ZEHNTES KAPITEL
Eine Nacht so schwarz vor Schmerz

- 1 -

Tenochtitlan, am 15. Mai im 1520. Jahr des Herrn. Vor meinem Kerkerfenster im zweiten Obergeschoss des Palastes dämmert der Abend. Und doch schwebt die steinerne Kanonenkugel wieder hoch oben am Himmel – ich sehe sie vor mir, sowie ich meine Augen schließe. Sie sieht wirklich fast so glänzend und mächtig wie die Sonne aus – und im nächsten Moment beginnt sie zu stürzen, ein wirbelnder Steinbrocken, der beim Aufprall auf die Erde in Tausend Krumen zerstieben wird …

Draußen auf dem Platz werden unterdessen immer noch weitere Pfähle aufgerichtet – mittlerweile müssen es schon etliche Hundert sein. Es ist ein unheimlicher, höchst beunruhigender Anblick: Wozu sollen diese vielen Pfähle gut sein, wenn nicht dazu, eben so viele Opfer daran festzubinden? Und wer könnten diese Opfer sein – wenn nicht wir, die verhassten Fremden? Seit wir nach Tenochtitlan gekommen sind, hat sich den Azteken niemals eine bessere Gelegenheit geboten, uns wieder loszuwerden. Unser Herr muss mittlerweile schon weit unten im Tiefland sein, im Land der Totonaken – und mit ihm zwei Drittel unserer Männer und die Hälfte unserer tlaxcaltekischen Kämpfer!

Es ist wahr, Cortés selbst hat Montezuma schon vor Monaten erlaubt, dieses Götzenfest zu feiern – natürlich ohne Menschenopfer und ohne die Götzenbilder wieder aus ihrem Versteck hervorzuholen. Doch damals wusste er ja noch nicht, dass er just zu dieser Zeit würde ins Tiefland marschieren müssen. Er, der sonst immer alles vorausberechnet hat – diese Katastrophe hat nicht einmal er vorhergesehen.

Aber der Reihe nach! Zunächst einmal zwang Fray Geronimo die Götzenpriester, die Große Pyramide mitsamt beiden Tempeln zu säubern und strahlend weiß zu tünchen. Jesus Mendoza zimmerte einen Altar und ein fast hundert Fuß hohes Holzkreuz. Fray Bartolomé steuerte eine anmutig lächelnde Muttergottes aus seinen scheinbar unerschöpflichen Vorräten bei. Etwa zwei Wochen nachdem die Götzen aus ihren Tempeln vertrieben worden waren, weihten unsere Patres die Marienkapelle auf der Pyramide mit einer Heiligen Messe ein. Am selben Tag erneuerte Montezuma sein Versprechen, sich zu Ostern taufen zu lassen, und gelobte überdies, dass seine Priester in der ganzen Stadt fortan auf Menschenopfer verzichten würden.

Zu jener Zeit war es auch, dass ich Carlita vorschlug, sich nicht länger bei den tlaxcaltekischen Sklavinnen zu verstecken. »Montezuma kann dir nichts mehr anhaben«, flüsterte ich in unserer Hütte auf sie ein. »Unser Herr ist jetzt auch der Oberste Richter der Stadt. Wenn du zustimmst, bitte ich ihn noch heute, dich wie Marina im Palast leben zu lassen. Vor allem aber will ich, dass er dich freilässt! Du sollst nicht länger eine Sklavin sein, Carlita«, flüsterte ich in ihr Ohr. »Ich liebe dich und nichts soll uns mehr trennen dürfen!«

Sie schaute mich ernst, ja feierlich an. »Ich liebe dich auch, Orte«, sagte sie. »Aber für uns gibt es kein gemeinsames Leben – und das weißt du so gut wie ich! Ich kann außerhalb meiner Welt nicht leben – so wenig wie du!« Sie küsste mich zärtlich, und als ich später noch einmal auf meinen Vorschlag zurückkommen wollte, verschloss sie meinen Mund mit ihrer Hand. »Sprich nicht mehr davon«, sagte sie, »es tut mir zu sehr weh. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, Geliebter – also lass uns die Stunden, die wir noch zusammen sein können, lieber mit schönen Dingen verbringen.«

Damit fingen wir auch gleich an, und unsere Umarmungen wurden immer leidenschaftlicher, je mehr Verzweiflung sich in unsere Zärtlichkeit mischte. In den folgenden Wochen blieb um uns herum scheinbar alles still und friedlich – aber wir beide spürten, dass es zu Ende ging. Wir spürten es jedes Mal noch etwas deutlicher, wenn wir uns wieder in unserer Hütte trafen. Doch Carlita und ich sprachen nie wieder über unseren Schmerz, unsere Verzweiflung, das gemeinsame Leben, das uns nicht vergönnt ist. »Eure Herzen sind verbunden«, hatte Marina schon im Land der Totonaken zu uns gesagt. Nur unsere Umarmungen wurden immer fiebriger, unsere Küsse immer gieriger. Wir umklammerten einander, als ob wir uns so vor dem Absturz retten könnten.

