ZWEI

Hinterher ist man immer klüger, hinterher weiß man immer, was man hätte sehen, hören oder spüren können. Wenn ich bei dem Bause-Fest all das gewusst hätte, was ich heute weiß, dann wäre ich der schwarzen Witwe nachgelaufen, hätte mir Minka vorgeknöpft, den Giftzwerg unter die Lupe genommen oder Adela besser zugehört. Vielleicht hätte ich dann zumindest den zweiten Mord verhindern können.

Früher war ich mal davon überzeugt, Katastrophen und Unglücksfälle riechen zu können, eine maßlose Selbstüberschätzung, wie ich heute finde. Katastrophen scheren sich nicht um feine Nasen, sie kommen überfallartig daher, schlagen über dir zusammen, rammen dir Schwerter in den Leib, ziehen dir den Boden unter den Füßen weg, wirbeln dein Hirn durcheinander, zerquetschen dein Herz, treiben dich in den Ruin oder nehmen dir das Leben. Und immer, wirklich immer treffen sie dich unvorbereitet.

Ich hatte also keine Ahnung, was sich über mir und um mich herum zusammenbraute, als ich in dieser Nacht das schmutzige Geschirr in den Aufzug lud. Ich war nur müde und wollte bald ins Bett.

Eingeklemmt zwischen Kisten mit dreckigem Geschirr, den unangenehmen Geruch von Essensresten in der Nase, fuhr ich mit dem Aufzug nach unten. Im Parterre angekommen, stolperte ich aus der Tür. Ich konnte mir aussuchen, ob meine Benommenheit vom Müll, vom Tempo des Aufzugs oder von meiner Müdigkeit herrührte. Wie auch immer, nach Stunden in diesen schwindelnden Höhen tat es gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein Nachtzug rumpelte über die Hohenzollernbrücke, ein eiliger Radfahrer strampelte Richtung Innenstadt, zwei vorwitzige Ratten huschten über die Straße. Mehr war nicht los vor dem LVR-Turm um zwei Uhr morgens. Die Stadt schlief. Das wollte ich auch, doch es würde noch Stunden dauern, bis ich ins Bett kam. Ich packte das Geschirr in den Transporter, stieg ein und rief Ecki auf dem Handy an. Klar würde er nachkommen und mir beim Spülen helfen, sowie von den Herrschaften keiner mehr was zu trinken haben wollte.

»Geh, Kathi, kannst schon anfangen. Dauert eh nimmer lang hier oben.«

»Wer's glaubt, wird selig!«, pflaumte ich ins Telefon, bevor Ecki auflegen konnte. Ich wusste genau, dass er sich kein Bein ausreißen würde, um zeitig bei mir in der Spülküche zu stehen. Ich schwor mir, mich so schnell nicht mehr für eine Catering-Nummer breitschlagen zu lassen. Ich wollte schon losfahren, als ich im Seitenspiegel etwas Rotes auf den Wagen zulaufen sah.

»Rück mal rüber, Schätzelchen!« Adela öffnete die Fahrertür mit Schwung, drückte mir ihre Pumps in die Hand und scheuchte mich auf den Beifahrersitz. »Ist lang her, dass ich zum letzten Mal so ein großes Auto gefahren habe. Der Rückwärtsgang ist wo?«

Ich deutete auf die Zeichen am Schaltknüppel, stellte die Schuhe auf den Boden und wedelte mir frische Luft zu.

»Mir haben vielleicht die Füße gequalmt!«, stöhnte Adela. »Kann weder stehen noch laufen in den Dingern. Versteh gar nicht, warum ich sie mir gekauft hab.«

»Sie machen dich fünf Zentimeter größer. Mit den Schuhen bringst du es immerhin auf eins zweiundsechzig.«

»Eins fünfundsechzig, Schätzelchen, aber das ist nicht der Grund. Wenn man so klein ist wie ich, kommt es auf ein paar Zentimeter mehr oder weniger nicht mehr an. Nein, sie haben mich im Schaufenster angelacht, und ich bin auf sie reingefallen. Genau wie auf dieses rote Kleid. Ist viel zu eng! Wenn wir in der ›Weißen Lilie‹ sind, musst du mir den Reißverschluss aufmachen, damit ich den Bauch rauslassen kann.«

Aber erst mal klemmte Adela den Bauch unter das Lenkrad, so weit musste sie den Sitz vorziehen, um an die Pedale zu kommen. Dann startete sie den Wagen. Noch etwas holpernd lenkte sie ihn auf den Auenweg. Bis zur Zoobrücke konzentrierte sich Adela aufs Fahren und sagte kein Wort. Ich sackte in einen seligen Dämmerschlaf, aus dem ich nur wiederauftauchte, weil mich jemand hartnäckig am Arm stupste.

»Weißt du, wer die Frau in Schwarz und der kleine Dicke waren?«

Adela, jetzt sicher den fremden Wagen steuernd, wirkte frisch wie der junge Morgen und hatte diese Neugier im Blick, mit der sie einen wahnsinnig machen konnte. Zumindest einen kleinen Happen konnte ich ihr vor die Füße werfen: »Er ist Schokoladenliebhaber.«

»Das kann er mit der Wampe schlecht verheimlichen, und um Schokolade haben die zwei bestimmt nicht gestritten.« Adela kurbelte das Fenster herunter, bestimmt in der Absicht, mir durch Frischluft mehr als einen Drei-Wort-Satz zu entlocken. Dass ich trotzdem nichts mehr sagte, war kein Problem, so redete Adela halt selbst: »Betty war nach dem Eklat völlig außer sich! – Übrigens, hast du diesen bunten Mantel gesehen, den sie getragen hat? Ein bisschen zu grell für ihr Alter, findest du nicht? – Wie auch immer, die Frau in Schwarz hat dem Dicken eine Schneise in die Augenbraue geflammt. Sieht verboten aus, ist aber nichts Dramatisches, der brauchte nicht mal einen Arzt und wird sich schnell erholen. Aber die Stimmung auf der Party war natürlich komplett im Eimer. Jetzt denkt doch keiner mehr an das schöne Firmenjubiläum, sondern nur an die Flammenwerferin. Natürlich habe ich Betty gefragt, um was es bei dem Streit ging. Leider kennt sie die zwei nicht. Klar, sie kann ja nicht alle Kunden ihres Mannes kennen.«

Durchs offene Fenster zog der Duft von Holunderblüten ins Auto. Zart, frisch und prickelnd, der Geruch des Frühsommers. Von dem hatte ich in diesem Jahr noch nicht viel mitbekommen. Ich arbeitete einfach zu viel. Heute war es so schön gewesen, ich hätte mich am Rhein in die Sonne legen können, anstatt dieses blöde Catering anzunehmen. Immerhin brachte mich der Frühlingsduft auf eine Idee.

»Ich muss unbedingt Holunderblüten auf die Speisekarte setzen!«

»Mein Gott, du denkst immer nur ans Kochen«, regte sich Adela auf. »Interessiert dich denn gar nicht, was die zwei auf der Bause-Sause zu verhackstücken hatten? Eine Schönheit übrigens, die Frau in Schwarz, groß, schlank, so der klassisch griechische Typ, und dann der kleine Dicke.«

»Um Liebe ging's sicher nicht«, brummte ich.

»Soll man nie ausschließen, Schätzelchen. Aber hat sie nicht von einem Vertrag geredet? Miese Geschäfte? Ob die zwei sich zufällig begegnet sind? Oder hat sich die Frau diesen Auftritt vorgenommen, weil sie wusste, dass sie den Dicken trifft? Ganz sicher wollte sie ihn öffentlich bloßstellen, mehr noch, sie wollte ihn verletzen. Ich meine, das musst du erst mal bringen! Mit dem Bunsenbrenner auf einen losgehen. Die Attacke hätte auch viel weniger glimpflich ausgehen können.«

»Bestimmt kann dir Betty Bause morgen genau erzählen, warum die zwei sich in den Haaren gelegen haben.« Ich wollte nicht mehr über das Bause-Fest reden, eigentlich wollte ich überhaupt nicht mehr reden. Ich wollte nur noch schlafen, aber vorher musste der Spül erledigt werden, sonst würden wir morgen früh in Teufels Küche kommen.

»Da musst du eine ordentliche Wut haben, um so auf einen loszugehen. Wenn wir Liebe ausschließen, dann hat der Dicke sie vielleicht um viel Geld betrogen. Was denkst du? Ist er so ein eiskalter Zocker?«

»Holunderblüten in Bierteig mit Weinschaumsoße …«

»Und Bause selbst! Blass wie eine Wand war der, als hätte ihn der Schlag getroffen. Der hat sich nicht nur darüber aufgeregt, dass ihm die zwei sein Fest versaut haben. Da steckt mehr dahinter. Selbst Betty weiß nicht mehr genau, womit er eigentlich das viele Geld verdient. Sicher nicht nur, indem er brav Software für Hinz und Kunz entwickelt. Damit schafft man es nicht in eines der Kranhäuser. Riskante Aktienkäufe? Windige Immobiliengeschäfte?«

»Oder als Sorbet?«

»Ist ja gut, Katharina«, gab Adela klein bei und sagte nichts mehr, bis wir auf dem alten Kopfsteinpflaster an den WDR-Kulissen für »Die Anrheiner« entlangrumpelten und vor uns die schicken Neubauten am Rhein auftauchten. Über uns rollte eine Linie 18 über die Mülheimer Brücke. »Hast du eigentlich mit dem Typen vom Wasser- und Schifffahrtsamt wegen der ›Schiffsschaukel‹ gesprochen? Der war doch auch auf dem Bause-Fest, oder?«

Er war da, und ich hatte nicht mit ihm geredet. Die »Schiffsschaukel«! Ein schwimmendes Bistro auf dem Rhein, es soll mal am Mülheimer Ufer liegen, ein neues Restaurant-Projekt von Ecki und mir. Ein Amsterdamer Hausboot-Architekt hatte uns einen schönen Entwurf dafür gemacht, aber der war sein Geld nicht wert, solange es keine Genehmigung für eine Anlegestelle gab.

Wenn es solche Schiffe in Rodenkirchen gab, wieso nicht in Mülheim?, hatten wir gedacht, aber leider war das Ganze nicht so einfach. Über diese Hürden und Stolpersteine hätte ich mit dem Typen vom Wasser- und Schifffahrtsamt reden sollen. Ganz unverbindlich, nur mal so ins Blaue hinein. Natürlich auch darüber, wie man eventuelle Schwierigkeiten am besten aus dem Weg räumen könnte.

»Ich kann das nicht, Ecki!«, hatte ich gejammert.

»Geh, Kathi, ich würd's ja machen. Aber ich bin ein Zug'reister, ein Niemand in dieser Stadt, du dagegen bist die Chefin der ›Weißen Lilie‹. Alle haben s' schon gegessen bei dir. Außerdem bist eine imposante Frau, charmant, klug und so weiter.«

Aber ich konnte es wirklich nicht. Ich konnte nur sagen, das und das habe ich vor, geht das oder geht das nicht? Ich hasste das Herumlavieren und Katzbuckeln, ich war kein Typ fürs Klüngeln. Eigentlich wusste Adela das ganz genau, aber für dieses tolle Projekt sollte ich eine Ausnahme machen, weil es wahrscheinlich sonst nichts werden würde. Vielleicht, vielleicht auch nicht, jetzt auf gar keinen Fall.

»Oder als Holundersirup in Buttermilch zu Sushi-Lachs?«

»Du hast nicht mit ihm geredet«, seufzte Adela, die in der Zwischenzeit in die Keupstraße abgebogen war und den Wagen vor der »Weißen Lilie« parkte. »Lass uns das Geschirr machen, damit du endlich ins Bett kommst. Los, sperr die Tür auf!«

Das tat ich, und gemeinsam schleppten wir das dreckige Geschirr vom Auto in die Küche.

»Danke, übrigens«, sagte ich zu Adela, als ich ihr den Reißverschluss öffnete.

»Ah, tut das gut!«, seufzte sie erleichtert, als ihr Bauch sich endlich ausdehnen durfte. Dann tätschelte sie mal wieder meine Hand, weil sie für ihr Leben gern Hände tätschelte, und schnurrte: »Mach ich doch gerne, schließlich muss ich morgens nicht mehr früh aufstehen.«

Das stimmte natürlich. Für ihre paar und sechzig Jahre war sie überhaupt unverschämt fit, auch wenn sie gelegentlich über ihren Rücken und die kaputten Knie klagte.

»Berufsbedingter Verschleiß, Schätzelchen. Was glaubst du, wie viele Babys ich auf Knien geholt habe. Aber ich will nicht über Zipperlein reden, jetzt frisch ans Werk!«

Sie band sich eine Schürze um die roten Pailletten und spülte mit der Handbrause den gröbsten Dreck von dem Geschirr. Ich setzte die Teller danach in den Spülkorb und startete die Maschine. Ein paar Minuten später hieß es ausräumen, neu laden und immer wieder ausräumen, neu laden. Als eingespieltes Team kamen wir gut voran.

Was für ein Glück, dass ich vor Jahren, als ich bei Spielmann im »Goldenen Ochsen« arbeitete und ein Zimmer suchte, bei Adela gelandet war! Eine Freundin wie sie findet man nicht alle Tage. Nicht nur, weil sie, mitten in der Nacht und ohne einen Cent dafür zu verlangen, mit mir dreckiges Geschirr spülte. Die nächste Spülmaschine ratterte. Noch einmal raus zum Auto die restlichen Teller holen, dann hatten wir es geschafft. Aber dem war nicht so.

