Es gab Absagen, insgesamt fünfzehn.«

»Begründungen?«

»Eigentlich keine. Aber hast du mal die Bewertungen im Netz verfolgt? Da hat sich die Kritik an der ›Weißen Lilie‹ in den letzten Tagen merkwürdig gehäuft.«

»Lass sehen«, bellte ich und stürmte nach drinnen.

Eva rief mir am PC bei der Kasse die Seiten auf. Heute konnte ich von »Mini-Chefkoch« lesen: »Keine gute Erfahrung! Machen auf fein. Teuer und nicht gut für den Preis! Wurde leider auch nicht satt. Für mich ist die ›Weiße Lilie‹ ein Möchtegern-Restaurant!« So etwas Ähnliches hatte ich doch schon mal gelesen. Unverschämt blieb es trotzdem.

Dass bei mir einer nicht satt wurde, war noch nie vorgekommen. Beilagen konnte man bei uns jederzeit nachbestellen.

Mit dem Sattwerden hatte »Schlabbermäulchen« keine Probleme, denn der oder die schrieb: »Der kleine Gruß aus der Küche gut, aber nicht erwähnenswert. Die Vorspeisen klein und fein, aber keine geschmackliche Sensation und manche Komponenten einfach nicht so stimmig zueinander komponiert. Die Zwischengänge waren in guter Qualität, aber sehr überschaubar und standen in keinem Verhältnis zu dem für sie aufgerufenen Preis.«

Was war das denn für eine Kritik? Mein Amuse-Bouche gut, aber nicht erwähnenswert? Keine Ahnung von Essen hatte der Typ, nicht eine einzige Zutat, nicht ein Gericht wurde erwähnt. Der kleckste mein Essen in miesem Deutsch zu fiesem Durchschnitt zusammen.

Schon klickte ich weiter zu »Himmel un Äd« und konnte lesen, dass die »Weiße Lilie« partiell zur Arroganz neigte: »Ich wurde dahingehend nicht ausreichend beraten, was man mir auf meinen Wunsch trockener Weißwein hin anbieten könne.«

Der hatte sie wohl nicht mehr alle! Wir hatten nur trockene Weißweine im Sortiment!

»Die Foie gras allerdings war den Tod des Vogels nicht wert. Langweilig und fad im Geschmack, die eingelegten Früchte sauer, aber sonst ohne eigenes Aroma. Da wäre ein Chutney von Aldi noch besser gewesen.«

Hallo? Gänseleberpastete servierte ich überhaupt nicht. So was kam mir nicht auf den Tisch! Erstunken und erlogen waren diese Texte. Das roch nach gezielter Demontage, nach hinterhältiger Attacke. Wie konnte ich herausfinden, ob Eilert dahintersteckte? Vielleicht war es ein Fehler, dass ich mich bisher nie um das Internet gekümmert hatte. Aber das ließ sich ändern.

»Ich kann bei unseren Stammgästen anregen, mal eine positive Kritik zu veröffentlichen«, schlug Eva vor.

»Viel zu spät, wir müssen sofort reagieren«, entschied ich. »Eva, sag deinem Dachdecker Bescheid, dass er das Hohelied auf mein Bœuf bourguignon, das er so gern mag, singen soll. Ich ruf Kuno und Adela an. Kommen die Eschbachs heute zum Essen? Wir müssen diesem Geschmiere was entgegensetzen!«

»Schön und gut. Aber was machen wir heute?«

»Eva, es ist nicht das erste Mal, dass die große Tafel nicht ganz besetzt ist. Es gibt immer bessere und schlechtere Tage. Und jetzt los! Arîn, hast du neue Fonds aufgesetzt?«

Wenn Eilert mich wirklich plattmachen wollte, dann sollte er merken, dass ihm das mit ein paar schäbigen Kritiken nicht gelingen würde. Das waren kleine Giftspritzen, die mich und die »Weiße Lilie« nicht umbrachten.

Zudem war Eilert nicht der Erste, der versuchte, mich aus der Keupstraße wegzukriegen. Da hatte ich schon Schlimmeres erlebt: Anschwärzen beim Gesundheitsamt, Schutzgelderpressung, tätliche Angriffe. Ich war hart im Nehmen. Nervös machte mich allerdings die Vorstellung, dass Eilert offenbar über Leichen ging, um seine Ziele zu erreichen.

 

Der Laden brummte, das merkte man direkt am Eingang. Schon die rote Leuchtreklame war ein echter Eyecatcher in dem an Bars und Restaurants nicht armen Karree rund um den Brüsseler Platz. Kurz vor Mitternacht drängte sich mit Adela und mir eine Gruppe Mittdreißiger ins »All-inclusive«, während gleichzeitig eine vielköpfige Großfamilie das Restaurant verließ. Das helle Foyer also voller Menschen, es herrschte heilloses Gedränge.

Erst als die Großfamilie verschwunden war, geriet der Raum in meinen Blick. Ich bemerkte die kunstvollen Blumengestecke in Lila und Weiß und den asiatischen Zierbrunnen, der leise vor sich hin plätscherte. Sein Wasser war mit irgendeinem Wellness-Duft aromatisiert, der mich sofort an Minka denken ließ. Hier also hatte sie nach Mitternacht an der Garderobe gestanden. Hatte Ecki sie hier besucht? Mit ihr und den anderen Angestellten geschäkert? Seinen berühmten Wiener Charme spielen lassen? Ich wollte mir dies nicht vorstellen und war froh, dass die Garderobe heute verwaist war.

»Herzlich willkommen im ›All-inclusive‹.«

Eine Zeremonienmeisterin von unaufdringlicher Attraktivität verteilte Willkommensgruß und -lächeln breitflächig auf die neuen Gäste. Sie thronte auf einem Barhocker hinter einem Stehpult aus edlem Holz in der Mitte des Raumes und herrschte über Kasse und Laptop. Ihr zur Seite standen zwei Bauchladen-Fräuleins mit wohlgeformten Beinen und schmalen Taillen. Alle drei wirkten so proper, schön und zeitlos, als wären sie einem Hollywood-Musical der dreißiger Jahre entsprungen und als hätte es die Frauenbewegung nie gegeben.

»Kluge Erkundung von Feindesland ist der erste Schritt zum Sieg«, flüsterte mir Adela zu.

Mit einem neckischen Knicks überreichten die Bauchladen-Fräuleins jedem Gast eine Chipkarte. Die Gruppe, mit der wir gekommen waren, brauchte keine Erläuterung dafür. Adela und ich erfuhren, dass wir mit dieser Chipkarte in allen Bereichen des Hauses bestellen und am Ende dann hier die Rechnung begleichen konnten.

»Wir haben Ihnen einen Tisch im ›La petite France‹ reserviert«, schnurrte die Zeremonienmeisterin. »Wenn Sie zum ersten Mal bei uns sind, dann schauen Sie sich doch einmal um. Hier im Parterre finden Sie unser Bistro mit kleinen Gerichten für den schnellen Hunger und unsere Bar mit Raucherlounge, in der ersten Etage dann das ›La petite France‹ und ›Bella Italia‹.« Wie eine Stewardess wies sie mit den Händen in die entsprechenden Richtungen.

Wir stiegen die Treppen hoch und folgten den dezenten Musettewalzerklängen ins »La petite France«. Mit langem Aluminiumtresen, kleinen und größeren Tischen und alten Bistrostühlen war es im Retrocharme eines Pariser Restaurants der Vorkriegszeit eingerichtet. Ein Kellner mit original französischem Akzent führte uns an unseren Tisch, reichte uns die Karte und wies darauf hin, dass wir die Getränke am Tresen bekamen und uns die Gerichte in »la cuisine« aussuchen durften. Diese befand sich am Ende des Raumes, eine offene Küche, bei der ich am Fischstand lange anstand, weil sich der Gast vor mir jede Jakobsmuschel zeigen ließ, bevor er sich für drei entschied.