Und dann Anfang März kam der Tag, an dem Montezuma unserem Herr einige bunt bemalte Leintücher zeigte. Er hatte eine ganze Truhe voll davon und er holte die Tücher eines nach dem anderen hervor und breitete sie vor Cortés aus. Seine Späher waren ausgezeichnete Maler. Sie hatten alles so genau wiedergegeben, dass wir insgesamt achtzehn Schiffe unterscheiden konnten – Karavellen und Frachtschiffe, Briggs und einige leichte Brigantinen, alle mit der spanischen Flagge geschmückt. Es war eine schreckenerregend große Flotte – in der halbmondförmig geschwungenen Bucht, in der sie vor Anker gegangen war, wimmelte es vor Schiffen, Booten und bärtigen Männern. Und bei der Bucht handelte es sich offenkundig um Puerto Deseado unten im Tiefland der Maya.

Auch die Gestalt und die Gesichtszüge des Anführers und einiger seiner Hauptleute hatten Montezumas Späher mit bewundernswerter Kunstfertigkeit wiedergegeben. »Narváez!«, presste Cortés hervor, nachdem er das Porträt des Anführers einige Zeit angestarrt hatte. »Dieser Mann heißt Pànfilo de Narváez«, wandte er sich an Montezuma. »Wann ist er eingetroffen?«

Montezuma überging seine Frage mit einer Handbewegung, als ob er Fliegen beiseitewedeln wollte. Er hatte es so eingerichtet, dass bei diesem Gespräch außer mir kein Zeuge zugegen war. »Ihr solltet lieber fragen, warum Narváez gekommen ist!«, sagte er und sein Gesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an. »Ihr habt mich getäuscht, Don Hernando, Ihr habt mich von Anfang an belogen!« Er schüttelte missbilligend den Kopf und das Kolibrigefieder auf seinem Haupt wogte hin und her. »Ihr habt behauptet, dass Ihr der Statthalter Eures Königs wäret – aber Narváez hat mir versichert, dass Ihr ein gewöhnlicher Verbrecher seid! Er ist ausgesandt worden, um Euch zu verhaften, damit Ihr zu Hause Eure gerechte Strafe erhaltet. Wenn Ihr Euch aber sträubt, so soll er Euch und jeden Eurer Männer, der ihm Widerstand leistet, an Ort und Stelle töten.«

Cortés starrte ihn an wie vom Donner gerührt. Für einen Moment hatte es ihm wahrhaftig die Sprache verschlagen. Doch schon nach kürzester Zeit hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Er hat es Euch also versichert«, wiederholte er in jenem kalten, scheinbar gleichgültigen Tonfall. »Ihr habt hinter meinem Rücken mit Narváez verhandelt. Ihr wisst doch, dass das Verrat ist, Montezuma – Verrat an Eurem Herrn, dem König von Spanien, dem Ihr den Vasalleneid geleistet habt?«

»Dieser Eid ist ungültig, Don Hernando«, entgegnete Montezuma. »Euer König hat Euch niemals beauftragt – ja, er weiß nicht einmal, dass es Euch überhaupt gibt!« Er schüttelte wieder den Kopf und drohte unserem Herrn sogar mit dem Zeigefinger, wobei sich ein düsteres Lächeln über sein Gesicht verbreitete. »Ihr beklagt Euch, dass ich Euch nicht gleich eingeweiht habe, als ich von der Ankunft dieser schwimmenden Inseln erfuhr? Meint Ihr etwa, ich wüsste nicht, was Ihr mir alles verschwiegen habt? Ihr habt eine Ehefrau auf jener Insel Kuba – und teilt hier mit Eurer Marina das Bett! Ist das nicht Sünde nach Eurem Glauben, mein brüderlicher Freund? Und Euer tätowierter Priester, der in Eurer Marienkapelle auf der Großen Pyramide predigt – hat er nicht jahrelang bei den Maya in Sünde gelebt? Er hat dort eine ungetaufte Frau geheiratet und mit ihr Kinder gezeugt. Unzählige Male hat er an Zeremonien teilgenommen, bei denen Eurer Ansicht nach der Teufel angebetet wird! Und nun lasst Ihr ihn in Eurer Kapelle predigen, dass ein jeder mit Höllenqualen bestraft wird, der gerade so gelebt und gesündigt hat wie er selbst? Wie könnt Ihr erwarten, Don Hernando, dass ich einen Gott verehre, dessen Botschaft von Lügnern und Betrügern verkündet wird?«

Cortés erhob sich vom Thron und begann, im Saal auf und ab zu gehen. Sein Gesicht war grau und von kalter Wut verzerrt. »Seid Ihr fertig mit Eurer Aufzählung von Irrtümern und Verdrehungen?«, fragte er und blieb vor Montezuma stehen, die Brust gewölbt und das Kinn hervorgereckt.