Wahrscheinlich hält jeder einen Moment inne, wenn ihn der kalte Hauch des Todes streift. So auch wir, als wir in dieser Nacht einen Leichenwagen von der Mülheimer Freiheit kommend ganz langsam auf uns zurollen und direkt hinter dem Transporter anhalten sahen. »Bestattungshaus Maus« stand in goldenen Buchstaben auf dem schwarzen Autolack.

»Ein Cadillac Fleetwood, Baujahr 1966«, murmelte Adela, »wunderschönes Auto.«

»Irmchen Pütz oder Egon Mombauer«, murmelte ich und ging rüber zum Altenheim, um von dort aus einen Blick auf unser Haus zu werfen. Sowohl bei Irmchen Pütz als auch ganz oben bei Mombauer brannte morgens um halb drei Licht. Kein gutes Zeichen. Aber ein wenig hoffte ich immer noch, dass ich mich irrte.

»Mein Beileid«, sagte der Bestatter und gab Adela die Hand. »Wo müssen wir hin?«

»Da fragen Sie mich zu viel.« Adela sah zu mir herüber.

»Sie haben uns gar nicht angerufen?«

Während wir stumm verneinten, hinkte Irmchen Pütz in einem altmodisch geblümten Morgenmantel mit ihrem Stock auf die Straße. Das Blümchenmuster passte genauso wenig zu der schrumpeligen kleinen Frau wie zum Leichenwagen.

»Mombauer, zweite Etage«, piepste sie aufgeregt und deutete mit dem Stock nach oben. »Der Notarzt ist noch da.«

Der Bestatter gab sein Beileid nun an Irmchen weiter, aber die schüttelte den Kopf, schließlich war sie mit Mombauer weder verwandt noch verschwägert. Daraufhin machte Herr Maus, wenn er denn so hieß, seinem Kollegen im Auto ein Zeichen, gemeinsam hoben sie einen Sarg aus dem Wagen, ließen sich von mir die Haustür aufhalten und balancierten die sperrige Kiste durchs Treppenhaus.

Mombauer! Das war nicht gut, gar nicht gut. Noch vor zwei Tagen hatte er so gesund und munter gewirkt, wie halt ein Achtzigjähriger gesund und munter wirken konnte. Zäh und dickköpfig noch dazu.

»Es hat ganz fürchterlich gerumst!« Irmchen Pütz hinkte auf mich zu. Es erleichterte sie sichtlich, ein vertrautes Gesicht zu sehen und endlich alles erzählen zu können. »So laut, dass ich aufgewacht bin. Danach totale Stille, hab schon gezweifelt, ob ich wirklich was gehört habe, aber dann habe ich gedacht, besser, du siehst nach.« Irmchen schnaufte, während ich sie mit sanftem Druck in Richtung Restaurant und Küche dirigierte, gefolgt von Adela mit einer Kiste Dreckstellern in den Händen. Ich setzte Irmchen auf einen Küchenhocker, Adela schob die Teller in die Maschine und setzte Teewasser auf. »Tee hilft immer« war eine ihrer Devisen.

»Weißt du, Katharina, vor einem Jahr habe ich ihn doch zu einem Informationsabend der evangelischen Kirchengemeinde geschleppt. ›Vorbeugen im Alter‹. Mombauer ist ja noch fünf Jahre älter als ich. Erst wollte er nicht mit, Männer wollen ja eigentlich nie zu solchen Veranstaltungen. Die denken doch immer, dass sie sich schon irgendwie alleine durchbeißen –«

»Bitte komm zum entscheidenden Punkt, Irmchen!« Es war zumindest einen Versuch wert, ihre Rede abzukürzen. Die letzte Spülmaschine lief, ich wollte immer noch ins Bett.

»Vor allem haben sie gesagt, dass man gegenseitig auf sich aufpassen soll«, fuhr sie unbeirrt fort, »und deshalb haben Mombauer und ich uns unsere Wohnungsschlüssel anvertraut, falls was passiert. Da steckt ja keiner drin in unserem Alter …«

»Und du bist dann mit seinem Schlüssel nach oben gegangen?«

»Ich wollt mich ja nicht blamieren, indem ich zu früh den Krankenwagen rufe, und dann schnarcht er da oben selig, alles doch nur ein Traum, und ich stehe als trottelige Alte da.«

Ich nickte. Eigentlich war Irmchen keine Umstandskrämerin und auch keine Plaudertasche. Es war die Aufregung, die sie ohne Punkt und Komma reden ließ. Verständlich, trotzdem wollte ich nicht den Rest der Nacht mit ihr verbringen.

»Du hast ihn also gefunden?«

»Erst habe ich geklingelt und geklingelt, und als sich nichts rührte, bin ich rein. Vor der Badezimmertür hat er gelegen, wollt wahrscheinlich pinkeln. Wir Alten leiden ja alle unter Konfirmandenbläschen. Der Notarzt ist ruck, zuck da gewesen. Gegenüber im Altenheim ist heute Nacht noch einer über den Jordan. Vielleicht hat der Sensenmann gedacht, nehme ich doch noch 'nen Zweiten mit, dann muss ich so schnell nicht mehr nach Mülheim kommen.«

»Das Herz?«, fragte Adela, reichte Irmchen eine Tasse Tee und hatte wieder diese Neugier im Blick.

»Herzstillstand«, bestätigte Irmchen. »Ein schöner Tod. Wenn ich es mir aussuchen könnte, mein Favorit.«

»Ist er denn allein gewesen?«

Ich schickte Adela einen warnenden Blick. Mir war nicht nach Detektivspielchen. Wenn ich an Mombauer dachte, plagten mich andere Sorgen. Das hatte ich jetzt davon, dass ich bei unserem letzten Treffen nicht Nägel mit Köpfen gemacht hatte!

»Natürlich ist er allein gewesen!« Irmchen rollte die Augen, erstaunt darüber, dass jemand etwas anderes annehmen konnte. »Wer hätte denn bei ihm sein sollen? Sabine kommt doch höchstens an Weihnachten vorbei und seine Schützenbrüder nur an seinem Geburtstag. Er war ein richtiger Einsiedler, nicht wahr, Katharina?«

Ich nickte. Bei unseren zufälligen Begegnungen auf der Straße oder im Treppenhaus hatte Irmchen gelegentlich das Gespräch auf Mombauer gebracht. Manchmal deutete sie seine tragische Familiengeschichte an, über die sie sich allerdings nie näher ausließ. Wie gesagt, Irmchen war keine Plaudertasche, eigentlich war sie sehr diskret.

»Und die Wohnung? Irgendwas anders gewesen als sonst?«, machte Adela unbeirrt weiter.

»Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin nie bei ihm oben gewesen. Unser Verhältnis war nicht so, dass wir uns gegenseitig zum Kaffee eingeladen haben.« Irmchen nahm endlich einen Schluck Tee und nickte Adela zu, die das natürlich als Aufforderung zum Weiterfragen verstand.

»Es gibt ja Dinge, die einem auch in einer fremden Wohnung sofort ins Auge stechen. Ein umgefallener Stuhl, Blutspritzer an der Wand …«

»Blut? Nein, da war kein Blut.« Irmchen war sich ganz sicher, und Adela fragte: »Vielleicht ein umgekipptes Glas?«

Während Irmchen den Kopf schüttelte, räumte ich lautstark die letzten Teller aus der Maschine und verstaute sie polternd in den Geschirrschränken. Ein Störmanöver ohne direkten Erfolg. Adela, topfit, würde aus Irmchen Mombauers gesamte Lebensgeschichte herauskitzeln und noch bis morgen früh mit ihr in meiner Küche sitzen, wenn mir nicht einfiel, wie ich sie zum Schweigen und Irmchen zurück in ihre Wohnung bringen konnte.

Der Bestatter erwies sich als Lösung. Er stand plötzlich in der Küche.

»Wir sind jetzt so weit. Nächste Angehörige? Können Sie uns da weiterhelfen?«

»Natürlich!« Irmchen nickte eifrig. »Mombauer hat nur eine einzige Tochter, Sabine. Heißt auch Mombauer, hat nie geheiratet.«

»Adresse? Telefonnummer?«

»Habe ich oben. Am besten, Sie kommen mit. Dann muss ich nicht noch einmal Treppen steigen.« Irmchen erhob sich, griff nach ihrem Stock und hinkte davon. »Danke für den Tee«, rief sie, bevor sie mit dem Bestatter im Treppenhaus verschwand.

»Meinst du, wir können sie allein lassen?«, fragte Adela und tat besorgt.

»Und ob! Irmchen hat ihren Friedenskirche-Frauenkreis. Wenn die nicht alleine sein will, muss sie nur zum Telefon greifen. Los, ab nach Hause!« Ich drängelte sie aus der Küche, löschte alle Lichter und schloss die »Weiße Lilie« zu.

Diesmal setzte sich Adela brav auf den Beifahrersitz und überließ mir das Steuer. Ich startete den Wagen.

»Weißt du, wie viele alte Menschen umgebracht werden, ohne dass es jemand merkt? Weil die Ärzte oft ohne nähere Untersuchung der Leiche den Totenschein ausstellen. Da muss man doch zumindest mal nachhaken dürfen«, rechtfertigte sie ihre Fragerei.

»Aber die meisten sterben eines natürlichen Todes«, behauptete ich, und erstaunlicherweise widersprach Adela nicht. Aus den Augenwinkeln sah ich den Grund dafür. Adela gähnte mehrfach, und als ich in die Kasemattenstraße einbog, war sie eingeschlafen. Dafür hatte ich alle toten Punkte dieser Nacht überwunden; ausgerechnet jetzt, wo ich ins Bett fallen könnte, fühlte ich mich nicht mehr müde. »Aussteigen«, sagte ich laut.

»Willst du nicht erst parken?«, nuschelte sie, als sie merkte, wo wir waren.

»Nein. Ich fahr direkt zum Großmarkt. Dann kann ich mich danach noch ein paar Stunden aufs Ohr hauen.«

Ich wartete, bis Adela, die Pumps unter den Arm geklemmt, die Haustür geöffnet hatte, dann fuhr ich los.

 

Ein zarter Grauschleier kündigte das Ende der Nacht an, und auf dem Rhein hing silberner Tau. Die Deutzer Brücke gehörte nur mir allein. Auf der anderen Seite des Flusses ragten die imposanten Kranhäuser ins Wasser, dahinter verschwamm das Siebengebirge im morgendlichen Dämmerlicht. Köln war selten so schön wie in dieser sommerlichen Frühe. Nur da besaß die Stadt die Eleganz einer in Würde gealterten Dame, die Neuem gegenüber durchaus aufgeschlossen war.

Aber die Schönheit der alten Lady Köln interessierte mich an diesem Morgen nicht die Bohne, mich beschäftigte die Sache mit Mombauer. Nicht die Frage, ob er umgebracht worden war oder nicht. Wenn einer mit einundachtzig auf dem Weg zum Pinkeln an Herzversagen starb, dann war das eindeutig, da gab es für mich nichts zu rütteln, mochte Adela unken, so viel sie wollte. Nicht die Umstände seines Ablebens machten mir Sorgen, sondern die Tatsache, dass er tot war.

Mombauer war nämlich mein Vermieter. Natürlich wusste ich, dass ein Mietvertrag mit dem Tod des Vermieters seine Gültigkeit nicht verlor, aber mein Pachtvertrag für die »Weiße Lilie« lief Ende des Monats aus. Noch vor ein paar Tagen hatte Mombauer mir eine Verlängerung um zehn Jahre angeboten, aber aus leidvoller Erfahrung wusste ich um das ewige Auf und Ab in der Gastronomie und wollte mich nicht durch einen langfristigen Vertrag knebeln lassen. Fünf Jahre hatte ich vorgeschlagen. Weil wir uns nicht einigen konnten, vertagten wir eine Entscheidung, und jetzt hatte ich den Salat. Was, wenn die Erben das Haus in der Keupstraße nicht behalten, sondern verkaufen wollten? Was, wenn sie für die Pacht einen unverschämten Preis fordern würden? In beiden Fällen hatte ich eine unglaublich miese Verhandlungsbasis.

Rückblickend weiß ich, dass mich die Sorge um die »Weiße Lilie« blind und taub machte für alles andere, was um mich herum geschah.

Das ist das Heimtückische an Katastrophen: Damit sie mit voller Wucht zuschlagen können, schicken sie als Vorhut gern ein kleines Unheil vorbei. Während man dieses mit voller Kraft aus der Welt zu schaffen sucht, bauen die Katastrophen aus dem geschützten Hintergrund heraus die wirklich harten Nummern auf.

Ecki meldete sich, als ich vor dem Schokoladenmuseum durch die erste rote Ampel gestoppt wurde.

»Jetzt hat's doch noch so lang gedauert! Wie schaut's aus? Brauchst mich noch?«

»Mombauer ist tot«, überfiel ich ihn. »Herzstillstand. Er ist einfach umgekippt.«

»Dumm, hast den Vertrag nicht unterschrieben«, brachte Ecki mein Problem mit Mombauer auf den Punkt. »Aber wer weiß, wofür's gut ist?«

Für mich auf gar keinen Fall.