Ich bestellte Dorade für Adela und mich und durfte wählen, ob ich sie mit normannischer oder bretonischer Soße serviert bekommen wollte. Woher die Doraden genau kamen, konnte mir der Koch leider nicht sagen, aber sie seien frisch, absolut frisch, mehr oder weniger gerade erst aus dem Meer gesprungen. Frische kann man einem Fisch ja problemlos ansehen, und der Fisch sah tatsächlich frisch aus. Jetzt war ich auf die Zubereitung gespannt.

Das dauere noch etwas, erklärte der Koch und reichte mir eine Art Telefon, das piepen werde, wenn der Fisch fertig war. Ich könne ja in der Zwischenzeit die Beilagen aussuchen, empfahl er mir. Er deutete auf einen Stand mit dem Schild »Les Légumes«. Brokkoli war im Angebot, na prima! Mich nervte es, schon wieder anzustehen. Die Leute um mich herum schien dies allerdings überhaupt nicht zu stören. Sie wirkten so, als hätten sie es sich aus ideologischen Gründen jahrelang verkniffen, bei McDonald's essen zu gehen, um jetzt endlich den Selfservice in dieser schickeren Variante voll auskosten zu können.

Als ich an unseren Tisch zurückkam, hatte es Adela geschafft, Wasser und Wein zu organisieren. Ich legte den Fisch-Piepser auf den Tisch.

»Ich seh schon, du findest es ziemlich daneben«, konstatierte Adela, als wir endlich beide wieder saßen.

»Wenn das das Essen der Zukunft ist, wird es Zeit, dass ich mich von der Gastronomie verabschiede. Frischer Fisch, nur eine Sorte, und die üblichen Krabben. Und hast du gesehen, was es hier an Fleisch gibt? Nur Filets, da kann man wirklich nichts falsch machen. Keine Innereien, keine Ragouts, von Wild ganz zu schweigen. Vom Huhn nur die Brust. Dabei gibt es für ein ganzes Huhn mindestens tausend Rezepte, für Schwein oder Rind genauso viele Variationen. Die Gäste neben Erprobtem immer mit Neuem zu überraschen, darin liegt die Herausforderung für einen Koch, das ist die Aufgabe von guten Restaurants. Aber wie sollen die Leute was Neues ausprobieren, wenn sie sich alles Essen nach eigenem Gusto zusammenstellen können? Überleg mal, wie viele Gerichte hier unter den Tisch fallen –«

»Jetzt werd nicht wieder so bierernst und missionarisch«, unterbrach mich Adela. »Den Leuten gefällt es. Essen muss gefallen, das ist wichtig. Und die Nachtische, ich sage dir, die sehen so was von köstlich aus.«

»Ich fass es nicht! Selbst du lässt dir Sand in die Augen streuen. Das ist doch zu achtzig Prozent Show hier. Alles wirkt künstlich und inszeniert. Es gefällt den Leuten, weil es neu ist und weil sie essen können, was sie kennen. Ich komme mir echt wie ein Dinosaurier der Kochkunst vor!« Mein Piepser piepste. »Und dann diese Hin-und-her-Rennerei«, meckerte ich weiter. »Also ich gehe essen, um dann auch sitzen bleiben zu können.«

»Du gehst gar nie essen, du kochst nur«, korrigierte mich Adela. »Und du lebst vom Kochen! Kein Koch kannst es sich leisten, die neuesten Gastro-Trends komplett zu ignorieren.«

»Gastro-Trends sind schnelllebig, man muss seinen eigenen Stil finden, darauf kommt es an!«

Der Piepser piepste wieder.

»Der Fisch ruft«, knurrte ich und hievte mich vom Stuhl hoch.

»Was nützt dir dein eigener Stil, wenn Eilert in Mülheim seinen Laden aufmacht und keiner mehr zu dir essen kommt?« Adela packte nach meiner Hand und hielt mich noch am Tisch fest. »Jetzt hör auf, dich im eigenen Glanz zu drehen, guck dir lieber alles genau an! Du musst doch wissen, mit was ›All-inclusive‹ dir in Mülheim Konkurrenz machen wird.«

Die Klientel, die »La petite France« um diese Uhrzeit in der Hauptsache besuchte, konnte ich in der »Weißen Lilie« schon mal nicht bedienen. Junge Liebespaare, die an kleinen Tischen miteinander turtelten und sich gegenseitig Löffelchen mit Mousse au Chocolat in den Mund schoben, die in roten Glasherzen serviert wurde. Wahrscheinlich fanden das alle sehr romantisch, weil Paris ja die Stadt der Liebe und »La petite France« für sie Paris im Herzen von Köln war.

Inmitten all dieser zur Schau gestellten Zweisamkeit fiel die einzelne Frau an einem Zweiertisch besonders auf. Ich erkannte sie sofort wieder. Es war die schwarze Witwe, die beim Bause-Empfang mit meinem Bunsenbrenner auf Eilert losgegangen war. Wieder trug sie Schwarz, das von grauen Strähnen durchgezogene, ebenfalls schwarze Haar war zu einem strengen Knoten gedreht und betonte ihr schönes Gesicht. Sie erinnerte mich an die Witwe in »Alexis Sorbas«. In den Kohleaugen blitzte unterdrückte Leidenschaft. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Irgendwas zwischen Mitte vierzig und fünfzig.

Sie saß an einem Tisch in der Nähe des Tresens, schob einen Teller mit Fisch zur Seite und rief nach dem Kellner. Sie musste mehrmals und sehr laut rufen, bis er an ihren Tisch kam.

»Schauen Sie sich meine Haut an«, pflaumte sie ihn laut an und deutete auf ihren Unterarm. »Diesen Ausschlag bekomme ich nur, wenn ich Glutamat esse. Ich habe ausdrücklich gefragt, ob in der Fischsoße Glutamat sei, man hat mir versichert, dass man hier überhaupt kein Glutamat verwende, aber meine Haut sagt etwas anderes. Das ist ein Betrug am Kunden!«

Die Frau hatte nicht nur meine ganze Aufmerksamkeit, auch schätzungsweise die Hälfte der Liebespaare unterbrach das Turteln und Schnäbeln und blickte interessiert in ihre Richtung.

»Glutamat, kein gutes Restaurant verwendet Glutamat«, polterte sie weiter.

»Quel dommage, madame! Wenn Sie mir in die Küche folgen, wir können das klären. Eigentlich unsere Speisen enthalten kein Glutamat.« Glutamat sprach er spitz »Glütama« aus, so als ob dies wirklich etwas besonders Ekeliges wäre. Ansonsten klang seine Stimme sanft wie die eines empathischen Talkmasters, und sein Blick signalisierte, dass bei ihm der Kunde immer König, in ihrem Fall besser Königin war. »S'il vous plaît, madame!«

Mit einer galanten Geste lud er sie ein, ihn zu begleiten, aber die schwarze Witwe bewegte sich keinen Zentimeter.

»Wo ist der Geschäftsführer? Ich möchte den Geschäftsführer sprechen«, lärmte die Frau weiter.

Langsam, aber sicher ging dem Talkmaster-Kellner seine Souveränität flöten. Er warf hilfesuchende Blicke durch den Raum, aber kein Kollege eilte zu seiner Rettung herbei. Zum einen, weil es außer ihm sowieso keinen weiteren Kellner gab, zum anderen, weil die Kulis, die vorher das schmutzige Geschirr abgeräumt hatten, alle verschwunden waren. Ich ignorierte das erneute Piepsen, wartete gespannt auf den nächsten Schritt des Kellners und beneidete ihn nicht um seine Lage. Die Frau war der Typ Gast, der jede Servicekraft in den Wahnsinn trieb. Sie war auf Krawall gebürstet. Es interessierte sie nicht, dass die anderen Gäste ihren Aufstand miterlebten. Im Gegenteil, sie nutzte das Publikum als stummen Komplizen für ihre Empörung. Worst case für den Kellner.