»Noch nicht ganz.« Der Aztekenherrscher richtete seine Augen auf mich. »Auch du warst nicht ehrlich zu mir, aber ich vergebe dir, Orteguilla«, sagte er. »Du hast nur getan, was dein Herr dir befohlen hat. Obwohl es mich kränkt, dass auch du mich für dumm und blind zu halten scheinst: Natürlich weiß ich seit Langem, dass du eine kleine Geliebte hast, die sich als tlaxcaltekische Sklavin ausgibt – und dass es in Wirklichkeit das Mädchen Carapitzli ist, das damals zu den Ringelblumen-Verschwörerinnen gehörte! Anfangs glaubte ich«, wandte er sich wieder an Cortés, »dass Ihr den alten Xochiquetal-Kult wiederbeleben und die Kleine als Hohepriesterin einsetzen wolltet. Aber auch dass Ihr der wiedergekehrte Quetzalcoatl wäret, stellte sich schließlich als Lüge heraus – und so ist von all Eurer scheinbaren Herrlichkeit nicht viel übrig geblieben, mein falscher Bruder. Meine Zauberer vermochten gegen Euch nichts auszurichten, und Eure Waffen sind den unseren überlegen, aber das ist auch schon alles. Wenn euresgleichen letzten Endes den Sieg davontragen sollten, dann allein aus diesem Grund: weil ihr im Morden besser seid als wir.«

Montezuma erhob sich gleichfalls vom Thron seines Vaters, legte seine Hände wie zum Gebet aufeinander und streckte sie Cortés entgegen. »Und nun schlagt mich in Fesseln oder tötet mich oder was immer Ihr glaubt, mit mir beginnen zu müssen. An Eurem Schicksal wird es nichts mehr ändern, mein falscher Bruder – Narváez ist mit Tausend Bewaffneten auf dem Weg hierher.«

- 2 -

Nach diesen schockierenden Eröffnungen beriet sich Cortés lange mit seinen Vertrauten und einigen weiteren Hauptleuten aus seinem engeren Kreis. Sie beschlossen, als Erstes einen zuverlässigen Kundschafter ins Tiefland zu schicken, um herauszufinden, was dort unten tatsächlich vorging. Tapia wurde ausgewählt und der »Würdevolle« legte die ganze Strecke bis Vera Cruz in dreieinhalb Tagen zurück. Tagsüber marschierte er, nachts ließ er sich in einer Hängematte von tlaxcaltekischen Dienern tragen. Als er nach neun Tagen wieder in Tenochtitlan eintraf, war er so erschöpft, dass er nur gerade noch Bericht erstatten konnte, ehe er für zwei Tage und Nächte im Schlaf versank.

Was er in Erfahrung gebracht hatte, war so beunruhigend, dass bei uns niemand mehr an Schlaf auch nur denken konnte. Narváez hatte sich tatsächlich mit seinem gewaltigen Heer in Bewegung gesetzt und näherte sich von Süden her dem Land der Totonaken. Als Tapia in Vera Cruz eingetroffen war, hatte Sandoval erst wenige Tage vorher durch totonakische Späher von der Ankunft der Flotte erfahren, die Gouverneur Velazquez ausgesandt hatte. Narváez’ Streitmacht war offenbar bestens ausgerüstet – mit zahlreichen Feldgeschützen, wenigstens dreißig Pferden und einer ganzen Garnison von Armbrustschützen.

Sie beratschlagten lange, was sie gegen Narváez unternehmen könnten. »Wir müssen uns irgendwie mit ihm verständigen«, sagte Alvarado – und ich erschrak, als ich die Angst in seinem Gesicht sah. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass der »Durchtriebene« sich so kleinmütig zeigen könnte. Und doch war es so, das spürte ich – und er war keineswegs der Einzige, der den Mut verlor.

»Ich kenne Narváez«, sagte unser Herr. »Die einzige Sprache, die er versteht, ist das Schwert.« Er saß auf dem Thron, das Kinn vorgereckt. Auf Marinas Rat hin hatte er den Aztekenherrscher nicht bei den anderen Vasallenfürsten im Palastkeller eingekerkert, sondern in Montezumas Privatgemächern im dritten Obergeschoss gefangen gesetzt. Doch er hatte angeordnet, dass Montezumas Diener und Ratgeber nicht mehr zu ihm vorgelassen werden durften, so wenig wie seine Priester und Offiziere – vor allem nicht sein Bruder Cuitláhuac. »Und ich kenne auch einige von Pànfilos sogenannten Hauptleuten«, fuhr er fort. »Diese Männer haben wenig Kampferfahrung und sehr viel Hunger auf Gold.«

Er befahl, ein Pferd mit Säcken voll kleiner Goldstücke zu beladen und vier Bataillone von jeweils fünfzig Mann zusammenzustellen. Auch zwei Kanonen und die Hälfte unserer tlaxcaltekischen Verbündeten würde er mitnehmen. Außerdem würde er einen Boten nach Vera Cruz schicken, damit Sandoval mit seinen waffenfähigen Männern fünfundzwanzig Meilen vor Cempoallan zu ihm stieß.