»Mach dir nicht ins Hemd, Kathi! Bist eine solvente Pächterin mit einem gut laufenden Beisel. So eine will man behalten, nicht rausschmeißen. Wenn nicht, mach was Neues. ›Schiffsschaukel‹, Catering, was weiß ich! 's geht im Leben immer weiter.«

Ecki und sein ewiger Optimismus! Er konnte gut daherreden, mit der »Weißen Lilie« hatte er eigentlich nichts am Hut. Allein hatte ich die aufgebaut, als der Traum von unserem gemeinsamen Restaurant geplatzt war. Dafür Kredite aufgenommen, die noch lange nicht abbezahlt waren. Ich hatte mich durch die schlechte Anfangszeit gekämpft, einen Kundenstamm gewonnen, mir als Köchin einen Namen gemacht. Viel Schweiß und Tränen, viele endlose Arbeitstage, viele schlaflose Nächte. So was klopfte man nicht einfach in die Tonne.

»'s wird einen Weg geben, Kathi, 's gibt immer einen. Mach dich nicht verrückt, bevor's einen Grund dafür gibt. Ungelegte Eier bleiben ungelegte Eier.«

Manchmal übertrug sich etwas von Eckis Salzburger-Nockerln-Leichtigkeit auf mich, so wie jetzt. Warum immer mit dem Schlechtesten rechnen? Vielleicht würde ich mit Mombauers Erben schnell handelseinig werden? Vielleicht konnte ich sie im Preis sogar ein wenig drücken? In etwas besserer Stimmung fuhr ich weiter zum Großmarkt.

Noch schlief die Stadt, die Straßen im frühmorgendlichen Köln waren auto- und menschenleer, die U-Bahn-Baustelle an der Bonner Straße verwaist, in dem grauen Betonklotz Ecke Schönhauser Straße nirgendwo ein Licht. Aber gegenüber auf dem Großmarkt hatte der Tag längst begonnen.

Holländische Lkws spuckten ihre Ladungen aus, Gabelstapler kurvten in aberwitzigem Tempo zwischen den Hallen hin und her, in den Rinnsteinen verfaulten aussortierte Salatköpfe, den Straßenbelag pflasterten platt gefahrene Tomaten.

In der großen Markthalle eilte ich an Bergen von Rhabarber und Spitzkohl und an meterhohen Paletten mit Erdbeeren vorbei. Immer wieder musste ich einer der wendigen Eidechsen ausweichen, mit denen in den Hallen die Waren hin und her transportiert wurden. Das geschäftige Treiben täuschte nicht über die leeren Marktstände hinweg, die sich in den Hallen schleichend vermehrten. Dicke Geschäfte wurden hier schon lange nicht mehr getätigt. Die Discounter machten ihre Deals bei den großen Versteigerungen in Straelen oder Venlo, die kauften nicht mehr hier ein. Die Großmarkthändler lebten mehr schlecht als recht von den Wochenmarkthändlern und Restaurants, doch immer mehr von ihnen gaben auf.

Mein erster Weg führte mich zur Imbissbude in der großen Halle. Ohne einen Kaffee im Bauch würde ich nicht gut handeln können. Früher hatte ich den Kaffee oben auf der Galerie getrunken, als es das Großmarktrestaurant noch gab, durch dessen breite Fensterfront man das Treiben in der Markthalle verfolgen konnte.

Was war das für ein Lärm und für ein Gewusel gewesen! Großmarkthändler und ihre Kunden hatten sich dort mit den Nachtschwärmern der Stadt gemischt. Lange Zeit war die Galerie der einzige Ort in Köln gewesen, wo man morgens um fünf ein paniertes Kotelett essen konnte. Der Ort, wo gleichzeitig Geschäfte gemacht und ein Junggesellenausstand gefeiert wurden, wo man sich über Preise stritt oder einen philosophischen Disput zu Ende führte, weil die Bars an der Zülpicher schon geschlossen hatten. Tabak-, alkohol- und kaffeegeschwängert die Luft, lärmend und bunt das Publikum, fett und schwer die Koteletts, die Serviererinnen mit allen Wassern gewaschen und nie um eine Antwort verlegen. So war es gewesen, das Leben im Bauch der Stadt!

Leider war die Galerie schon seit einigen Jahren dicht, der Betrieb so wenig rentabel wie die Markthalle, alles dem Untergang preisgegeben. Discounter und Supermarktketten waren die neuen Herrscher im Geschäft mit Lebensmitteln. Sie bestimmten Preise und Waren, schrumpften sich das Sortiment passend. Blumenkohl ja, Rübstiel nein, nur drei Sorten Äpfel und höchstens zwei Sorten Kartoffeln, Erdbeeren en masse, dafür kaum Schwarze Johannisbeeren …

»Lilienwirtin, ich han 'ne Sparjel, sujet Feines hatt ich ald lang nit mih, dat wör wat för Ech!«

Kurt Berger war zu mir an den Stehtisch getreten und orderte ebenfalls einen Kaffee. Ich schätzte den alten Mann nicht nur wegen seines guten Gemüses. Im Gegensatz zu anderen Händlern hatte er in meinen schlechten Zeiten nicht mit den Rechnungen gedrängelt, sondern auch mal vier Wochen gewartet, bis ich sie bezahlen konnte.

»Guck ich mir gleich an«, antwortete ich. »Muss noch ein bisschen wacher werden, sonst haut Ihr mich übers Ohr. Im Gegensatz zu Euch war ich heute Nacht noch gar nicht im Bett.«

»Geschlossene Gesellschaft bis in die Puppen, oder wat?«

»Catering im LVR-Turm.« Ich rollte mit den Augen.

Berger nickte verständnisvoll. »Ihr müsst och ens lure, wo Ihr blievd. Die Lück han et Jeld nimmer lockersitzen, die kaufen eher bei Aldi 'n Fertiggericht, als dat se mal jot esse jonn. Jetzt hann ald widder zwei Restaurants dichtjemat in Köln. ›Himmel auf Erden‹ un ›Pfeffer & Salz‹. Toplagen im Belgischen Viertel und in der Südstadt, trotzdem pleite. Und wisst Ihr, wat da jetzt is? ›All-inclusive‹, dat is so wat Neumodisches, so 'ne Art schicker McDonald's! Ja, wat bei uns ald lang esu es, fäng bei üch jetzt och an. Dat die Jroßen die Kleinen plattmachen.«

»Jetzt malt mal den Teufel nicht an die Wand!« Ich drückte den leeren Pappbecher zusammen und warf ihn in den Müll. Es wurde Zeit, dass ich meine Einkäufe erledigte.

»Jläuvt et mir, ich dät mich freue wie 'ne Schneekönig, wenn ich mich irre dät. Verjesst dä Sparjel nit!«, rief er mir hinterher.

Aber zuerst lief ich zu Signore Coldini, um zu sehen, was er an frischen italienischen Kräutern im Sortiment hatte und ob es die herrlichen Ochsenherztomaten schon gab. Gab es noch nicht, dafür wilden grünen Spargel, Kräutersalat, frische Zuckerschoten, jungen Spinat, bildschöne Kräuterseitlinge.

»Perfetto, signora …« Die behutsame Bewegung, mit der er einen der Pilze aus der Kiste nahm, diesen dann drehte und wendete, als wäre er ein roher Edelstein, die Art, wie er die Augen schloss, wenn er daran schnupperte, all das mochte ich, weil ich darin bei aller Show die Leidenschaft für gute Ware spürte. Und niemand konnte diese Leidenschaft besser ausdrücken als die Italiener.

Weiter ging es zu Harun Üzümcü, dem Herrscher über Berge von Trockenfrüchten, Nüssen und Kernen. Pinienkerne und getrocknete Aprikosen brauchte ich, und ja, ich nahm auch von den Berberitzen, die er mir in den höchsten Tönen anpries.

Der Obststand von Mathilde Kleber war mein nächster Halt. Drei verschiedene Sorten Rhabarber und Bornheimer Erdbeeren, wirklich zuckersüß, gab es bei ihr. Die Kirschen hingegen brauchten noch ein paar Tage Sonne, vielleicht würde ich nächste Woche welche nehmen.

Nachdem ich zwischendurch immer schon mal weißen Spargel probiert, aber nicht gekauft hatte, beendete ich meine Einkaufsrunde an Bergers Stand. Ich bohrte den Daumennagel in die Schnittstelle, sofort trat Flüssigkeit aus, dann brach ich eine Stange entzwei und biss hinein. Berger hatte mir nicht zu viel versprochen, frischer und in besserer Qualität würde ich weißen Spargel hier nicht finden.

Außerdem hatte er noch Sauerampfer und Portulak im Angebot, nicht zu vergessen die rot-weißen französischen Radieschen und die kleinen neuen Kartoffeln. Wir feilschten um Preise und Mengen, wurden wie immer irgendwie handelseinig, und ich machte mich auf in die nächste Halle, um dort den Fisch auszusuchen. Fleisch kaufte ich nicht hier. Direkt vor meiner Haustür auf der Frankfurter Straße hatte ich einen Metzger entdeckt, der nur artgerecht gehaltene Tiere schlachtete und mir gern Sonderwünsche erfüllte.

 

Gegen sechs Uhr war der Transporter beladen, und ich machte mich auf den Heimweg. Die Rheinuferstraße war jetzt schon gut befahren. Pendler aus dem Umland, Lkws mit Waren für die Stadt, frühe Radler auf dem Weg in ihre Büros. An den Zebrastreifen sammelten sich die ersten Fußgänger. Mit ihren Reinigungsmaschinen vollführten Straßenreiniger einen eleganten Slalom um Mülleimer und Laternenpfähle. Vor mir verpestete ein orangefarbener Wagen der Kölner Abfallwirtschaft, beladen mit dem Dreck der Stadt, die Luft. Ich konnte ihn hinter mir lassen, als ich auf die Severinsbrücke abbog.

Der Morgentau über dem Fluss hatte sich verzogen, erste Sonnenstrahlen spiegelten sich im Wasser. Auf der anderen Rheinseite turnten die Frühschicht-Arbeiter durch das Gerippe des Lufthansa-Hochhauses. Von der Deutzer Freiheit wehte mir der Duft frischer Brötchen in die Nase.

Die Stadt erwachte. Dafür würde ich jetzt schlafen gehen.

Als ich die Treppen zu unserer Wohnung in der Kasemattenstraße hinaufstieg, dachte ich wieder an Mombauer. Ich musste mich mit irgendetwas betäuben, damit dieser blöde Pachtvertrag nicht als Endlosschleife durch meine Gehirnwindungen turnte. Ein Bier würde mir guttun.

Leider bot unser Kühlschrank nur ein einziges Getränk: Adelas Pfirsich-Eistee, ihr Lieblingsgetränk, sowie das Thermometer mehr als zwanzig Grad anzeigte. Diese süße Plörre rührte ich nur in allerhöchster Not an. Also kramte ich in der Speisekammer und förderte eine Flasche Trollinger zutage, den Kuno immer aus dem Schwäbischen mitbrachte.

Während im Hinterhof die Vögel den frühen Morgen bezwitscherten, trank ich den Wein in kleinen Schlucken und wartete darauf, dass er die Gedanken an Mombauer einlullte und die unterdrückte Müdigkeit wieder nach oben schwemmte. So recht wollte der Trollinger meine Gedanken auch nach dem zweiten Glas nicht außer Gefecht setzen, also beschloss ich, es mit Hinlegen und Augenschließen zu probieren, und schlich in mein Zimmer.

Durch die schweren weißen Vorhänge drang schon der Morgen, aber im Zimmer herrschten noch die Wärme der Nacht, das Ticken des Weckers und Eckis leises Schnarchen. Ich kuschelte mich an den schlafenden Mann, der sofort den Arm um mich legte und seine Hand sanft um meine rechte Brust schmiegte. Er roch nach Sonne und frischem Heu, und vielleicht ist es dieser Duft von Sommer-auf-dem-Lande gewesen, in den ich mich damals in Wien zuerst verliebte.

War's tatsächlich schon fast ein Jahr, dass Ecki jetzt mit mir zusammenlebte? Wie schnell die Zeit verging, wie schnell etwas Sensationelles zum Alltäglichen wurde! Als ich nach dem Tod von Tante Rosa aus dem Schwarzwald zurückkehrte, war er erst eine Woche länger als geplant, dann zwei geblieben.

Irgendwann erzählte er, dass er den Job in dem Tokioer Restaurant abgesagt hatte, in dem er auf dem Poissonnier-Posten seine Sushi-Kenntnisse perfektionieren wollte. Zur selben Zeit brauchte ich in der »Weißen Lilie« eine Schwangerschaftsvertretung für Eva, und so ergab es sich, dass Ecki in Service und Küche einsprang.

Ecki, der ewige Herumtreiber und Weltenbummler! Ein Wunder eigentlich, dass wir nach dem Trennungsdesaster in Brüssel, dem ewigen Hin und Her, wieder eine Annäherung geschafft hatten und jetzt als Paar zusammenlebten. Hätte ich nicht für möglich gehalten.