»Leider, der ist im Moment nicht hier.« Das Lächeln kostete ihn jetzt sichtlich Mühe. Man sah ihm an, dass er am liebsten unsichtbar wäre. »Besser, Sie reden mit einem unsere Köche, bestimmt wir können die Sache klären.«

»Ich gehe erst, wenn ich den Geschäftsführer gesprochen habe. Los, rufen Sie ihn an!«

Jetzt war auch das letzte Liebespaar aus seiner Zweisamkeit aufgeschreckt, alle warteten gebannt auf den Ausgang des Duells.

»Aber natürlich!« Ein eifriges Nicken, der Kellner deutete ins Nirgendwo, wo sich vielleicht ein Telefon befand, wohin er sich auf alle Fälle verdrücken konnte. Bevor die Frau ihn mit einem neuen Redeschwall festhalten konnte, wieselte er aus dem Raum.

Die Liebespaare hatten sich gerade wieder erleichtert ihren Herzschüsselchen zugewandt, als die Frau noch einmal ihre Stimme erhob und dem Kellner hinterherrief: »Und sagen Sie ihm, ich warte auf ihn. Und wenn ich die ganze Nacht da sitze.«

Ich fand es sehr seltsam, dass die Frau hier allein saß und so einen Aufstand machte. Der Geschäftsführer des Ladens war Eilert, und ich war mir sicher, dass die Frau das wusste. Genau wie bei dem Bause-Fest galt ihm ihr Auftritt. Wenn sie Eilert dann genauso vorführte, wollte ich mir dies auf keinen Fall entgehen lassen. Nicht nur, weil es mich brennend interessierte, weshalb sie einen solchen Groll gegen ihn hegte. Nein, auch aus ganz egoistischen Gründen. Das wäre Balsam für mein Ego, süße Rache an dem Rüpel für seinen Auftritt bei mir in der »Weißen Lilie«.

Mein Piepser piepste wieder, und ich nahm endlich die zwei Doraden in Empfang. Die heißen Teller in Händen, machte ich auf dem Rückweg bei der schwarzen Witwe Station.

»Warten Sie wirklich auf Eilert?«, fragte ich sie, und als sie nickte, sagte ich: »Dann komme ich nach dem Fisch wieder. Ich würde gerne mit Ihnen reden.«

Sie nickte so, als ob sie das nicht wirklich interessierte, und ich transportierte die Teller bis zu unserem Tisch, wo Adela nicht mehr allein saß, weil das Ehepaar Bause ihr in der Zwischenzeit Gesellschaft leistete. Da sieh mal einer an! Das »All-inclusive« als Nabel von Köln. Es war wirklich sehr interessant, wer sich hier alles zu so später Stunde traf. Der dicke Napoleon war in sein Handy vertieft, während die wieder quietschbunt gekleidete Betty mit Adela schnatterte.

»Dann wollen wir euch beide mal essen lassen«, flötete sie vergnügt, als ich den Fisch abstellte, und stupste ihren Gatten an. »Schau, Dirk, auch der Fisch sieht phantastisch aus.«

»Das hat aber gedauert!« Adela fing sogleich an, den Fisch zu zerteilen.

»Das hat seinen Grund«, sagte ich und erzählte den dreien brühwarm vom Auftritt der schwarzen Witwe. Ich musste die Frau genau beschreiben, denn von unserem Tisch aus war sie nicht zu sehen. »Wer ist die Frau, Herr Bause?«, fragte ich zum Schluss. »Wissen Sie, was für einen Groll sie gegen Herrn Eilert hegt?«

»Leider nicht.« Bause sah kurz von seinem Handy auf und nicht aus, als ob er dies wirklich bedauerte. »Erst dachte ich, sie sei als Begleitung eines meiner Gäste gekommen, aber keiner kennt sie. Ich vermute, sie hat sich hereingemogelt, wahrscheinlich schon in der Absicht, Eike Eilert eine Szene zu machen.«

»Warum?«, wiederholte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Eike ist ein Gentleman. Über so was redet er nicht.«

»Jetzt lass uns gehen«, drängelte Betty Bause und hievte ihre große Handtasche auf den Tisch. »Damit die beiden essen können.« Sie stemmte sich aus dem Stuhl und zupfte ihre bunten Kleider in Form. »Wir sind unten an der Bar«, informierte sie uns. »Vielleicht sieht man sich da gleich wieder?«

»Sie wissen, dass Minka Nowak ermordet wurde?«, fragte ich, Frau Bauses Drängeln ignorierend.

Beide erstarrten für einen Moment und sahen betreten in den Raum.

»Schreckliche Geschichte«, murmelte Bause dann, und Frau Bause nickte und wühlte dabei ganz hektisch in ihrer Handtasche.

»Keanu Chidamber war auch auf Ihrem Fest.«

Jetzt hörte Frau Bause auf zu wühlen, und Herr Bause runzelte die Stirn.

»Der Meister der Lomi-Lomi-Massage, ich habe ihn auf Ihrem Fest gesehen«, präzisierte ich. »Zwei Tage später kam er in die ›Weiße Lilie‹ und hat nach Minka gefragt, angeblich schuldete sie ihm etwas«, erzählte ich. »Wissen Sie vielleicht –«

»Wie heißt der Mann?«, unterbrach mich Bause. »Der Name sagt mir nichts.« Er blickte seine Frau fragend an.

»Chidamber. Dunkler Leinenanzug, Hawaiischal«, beschrieb ich ihn. »Hat der sich auch auf Ihr Fest verirrt?«

Bause nervte meine Fragerei, das war offensichtlich, und seine Frau fächelte sich mit den Händen hektisch Luft ins Gesicht. Unter dem Tisch trat mir Adela auf die Füße, über dem Tisch raffte Betty Bause ihre Siebensachen zusammen.

»Kann sein, er war der Begleiter von Minka«, nuschelte sie, klemmte ihre Handtasche unter den Arm, hakte ihren Mann unter und zog ihn eilig an den Liebespaaren vorbei nach draußen. Ich sah den beiden lange nach.

»Weißt du was, was ich nicht weiß?«, fragte ich Adela, die ihren Fisch schon fast verputzt hatte.

Sie deutete auf meinen Fisch und aß weiter. Ich hatte eigentlich gar keinen Hunger, aber probieren musste ich.

Der Fisch war frisch, die normannische Soße sahnig. Wie vermutet, bei der Küche des »All-inclusive« konnte man nicht viel falsch machen. Ordentliche Qualität, gefällige Zubereitung, typisch für Systemgastronomie. Kreative Küche war etwas anderes.

»Also?«, hakte ich nach, als ich den Fisch zur Seite schob. »Was hat Betty Bause ihrer alten Hebamme anvertraut?«

»Betty arbeitet ja immer noch als Grundschullehrerin, und die Kinder werden von Jahr zu Jahr anstrengender. So was geht an keinem spurlos vorüber.« Adela tunkte mit etwas Brot die restliche Soße auf und schob sich den feuchten Brocken in den Mund. »Rücken«, papste sie. »Betty litt unter furchtbaren Verspannungen. Eine Odyssee von einem Arzt zum anderen, verschiedene Medikamente ohne dauerhaften Erfolg, das Übliche halt. – Isst du deinen Fisch nicht mehr?«

Sie deutete auf meinen Teller, den ich wortlos mit ihrem leeren tauschte.

»Das wäre ja noch schöner, wenn wir hier was zurückgehen lassen«, grummelte sie und griff wieder zu Messer und Gabel. »Außerdem schmeckt es gar nicht schlecht.«

Ich funkelte sie böse an, verkniff mir aber eine weitere Spitze wegen des Essens.