Unter dem Kommando von Alvarado sollten die restlichen knapp Hundert unserer Männer hier im Palast bleiben und unsere Stellung verteidigen. »Mit einem Keller voll königlicher Faustpfänder müsstest sogar du das schaffen, Pedro«, scherzte unser Herr. »Aber schau nicht so düster, sonst untergräbst du die Moral. Sieh dir nur Orteguilla an!«, fügte er hinzu und zeigte anklagend auf mich. »Er macht ein Gesicht, als ob gleich die Sonne vom Himmel fallen würde!«

Er trat zu mir und ergriff mein Handgelenk. »Sage uns, du Ergründer der Herzen«, befahl er mir, »wird es mir gelingen, Narváez zu besiegen – auch wenn er viermal so viele Soldaten unter Waffen hat wie ich?«

Ich reckte mein Kinn vor und starrte durch ihn hindurch. »Ihr werdet ihn besiegen, Herr«, antwortete ich. Aber was danach kommt, könnt auch Ihr nicht abwenden, setzte ich in Gedanken hinzu.

Unser Herr ließ mein Handgelenk los. »Du bleibst hier bei Alvarado!«, befahl er mir. »Kümmere dich um Montezuma, achte darauf, dass er keinerlei Boten aussendet oder empfängt!« Er legte mir seinen Arm um die Schultern und zog mich ein paar Schritte beiseite. »Und pass auf«, fügt er mit gedämpfter Stimme hinzu, »dass Don Pedro nichts Unbedachtes anstellt!«

Ich schluckte und nickte. Wie um Himmels willen sollte ich den »Durchtriebenen« daran hindern zu tun, wonach ihm gerade der Sinn stand? »Ja, Herr«, murmelte ich, »ich werde alles so ausführen, wie Ihr es wünscht.«

Am 3. Mai brach unser Herr mit seiner Streitmacht auf. Sie zogen über den breiten Dammweg in Richtung Süden und vom First der Großen Pyramide aus sah ich den lang gezogenen Heerwurm noch bis zur Höhe von Coyoacan in der Sonne schimmern. Dann verlor ich sie aus den Augen – Cortés und Fray Bartolomé, Diego, den »Würdevollen« und viele andere, die mir trotz allem ans Herz gewachsen waren. Auch Marina zog mit ihnen fort, ebenso die beiden Franciscos, die unser Herr gegen Alvarados Rat eingeweiht hatte: Gerade weil sie Velazquez so lange die Treue gehalten hatten, würde es Narváez’ Männer beeindrucken, dass Morla und Montejo nun fest auf seiner Seite standen. Das hatte zumindest Cortés verkündet, und wie jedes seiner Worte hatte es mich mit Zuversicht erfüllt, solange unser Herr noch bei uns war. Doch kaum war er aus der Stadt, da begann auch in mir die Angst emporzukriechen.

Fast zwei Wochen sind seitdem vergangen und Alvarado hat noch immer keine Nachricht von Cortés. Zumindest hat er das noch gestern Mittag behauptet, als wir alle beim Essen beisammensaßen. Da fragte ich ihn, ob er Neuigkeiten von der Küste habe, und Alvarado schüttelte den Kopf und starrte dann nur noch schweigend vor sich auf den Tisch.

Wie seit Tagen dröhnten die Trommeln vom Platz zu uns herein. Dazu die Axt- und Hammerschläge, mit denen sie da draußen die Pfähle anspitzten und in kreisrunde Aussparungen im Boden trieben. Auch auf der Pyramide hatten die Götzenpriester mit ihren Muscheltrompeten wieder das Regiment übernommen. Schon vor Wochen hatte Montezuma unseren Herrn gefragt, ob sie für das große Huitzilopochtli-Fest das Bildnis ihres wilden Kriegsgötzen noch einmal auf der Pyramide aufstellen dürften – nur für diesen einen Tag. Doch Cortés hatte abgelehnt und Montezuma überdies daran erinnert, dass er keinerlei Menschenopfer dulden werde.

»Vielleicht habt Ihr ja doch Nachricht von unserem Herrn, Don Pedro«, beharrte ich unklugerweise, »und wollt uns nur nicht beunruhigen?«

Alvarado hob ruckartig seinen Kopf und starrte mich an. In seinem Gesicht konnte ich keine Spur seiner alten Verschlagenheit mehr entdecken, nur noch dumpfe Angst und dunklen Zorn. »Du bezichtigst mich der Lüge, Junge?«, fuhr er mich an. »Wärst du ein Mann, ich würde dir mit dem Schwert dein Schandmaul stopfen!«

Alle starrten mich an. Was sollte ich nur tun? Cortés hatte mir befohlen, auf Alvarado mäßigend einzuwirken – und ich spürte nur zu genau, dass der »Durchtriebene« drauf und dran war, etwas ganz und gar Unbedachtes zu tun. Also konnte ich auch nicht einfach klein beigeben – selbst auf die Gefahr hin, dass er mich beschimpfen oder sogar zu Boden schlagen würde.