Schließlich hatten wir uns in all den Jahren so einiges zugemutet. Affären, heftige Streitereien, sinnlose Kämpfe, rücksichtslose Solotouren, gegenseitige Vernachlässigung, die ganze Palette an Beziehungssünden. Genauer wollte ich gar nicht mehr daran zurückdenken. Vergeben und vergessen.

Nicht dass es nicht immer noch genug Dinge gab, derentwegen wir uns in die Haare kriegten, aber als Paar hatten wir in ruhiges Fahrwasser gefunden. Das war gut so, denn ich hatte zu viel um die Ohren, als dass ich unentwegt das Feld der Liebe beackern könnte. Regelmäßig wässern und düngen, gelegentlich das Unkraut herausrupfen, so sah ich unsere Beziehung.

Ich schob mich noch näher an Eckis warmen Körper, atmete im Rhythmus des Schlafenden und glitt endlich hinüber ins Reich der Träume.

 

Der Morgen begann mit dem üblichen Weckerkrähen, wie es überhaupt ein üblicher Morgen in unserer Vierer-WG war. Adela und ich wohnten nun schon fast acht Jahre zusammen. Vor ein paar Jahren hatte sich Adela in Kuno verliebt, und als der schwäbische Kommissar in Pension ging, war er zu uns gezogen. Wir drei kamen so gut miteinander klar, dass für mich kein Anlass zum Ausziehen bestand. Und Ecki komplettierte nun unser Kleeblatt.

Als ich dem Schreihals von Wecker den Saft abdrehte, schlief Ecki noch wie ein Stein.

»Los, raus aus den Federn, wir müssen arbeiten gehen!«

Ich schüttelte ihn, aber ohne Erfolg. Während ich aus dem Bett kroch, zog Ecki sich die Bettdecke über den Kopf und drehte sich um. Jeden Tag das gleiche Spiel. Immer musste ich zuerst ins Bad. Das Bad hatte Kuno vor mir benutzt und wie üblich seine morgendliche Überschwemmung hinterlassen.

»Kuno!«, brüllte ich durch den Hausflur.

»Ist beim Bäcker«, rief Adela zurück.

Also wischte ich mal wieder die Fliesen trocken, bevor ich mit kaltem Wasser meinen Kreislauf für den Tag ankurbelte. Dann warf ich Ecki aus dem Bett, schlüpfte in den Bademantel und tapste barfuß und mit nassen Haaren in die Küche.

Es war mein kleiner morgendlicher Luxus, beim Frühstück so zu tun, als müsste ich noch lange nicht in den Tag starten. Adela, frisch geföhnt und gefährlich munter, hatte den Frühstückstisch gedeckt, Kuno war mit Brötchen und einem Stapel Zeitungen zurückgekehrt.

»Hochwasser, Kuno«, schimpfte ich. »Einmal mit dem Lappen durchzuwischen ist doch wirklich nicht die Welt.«

Kuno grummelte irgendetwas Unverständliches und vertiefte sich schnell in die Zeitung.

»Eilert«, sagte Adela, als sie mir einen Kaffee einschenkte. »So heißt der Mann.«

Ich verstand gar nichts und wollte nichts verstehen, bevor ich nicht etwas im Magen hatte. Mhmm, Kuno hatte meinen Lieblingsschinken mitgebracht.

»Dafür meckere ich bei den nächsten drei Überschwemmungen nicht«, sagte ich in Richtung Zeitung und steckte mir ein Stück Schinken in den Mund.

»Sechsunddreißig Millionen Euro für d' Renovierung von dere Flora. Die lasset sich b'scheiße, wo's geht. Rechnen könnet die Kölner wirklich nit. Aber d'r Steuerzahler bleche lasse, des könnet se«, gab die Zeitung zurück.

»Stuttgart 21 ist auch nicht von schlechten Eltern«, ärgerte ich ihn.

»Ich habe heute Morgen schon mit Betty Bause telefoniert«, grätschte Adela dazwischen.

»Da merksch ja auch, wie groß der Widerstand ischd. Weil rechne, des könnet mir Schwabe. Und dass des mit dem Bahnhof ins Uferlose geht, des weiß doch jeder, der ä bissele Grips im Schädel hat.«

»Oben bleiben, ja, ja«, spottete ich.

»Und Betty weiß jetzt, wie der Mann mit der grünen Krawatte heißt«, trumpfte Adela auf. »Eike Eilert.«

»Eilert! Des sagt mir ebbes!« Kuno ließ die Zeitung sinken und kratzte sich den fast kahlen Schädel, auf dem wie auf einem Brachland hie und da ein paar graue Haare sprossen. »Isch der aus d'r Politik?«

»Keine Ahnung. Betty ist der Name wieder eingefallen, weil Dirk ihr den Dicken gestern vorgestellt hatte. Die Frau in Schwarz leider nicht, und den Gatten hat Betty heute nicht nach dem Streit der beiden fragen können. Der ist schon früh aus dem Haus, wahrscheinlich, um Schadensbegrenzung zu betreiben.« Adela türmte gut gelaunt Wurst, Käse und zwei Radieschen auf ein Brötchen, froh dar- über, dass sie endlich mit ihrem Thema Gehör fand. Mir sagte der Name »Eilert« gar nichts.

»Betty kennt auch Egon Mombauer, ist ein alter Schützenbruder ihres Vaters. Es hat sie sehr gewundert, dass er so plötzlich gestorben ist«, setzte Adela hinterher.

»Adela! Mombauer war einundachtzig. Da kann man schon mal umfallen und tot sein ohne Fremdeinwirkung.« Ich verdrehte die Augen. Wenn Adela nur nicht immer ihre Nase überall da hineinstecken würde, wo sie irgendetwas Interessantes witterte!

»Oder ischd der aus d' Wirtschaft? Ischd der in die G'schicht mit dem Rheinauhafen verwickelt g'wese?«, überlegte Kuno weiter.

»Servus!« Ecki kam im Gegensatz zu mir immer schon angezogen zum Frühstück. Er trug diese helle Leinenhose und das geringelte Hemd, in dem er wie ein weit gereister Matrose wirkte und Ferienstimmung ausstrahlte. »Frische Semmeln! Wem müssen wir danken? Kuno?« Er deutete eine Verbeugung in dessen Richtung an, bevor er mich auf den Mund und Adela auf die Wange küsste.

»Was machst jetzt mit der Mombauer-G'schicht?«, fragte er dann.

»Mombauer?« Kuno tauchte hinter seiner Zeitung auf. »Wer ischd jetzt des scho wieder?«

Ecki erklärte es ihm, und ich fragte: »Ob ich heute schon mit seiner Tochter telefonieren soll?«

»Manchmal ist es gut, mit der Tür ins Haus zu fallen, manchmal schlecht.« Ecki wiegte den Kopf hin und her und biss gleichzeitig in sein Honigbrötchen. »Man müsst halt wiss'n, was für ein Typ sie ist.«

»Ich rede mal mit Irmchen, die kennt die Frau. Ich fahr heute früher in die ›Weiße Lilie‹, muss in einer Viertelstunde los«, informierte ich Ecki. »Der Speiseplan für die neue Woche, Arîn will dabei sein.«

»Oder hat der Eilert ebbes mit dem SPD-Spendenskandal zu schaffe?«, suchte Kuno weiter.

»Du kommst noch dahinter, Herzchen. Wenn der alte Bulle in dir Witterung aufnimmt, verfolgt er hartnäckig auch noch die kleinste Spur. Ist nur eine Frage der Zeit.« Adela tätschelte ihrem Liebsten kurz die Hand und schnappte sich das letzte Croissant aus dem Brotkorb, als irgendwo in der Wohnung ein Handy klingelte. »Ist deins«, sagte sie zu Ecki. »Meins ist ausgeschaltet.«

Die beiden hatten den gleichen Klingelton.

»Ich mag's nicht, wenn ich in der Früh schon telefonieren muss«, murrte Ecki, verschwand aber dennoch mit einem zweiten Brötchen in der Hand. Adela ließ sich von Kuno ein Stück Zeitung geben, ich trank eine weitere Tasse Kaffee und ging mein Arbeitspensum für den Tag durch. Dienstage waren immer besonders anstrengend. Wochenanfang – montags war die »Weiße Lilie« geschlossen –, Einkaufstag, neuer Speiseplan. Und wenn ich es recht im Kopf hatte, waren wir heute ausgebucht.

»Geh, Kathi, musst allein fahrn. Ich komm später«, verkündete Ecki, als er vom Telefonieren zurückkehrte.

»Hey, wir brauchen dich heute in der Küche. Und wenn das Wetter so bleibt, sind am Abend auch die Außentische besetzt, und du musst wahrscheinlich zwischen Küche und Service springen.« Ich hasste es, wenn Ecki so kurzfristig umdisponierte und meine Planungen durcheinanderbrachte.

»Speiseplan könnts ohne mich machen, vorbereiten auch. Ich bin schon da, bevor's richtig losgeht«, wiegelte Ecki meine Bedenken ab. »Ich muss los. Servus.« Er drückte mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund, winkte den beiden anderen zu, und weg war er.

»Oder ischd der in dem Müllg'schäft drin g'hängt?«

Adela bot mir das letzte Brötchen an, aber mir war der Appetit vergangen. Ich ärgerte mich über Ecki. Nicht nur, weil er später zur Arbeit kommen würde. Eher, weil er nicht mal andeutete, was er vorhatte. Freiräume hin oder her, ein bisschen mehr könnte er schon erzählen, was er so allein immer trieb.

»'s ischd auf alle Fälle eines von dene windige Kölner G'schäftle gewesen, da bin i mir ganz sicher«, hörte ich Kuno hartnäckig seine Suche nach Eilert fortsetzen, als ich schon an der Tür war und mich auf den Weg zur Arbeit machte.

 

Motorisierte Besucher einer Möbel-Küchen-Fahrrad-sonst-wie-Messe blockierten die Straßen um die Messehallen und damit meinen Weg zur Arbeit. Wenn es nach mir ginge, dürften die alle nur per Bahn anreisen. Vom Deutzer Bahnhof aus war das komplette Messegelände fußläufig super zu erreichen, da brauchten die Leute nicht die eh schon dicht befahrene Justinianstraße und die Deutz-Mülheimer zu verstopfen. Ich hätte heute den Auenweg nehmen sollen. Zu spät.

Arîn wartete schon, als ich den Wagen vor der »Weißen Lilie« parkte. Sie saß auf dem Mäuerchen des kleinen Spielplatzes auf der anderen Seite der Regentenstraße, kaute Sonnenblumenkerne und spie die Schalen ins Gebüsch. Zwei Bewohnerinnen des nahen Altenheims, die Arme auf ihre Rollwägelchen gestützt, leisteten ihr Gesellschaft. Arîn hatte ihnen von den Sonnenblumenkernen abgegeben, daran nuckelten sie eher lustlos herum, aber das Weitspucken machte ihnen sichtlich Freude. Arîn schaffte es am weitesten, aber die beiden Alten, vom Ehrgeiz gepackt, versuchten ihr nachzueifern und spuckten, was das Zeug hielt.

Ein Junkie in Trainingshosen, dessen Augen wie zwei Kirschen in Buttermilch schwammen, schlurfte langsam durch den Kernehagel an den dreien vorbei und durchwühlte den Papierkorb an der Ecke nach Pfandflaschen, ohne fündig zu werden.

Vom Spielplatz her lärmte eine Traube von kleinen türkischen Jungen, die kickten. Allesamt gewiefte Straßenfußballer und hier im Quartier zu Hause. Ein kräftiger Schuss, der Ball flog in weitem Bogen über den Platz und landete direkt zwischen den zwei Rollatoren. Sofort schoss ein schmales Kerlchen aus dem Gestrüpp hervor. Arîn pflaumte ihn auf Türkisch an und deutete abwechselnd auf die alten Frauen und die Fenster der »Weißen Lilie«. Schon einmal hatte so ein Möchtegern-Poldolski eine meiner Scheiben zerschossen. Sichtbar unbeeindruckt von Arîns Redeschwall, griff der Kleine den Ball und sah zu, dass er Land gewann. Die alten Ladys spuckten ein paar Kerne hinter ihm her.

Mülheim, das merkte man hier schnell, zählte nicht zu den Sightseeing-Höhepunkten von Köln. Mülheim war laut und dreckig, hatte wenig schöne und viele üble Ecken. Aber Mülheim war auch bunt und vital, Mülheim boomte und brummte, deshalb – und natürlich weil die Geschäfte gut liefen – fand ich es gut, mit der »Weißen Lilie« mittendrin in diesem pulsierenden Veedel zu hocken. Bis Ende des Monats noch saß ich hier fest im Sattel, aber die weitere Zukunft der »Weißen Lilie« war durch Mombauers Tod wackelig geworden. Doch darum würde ich mich später kümmern.

»Hey, wir müssen den Wagen ausräumen«, rief ich Arîn zu. »Bert braucht ihn wieder.« Bert war Koch im Altenheim und lieh mir den Transporter aus, wenn ich ein großes Auto brauchte.

Das Mädchen reichte einer der beiden Alten zum Abschied die Tüte mit den restlichen Sonnenblumenkernen und kam zum Auto gelaufen. Heute trug sie ein paar schwarze Leggings unter einem Jeans-Minirock, darüber eine weiße Baumwollbluse und eine schmale Weste mit kleinen Spiegelchen und indischen Stickereien. Unter dem modischen Pony blitzten wache Mandelaugen, ein dicker Lidstrich à la Brigitte Bardot verstärkte deren Ausdruck.