»Ich nehme also an, Minka hat Frau Bause für ihren Rücken Chidamber empfohlen.«

»Kluges Mädchen!« Adela legte das Besteck beiseite. »Dessen Lomi-Lomi-Massage hat phantastisch geholfen. Chidamber hat phantastisch geholfen. Ein charismatischer Mann, sagt Betty, der ihr ein völlig neues Lebensgefühl geschenkt hat. Nicht nur gesundheitlich, wenn du verstehst, was ich meine. Eine langjährige Ehe, ein viel beschäftigter Gatte …«

»Nein!«, rief ich überrascht. »Nicht das, was ich jetzt denke, oder?«

Adela nickte.

»Sie hat was mit dem angefangen«, folgerte ich. »Und dann lädt sie den Liebhaber auf die Party ihres Mannes ein. Also, das ist ja –«

»Sie wollte ihn einmal ihren Freundinnen zeigen, ohne dass es groß auffällt«, unterbrach mich Adela. »Und das Bause-Fest schien ihr dafür eine gute Gelegenheit zu sein. Offiziell war er als Begleiter von Minka da.«

»Warum?«, zischte ich und merkte, wie die Hitze und der Ecki-Schmerz zurückkamen. »Warum muss man jemanden dann noch vorführen? Kann man den Betrug nicht wenigstens geheim halten?«

»Verliebte sind doch immer verwirrt. Um der Welt zu zeigen, wie besonders ihre Liebe ist, machen sie merkwürdige Dinge«, zwirbelte sich Adela eine Erklärung zurecht. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr Betty diese Einladung bedauert hat. Chidamber hat nämlich auf dem Fest nicht heimlich mit ihr geflirtet, sondern mit Minka geschäkert. Die zwei sind sogar eng umschlungen nach Hause gegangen.« Adela trank einen Schluck Weißwein und griff wieder zu Messer und Gabel. »Betty war eifersüchtig wie ein Teenager«, erzählte sie zwischen zwei Bissen. »Sie hat ihn am nächsten Tag angerufen. Und jetzt kommt echt der Hammer! Weißt du, was er da zu ihr gesagt hat? Dass er dringend Geld für sein Massagezentrum braucht und ob Betty ihm nicht was leihen könnte. Da hat Betty ganz schnell die Notbremse gezogen und Schluss gemacht.«

Diese verdammte Hitze machte mich wahnsinnig. Ich trank mein Wasserglas leer, schüttete das von Adela direkt hinterher und wischte mit der Serviette den Schweiß von der Stirn.

»Wechseljahre?«, fragte Adela besorgt. »Bisschen früh, oder?«

»Quatsch!«, wehrte ich ab. »Lug und Trug, wohin man sieht. Das macht mich fertig.«

»Glaub mir, in diesem Fall habe ich meine Neugier verflucht«, gestand Adela. »Du weißt ja, dass ich Betty direkt am Tag nach der Bause-Sause angerufen habe, wegen der Geschichte mit deinem Bunsenbrenner. Kurz vor mir hatte Chidamber bei ihr angerufen, und Betty war so froh, dass sie jemandem ihr Herz ausschütten konnte. Jetzt fühlt sie sich nicht nur grausam betrogen, sondern weiß auch nicht, ob sie dem Gatten alles gestehen oder das Geheimnis mit ins Grab nehmen soll.«

»Eifersucht! Betty Bause hätte also auch ein Motiv gehabt, Minka umzubringen«, rief ich.

»Jetzt mach mal einen Punkt. Betty hat Minka genauso wenig umgebracht wie Ecki!« Mit einer energischen Bewegung pickte Adela ihre Gabel in die Fischreste.

»Was macht dich da so sicher? Eine innere Stimme, oder was?«, fragte ich.

»Ich habe Betty geraten, die Wahrheit zu sagen. Wenn ihr der Gatte diesen kleinen Seitensprung nicht verzeiht, dann ist er sie nicht wert. So was muss eine Beziehung doch aushalten.«

»Aushalten«, echote ich wütend und schüttete jetzt den Weißwein in mich hinein. Wieso, verdammt, konnte man in diesem Laden nichts nachbestellen?

»Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, Schätzelchen.« Das war einer von Adelas Lieblingssätzen. »Auch bei Ecki und dir ist Hopfen und Malz noch nicht verloren.« Sie legte die Gabel zur Seite und tätschelte mal wieder meine Hand. »Betty muss aufpassen, dass sie nicht erpressbar wird. Schon deshalb muss sie ihrem Mann die Sache gestehen. Wenn dieser Chidamber Geld braucht, wer weiß, wozu der fähig ist?«

»Bis jetzt weiß der Gatte aber definitiv noch nicht Bescheid.«

Wieder stieg diese Hitze in mir auf. Von den Zehen bis in die Haarspitzen, jeden Winkel meines Körpers nahm sie in Besitz. Ich ruckelte mit meinem Hintern hin und her, weil meine Hose daran klebte wie an meinem ersten Kindergartentag, als ich es nicht mehr rechtzeitig bis aufs Klo geschafft hatte.

»Minka, Chidamber, Eilert, Ecki, die Bauses, die Frau in Schwarz, das hängt alles miteinander zusammen«, prophezeite Adela. »Ich weiß nur noch nicht, wie.«

Dieser erste Kindergartentag war überhaupt der Horror gewesen. Die anderen Kinder hatten mich angestarrt, als käme ich von einem anderen Stern, weil ich schon mit drei Jahren extrem groß und rotlockig gewesen war, auffällig anders eben. Damals hatte ich mir so gewünscht dazuzugehören, aber jetzt wäre ich gern auf einem anderen Stern. Weit weg von all dem, was in den letzten Tagen auf mich einstürzte, weit weg von Adelas neuesten Theorien.

»Schätzelchen!« Adela wedelte mit ihrer zweiten Hand vor meinen Augen herum und brachte mich dazu, ihr wieder zuzuhören. »Wie du mit Eckis Betrug umgehst, kannst du doch erst entscheiden, wenn du mit ihm geredet hast, oder? Aber solange man ihn des Mordes verdächtigt, wird Ecki nicht auftauchen. Also müssen wir herausfinden, was mit Minka geschehen ist. Und dabei hilft es nicht, dass du dich Tag und Nacht in deinem Ecki-Leid suhlst.«

»Alte Hebammenweisheit, oder was?«, blaffte ich sie an.

Adela lächelte weise und tätschelte noch ein bisschen meine Hand, bevor sie vorschlug: »Meinst du nicht, wir sollten noch den Nachtisch probieren?«

Nachtische waren mir egal, mich interessierte die schwarze Witwe. Hoffentlich war sie tatsächlich geblieben, hoffentlich hatte ich ihren Auftritt mit Eilert nicht verpasst. Zu gern würde ich endlich erfahren, was für ein Hühnchen sie mit dem »All-inclusive«-Chef zu rupfen hatte.

Die Frau saß noch an ihrem Platz, und sie war nicht mehr allein. Aber nicht Eilert leistete ihr Gesellschaft, sondern ein Mann in den Dreißigern. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und redete leise auf sie ein.

Als er aufblickte, sah ich in sentimentale, langwimprige Mädchenaugen, ansonsten hatte sein Gesicht nichts Weiches. Der Kopf ein bisschen legosteinmäßig, das Haar kurz geschoren, am Hals Ausläufer eines Tattoos, die Schwanzspitze irgendeines Tieres, das seinen Rücken zierte, ums Kinn ein angesagter Drei-Tage-Bart. Aber diese Kombination aus Hart und Weich machte ihn attraktiv. Ein bisschen Macho, ein bisschen frauenverstehend. Das stand ihm gut, er war so der Til-Schweiger-Typ.

Auch wenn oder vielleicht gerade weil die schwarze Witwe bestimmt zwanzig Jahre älter war als er, bildeten die zwei ein schönes Paar, das aus der Masse der Frischlingsduos herausstach. In diesem gefakten Pariser Interieur wirkten die zwei als Einzige echt französisch. L'amour fou, une affaire exceptionnelle, la passion, oh là là!