»Ich weiß so gut wie alle hier«, lenkte ich scheinbar ein, »dass Ihr nur versucht, Eure Pflicht zu erfüllen, Don Pedro. Aber ich weiß auch, dass es die vornehmste Pflicht eines Anführers ist, gerade in bedrängter Lage kaltblütig zu bleiben. Und darum bitte ich Euch von Herzen: Was auch immer Eure Angst Euch einflüstern mag – glaubt ihr kein Wort! Lasst Euch zu keinem Angriff hinreißen, der uns …«

Weiter kam ich nicht. Alvarado sprang auf und war mit wenigen Schritten bei mir. Er packte mich beim Handgelenk und zog mich hinaus auf den Flur. Zwei seiner Männer folgten uns. Einer von ihnen versetzte der Saaltür einen Tritt, dass sie krachend zuflog.

»Hör mir zu, Orteguilla!«, sagte Alvarado und sein Kinn und seine Wangen bebten. »Ich weiß, dass Cortés deine Ratschläge schätzt, aber darauf kommt es jetzt nicht an! Es steht vollkommen fest, dass die Teufelsjünger da draußen den Plan gefasst haben, uns alle ihren Satansgötzen zu opfern! Morgen Abend wollen sie ihr Götzenbild wieder auf die Pyramide schaffen – und das soll das Zeichen für ihre Krieger sein, unseren Palast anzuzünden und uns zu überwältigen, wenn wir ins Freie getaumelt kommen! Mich wollen sie an den Pfahl oben auf der Pyramide binden und alle anderen an die Pfähle auf dem Platz. Und dann wollen sie uns bei lebendigem Leib die Herzen aus der Brust reißen, einem nach dem anderen, bis keiner von uns mehr am Leben ist!«

Ich versuchte, mein Handgelenk freizubekommen, aber Alvarado hielt mich eisern fest. »Woher wollt Ihr das so genau wissen?«, fragte ich. »Doch nicht von den Tlaxcalteken?«

Unsere indianischen Verbündeten verbreiteten seit Tagen die wildesten Gerüchte, das wusste ich von Carlita. Seit Cortés davongezogen war, glaubten sie immer weniger, dass sie jemals wieder lebend aus der Stadt herauskommen würden. Andauernd erzählten sie neue Schauergeschichten, und jede von ihnen lief darauf hinaus, dass die Azteken uns abschlachten wollten.

Alvarado kniff die Augen zusammen und nickte. »Xicotencatl selbst hat mir alles erzählt«, sagte er. »Und er hat mir versichert, dass sie an unserer Seite kämpfen werden, wenn wir morgen …«

»Kämpfen?«, fiel ich ihm ins Wort. »Da draußen auf dem Platz werden sich morgen Zehntausende Azteken versammeln! Was wollt Ihr gegen die ausrichten – mit Hundert Mann?«

»Hundert von uns und Tausend Tlaxcalteken«, wandte er ein, und sein Kinn zitterte noch stärker. »Wir müssen es versuchen!«, stieß er hervor. »Wir können doch nicht einfach hier sitzen und warten, bis sie kommen, um uns das Herz herauszureißen!«

»Aber wer außer Xicotencatl sagt Euch denn, dass sie wirklich vorhaben, uns zu töten?«, rief ich aus. »Wenn sie den Palast anzünden, bringen sie doch Montezuma und die anderen Könige mit um! Außerdem wisst Ihr so gut wie ich, dass Xicotencatl die Azteken hasst und auch uns nicht über den Weg traut. Vielleicht hat er diese Geschichte ja erfunden, damit Cuitláhuacs Krieger und wir uns gegenseitig niedermachen?«

Alvarado schaute mich unsicher an, und einen Moment lang schien es mir möglich, dass er sich doch noch umbesinnen würde. Doch dann stieß er mich von sich, in die Arme seiner beiden Männer. »Sperrt ihn in seine Kammer«, befahl er, »und sorgt dafür, dass die beiden Juans – ihr wisst schon, die Blutsäufer – ihn abwechselnd bewachen. Aber sie sollen ihm kein Haar krümmen, verstanden? Außer natürlich, wenn er zu fliehen versucht.«

Sie schleppten mich hier hoch und verriegelten hinter mir die Tür. Das war gestern Mittag und seitdem sitze ich hier fest und die Angst kriecht in mir immer höher. Ich starre auf den Platz hinab und beobachte, wie die Azteken ihr grausiges Fest vorbereiten. Dann wieder setze ich mich auf die Steinbank unter dem Fenster und schreibe mit fliegenden Fingern eines dieser Blätter nach dem anderen voll. Als ob ich auf diese Weise irgendetwas aufhalten könnte! Ja, als ob auch nur ein einziges meiner kostbaren Blätter den morgigen Abend überstehen könnte, falls Xicotencatl recht hat und die Azteken wirklich unseren Palast in Brand stecken werden!