Schon seit einigen Monaten beobachtete ich mit Wohlwollen, wie Arîn mehr und mehr ihren eigenen Stil entwickelte. Sie liebte kräftige Farben, mischte Orientalisches mit Westlichem und war nicht mehr die unscheinbare kleine Kurdin, die vor vier Jahren ihre Lehre bei mir begonnen und die ich danach übernommen hatte.

»Nicht schon wieder Spargel«, stöhnte sie, als ich ihr die Kisten mit den weißen Stangen in die Hände drückte. »Den ganzen Mai und Juni nichts als Spargel, Spargel, Spargel. Warum gibt es bei uns nie Brokkoli?«

»Weil Brokkoli ein völlig überschätztes Gemüse ist«, wies ich sie zurecht, packte mir die Kühltasche mit dem Fisch und lief damit in die Küche. »Im Vergleich zu Spargel eine Beleidigung. Und jetzt hör auf, über den Spargel zu meckern, lange musst du ihn nämlich nicht mehr schälen. Am Einundzwanzigsten, an Johanni, ist Schluss, ab dann wird kein Spargel mehr gestochen. Gilt auch für Rhabarber! Und bis dahin nutzen wir jede Gelegenheit, um Spargel zuzubereiten. Weil es dann wieder ein Jahr dauert, bis man frischen und guten kriegt. Saisonale Küche, regionale Produkte dann auf die Speisekarte setzen, wenn sie reif sind, ist ein Credo –«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach sie mich. »Kann mich trotzdem nicht damit anfreunden. Wenn ich nur an diese stinkende Spargelpisse denke. Also, wenn ich mal mein Restaurant aufmache, dann –«

»– kannst du kochen, was du willst, aber jetzt holst du erst noch den Rest aus dem Auto«, machte ich der Diskussion ein Ende. »Es gibt nämlich noch Portulak, Kräutersalat und Zuckerschoten.«

»Zuckerschoten. Ich liebe Zuckerschoten!«, freute sich Arîn, eilte wieder nach draußen und schleppte die restlichen Einkäufe nach drinnen. Ich räumte alles in die entsprechenden Kühlkammern und verschaffte mir gleichzeitig einen Überblick über den Warenbestand.

»Wie willst du den Spargel diese Woche machen?«, fragte Arîn mit Papier und Bleistift in der Hand, nachdem wir mit dem Aus- und Einräumen fertig und in unsere Kochklamotten geschlüpft waren.

»Unbedingt roh als Carpaccio. Du musst sie in ganz feine Streifen hobeln, auch wenn das viel Arbeit ist«, gab ich vor, als ich sah, wie Arîn eine Schnute zog. »Die sind so frisch, das muss ich ausnutzen. Dazu klein gehackte Walnüsse und hart gekochte Eier und eine Vinaigrette mit Walnussöl. Alles aufgeschrieben?« Ich machte erst weiter, als Arîn nickte. »Zum Thunfisch legen wir den Spargel in einen milden Ziegenfrischkäse auf Blätterteig, dann gibt es noch die badische Variante mit Kratzede und Schwarzwälder Schinken …«

»Zum Lamm ein Mandelcouscous mit Zuckerschoten«, schlug Arîn vor, nachdem sie alle Spargelgerichte notiert hatte.

Arîn ließ gern Gerichte der orientalischen Küche in unseren Speiseplan einfließen. Dieser Küche, genauer der kurdischen, gehörte ihre Leidenschaft. Ihre Familie stammte aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet und lebte wie viele Kurden im Exil. Die Verwandtschaft war über ganz Europa verstreut. Per Mail sammelte sie bei Tanten und Cousinen eifrig Rezepte traditioneller Gerichte, aber es interessierte sie auch, welche Einflüsse das Gastland auf die Küche hatte. Sie wollte eine neue, eine moderne kurdische Küche entwickeln, weltoffen und vielfältig wie die Kurden selbst, und irgendwann damit ein eigenes Restaurant eröffnen. Noch war das ein Traum, aber das konnte sich ändern. Auch die »Weiße Lilie« hatte mal mit einem Traum begonnen.

»Gute Idee«, stimmte ich ihrem Vorschlag zu, »das Lamm peppen wir dann mit einem kleinen Kräutersalat optisch auf. Hast du noch einen Vorschlag für eine Vorspeise mit Zuckerschoten?«

»Ein Salat mit den französischen Radieschen? Und Katharina, die Berberitzen würde ich gerne mit Rhabarber kombinieren, als orientalisch-europäische Allianz.«

»Wird ein bisschen herb sein, ist aber einen Versuch wert. Dazu brauchen wir aber unbedingt einen süßen Gegenpol. Was aus dem Norden, ein Soufflé vom Lübecker Marzipan.«

»Und zu den Erdbeeren ein Milchreispudding?«

»Du mit deinem Milchreispudding«, lachte ich. »Nein, heute kommt deine Leib- und Magenspeise nicht auf die Karte. Die Erdbeeren als Sorbet mit Champagner und als Salat zur bayrischen Creme. Und natürlich Mousse au Chocolat für die Schokoladenjunkies. – Hast du alles?«

»Gleich!« Eilig schrieb sie die Liste zu Ende.

»Gut. Dann kann Eva daraus die Speisekarte fabulieren. Überleg, was du ihr über Berberitzen erzählst, die kennt sie bestimmt nicht. Und wir machen uns ans Vorbereiten. Hast du einen Überblick, was wir noch an Fond haben?«

Das Ansetzen von Fonds gehörte in Arîns Zuständigkeitsbereich. Sie verschwand in Richtung Kühlkammer.

»Fisch sieht gut aus, Gemüse auch, Huhn ist so gut wie alle«, rief sie, bevor sie zum Pass zurückkam. »Aus dem restlichen Hühnerfond kann ich Mombauer eine Suppe machen, die isst er immer so gern«, schlug sie vor.

Mombauer! Den hatte ich in der letzten Stunde erfolgreich verdrängt. Schon seit Jahren bezog er bei uns eine Art Mittagstisch. Der eigenbrötlerische Alte konnte nicht kochen und hasste Restaurantbesuche und Essen auf Rädern gleichermaßen. So hatte er bei uns eine tägliche warme Mahlzeit abonniert – eine Solonummer, weil er mein Vermieter war. Das Essen hatte Arîn ihm immer nach oben gebracht.

»Tot?« Arîn schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie kann der denn tot sein? Am Samstag war der munter wie ein Fisch im Wasser und zu Scherzen aufgelegt. Hat mich gefragt, ob ich beim Schützenfest mit ihm ins Festzelt gehe, damit seine Schützenbrüder vor Neid erblassen. ›Arîn‹, hat er gesagt, ›von so einer schönen jungen Frau wie dir träumen die alle.‹ – ›Na klar‹, habe ich geantwortet, ›mit einer Kurdin taucht da eh keiner auf.‹ Und jetzt kein Schützenfest, keine Hühnersuppe mehr. Ich versteh das nicht. Wieso ist der plötzlich tot? Ich meine, der war doch nicht krank oder so.«

»Manchmal klopft der Tod nicht an, da kommt er ohne Vorankündigung.« Das klang ein bisschen nach salbungsvoller Grabrede, aber ich tat mich schwer, die rechten Worte zu finden.

»Wann hast du mir denn sagen wollen, dass er tot ist? Nach seiner Beerdigung?«

Trauer oder Angst parierte Arîn gern mit wütenden Angriffen. Im Laufe der Zeit hatte ich gelernt, darauf mit Geduld zu reagieren. Es war verständlich, dass Mombauers Tod sie mehr schockierte als mich. Von uns allen hatte sie den engsten Kontakt zu dem alten Mann gepflegt, nicht nur weil sie ihm jeden Tag sein Essen gebracht und er ihr dafür immer ein bisschen Geld zugesteckt hatte. Nein, die beiden mochten sich. In Arîns Gegenwart war Mombauer nicht so verschlossen wie sonst, und Arîn redete gern mit ihm.

»Er war wie ein bapîr, ein Opa, für mich. Hier in Köln habe ich doch keinen. Den in Kumlu sehe ich nur alle paar Jahre mal, und der andere Großvater ist schon tot gewesen, als ich auf die Welt gekommen bin«, fügte sie schon weniger stachelig hinzu.

»Ist ja gut, Mädchen«, seufzte ich, holte den Tagesverbrauch an Spargel und Rhabarber aus der Kühlung und fischte zwei Schäler aus der Schublade. Einen drückte ich Arîn in die Hand, mit dem anderen begann ich zu schälen. Auch nach Mombauers Tod erledigte sich die Arbeit nicht von selbst, wir mussten mit den Vorbereitungen loslegen. Als Arîn einen flotten Schälrhythmus gefunden hatte, machte ich mich auf den Weg zum Telefon, das schon eine Weile hartnäckig klingelte.

Eva, die heute überraschend früh in der »Weißen Lilie« auflief, kam mir zuvor. Sie klemmte sich den Hörer ans Ohr, schickte mir ein Begrüßungslächeln und griff automatisch zum Reservierungsbuch. Ohne Evas wunderbaren Service wäre die »Weiße Lilie« nie das geworden, was sie jetzt war. Da hätte ich noch so gut kochen können. Seit der Geburt des kleinen Ole arbeitete sie nicht mehr Fulltime, sondern teilte sich den Service mit Ecki.

»Tut mir leid, die große Tafel ist für heute Abend komplett ausgebucht. Moment, da muss ich die Chefin fragen.« Eva legte die Hand auf die Muschel. »Acht weitere Essen, kann ich einen Außentisch anbieten? Die Eschbachs.«

Stammkunden, er war Redakteur beim Stadt-Anzeiger, sie arbeitete beim WDR. Sie kamen oft mit Freunden und Kollegen. Da konnte ich schwer Nein sagen, obwohl wir draußen eigentlich kein Essen servierten.

»Genau«, sagte Eva ins Telefon, »es sieht nicht nach Regen aus. Außerdem bringen Sie sowieso immer Sonnenschein mit.«

»Sonnenschein! Ich glaub's nicht, Eva. Dass du immer so rumschleimen kannst. Ihr Tellertaxis seid euch für nix zu schade«, frotzelte Arîn.

»Wenn ich bei den Gästen nicht auf Schönwetter mache, kriegt so ein Poltergeist wie du kein einziges Essen verkauft.« Eva griff sich eine von Arîn geschälte Spargelstange und biss hinein. »Ohne mich, du kleiner Kochtrampel, wärst du arbeitslos. Mhmm, sind die gut!«

Eva knabberte den Spargel wie eine Salzstange weg, griff nach dem nächsten. Arîn klopfte ihr auf die Finger, Eva zog die Hand schnell weg, um dann mit der anderen nach einer Spargelstange zu grapschen, aber Arîn reagierte genauso flink.

»Aua«, stöhnte Eva und pustete auf ihre Finger.

»Wenn du welche essen willst, schäl sie selbst«, gab Arîn ungerührt zurück.

»Schluss, ihr zwei«, beendete ich die Kabbelei. »Eva, ich vertraue wie immer auf deine Speisekartenpoesie. Berberitzen sind eine orientalische Vitamin-C-Bombe, mehr dazu kann Arîn dir sagen. Und Arîn, wenn du mit Spargel und Rhabarber fertig bist, ruf Minka an und frag, ob sie heute zwei Stunden früher kommen kann.«

»Kommt Ecki nicht?«, fragte Eva besorgt. »Ich habe nämlich nur bis um zehn einen Babysitter.«

»Doch, aber er kommt später!«

Wieder kroch Ärger in mir hoch. Ecki hätte ich heute wirklich schon bei den Vorbereitungen gebrauchen können. Aber nein, etwas anderes war wichtiger. Manchmal verhielt sich Ecki wie ein Privatier, der nach Lust und Laune entschied, ob er arbeitete oder nicht. An anderen Tagen schuftete er wie ein Berserker und gab in der »Weißen Lilie« den gleichberechtigten Partner. Ohne erkennbare Regel sprang er zwischen diesen Rollen hin und her. Ich hätte es ihm gern allein übel genommen, aber an diesem Spiel war ich beteiligt.

Arbeitsvertrag, Gehalt, Position in der Küche, Rolle im Service, nichts von alldem hatten wir festgelegt. Wenn ich einen Vorstoß dazu machte, winkte Ecki mit den Hinweis ab, wie sehr er dieses Formalzeugs hasste. Wenn Ecki stöhnte, dass es so nicht weitergehen könne, dann passte es mir wieder oder gerade nicht in den Kram. Doch dieses schwammige Hin und Her tat uns nicht gut, wir mussten dafür eine Lösung finden. Je schneller, desto besser.

 

Heute frage ich mich, ob alles anders gekommen wäre, wenn Ecki und ich nicht immer alles auf die lange Bank geschoben hätten. Aber in jenen Tagen war mein Kopf nur auf Mombauer gepolt. Wie ein Damoklesschwert schwebte der ablaufende Pachtvertrag über mir. Wenn ich mich mit den Erben nicht einigen konnte, dann brauchte ich keinerlei Arbeitsverhältnisse für die »Weiße Lilie« zu klären, dann würde es die »Weiße Lilie« bald nicht mehr geben. Also schluckte ich den Ärger wegen Eckis Abwesenheit hinunter und stieg endlich die Treppen hoch, um bei Irmchen Pütz nach der Telefonnummer von Sabine Mombauer zu fragen.