Der Mann senkte den Blick wieder und flüsterte der Frau etwas ins Ohr, sie nickte ernst. Es wunderte mich, dass sie nicht lächelte. Dann standen die beiden gemeinsam auf, er legte sofort wieder beschützend den Arm um ihre Schultern. Ich konnte mir genau vorstellen, was sie jetzt vorhatten. Aber was war mit Eilert? Warum hatte die schwarze Witwe den Aufstand bei dem Kellner gemacht, wenn sie jetzt mit ihrem Liebhaber davonging?

Hektisch tastete ich meine Hosentaschen nach einer Visitenkarte der »Weißen Lilie« ab und nestelte eine vom Schweiß aufgeweichte heraus.

»Pardon!« Ich streckte der Frau die Karte entgegen, als die beiden an mir vorbeikamen. »Bitte rufen Sie mich an, ich würde wirklich gerne mit Ihnen reden.«

Sie schüttelte den Kopf, der Typ zuckte bedauernd mit den Schultern und führte sie sanft, aber zielsicher in Richtung Treppenhaus. Ich sah den beiden mit ausgestreckter Hand nach, in der sich die Visitenkarte wie eine welke Blume nach unten bog.

Ich hatte keine Zeit, mich zu fragen, ob und wie ich die Frau wiedersehen würde, denn ich traute meinen Augen nicht, als plötzlich Chidamber die Treppe hochkam und wie ein elsässischer Storch durch »La petite France« stakste. Er blickte sich suchend um, und als sein Blick auf mich fiel, kam er nicht auf mich zu, sondern wirbelte herum und verließ eilig das Restaurant.

Ich folgte ihm, er begann zu laufen.

»Herr Chidamber«, rief ich und hastete hinter ihm die Treppe hinunter.

Chidamber, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, war schnell im Foyer und legte dort im Gehen bei der Zeremonienmeisterin seine Chipkarte ab. Als auch ich unten war, schob er sich bereits durch die Eingangstür.

Ich spurtete hinter ihm her, gleichzeitig hastete eines der Bauchladen-Fräuleins an mir vorbei und versperrte mir in den Weg.

»Ihre Rechnung! Sie müssen noch bezahlen«, flötete sie.

»Später«, japste ich, schob sie zur Seite und drängte hinaus auf die Straße.

 

»Saturday Night Fever« im Belgischen Viertel, das hieß Hölle und Menschen. Da! Chidamber schlängelte sich durch eine Gruppe junger Leute mit Bierflaschen in den Händen in Richtung Brüsseler Platz. Ich hinterher. Bei so schönem Wetter war dieser Platz ein Treffpunkt für Nachtschwärmer aller Art, dann herrschte hier ein Betrieb wie auf dem Hauptbahnhof.

In dem Geschiebe war kaum ein Vorwärtskommen, trotz meiner Größe musste ich verdammt aufpassen, dass ich Chidamber nicht aus den Augen verlor. Er bewegte sich in Richtung Kirche. Ich kämpfte mich durch die nächste Gruppe. Angetrunkene junge Männer, alle hatten das gleiche T-Shirt an, auf dem stand, dass sie den Junggesellenabschied von Marcel feierten. Alle trugen Zipfelmützen und eine Batterie kleiner Schnapsfläschchen wie einen Patronengurt um den Leib.

Chidamber drohte jetzt vom Schatten der Kirche verschluckt zu werden. Ich versuchte schneller zu gehen, jemand zog an meinem Kaftan.

»Sie müssen Ihre Rechnung bezahlen!« Das Bauchladenfräulein ohne Bauchladen direkt hinter mir.

»Möchtest du auch einen ganz Kleinen, süße Waldfee?«

Eine Alkoholfahne nebelte mich ein, einer der Zipfelmützenträger wedelte mit einem Schnapsfläschchen in der Hand vor meiner Nase herum. Ich drückte die Hand und den Schnaps zur Seite, um nach Chidamber zu sehen. Weg. Die Dunkelheit hatte ihn verschluckt.

»Ihre Rechnung, Ihre Rechnung«, drängelte das Bauchladenfräulein hinter mir und zog weiter an meinem Kaftan.

»Ja, verdammt«, fauchte ich sie an und drehte mich zu ihr um.

Auf dem Rückweg züngelten neue Hitzewellen durch meinen Körper. Mitten in diesem Menschengewusel kam ich mir wieder wie ein brennender Busch vor, wirkte aber leider nicht so, denn sonst hätten mir die Leute wenigstens Platz gemacht.

Als endlich wieder die rote Leuchtschrift des »All-inclusive« auftauchte, stürzte ich mich durch die Eingangstür und dann direkt auf den asiatischen Zierbrunnen zu. Einer Verdurstenden gleich schaufelte ich mit den Händen Wasser in mein Gesicht, das aber nicht nach Wasser, sondern nach Wellness roch.

»Alles in Ordnung?«

Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und als ich mich aufrichtete, sah ich in das Gesicht von Til Schweiger. Dahinter lugte das Bauchladenfräulein hervor, dem ebenfalls die Haare am erhitzten Gesicht klebten.

»Die Toiletten sind eine Etage höher, falls Sie sich frisch machen wollen.«

Ein freundliches Lächeln, ein verständnisvoller Blick aus den sentimentalen Augen. Mich irritierte, dass der Mann hier war. War er nicht mit der schönen Witwe zu einer heißen Liebesnacht aufgebrochen? Waren die beiden noch einmal zurückgekehrt? Ich suchte die Witwe, ich fand sie nirgends. Dafür sah ich die Blicke, die wie Pingpongbälle zwischen der Zeremonienmeisterin, den Bauchladenfräuleins und Til Schweiger hin- und herschwirrten. Man kannte sich.

»Danke«, sagte ich, stieg langsam die Treppe hinauf und folgte dem WC-Zeichen.

Meine Gedanken zu den Blicken der drei im Foyer wurden von einer fremden Melodie verdrängt, die über dem Flur schwebte und mich zu den Waschräumen lockte.

Als ich die Tür zu den Toiletten aufstieß, saß dort eine schwere schwarze Frau und sang. Wieder spritzte ich Wasser ins Gesicht, ließ es auch über die Armbeugen laufen und hörte die Frau von Wehmut und Hoffnung singen. Ihre kräftige Stimme und die fremden Laute legten sich wie Samt auf meine Haut, drangen in mich ein und linderten den Herzschmerz. Ich hörte weiter zu, ließ unentwegt Wasser über meine Armbeugen laufen.

Erst als die Frau verstummte, stellte ich den Wasserhahn aus und sah sie an. Erstaunt darüber, dass sie nicht weitersang. Sie aber deutete auf einen Berg Papiertücher und erhob sich. Das Lied war ein Geschenk gewesen. In ihren wallenden afrikanischen Gewändern bewegte sie sich mit Eleganz, das schnelle Sauberwischen des Waschbeckens keine Pflicht, sondern eine Geste der Gastfreundschaft.

Diese Frau war eine Königin, die selbst einen Waschraum in einen Thronsaal verwandeln konnte. So wie sie stellte ich mir die sagenumwobene Königin von Saba vor. Als Morgengabe legte ich ein großzügiges Trinkgeld auf den kleinen Tisch, sie quittierte es mit einem gnädigen Nicken.

»Kannten Sie Minka Nowak?«, fragte ich, bevor ich ging.

»Garderobe«, antwortete sie.

»Sie ist tot. Man hat sie umgebracht.«

Der Blick der Königin war unergründlich.