Meine letzten Gedanken aber, bevor ich an diesem Abend die Feder zur Seite lege, gelten Carlita und Cortés. Ach, meine Geliebte, wärest du jetzt bei mir! Ich hoffe so sehr, dass sie die bedrohlichen Vorzeichen rechtzeitig erkennt und sich in Sicherheit bringt. Schließlich kennt sie Geheimgänge und Verstecke, von denen außer ihr kaum jemand weiß.

Und unser Herr? Ich fühle, dass er am Leben und sogar guter Dinge ist. Er wird Narváez besiegen, und seine mächtigste Waffe werden nicht Stahlklingen oder Bleikugeln, sondern die Tränen des Sonnengottes sein.

Ich schließe meine Augen – und da erblicke ich wieder jene steinerne Kugel, die aus dem Himmel herabstürzt wie ein Unheil bringender Komet.

- 3 -

In der Nacht wälze ich mich auf meinem Lager, mal schlaflos grübelnd, dann wieder in bestürzenden Träumen. Draußen wummern die Trommeln, gellen die Knochenflöten. Erst in der Morgendämmerung wird es ruhiger und ich sinke in unruhigen Schlaf. Doch es ist immer noch nicht richtig hell, als ich durch heftiges Poltern schon wieder geweckt werde.

Ich fahre auf und blinzle schlaftrunken zur Tür. »Seid Ihr es, Herr?«, murmle ich, aber es ist nur einer von Alvarados Männern. Er bringt mir ein paar kalte Tortillas, einen Lederbecher und einen Krug Wasser. »Wo sind die Juans?«, frage ich ihn, noch immer nicht ganz wach. »Alvarado hat doch angeordnet, dass sie mich bewachen sollen – die Blutsäufer oder Raufbolde oder wie ihr sie nennt.«

Der Soldat schüttelt den Kopf. »Die werden nachher da draußen gebraucht«, knurrt er, schon auf dem Rückweg zur Tür. »Cortés hatte wieder mal den richtigen Riecher«, murmelt er vor sich hin. »Er hat sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht! Dumm nur, dass er uns hier sitzen gelassen hat.«

Mit einem Satz springe ich aus meiner Hängematte und renne hinter ihm her. »Was sagst du da?«, schreie ich. »Du elender Verräter!« Ich packe ihn von hinten bei den Schultern, aber er wirbelt herum und schleudert mich zu Boden. »Wie kannst du es wagen«, stoße ich hervor, »unseren Herrn zu schmähen?«

Der Soldat zuckt mit den Schultern. »Darauf kommt es jetzt nicht mehr an«, sagt er. »Wir haben keine Lebensmittel mehr und sie werden uns wohl auch keine mehr bringen. Gerade eben haben wir ein Dutzend unserer aztekischen Diener erhängt aufgefunden – und der Rest ist spurlos verschwunden. Alvarado hat Montezuma gefragt, ob er etwas von einem geplanten Aufstand weiß, aber der verdammte Oberhäuptling hat alles abgestritten. Daraufhin hat Alvarado zwei der jungen Neffen oder Söhne, die oben bei Montezuma hausen, mitgenommen und Fray Geronimo angewiesen, sie mit der Zange zu befragen.«

»Fray Geronimo!«, wiederhole ich erschrocken.

Der Soldat verzieht angewidert sein Gesicht. »Du hast recht, der Pater ist auf diesem Gebiet ein elender Stümper – aber Fray Bartolomé ist eben mit Cortés auf und davon! Also hat Alvarado unseren Schildkrötenmann vor die Wahl gestellt: Zwacke aus den beiden Burschen die Wahrheit heraus – oder du musst zurück auf die Pyramide und die Marienkapelle gegen die Teufelspriester verteidigen!«

Er unterbricht sich und sieht argwöhnisch zu, wie ich mich vom Boden aufrappele. »Na, das Ergebnis kannst du dir sicher denken«, fährt er fort. »Die beiden Prinzen, oder was sie darstellen sollen, haben erst alles abgeleugnet – aber als die Stellen, an denen Fray Geronimo die Zange noch ansetzen konnte, allmählich knapp wurden, sind sie dann doch mit der Wahrheit herausgerückt.«

Ich trete ans Fenster und schaue auf das Herz Unserer Welt hinaus. Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten oder den Soldaten anschreien, dass er den Mund halten soll. Aber ich mache weder das eine noch das andere. Über der Stadt geht gerade die Sonne auf. Der Platz ist mit Pfählen übersät. Drüben vor der großen Pyramide entdecke ich eine gewaltige Bildsäule, die dort gestern noch nicht gestanden hat. Ist es die Huitzilopochtli-Statue, die sie damals auf Cortés’ Befehl weggeschafft hatten? Stimmt es also doch, frage ich mich, was die Tlaxcalteken seit Tagen behaupten?