Auf mein Klingeln meldete sich niemand. Ich wollte schon wieder nach unten gehen, als es über mir knarzte und knackte. Ich schielte zur Decke und wartete auf weitere Geräusche. War das Irmchens Stock, der über mir klackte? War sie in Mombauers Wohnung? Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stieg ich nach oben. Die Wohnungstür war angelehnt, ich klopfte, rief: »Hallo«, bekam keine Antwort. Vorsichtig schob ich die Tür auf und trat in einen dunklen Flur.

An der spartanischen Garderobe hing Mombauers grün-graue Schützenuniform, frisch aus der Reinigung. Ganz in Plastik eingehüllt würde sie auch bleiben, wenn man Mombauer nicht darin beerdigen würde. Das konnte ich mir bei dem Alten durchaus vorstellen. Zum Mülheimer Schützenfest war er immer aus seiner Höhle gekrochen. Noch im letzten Jahr hatte ich ihn mit geschwellter Brust im Schützenzug mitmarschieren sehen.

»Irmchen?«, rief ich in den Flur hinein, der ein wenig nach Franzbranntwein oder etwas Ähnlichem roch. Nach irgendeinem Mittelchen halt, um die alten Knochen zu beruhigen und die Einsamkeit zu vertreiben. Ich schielte links in eine geöffnete Tür: ein düsteres Schleiflackdoppelbett, das eine mit einem olivgrünen Überwurf bedeckt, das andere mit benutztem Kissen und zurückgeschlagenem Plumeau. Das Bett hatte Mombauer gestern Nacht zum Pinkeln verlassen, um nie mehr zurückzukehren.

»Ach, du bist es!«

Irmchen steckte den Kopf durch eine Tür weiter hinten und winkte mich mit ihrem Stock zu sich. Auch dieser Raum ein Bollwerk gegen die Außenwelt. Schwere Vorhänge, die das Licht aussperrten, die Wände vollgestellt mit Gelsenkirchener Barock, in der Mitte ein Tisch gleicher Machart, bedeckt mit einer Sperrholzplatte, auf der eine aufwendige elektrische Eisenbahn aufgebaut war. Gleise und Brücken, Lokomotiven und Waggons, Miniaturhäuser und Zwergenkirchen, kleine Bäume, mit winzigen Kieselsteinchen ausgelegte Wege. Altherren-Basteleien. Die Leidenschaft eines Einsiedlers.

»Sabine, das ist Katharina Schweitzer, die Besitzerin der ›Weißen Lilie‹«, erklärte Irmchen der Frau auf der anderen Seite der Bahnanlagen. Fast so groß wie ich war sie, aber im Gegensatz zu mir hager und mindestens zehn Jahre älter. Um die fünfzig, schätzte ich, das braune Kurzhaar schon grau gesprenkelt. Der Mund ein Strich, der dem Versuch, ihm mit Lippenrouge etwas von seiner Strenge zu nehmen, hartnäckig widerstand. Ihr Blick hatte Enttäuschung im Schlepptau. Ob nur von Männern oder vom Leben insgesamt, ließ sich nicht herauslesen.

»Mein Beileid.« Ich reichte ihr die Hand über den Tisch, sie nahm sie entgegen. Unter unseren Händen kreuzten sich zwei friedliche Schienenstränge. Zu gern würde ich sie als gutes Omen für die anstehenden Verhandlungen nehmen, auch wenn mein erster Eindruck von Sabine Mombauer dagegensprach.

»Wir suchen Mombauers Testament«, erklärte Irmchen. »Stell dir vor, er hat nie mit Sabine darüber gesprochen. Dabei haben die das auf dem Informationsabend der Kirchengemeinde doch ausdrücklich gesagt! Dass man seine Angelegenheiten ordnen soll, damit die Angehörigen wissen, wo sie suchen müssen, wenn das Unausweichliche geschieht.«

Die herausgezogenen Schubladen des Gelsenkirchener Schranks enthielten Plastikbäumchen und Verkehrsschildchen, in den Vitrinen glänzten Lokomotiven, das ganze Möbelstück diente als Eisenbahndepot. Da gab es nichts Papierenes. Es war vor allem Irmchen, die eifrig weitersuchte; Sabine Mombauer dagegen wirkte unentschlossen. Kraftlos zog sie mal die eine, mal die andere Schublade heraus.

War es für mich gut oder schlecht, wenn Mombauer kein Testament hinterlassen hatte? Im Kopf spielte ich die Möglichkeiten durch. Ein paar Monate würde es sicherlich dauern, bis die Erben bestimmt waren und die Zukunft des Hauses entschieden war. Diese paar Monate könnte ich die »Weiße Lilie« natürlich weiterführen, vielleicht war das sogar gut. Sollte ich jetzt überhaupt schon mit Mombauers Tochter darüber sprechen?

Als deren Handy klingelte, schreckte ich aus meinen Gedanken hoch, und Sabine Mombauer wirkte mit einem Mal sehr lebendig. Eilig nestelte sie das Gerät aus ihrer Tasche, ging damit nach draußen in den Flur und drehte uns den Rücken zu.

»Tommi, wie gut, dass du zurückrufst!« Sie sprach laut und hektisch, wir konnten jedes Wort verstehen. »Ja, heute Nacht. Herzstillstand. Klar bin ich froh, dass er so gestorben ist. Wer ist nicht froh, wenn ihm Pflege, Altenheim und so weiter erspart bleiben?« Ihre Stimme hatte etwas Glucksendes, eine leicht hysterische Geschwätzigkeit. »Das Haus? Nein, ich weiß noch nicht, was mit dem Haus geschehen soll, ich weiß noch nicht mal, ob Vater ein Testament verfasst hat … Durchaus möglich, dass er mir nur den Pflichtanteil vermacht hat. Nein, ich habe keine Ahnung, wo das Testament steckt. In den Schränken hab ich nur Kram für seine blöden Eisenbahnen gefunden … Klar weiß ich noch, dass du als Kind gerne damit gespielt hast. Ich habe sie gehasst, meine Mutter hat sie gehasst. Damals stand sie noch auf dem Dachboden, erinnerst du dich? Jetzt hat er damit das ganze Wohnzimmer zugestellt. Die Spielzeugeisenbahn als Mittelpunkt seines Lebens. Das ist so erbärmlich, verstehst du …? Das Haus? Das ist wirklich lieb von dir, Tommi, dass du mir beim Verkauf deine Hilfe anbietest, aber wie gesagt … Ja, ich melde mich bei dir, sowie ich Neuigkeiten habe, auch wegen der Beerdigung. Nein, ich weiß noch nicht, wann die sein wird, in drei, vier Tagen halt. Wirklich ganz lieb, wenn du es einrichten kannst zu kommen. Weißt du, es ist mir jetzt schon alles zu viel.«

Mit einem tiefen Seufzer beendete Sabine Mombauer das Gespräch und kam langsam zurück ins Wohnzimmer.

»Also hier ist es bestimmt nicht«, stellte Irmchen fest, die in der Zwischenzeit in jeder Ecke des Schrankes nachgesehen hatte. »Vielleicht hat er es bei einem Anwalt deponiert?«

»Woher soll ich das wissen?« Mit nervösem Schulterzucken und irgendwie nicht richtig in die Spur gesetzt irrte Sabine durch das Wohnzimmer.

»Es hilft nichts, dann müssen wir uns jetzt die Küche vornehmen!« Irmchen griff nach ihrem Stock, Mombauers Tochter folgte ihr, ich blickte auf die Uhr. Zehn Minuten noch, so lange konnte ich die Suche nach dem Testament verfolgen und entscheiden, ob ich heute mit Frau Mombauer über den Pachtvertrag redete oder nicht. Dann musste ich in die »Weiße Lilie« zurück.

Die Küche ging nach Osten, durch die geöffnete Balkontür schien eine kräftige Mittagssonne. Eine alte Wohnküche registrierte ich, bestimmt zwanzig Quadratmeter groß, mit schwarz-weiß gekacheltem Fußboden. Der erste Raum der Wohnung, in dem man den Frühsommer, das Wetter, das Draußen spürte. Mombauer hatte sie mit einer Nullachtfünfzehn-Küchenzeile und einer Sitzecke mit Eckbank ausgestattet.

In meinem Kopf beamte ich all die langweiligen Möbel weg, riss die Vorhänge von den Fenstern, strich den Raum in Sonnengelb, zauberte weiße Holzmöbel hinein. Was wäre das für eine wunderschöne Küche! Und wo ich schon dabei war, entrümpelte ich auch die anderen Zimmer, rupfte die vergilbten Tapeten von den Wänden, ließ überall Licht herein und stellte mir Raum für Raum hell und freundlich vor. Weiß war meine Lieblingsfarbe, Mombauers Wohnung in Weiß sähe wunderbar aus.

Wurde es nicht endlich Zeit, sesshaft zu werden, jetzt, wo Ecki zurückgekehrt war? Schluss mit den Wanderjahren, Schluss mit der Wohngemeinschaft, die – so schön das Zusammenleben mit Adela und Kuno sein konnte – nichts Eigenes war, immer doch ein Wohnen auf dem Sprung blieb. Was, wenn ich für Ecki und mich diese Wohnung mietete?

Der Gedanke elektrisierte mich, mein Puls tourte höher. Gemach, gemach, bremste ich mich, pass auf, dass du dir diesen Traum nicht sofort versaust. Du musst erst mit Ecki reden, dann überlegen, wie man mit dieser Sabine Mombauer am besten verhandelt. Fall diesmal nicht mit der Tür ins Haus! Lass dir Zeit, versuch es mit Diplomatie oder schick besser Ecki vor, beschwor ich mich selbst.

»Guck mal, die ist doch von dem Geschirr, das deine Mutter so gern gehabt hat.«

Irmchen präsentierte der Mombauer-Tochter eine blau-weiß geblümte Kaffeetasse, die sie in den Tiefen des Küchenschranks entdeckt hatte. Auch in diesem Raum übernahm Irmchen bei der Suche nach Mombauers Testament die Regie, während Sabine tatenlos die Kaffeetasse umklammert hielt und vor sich hin starrte.

»Das Essservice dazu habe ich mitgenommen, als ich damals ausgezogen bin«, murmelte sie. »Das habe ich immer noch. Aber ich benutze es nicht, denn jedes Mal, wenn ich es sehe, muss ich dran denken …« Dann hörte sie auf zu reden. So als wären ihr die Worte ausgegangen oder als gäbe es keine Worte für das, was noch aus ihrem Mund wollte.

»Ach, Kindchen!« Irmchen griff das Unausgesprochene auf, indem sie kurz ihre Suche unterbrach und einen sanften Blick auf Mombauers Tochter richtete. »Vielleicht kannst du ihm ja jetzt, wo er tot ist, vergeben. Weil, das haben sie uns auch gesagt in dem Vortrag der Kirchengemeinde. Dass man nicht nur seinen Nachlass regeln soll, sondern auch versuchen muss, mit sich ins Reine zu kommen, bevor man vor den Schöpfer tritt.«

»Der war doch immer mit sich im Reinen!« Das Lachen der Frau klang künstlich und bitter. »Er hat sich doch nie etwas vorgeworfen!«

»Weißt du's?«, fragte Irmchen, schon wieder mit Suchen beschäftigt.

Von einer Sekunde auf die andere verdunkelte sich die Küche, draußen verdeckte eine graue Wolke die Mittagssonne. Über dieser Küche hingen noch andere Schatten. Unzähmbare Erinnerungen, nie Ausgesprochenes, schwarze Kindheitswolken, was wusste ich.

»Hier ist auch nichts.« Irmchen schob die unterste Küchenschublade zu. »Und nun?«

Ich wusste plötzlich, was zu tun war, und ärgerte mich, dass es mir nicht früher eingefallen war.

»Wir können Arîn fragen«, schlug ich vor und erklärte den beiden die Sache mit Mombauers Mittagstisch.

»Klar weiß ich, wo das ist«, sagte die, als ich sie anrief. Keine Minute später stand sie bei uns in der Küche. »Im Schlafzimmer, unter seinem Bett. Soll ich die Kiste holen?«

Als Sabine nickte, verschwand sie, um gleich darauf einen braunen Pappkarton auf den Tisch zu stellen. »Da ist alles drin, was ihm wichtig ist. Bis auf die Eisenbahn.«

Vorsichtig legte Sabine den Deckel zur Seite, ganz obenauf in einer Plastikhülle lag ein handbeschriebenes Blatt, auf dem dick »Mein letzter Wille« stand.

»Genauso haben sie uns das bei dem Informationsabend der Kirchengemeinde erklärt!« Irmchen nickte zufrieden, weil sie Mombauer nicht vergebens zu dem Treffen mitgeschleppt hatte, und ich wusste immer noch nicht, ob es gut oder schlecht für mich war.

Es gab also ein Testament. Ich beobachtete aufmerksam das Gesicht der Tochter, als sie das Blatt überflog. Erbte sie das Haus? Ihre Miene verriet nichts.