»Sie hat bei mir gearbeitet. Ich bin Köchin. Wir möchten in meinem Restaurant einen Leichenschmaus für sie ausrichten«, versuchte ich mich zu erklären. »Sie hatte einen Freund hier, Tomasz. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

»Ist vorbeigegangen, gerade.« Sie deutete auf den Flur, der durch die offene Tür zu sehen war. »Schöner Mann mit Zauberblick.«

Zauberblick? Meinte sie Til Schweigers melancholische Mädchenaugen? Ich beschrieb seinen Legosteinkopf, seine Haarfarbe, das Tattoo am Hals.

»Arbeitet er hier? Was tut er?«

Die Frau zuckte mit den Schultern. Mehr wusste sie nicht über Tomasz oder wollte es mir nicht sagen.

»Danke!«

Ich wollte schnell nach draußen, aber die Königin griff nach meinem Arm und flüsterte: »Nimm dich in Acht. Ist kein guter Mann. Falscher Zauber. Heiße Luft.«

Dann nahm sie ihre Hand von meinem Arm und entließ mich aus ihrem Reich.

Ich lief den Flur zurück ins Treppenhaus, sah von oben, wie sich Til Schweiger alias Tomasz von der Zeremonienmeisterin verabschiedete und gleichzeitig Eilert durch die Tür trat. Erstaunlicherweise kamen oder gingen in diesem Augenblick keine Gäste, so konnte ich halbwegs verstehen, was gesagt wurde. Eilert wechselte mit Tomasz ein paar Worte. Es ging um eine Frau namens Maibach. Der Name fiel ein paarmal, mehr verstand ich aus der Entfernung nicht. Eilert wirkte verärgert, Tomasz versuchte, Schönwetter zu machen.

»Dass mir so was nicht noch mal vorkommt, Pfeifer«, beendete Eilert das Gespräch mit lauter Chefstimme und machte ihm dann den Weg zur Tür frei.

Verdammt! Ich wollte nicht, dass der zweite Mann, mit dem ich heute Abend unbedingt reden wollte, im Nachtleben des Brüsseler Platzes abtauchte.

»Tomasz!«, rief ich die Treppe hinunter.

Beide Männer drehten sich um und sahen zu mir hoch. Als Eilert mich erkannte, verzog er den Mund zu einem kleinen Grinsen, während Tomasz die Stirn runzelte, die Schultern straffte, dann die Tür öffnete und einfach verschwand.

Ich klebte am Treppengeländer fest und traute mir selbst nicht mehr. Entwickelte ich Hirngespinste? Hatte ich die Königin von Saba missverstanden? War Til Schweiger, den Eilert Pfeifer nannte, nicht Tomasz? Verrannte ich mich in was? Maibach, woher kannte ich diesen Namen? Ich wusste genau, dass ich ihn in den letzten Tagen schon mal gehört hatte, aber mir fiel nicht mehr ein, wo. Mein Kopf funktionierte nicht mehr richtig.

Im Foyer trafen neue Gäste ein, die Zeremonienmeisterin lächelte, die Bauchladenfräuleins knicksten, der Brunnen plätscherte, und Eilert stieg die Treppen hoch.

»Ich hoffe, es gefällt Ihnen?«

Mit jeder Faser seines kleinen, fetten Körpers strahlte er professionelle Freundlichkeit aus. Dabei verströmte er den Hautgout einer üblen Mischung aus Herrscher und Wadenbeißer. Ging so einer wirklich über Leichen? Er würde mir das bestimmt nicht sagen, aber vielleicht verriet er mir etwas anderes.

»Der Mann, mit dem Sie gerade gesprochen haben, war das Tomasz?«

»Tomasz? Was ist das denn für ein Name? Ich kenne keinen Tomasz.«

Er wollte an mir vorbeisteigen, aber so schnell ließ ich ihn nicht passieren. Ich schob ihm meinen massigen Körper in den Weg.

»Er ist mit der Frau liiert, die Sie bei dem Bause-Fest attackiert hat.«

Er zupfte sich am Ohr, runzelte die Stirn, und die Haut unter der Augenbraue, die ihm die schwarze Witwe abgeflammt hatte, glühte rot wie ein kleines Warnlämpchen.

»Ich weiß wirklich nicht, warum Sie mir das sagen.«

»Chef!«

Ich drehte mich um. Der Kellner des »La petite France« kam direkt auf Eilert zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Eilert nickte, schickte ein »Amüsieren Sie sich noch gut« in meine Richtung und folgte dem Kellner.

Das merke ich mir, dachte ich. Am Ohr zupfen als Signal, wenn man von unangenehmen Gästen befreit werden will. Eilert hatte sich mit diesem Trick gerade elegant verdrückt. Nicht schlecht. Und seine Leute spurten. Auch wenn der eine oder andere nicht ganz nach Eilerts Pfeife tanzten. Wie Tomasz/Pfeifer zum Beispiel. Was sollte nicht mehr vorkommen? Was hatte diese Frau Maibach damit zu schaffen? Ich fühlte mich mit einem Mal so müde, dass ich am liebsten auf der Treppe niedersinken und einschlafen wollte. Als neue Gäste an mir vorbei nach oben stiegen, gab ich mir einen Ruck und folgte ihnen.

Eilert begegnete ich nicht mehr, Adela fand ich im »Bella Italia«. Vor sich einen Teller mit Nachtischvariationen, die sie zum größten Teil bereits vertilgt hatte.

»Hab schon gedacht, ich muss dich ausrufen lassen«, meinte sie und schob mir den Teller über den Tisch. »Wo hast du denn gesteckt?«

»Ich wollte mit der schwarzen Witwe reden, aber diese leider nicht mit mir«, berichtete ich. »Ist mit ihrem Liebhaber auf und davon.«

»Liebe«, seufzte Adela und deutete auf den Nachtischteller. »Das Schokoladenzeugs kommt nicht an deine Mousse au Chocolat heran, ist aber auch nicht von schlechten Eltern.«

»Weißt du, wer auch hier war? Chidamber! Er ist abgehauen, als er mich gesehen hat.« Ich schob den Nachtischteller beiseite und sank auf einen Stuhl.

»Was macht er hier? Sucht er nach Betty?« Adela zwängte ihren kleinen kugeligen Körper hinter dem Tisch hervor. »Wir müssen in die Bar«, entschied sie. »Oder willst du noch die Nachtischvariationen testen?«

Ich hatte genug.

»Hab ich dir eigentlich erzählt, dass Bause Geld ins ›All-inclusive‹ gesteckt hat?«, fragte mich Adela, als wir gemeinsam die Treppe hinunterstiegen. »Weiß ich natürlich von Betty. Deshalb müssen wir noch an die Bar. Vielleicht erfahren wir noch ein bisschen mehr darüber.«

Ich hörte zwar, dass Adela redete, aber ich verstand sie nicht mehr, weil ich mich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten konnte.

»Bett«, murmelte ich, »Bett, nicht Betty.«

»Ist wahrscheinlich eh besser, ich mach das allein. Du fällst ja immer mit der Tür ins Haus«, meinte Adela.

»Jetzt will ich nur noch ins Bett fallen«, murmelte ich.

»Nimm dir ein Taxi«, riet sie mir und tätschelte vorbeugend noch einmal meine Hand, bevor sie in Richtung Bar abbog.

Brav legte ich der Zeremonienmeisterin den Chip auf das Stehpult und beglich die Rechnung. Der Taxistand am Brüsseler Platz war nicht weit, bis dahin würde ich es gerade noch schaffen.

 

Ich hatte den Taxistand schon fast erreicht, als ich Chidamber entdeckte. Direkt vor dem Café Hallmackenreuther redete eine schmerzhaft dünne Frau auf ihn ein. Um die zwei herum flanierte immer noch viel Jungvolk oder gluckte in Grüppchen zusammen. Die Krächzstimme der Taxizentrale, die den wartenden Fahrern neue Fuhren ankündigte, zerriss ein ums andere Mal das Murmeln und Lachen der Nachtschwärmer. Angereichert mit dem Klirren der Bierflaschen und dem Abbremsen oder Anrollen der Taxen erfüllten diese Geräusche den Brüsseler Platz mit dem Sound der Nacht.