»Sie wollen uns überfallen, heute vor Einbruch des Abends«, sagt der Soldat in meinem Rücken. »Das Götzenfest ist die perfekte Tarnung für sie – in der Menschenmenge können sie mühelos ein paar Tausend bewaffneter Krieger verstecken!«

»Das haben Montezumas Neffen ausgesagt?«, frage ich und krümme mich innerlich zusammen. Ich habe die beiden nur ein paarmal flüchtig gesehen, aber ich weiß, dass sie kaum älter sind als ich.

»Ganz genau«, antwortet der Soldat. »Fray Geronimo selbst hat übersetzt, was sie endlich hervorgekeucht haben. Und nachdem der Schildkrötenmann mit ihnen fertig war, hat Alvarado sie vom dritten Stock auf den Platz hinabwerfen lassen.«

»Er hat was gemacht?« Ich stöhne auf und fahre herum. »Das ist Wahnsinn!«, rufe ich aus. »Alvarado zwingt sie ja förmlich dazu, uns anzugreifen! Vielleicht waren sie noch gar nicht sicher, ob sie uns wirklich überfallen sollen. Aber wenn ihr anfangt, Mitglieder der Königsfamilie zu foltern und aus den Fenstern zu werfen – was bleibt ihnen da noch anderes übrig?«

Das Gesicht des Soldaten verhärtet sich zu einer Maske aus Stein. »Wenn du einen guten Rat hören willst – halte besser deinen Mund!«, knurrt er. »Alvarado ist im Augenblick ziemlich aufbrausend – am Ende lässt er dich noch aus dem Fenster schmeißen!«

Damit dreht er sich um und hinter ihm kracht die Tür zu. Er schiebt einen Balken vor und dann auch den zweiten. Kurz darauf höre ich, wie sich seine Schritte, gedämpft durch Felle und Baumwollmatten, über den Flur entfernen. Und da schießt wieder die Angst in mir hoch: Sie lassen mich hier zurück! Eingesperrt in dieser Kammer, obwohl sie glauben, dass die Azteken unseren Palast anzünden werden! Sie wollen, dass ich hier umkomme – damit ich unserem Herrn nicht erzählen kann, was Alvarado angerichtet hat! Aber was hat der »Durchtriebene« überhaupt vor?, frage ich mich dann. Vielleicht will er sich ja mit seinen Getreuen aus dem Staub machen – mitsamt den unermesslichen Goldschätzen, die Cortés in unserer Obhut zurückgelassen hat?

So brüte ich vor mich hin, bekritzle meine schwindenden Papiervorräte mit sinnlosen Grübeleien und kaue zwischendurch an meiner kargen Mahlzeit herum. Die Sonne beginnt bereits wieder gen Westen zu sinken und unten vor unserem Palast ist nach wie vor nichts Ungewöhnliches zu sehen. Keine Aufmärsche von schwer bewaffneten Soldaten, keine Kanonen, die auf rumpelnden Rädern aus dem Tor geschoben werden, keine Ritter auf schnaubenden Pferden – nichts!

Drüben bei der Großen Pyramide aber kommt das Götzenfest mehr und mehr in Schwung. Neben »Huitzilopochtlis Esstisch« lodern zahlreiche Feuer, ebenso oben bei den Tempeln, wo unser gigantisches Holzkreuz zwischen den Qualmschwaden verschwindet. Um die Pyramide herum haben sich Tausende Azteken versammelt – ob auch bewaffnete Krieger unter ihnen sind, kann ich von meinem Ausguck aus nicht erkennen. Jedenfalls tanzen sie alle zum aufpeitschenden Klang der Trommeln und Muscheltrompeten, der Rasseln und Knochenflöten – unablässig tanzen sie um die Pyramide herum und bald schon überall auf dem Platz. Sie tanzen sich in Trance, kommt es mir vor – sie werfen ihre Arme in die Luft, sie zucken und winden sich und stoßen dabei Töne hervor, die dumpf und kehlig klingen wie aus der Tiefe eines Traums.

Und dann plötzlich geht unter mir das Palasttor auf und unsere Männer kommen auf den Platz marschiert. Auch das zweite Tor fliegt auf und die Tlaxcalteken stürmen in wilder Unordnung hervor. Mit Alvarado an der Spitze eilt der größte Trupp unserer Männer zur Pyramide hinüber, drei kleinere Abteilungen marschieren zu den Zugängen zum Herz Unserer Welt und riegeln sie ab.