»Er vermacht Ihnen seine Eisenbahn«, raunte sie Arîn zu und steckte das Blatt in die Handtasche. »Interessieren Sie sich dafür?«

»Nicht die Bohne«, gab Arîn zurück. »Aber ich habe ihm gern zugesehen, wenn er damit gespielt hat. Da war er immer so fröhlich und so lebendig.«

»Na ja, dann können Sie sie versilbern.«

Arîn sah sie fragend an.

»Mein Vater hat viel Geld in dieses Hobby gesteckt.« Sabine stockte, bevor sie das Wort »Hobby« aussprach, damit keiner von uns ihre abgrundtiefe Verachtung für die Freizeitbeschäftigung ihres Vaters entging. »Und es gibt viele andere Männer, die diesem merkwürdigen Steckenpferd frönen. Schauen Sie im Internet nach. Sie bekommen für das Zeugs bestimmt einen guten Preis.«

»Was ist das denn für eine? Wie ist die denn drauf?«, las ich hinter Arîns gerunzelter Stirn. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf, darauf konnte ich ihr im Augenblick keine Antwort geben.

»Wie weit bist du mit dem Spargel und dem Rhabarber?«, fragte ich stattdessen.

»Erledigt.«

»Okay. Als Nächstes die Zuckerschoten fädeln. Ich komme auch gleich runter, dann können wir durchstarten.«

Arîn nickte und wollte schon gehen, als Sabine sie am Arm packte und zu der Kiste zog.

»Was ist das?«, fragte sie und deutete auf zwei rote Ringbücher in der Kiste.

»Das sind Alben. In den letzten Monaten hat er alle Fotos sortiert und eingeklebt. Von Ihnen gibt es ganz viele.« Vorsichtig hob Arîn eines der Bücher aus der Kiste und legte es vor Sabine Mombauer auf den Tisch.

Diese befühlte mit ihren dürren Fingern den kartonierten Einband und zögerte mit dem Öffnen. Ihr Blick wanderte aus der Küche hinaus zum wieder blauen Himmel, als könnte ihr dieser sagen, ob zwischen den Buchdeckeln vor ihr auf dem Tisch süße Kindheitserinnerungen oder die Büchse der Pandora warteten. Ob es vielleicht besser war, gar nicht hineinzuschauen. Aber dann öffnete sie mit einer energischen Bewegung das Album, und auf ihrem Gesicht machte sich Erleichterung breit.

»Die sind bei Tante Hanna entstanden.« Sie strich über ein paar Fotos, die irgendeinen Mittelmeerstrand zeigten, und forderte uns zum Mitgucken auf. Auf fast allen waren Sabine im Teenageralter und ein kleiner Junge zu sehen. Mal tobten die zwei im Wasser, mal aalten sie sich im Sand, mal bissen sie in ein Stück Wassermelone. Auf ganz vielen streichelten sie irgendwelche Tiere, einen Hund, eine Katze, einen Esel.

Mombauers Tochter lächelte, die Zeit musste schön für sie gewesen sein. Das Bild, das den kleinen Jungen mit einer Schlange um den Hals zeigte, kommentierte sie allerdings mit einem angewiderten »Igitt« und blätterte schnell weiter.

»Bis heute kapiere ich nicht, warum ausgerechnet Reptilien Tommis Lieblingstiere sind«, erklärte sie. »Immer und immer wieder ist er mit welchen angekommen. Weiß der Henker, wo er die aufgetrieben hat. Geckos und Salamander konnte ich grade noch ertragen, aber wenn er mal wieder eine Schlange entdeckt hat, habe ich jedes Mal schreiend Reißaus genommen.«

Damit hatten Sabine Mombauer und ich etwas Gemeinsames. Bei Schlangen stellten sich auch mir sofort alle Nackenhaare zu Berge. Aber meine Nackenhaare stellten sich auch auf, weil ich immer noch nicht wusste, wie ich mein Problem mit dem ausgelaufenen Pachtvertrag angehen sollte.

»Hier, das war in Hannas Haus. Da sind wir mal Weihnachten bei ihr gewesen, das letzte Jahr vor Mutters Tod.«

Sie präsentierte uns eine fröhliche Tischgesellschaft. Ein bunter Plastiktannenbaum im Hintergrund, ein prall gefüllter Teller vor jedem Gast. Ein jüngerer Mombauer, eingerahmt von zwei Frauen, schob sich lachend einen Tintenfischarm in den Mund. Mir fiel auf, dass ich den alten Mann nie hatte lachen sehen. Arîn knuffte mich in die Seite und zeigte auf die Uhr.

»Wir müssen«, sagte ich und reichte Sabine Mombauer die Hand zum Abschied. Die nahm sie automatisch, kaum bereit, von dem Album aufzusehen.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, murmelte sie und deutete auf ein Bild mit einem Leuchtturm. »Das war ein Ausflug zum Far de la Mola, da habe ich mit Tommi ein Katzenjunges entdeckt …«

»Erben Sie das Haus?«, stakste ich. »Dann sollten wir in den nächsten Tagen mal über meinen Pachtvertrag reden …«

Aber Mombauers Tochter hörte überhaupt nicht zu. »Und das ist in Far des Cap de Barbaria, da habe ich immer mal leben wollen«, flüsterte sie beim nächsten Bild.

Ich zuckte resigniert mit den Schultern. Sabine Mombauer turnte ihrer Vergangenheit nach. Das schien ihr zu gefallen, denn ihre Stimme hatte jetzt einen viel weicheren Klang.

Es war der falsche Zeitpunkt, um mit ihr über die Zukunft sprechen zu wollen. Aber wann dann? Hätte ich doch bei meinem letzten Gespräch mit Mombauer auf eine Einigung gedrängt! Aber rückblickend war man immer schlauer, und zumindest in den nächsten Stunden würde ich keine Zeit haben, weiterzugrübeln. In der Küche wartete viel Arbeit auf uns.

 

Beim Hinunterlaufen ein Blick auf die Uhr. Heute fehlte uns eine halbe Stunde von der Vorbereitungszeit. Blitzstart also. Arîn überbot auf dem Gemüseposten beim Fädeln der Zuckerschoten ihre persönliche Bestzeit. Ich gönnte mir noch einen Augenblick der Konzentration. Optimales Timing, effizientes Arbeiten, darum ging es. Was, wann, wie am besten? Also startete ich mit den Nachtischen. Mise en place, alle Zutaten holen und bereitstellen. Zuerst die Vanillemilch aufkochen, mit der zweiten Hand Gelatine einweichen, zwischendurch Erdbeeren putzen, pürieren, stehen lassen. Finger in die Milch, richtige Temperatur, schnell mit der Bavaroise weiter. Eier schaumig schlagen, Zucker zufügen, Milch in feinem Strahl dazu. Fliegender Wechsel. Champagner, Zitrone, Zucker zu den Erdbeeren, ab in die Eismaschine. Zurück zur Gelatine. Ausdrücken, erhitzen, unterrühren, ab in den Kühlschrank. Wecker stellen. Aufräumen und sauber machen.

»Ich habe Minka übrigens nicht erreicht.« Arîn drängte sich mit einem dampfenden Topf neben mich ans Waschbecken und tauchte die blanchierten Zuckerschoten ins Eiswasser. »Mailbox.«

»Noch vier Essen mehr«, rief Eva durch die Tür. »Hoffentlich sagen noch welche ab, sonst sind wir überbucht. Was habt ihr heute als Amuse-Bouche?«

»Kichererbsen-Tartelette mit Avocadocreme, Portulak, roh gehobeltem Spargel und Hirschschinken.«

Ich fischte mein Handy aus der Hosentasche und drückte auf Eckis Nummer. Ich brauchte ihn jetzt dringend hier, aber er war nicht erreichbar.

Verdammt! Mehr Zeit, mich aufzuregen, blieb nicht, hier musste es vorangehen. Gerade mal zwei Nachtische und die Gemüse waren vorbereitet.

»Arîn, fang bei den Vorspeisen mit dem rohen Spargel an! Dem tut es gut, eine Zeit in der Marinade zu liegen.«

»Als ob ich das nicht wüsste!«

Ich kümmerte mich um das Amuse-Bouche und die Schokoladenmousse. Zwischen Speise- und Kühlkammern hin und her laufen, alle Zutaten besorgen. Schokolade, Eier, Zucker, Olivenöl, Avocado, Zitrone, Crème fraîche.

»Wo ist die Pfeffermühle?«

Arîn reichte sie mir. »Komisch, dass der mir die ganze Eisenbahn schenkt …«

»Ein großes Geschenk. Wahrscheinlich ist die wirklich wertvoll.« Eier trennen, Eischnee schlagen, Schokolade schmelzen.

»Ich meine, er kann doch nicht verlangen, dass ich mir die Eisenbahn in mein Acht-Quadratmeter-Zimmer stelle. Ich habe nie so getan, als ob ich die Anlage gut finde. Olivenöl!«

Ich schob ihr die Flasche hin. »Brauch ich sofort wieder!« Eigelb schlagen, Zucker und geschmolzene Schokolade dazu, dann das Olivenöl, sehr fein, wohl dosiert. »Er hat dich gern gehabt, deshalb hat er dir die Eisenbahn geschenkt.« Eischnee unterheben, in kleine Glasschalen füllen, ab in die Kühlung. »Wo ist der hohe Rührbecher?«

Arîn fischte ihn aus der heißen Spülmaschine und warf ihn mir zu.

»Aber die Tochter ist doch komisch, oder? Sie hasst ihn noch, obwohl er jetzt tot ist.«

»Hassen? Meinst du wirklich? Bei den Fotos hat sie in schönen Erinnerungen geschwelgt.« Über dem Rührbecher höhlte ich die Avocados aus, schnell Zitronensaft drüber, damit das Avocadogrün nicht grau wurde. »Hat er mal mit dir über seine Frau gesprochen?«

»Nur, dass sie gestorben ist, als Sabine siebzehn war.«

»Da kann sie noch nicht alt gewesen sein. War sie krank?« Ich pürierte Avocado mit Crème fraîche, würzte mit wenig Knoblauch, Salz und Pfeffer und füllte die Masse in eine Spritztülle.

»Keine Ahnung. Wie viel Geld, schätzt du, bringt die Eisenbahn?« Arîn schlängelte sich mit einem Topf hart gekochter Eier an mir vorbei zur Spüle.

»Nicht mein Metier. Wenn er dir Kochmesser geschenkt hätte, könnte ich dir sofort sagen, was die wert sind.« Ich sauste in die Vorratskammer, holte die Tarteletten, warf die Schneidemaschine für den Hirschschinken an. Hauchdünne Scheibchen nur, sonst war der Geschmack zu dominant. »Ist der rohe Spargel fertig?«

»So gut wie. Ich muss nur doch die Walnüsse rösten, dann mache ich mich an das Soufflé. Oh, sorry!« Ihr Handy klingelte. »Ich mach ganz schnell«, versprach sie.

Für Privatgespräche war jetzt wirklich keine Zeit.

»Es geht los! Fünfmal Amuse-Bouche«, rief Eva durch die Tür. »Ist Ecki immer noch nicht da?«

»Freilich bin ich da!« Gut gelaunt wehte Ecki in die Küche, verschwand sofort in dem schmalen Raum, in dem unsere Spinde standen, und kam schnell in Kochklamotten zurück. »Erst Küche, später fliegender Wechsel zum Service. Oder was meinst, Kathi?«, fragte er beim Händewaschen. Zum Schluss band er sich sein Piratentuch um den Kopf.

»Mach mit Arîn den Gardemanger-Posten, dann sehen wir weiter.« Ich griff mir den Spritzbeutel, füllte Avocadocreme in die Tarteletten. Keine Zeit, den Ärger auf Ecki noch mal hochkochen zu lassen.

»Kannst gleich die nächsten sechs machen«, meldete Eva beim Abholen.

»Bist schlecht gelaunt?«, flüsterte mir Ecki beim Begrüßungskuss ins Ohr.

»Du bist spät dran!«

»Geh her, ich bin genau richtig!« Er klemmte den Torchon an der Schürze fest. »Arîn, womit soll ich anfangen? Arîn?«

Ich sah, dass sie sich zu den Kühlkammern verzogen hatte und immer noch telefonierte.

»Mach Schluss, Arîn«, befahl ich.

Sie nickte und kam zurück. »Das war Minka. Sie ist krank.«

»Verdammt«, fluchte ich.

»Was Ernstes?«, fragte Ecki.

»Die Kotzerei«, antwortete Arîn. »Ihr ist was furchtbar übel aufgestoßen.«

»Noch mal vier Amuse-Bouches!« Eva packte sich die vorbereiteten Tellerchen auf den Arm. »Als Vorspeise zweimal Zuckerschoten, viermal Carpaccio, einmal Suppe. Als Hauptgang viermal Thunfisch, dreimal Schwarzwälder Schinken, einmal ohne Hollandaise, nur mit zerlassener Butter.«

»Minka ist krank«, informierte ich sie, bevor ich für alle laut ihre Bestellung wiederholte.

»Auch noch den Spül! Als ob wir heut nicht genug zu tun hätten«, stöhnte Eva. »Immer kommt es knüppeldick. Also dann: Packen wir's an!«

»Yes, we can«, krähte Arîn.

»Verrücktes Huhn!«, lachte Ecki. »Geh her und sag, was ich machen soll.«

Der Wecker klingelte. Meine Bavaroise! Schnell noch die nächsten Amuse-Bouches und dann ab zum Kühlschrank. Fingerprobe bei der Bayerischen Creme, höchste Zeit, die Sahne unterzuheben. Gesagt, getan. Jetzt noch den Teig für die Marzipansoufflés.