Ich verschob die Taxifahrt nach Hause und bewegte mich vorsichtig auf das Café zu. Die Dünne redete ohne Punkt und Komma, Chidamber nickte gelegentlich und sah sich immer wieder um, so als wäre ihm entweder die Frau oder die Umgebung nicht geheuer. Der bräsige Altherrencharme, mit dem er in der Damenrunde des Bause-Festes gepunktet und den er bei unserer ersten Begegnung vor der »Weißen Lilie« als Duftmarke versprüht hatte, war ihm hier und jetzt abhandengekommen. Ich pirschte mich weiter vor. Schutz boten mir nicht nur die vielen Leute, sondern auch die großen Bäume, die auf dem Platz standen. Noch einmal wollte ich ihn nicht entwischen lassen.

Nur noch ein paar Außentische des »Hallmackenreuther« trennten mich von Chidamber. Doch in dem Moment, in dem ich aus dem Schatten treten und ihn mir krallen wollte, eiste er sich hastig von der Frau los, bog eilig um die Ecke und lief in Richtung Aachener Straße davon.

Ich schlängelte mich zwischen den Tischen hindurch und folgte ihm. Eine gewisse Distanz zwischen uns lassend, konnte ich von Weitem sehen, wie er in die Lütticher Straße abbog. Ich folgte ihm. Mit dem Eintritt in die Lütticher verebbten der Lärm und das Gewusel des Brüsseler Platzes. Die prächtigen Gründerzeithäuser rechts und links der Straße lagen im Dunkeln, Autos parkten dicht an dicht, nur wenige Leute waren hier unterwegs.

So dankbar die Anwohner für die ungestörte Nachtruhe sein mochten, meine Rolle als Verfolgerin machte dies nicht einfacher. Wenn Chidamber sich hier umdrehte, würde er mich sofort bemerken, deshalb presste ich mich immer wieder in Ligusterhecken oder hockte mich hinter eines der Autos und kam mir ziemlich albern vor. Als ich mal wieder hinter so einem Gebüsch hervorlugte, war Chidamber verschwunden. Ich schlich noch bis zum nächsten Wagen, blickte mich wieder um, lauschte in die Stille hinein. Nichts.

Auch gut, dachte ich und merkte, dass mein Jagdinstinkt so schnell erlosch, wie er vorhin aufgeflammt war. Ich kehrte um und schleppte mich wieder in Richtung Taxistand. Der süßliche Ligusterduft und die Stille der Nacht brachten die kurzzeitig unterdrückte Schläfrigkeit in meinen Körper zurück.

Deshalb war ich überrascht, als Chidamber plötzlich aus einer Toreinfahrt auf die Straße schoss und seinen geckigen Körper vor mir aufplusterte.

»Hören Sie auf, mir nachzulaufen«, kläffte er. »Ich habe Minka nicht ermordet. Aber jetzt will ich endlich wissen, wo mein Geld ist!«

»Was denn für Geld?«, fragte ich laut.

»Pssst«, zischte Chidamber und deutete hinauf zu den dunklen Fenstern. Dann trat er ein paar Schritte zurück ins Dunkel der Einfahrt und machte mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Ich tat ihm den Gefallen.

»Minka schuldet mir sechstausend Euro, dreitausend für einen Kurs, den sie letztes Jahr bei mir gemacht hat, und dreitausend für den Meisterkurs, der am Montag beginnt.«

Ich pumpte mir frische Luft in die Lungen und fragte mich, ob Geld nicht überhaupt und überall die Grundlage allen Übels war. Aber für solche philosophischen Fragen war ich viel zu müde, ich musste meine spärliche Restenergie auf Chidamber konzentrieren.

»Blöd, wie ich war, habe ich Sie auch noch auf die Spur des Geldes gebracht«, schalt Chidamber sich selbst. Er war an einer Glastür am Ende der Hofeinfahrt angelangt. Hinter ihm leuchtete im Licht einer Straßenlaterne ein sauber poliertes Messingschild, auf dem »Buchmanufaktur seit 1981« stand. »Aber dass Sie dann einen Einbruch vortäuschen und mir in die Schuhe schieben, das haut dem Fass den Boden raus.«

Ich schleppte mich zu einem Mäuerchen auf der einen Seite der Einfahrt und setzte mich.

»Wer da was wie vortäuscht, das will ich auch zu gerne wissen. Sie wollten doch unbedingt an Minkas Spind.«

Chidamber zog sich seinen Hawaiischal vom Hals, wurschtelte ihn in seine Jackentasche und kam auf mich zu.

»Klar. So habe ich Sie ja auf die Idee gebracht. Sagen Sie mir endlich, wo das Geld ist.«

Der Mann war echt schwer von Begriff!

»Jetzt hören Sie mal mit dem verdammten Geld auf! Das habe ich nicht. Ich habe der Polizei gestern Abend von Minkas Spind erzählt und wusste, dass die Spurensicherung ihn heute Morgen aufbrechen wollte. Glauben Sie, ich bin so blöd, dann in der Nacht einen Einbruch zu inszenieren? Ganz davon abgesehen, halte ich es für eine ziemliche Schnapsidee, dass Minka das Geld ausgerechnet in ihrem Spind in der ›Weißen Lilie‹ versteckt haben soll! Sechstausend Euro! So eine Summe zahlt doch kein Mensch in bar.«

»Hatten wir so ausgemacht.«

Chidamber rupfte den Schal wieder aus seiner Jackentasche, schlang die Enden um seine Hände, ließ den Schal locker, zog ihn plötzlich straff. Dann setzte er sich auf das Mäuerchen mir gegenüber. Seinen Rücken drückte er in eine Ligusterhecke, die hinter dem Mäuerchen wucherte. Von rechts und links schlugen ihm ein paar vorwitzige Zweige entgegen, und mit seinem grellbunten Schal sah er vor dieser Hecke aus wie ein falsch kostümierter Waldschrat.

»Das Geld sollte nicht über Ihr Konto laufen, oder?«, fragte ich.

»Monetär befinde ich mich gerade in einer etwas prekären Situation«, nuschelte er. »Nur weil ich so gutmütig bin! Das Geld für den ersten Kurs hätte mir die Schnepfe schon längst bezahlen sollen, immer und immer wieder hat sie mich vertröstet.«

Wieder straffte er das Tuch, ließ es locker, straffte es wieder. Ob dies eine Entspannungsübung in der Lomi-Lomi-Massage oder ein ordinäres Zeichen von Nervosität war, hätte mich eigentlich schon interessiert. Zu dieser späten Stunde war es mir allerdings ziemlich egal.

»Und jetzt kommen Sie bloß nicht auf blöde Gedanken, von wegen, ich sei ausgerastet und hätte sie umgebracht. Man tötet doch die Gans nicht, die goldene Eier legen soll.«

Das, musste ich zugeben, war ein gewichtiges Argument.

»Aber«, fragte ich, »wenn Minka das Geld die ganze Zeit nicht hatte, warum sollte sie es jetzt auf einmal haben?«

»Am Tag nach dem Bause-Fest hat sie mich angerufen und mich angefleht, dass ich sie für den Meisterkurs in Lomi-Lomi, der am Montag beginnt, auf der Teilnehmerliste lasse –«

»Apropos Lomi-Lomi«, unterbrach ich ihn, weil mir wieder dieses Plakat über Minkas Bett einfiel. »Wissen Sie, ob Minka in Lomi-Lomi oder Yoni private Kunden hatte?«

»Das glaube ich jetzt nicht!« Chidamber schnaubte ärgerlich und straffte sein Tuch wieder. »Lomi-Lomi kommt aus der traditionellen Heilkunst von Hawaii und hat eine jahrhundertealte Tradition in der dortigen Naturheilkunde. Es dient nicht nur der Entspannung, sondern auch der körperlichen, seelischen und geistigen Reinigung. Wir können Blockaden lösen und damit einen freien Fluss der Energie bewirken. Das ist absolut seriös und anerkannt und hat nichts mit diesem schlüpfrigen tantrischen Yoni gemein«, erklärte er mir. »Lomi-Lomi verlangt eine bestimmte Grundhaltung, eine bestimmte Überzeugung. Dass Minka ihre Fühler, besser gesagt ihre Zauberhände auch in Richtung Yoni ausgestreckt hat, kann ich nicht fassen! Da bin ich im Nachhinein noch froh, dass ich ihr gegenüber, was den Meisterkurs betrifft, beinhart geblieben bin. ›Nur wenn du tutto completo bezahlst‹, habe ich ihr gesagt. ›Ich will die dreitausend, die du mir vom letzten Kurs schuldest, und die dreitausend für den aktuellen Kurs im Voraus.‹ Die Frage ist, ob ich sie überhaupt zugelassen hätte, wenn ich das mit Yoni gewusst hätte!«

Und ob, dachte ich, so nötig, wie du Geld brauchst. Was er da über die ideologischen Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Massageschulen erzählte, interessierte mich nicht, interessant war eigentlich nur, auf wie vielen Hochzeiten Minka getanzt hatte. Und beim Stichwort »Tanzen« war ich gedanklich wieder beim Bause-Fest angelangt.

»Hatten Sie eigentlich was mit Minka?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen. »Sie beide haben das Fest ja als Turteltäubchen verlassen.«

»Unsinn!« Chidamber lockerte das Tuch und zog es wieder straff. »Ich steh nicht auf so junge Dinger. Das Turteln war Show, ich habe ihr einen Gefallen getan. Sie wollte ihren Liebhaber eifersüchtig machen. Der war auch auf dem Fest.«

Ecki, dachte ich. Wieso wollte sie Ecki eifersüchtig machen? War sie sich seiner nicht sicher? Wollte er mit ihr Schluss machen? War sie für ihn nur eine Bettgeschichte? Ich wusste nicht, ob mich diese Überlegungen Ecki gegenüber versöhnlicher stimmten.

»Yoni! Da hat sie das Geld hingetragen, das sie mir geschuldet hat.« Chidamber regte sich weiter über Minkas Fremdgehen in Massagedingen auf. »Und ich habe mich immer wieder von ihr vertrösten lassen. Doch vor ein paar Tagen hat sie mir hoch und heilig versprochen, dass sie das Geld jetzt hat. Nur wo?«

»Woher hatte Minka auf einmal das viele Geld?«

»Sie hat gesagt, ein Freund schulde ihr noch was«, erklärte Chidamber. »Sie war wild entschlossen, dieses Geld einzutreiben, weil sie unbedingt den Meisterkurs machen wollte. Deshalb waren wir doch am Mittwoch miteinander am Wiener Platz verabredet. Sozusagen zur Geldübergabe.«

»Was denn für ein Freund?«

»Einer, den sie über die Arbeit kennt. Mehr weiß ich nicht.«

»Tomasz? Ecki?«

»Namen hat sie nie erwähnt.«

Ecki kannte Minka über die Arbeit! Nein, nein, nein. Wenn es Ecki wäre, hätte sie von ihrem Freund oder ihrem Liebhaber gesprochen, nicht von einem Freund. Oder doch? Mein Bild von Ecki hatte schon lange keinen festen Rahmen mehr. Zudem verlor es zunehmend an Konturen, alles verschwamm. War der Mann, den ich so gut zu kennen glaubte, nur eine Projektion gewesen? Wer hatte wen getäuscht? Ich mich? Oder er mich? Oder er sich?

»Hallo! Hören Sie mir überhaupt zu?«

Ohne dass ich es bemerkt hatte, war Chidamber zu meinem Mäuerchen herübergekommen und beugte sich über mich. Das Licht einer Straßenlaterne malte seinen Schatten als abgeknickten Strich auf die Hofeinfahrt. Sein Schal baumelte jetzt wieder harmlos an seinem Hals.

»Wenn Sie das Geld tatsächlich nicht haben, wer hat es dann?«, wiederholte er.

»Und wenn Minka das Geld gar nie bekommen hat?«, fragte ich zurück. »Wenn sie vorher umgebracht wurde?«

»Was sagen Sie da?«, flüsterte Chidamber und erhob sich. Er stakste zwei Schritte weiter und ließ sich auf das Mäuerchen neben mich fallen.

»Minka ist tot, Sie sind immerhin noch am Leben«, meinte ich. »Was ist dagegen der Verlust von sechstausend Euro?«

»Weh tut der trotzdem«, stöhnte er und kickte ein trockenes Ästchen zwischen seinen Füßen hin und her, bis ihm ein neuer Gedanke kam. »Meinen Sie, man hat Minka des Geldes wegen umgebracht?«, fragte er ungläubig.

Ich zuckte mit den Schultern. Was wusste ich schon?

»Aber wer hat dann bei Ihnen eingebrochen? Und was hat er in Minkas Spind gefunden?«

Chidamber sah mich an, als würde ich ihm die Antwort absichtlich vorenthalten.

»Keine Ahnung«, murmelte ich und ächzte mich in die Höhe. Das Adrenalin, das meinen Körper seit Chidambers Attacke durchströmte, ging zur Neige. Ich konnte kaum mehr die Augen aufhalten.

»Permanente Erschöpfung führt zu schwerwiegenden körperlichen Fehlleistungen. Das habe ich Ihnen schon mal gesagt.« Chidamber sezierte mich mit Masseurblicken. »Ich kann Ihnen helfen, damit es nicht so weit kommt. Sie wissen gar nicht, wem ich schon alles geholfen habe.«

»Ich kann Ihnen aber auch dann nicht helfen, an Ihr Geld zu kommen.«

Meine Schuhe fühlten sich an, als wären sie mit Blei gefüllt, es gelang mir nur mit Mühe, ein Bein vor das andere zu setzen. Schwerfällig kramte ich mein Handy heraus und bestellte ein Taxi. Sogar die paar Meter bis zum Brüsseler Platz waren mir jetzt zu weit.

»Übrigens, ich habe da noch ein sehr gutes Konzept von »Cooking & Wellness« in der Schublade. Säfte, Gemüse, Suppen, abgestimmt auf eine Reihe von Massageübungen. Für Sie als Köchin hochinteressant, durchaus lukrativ, wie ich meine. Dass mir das jetzt erst wieder einfällt! Meine Energien fließen nicht mehr so gut, seit ich nur noch dem Geld hinterherrenne. Was meinen Sie, Frau Schweitzer? Könnten wir nicht darüber ins Geschäft kommen?«

Chidamber strahlte mich so hoffnungsvoll an, als würde er tatsächlich an den Mist glauben, den er da verzapfte.

»Typen wie Sie«, sagte ich, als ein Taxi auf der Straße anhielt, »fallen immer wieder auf die Füße.«

Chidamber zauberte seinen Altherrencharme in die Backen, überholte mich und hielt mir gentlemanlike die Tür auf.

»Denken Sie noch mal in Ruhe darüber nach! Und, Frau Schweitzer« – er beugte sich zu mir herunter, nachdem ich mich auf den Rücksitz gezwängt hatte – »wenn das Geld irgendwo auftaucht, dann wissen Sie, wem es gehört. Ich verlass mich auf Ihre Ehrlichkeit!«

Ein fester Händedruck, ein tiefer Blick in die Augen, dann erst richtete er sich auf und schloss die Autotür.

Aber was interessierte mich Chidambers Geld?

»Wo soll es denn hingehen, junge Frau?«, wollte der Taxifahrer wissen.

Ins Bett, hätte ich fast gesagt.

»Nach Deutz, in die Kasemattenstraße.«