»Arîn, was ist mit dem Rhabarber-Berberitzen-Kompott?« Testen. »Noch was Zucker?« Dann Wechsel auf den Fleisch- und Fischposten.

Ab an den Herd! Zischende Gasflammen, Pfannen, schnell hin und her geschoben, der Teig für die Kratzede in Windeseile gerührt, den Thunfisch à point, die Spargel im Wasser, die Prise Zucker, den Stich Butter nicht vergessen.

Eva: »Zweimal Lamm, einmal Carpaccio ohne Walnüsse.«

Ich: »Verstanden, Arîn?«

Die letzten Amuse-Bouches, fünf für die Eschbachs.

Eva: »Beste Grüße von Herrn Eschbach, kommst du noch an seinen Tisch?«

Ich: »Wenn ich hier wegkomme« und: »Hast du das, Ecki?«

Slalom zwischen Herd und Pass, Karambolagen am Kühlschrank.

Arîn und Ecki: »Pass doch auf!«

Wieder Fisch, die Pfanne zu heiß, schnell neue Butter.

Eva: »Wo sind die Kratzede?«

Ein Sprint zum Pass, die Pfanne glühend, egal. Kaltes Wasser auf den Brandfleck, keine Zeit für Schmerz, pures Adrenalin, weiter ging's.

Fisch, Fisch, Lamm, Lamm. Ran an die Schneidemaschine, der Schwarzwälder Schinken hauchdünn.

Arîn: »Dein Blätterteig!«

Dampf aus dem Ofen, gerade noch gerettet.

Ecki: »Die Vorspeisen sind durch, ich geh in den Service.«

Arîn und ich unisono: »Erst das Geschirr!«

Lärm, Hitze, Dampf, Kälte, Tempo, Schweiß, alles egal, überall Highspeed.

Eva: »Dreimal Sorbet, zweimal Bavaroise.«

Licht am Ende des langen Tunnels. Nein, nein, noch zweimal den Schwarzwälder, einmal den Fisch.

»Arîn, mach du Nachtisch!«

Chaos am Pass, aufgetürmtes Geschirr, kein Platz zum Anrichten. Lautes Fluchen bei Küche und Service. Ecki in Hochform, bringt die Spülmaschine auf Touren, ein Held der Arbeit.

Eva: »Hauptgänge durch, fünfmal Rhabarber, zweimal den Käse.«

Jetzt endlich: das Ende in Sicht.

 

Eine Stunde später waren wir durch. Die letzten Nachtische draußen, die Gäste beim Kaffee, die Küche ein Schlachtfeld. Arîn und ich lehnten erschöpft am Pass und teilten uns eine Flasche Wasser. Als diese leer war, schleppte Arîn sich zur Anrichte und ich mich zum Herd. Mit langen, langsamen Bewegungen wischten wir über die Arbeitsflächen, bespannten die Resteschüsseln mit Folie, trugen sie, ohne zu hetzen, in die Kühlung. Abwechselnd schlurften wir zum Geschirrspüler, zogen das saubere Geschirr heraus, ließen es abtropfen, füllten den zweiten Korb, schoben ihn in die Maschine, drückten den Startknopf. Das wiederholten wir so lange, bis kein schmutziges Geschirr mehr da war. Dann stellten wir die Maschine aus, und die Küche verwandelte sich in einen Ort der Stille. Die akkurat gestapelten Teller, die gewienerten Arbeitsflächen, die blinkenden Schaumschläger, die geschrubbten Gasflammen. Alles strahlte in ruhiger Ordnung und tat so, als hätte es die Hektik des Abends nicht gegeben.

Arîn und ich lehnten wieder am Pass, teilten uns eine zweite Flasche Wasser und betrachteten die Küche mit schläfrigem Wohlgefallen.

»Kannst du deine Cousine Gülbahar fragen, ob sie für Minka einspringen kann, falls die noch krank ist?«, fragte ich gähnend, weil ich schon an den nächsten Tag dachte.

»Klar!« Arîn gab mir das Wasser zurück. »Aber ich denk nicht, dass das nötig ist. Minka ist morgen bestimmt wieder fit.«

»War hart heute, aber du warst verdammt gut«, lobte ich Arîn und blätterte die Post durch, die Eva mir hingelegt hatte. »Mal sehen, wie lange es noch dauert, bis du flügge bist und irgendwo anders kochen willst als in der ›Weißen Lilie‹.«

»So schnell wirst du mich nicht los.«

»Guck mal, wer uns schreibt«, sagte ich und reichte ihr die Postkarte von Holger weiter. »Er verlässt das ›Louis Carton‹, bleibt aber in Paris, hat eine Stelle als Gardemanger im ›La Coupole‹. Mannomann, da traut er sich jetzt aber was zu! Die Brigade im ›La Coupole‹, das sind bestimmt zwanzig Köche.«

»Er schreibt auch, dass er uns und die ›Weiße Lilie‹ vermisst und uns in seinem nächsten Urlaub besuchen wird.« Arîn reichte mir die Karte zurück. »Ist bestimmt verdammt hart, da zu arbeiten. Und so weit weg von zu Hause.«

»Klar ist es hart. Aber wenn du in unserem Job etwas werden willst, musst du in ein paar renommierten Häusern geschuftet haben. Hat nicht nur Nachteile. Man lernt viel, trifft die unterschiedlichsten Kollegen und kommt herum in der Welt. Du willst doch auch nach New York, London und Sydney, oder?«

Arîn zuckte leicht mit den Schultern. Ein heikles Thema, ich hätte es so spät nicht mehr anschneiden sollen. In ihrer Phantasie hatte Arîn schon überall gekocht, und der Traum von ihrem kurdischen Restaurant war wahr. Aber in der Realität traute sie sich den Sprung weg von zu Hause noch nicht zu. Da war sie in einem lähmenden Zwiespalt gefangen.

Manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich ihr mehr zutraute als sie sich selbst. Aber auch Holger hatte sehr lange gebraucht, bevor er sich aus unserer kleinen, familiären Brigade hinaus in die große Welt gewagt hatte.

»Du hast Los Angeles vergessen«, ergänzte Arîn trotzig. »Da will ich unbedingt mal hin.«

»Na also. Aber jetzt machen wir erst mal Feierabend.«

 

Ecki fuhr den Wagen nach Hause. Kurz vor der Mülheimer Brücke setzte ein sanfter Sommerregen ein. Ich lehnte den müden Kopf an die leicht geöffnete Fensterscheibe und schloss die Augen. Das Auto holperte über einen Poller und rüttelte mich kurz durch. In meinem Kopf rauschte der Tag vorbei. Am Auenweg kitzelten erneut die Blüten des Holunders in der Nase, der durch den Regen noch eine Spur intensiver roch. Dieser Duft und Eckis Heu mischten sich mit den Fotos aus Mombauers Album, und ich dachte an Urlaub und daran, wie lange ich schon keinen mehr gehabt hatte. Zwei oder drei Jahre? Die Reisen ins Badische mochte ich nicht zählen, Familienbesuche waren für mich kein Vergnügen und kein bisschen erholsam.

Vielleicht konnten Ecki und ich Anfang September, bevor das Wintergeschäft begann, die »Weiße Lilie« eine Woche schließen und eine Fahrradtour durch die Wachau machen? Mal hören, was Ecki dazu sagte. Aber nicht jetzt. Heute wollte ich über gar nichts mehr reden. Eigentlich wollte ich nur noch schlafen, als wir in der Kasemattenstraße die Treppen hochstolperten. Aber Ecki hatte andere Pläne.

Er komplimentierte mich in mein Zimmer, wo das Bett frisch bezogen war und auf dem Fensterbrett ein Strauß weißer Lilien stand, und verschwand in der Küche. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Ecki jemals mein Bett bezogen hatte. Und wann hatte er mir zum letzten Mal Blumen geschenkt?

Die Flasche in der einen, zwei Gläser in der anderen Hand, kam Ecki aus der Küche zurück.

»Die Nacht ist jung und der Champagner kühl. Ein Glasl, Kathi, und du fühlst dich wie im Himmel.«

»Planst du die nächste große Reise, oder warum willst du Schönwetter machen?«, fragte ich alarmiert.

»Geh, Kathi, was bist immer so misstrauisch?«

Ecki ließ den Korken knallen, deutete eine Verbeugung an und kam mit den Gläsern auf mich zu. Mhmm, dieser Sommerduft, dieses schiefe Lächeln, diese feurigen Augen, dieser prickelnde Champagner. »Only trust your heart«, sang Diana Krall, Ecki kannte meine Lieblingsmusik. Er beherrschte die Kunst der Verführung.

»Mir ist nach Nachtisch«, gurrte er und nahm mir das Glas aus der Hand. »Pflaume und Pfirsiche.« Schon drängte er mich mit Küssen zum Bett, öffnete fiebrig die Blusenknöpfe, fuhr mit den Händen unter den BH, befreite meine Brüste, leckte mit spitzer Zunge meine Warzen und schob gleichzeitig meine Hose nach unten. Meine Müdigkeit löste sich in Wohlgefallen auf, und ich beteiligte mich elektrisiert an diesem immer wieder neuen Ausziehspiel. Kissen und Plumeaus flogen zur Seite, das nackte Laken, mehr brauchten wir nicht. Eckis Zunge mischte den Schweiß meiner Haut mit winzigen Schlucken Champagner, im Bauchnabel, auf den Brustwarzen, überall. Ich krallte meine Hände in seine Pobacken und drängte ihn zum Zustoßen. Es folgten Variationen. Mal welche, die er, mal welche, die ich mochte, mit denen wir unsere Lust weiter ankurbelten, bis sie sich in meinem Fall durch einen gellenden Schrei und bei Ecki mit einem gewaltigen Stöhnen entlud.

Wohlig erschöpft, die Füße in die Luft gereckt, lagen wir beide danach bäuchlings auf dem Bett und tranken den restlichen Champagner. Glück und Fröhlichkeit lagen in der Luft.

»Champagner und Sex. Gleich können wir zwei wunderbar schlafen«, schnurrte Ecki und leerte sein Glas.

Leider hatten Sex und Champagner nur bei ihm diese einschläfernde Wirkung, in meinem Kopf klopfte das Pachtproblem wieder an. War Sabine Mombauer eine Frau, mit der ich handelseinig wurde? Sie wirkte so verbittert und verbiestert. Typen wie sie hatten es schwer und machten alles schwer. Mein Eindruck war, dass sie mit allem, was ihren Vater betraf, nichts zu tun haben wollte.

Wenn sie also das Haus geerbt hatte, wovon ich ausging, so wollte sie damit keine Arbeit haben. Was, wenn ich ihr Arbeit abnehmen würde? Zum Beispiel indem ich die Wohnung des alten Mombauer mietete und die Entrümpelung gleich mit übernehmen würde?

»Ecki?« Ich drehte mich zu ihm um und rüttelte ihn leicht an den Schultern. »Was hältst du davon, wenn wir zusammenziehen?«

»Geh, Kathi. Gib eine Ruh, ich möchte schlafen«, nuschelte er.

»Es sind drei Zimmer und eine große Wohnküche. Wir müssten nicht so aufeinanderglucken wie hier, wir hätten Platz, jeder hätte sein eigenes Zimmer …«

»Ich brauch kein eigenes Zimmer, ich brauch meinen Schlaf …«

»Aber grundsätzlich fändest du es auch schön, wenn wir zwei zusammenziehen?«

Ecki brummte etwas, das ich der Einfachheit halber als »Ja« interpretierte, und drehte sich auf die andere Seite.

Die Vorstellung, mit Ecki Mombauers Wohnung zu beziehen, gefiel mir immer besser. Morgen, wenn er wach und fit war, würde ich mit ihm ausführlich darüber reden. Aber die Tochter bereitete mir Bauchschmerzen. Vielleicht sollte ich zunächst mit einem Anwalt sprechen? Oder konnte man meine Verhandlung mit Mombauer als mündlichen Vertrag hindrehen? Einer von Eschbachs Freunden war Anwalt.

Siedend heiß fiel mir ein, dass ich die Eschbachs heute Abend komplett vergessen hatte. Die fühlten sich immer besonders gebauchpinselt, wenn ich nach dem Essen noch ein paar Worte mit ihnen wechselte. Der Tag war einfach zu anstrengend gewesen, und dann auch noch Minka krank. Noch einmal stupste ich Ecki an.

»Was, denkst du, ist Minka so übel aufgestoßen?«

Mit Mühe drehte er sich zu mir und öffnete noch einmal die Augen.

»Was Minka so übel aufgestoßen ist, frag ich mich.«

»Geh, Kathi, gib endlich eine Ruh! Wer will schon wirklich wissen, was anderen auf den Magen schlägt?«, grummelte er und drehte sich wieder auf die andere Seite.

Stimmt. Ich wollte es eigentlich nicht wirklich wissen. Ich wollte doch nur das Denken abstellen, die Sorgen vertreiben, endlich Schlaf finden. Ich lauschte dem sanften Sommerregen und spürte den warmen Atem von Ecki neben mir.

»Na, komm schon, Schlaf! Nimm mich mit auf die andere Seite …«