Alvarado zieht im Laufen sein Schwert und die anderen machen es ihm nach. Ohne irgendwelche Umschweife greifen sie die Tanzenden an. Das ist kein Kampf, es ist ein Massaker – die Azteken sind in Trance, sie tanzen einfach weiter, sie zucken und winden sich, und währenddessen mähen Alvarado und die anderen sie mit ihren Schwertern um. Sie fallen wie Halme unter der Sense des Schnitters, jeder Schwerthieb haut gleich mehrere von ihnen entzwei. Abgeschlagene Köpfe und Arme wirbeln umher. Enthauptete Rümpfe, mit einem mächtigen Schlag von den Beinen heruntergehauen, torkeln durch die Luft und fallen krachend zu Boden.

Ganz allmählich erst, nachdem Hunderte von ihnen niedergemäht worden sind, erwachen die anderen Tänzer aus ihrer Trance. Die Trommeln und Flöten sind verstummt und für einen langen, schrecklichen Augenblick sind nur die Schreie der Sterbenden, das Keuchen der Kämpfer und jener grässliche Klang zu hören, mit dem Stahl durch lebendige Leiber fährt. Ein Schleifen und Knacken, grauenvoller als jedes andere Geräusch. Dann setzt von den Tempeln hoch oben auf der Pyramide ein mächtiges, donnerndes Grollen ein. Es klingt wie der Herzschlag eines Riesen, der aus tiefem Schlaf erwacht. Auch wenn ich diese gewaltige Trommel niemals vorher vernommen habe, ist mir auf der Stelle klar, was ihr zorniger Ruf besagt: Greift zu den Waffen, eilt herbei – es ist Krieg!

Von allen Seiten kommen Krieger auf den Platz zugerannt. Sie schwenken ihre Waffen, sie überrennen unsere Trupps, die die Zugänge abriegeln sollten, sie dringen mit ihren schwarz gezähnten Schwertern auf unsere Männer ein. Doch umso klarer ist nun, dass die Tausende Tänzer, die abgeschlachtet am Boden liegen, allesamt unbewaffnet waren!

Die Krieger reißen Pfähle aus dem Boden, nutzen sie als Lanzen oder Speere und drängen Alvarado und seine Männer, Xicotencatl und die tlaxcaltekischen Krieger zu unserem Palast hin zurück. Hagel von Pfeilen gehen auf sie nieder, Steine prasseln von den Dächern auf sie herunter und in das Donnern der Kriegstrommeln mischen sich Wut- und Schmerzensschreie – auch von Alvarado selbst! Gerade noch kann ich sehen, wie er, von einem Stein an der Stirn getroffen, sich vornüberkrümmt. Dann heben seine Männer ihre Schilde, decken ihren Anführer und ziehen sich fluchtartig in den Palast zurück. Ein Kanonenschuss donnert, und diesmal sind es die Azteken, die Schreie ausstoßen, vor Schreck oder Schmerzen, während aus der Vorderseite der turmartigen Pyramide uns gegenüber Mauerbrocken auf den Platz herunterpoltern. Unter mir geht das Tor krachend zu, und bis in mein Gefängnis herauf höre ich Alvarado mit überkippender Stimme schreien: »Wo ist der Wundarzt? Ich blute wie ein Schwein!«

Als ich wieder nach draußen schaue, wird mir klar, dass sich die Azteken mit unserem Rückzug keineswegs zufriedengeben. Im Laufschritt tragen sie Dutzende Leitern herbei und lehnen sie gegen die Palastwand. Schon kommen die Ersten von ihnen mit katzenartiger Raschheit die Leitern emporgeschnellt. Unsere Gewehr- und Armbrustschützen nehmen sie durch die Fensterluken ins Visier, Schüsse krachen, Pfeile schwirren mit stählernem Sirren durch die Luft.

Wenigstens zehn Angreifer stürzen getroffen von den Leitern oder fallen mit ihren hölzernen Gestellen um. Aber noch ehe die Verteidiger nachgeladen haben, sind die Leitern schon wieder aufgerichtet und wieder klettern Dutzende Krieger an unserer Palastwand hoch! Dann abermals Schüsse, Schreie, umstürzende Leitern – doch etliche Krieger haben es diesmal bis zu einer Fensterluke geschafft! Sie klammern sich an den Waffen, den Armen, den Hälsen unserer Männer fest, reißen sie durch die Fenster nach draußen oder lassen sich ins Innere unserer Festung ziehen. Und während die Leitern aufs Neue aufgerichtet werden, eine weitere Welle von Angreifern an ihnen emporklimmt, kommen von der Mitte des Platzes her Hunderte von Kriegern herbeigerannt – brennende Fackeln in der Hand!

Sie werden unseren Palast anzünden, genau wie Xicotencatl und die anderen Azteken es vorausgesagt haben! Es ist aus mit uns, schießt es mir durch den Kopf, vor allem aber ist es aus mit mir! Ich bin hier oben gefangen, und wenn sie den Palast anzünden, komme ich in den Flammen um!

Ich stürze zur Tür, schlage mit meinen Fäusten dagegen und schreie wie von Sinnen: »Alvarado! Zu Hilfe! Hört mich denn keiner? Lasst mich hier raus!«

Niemand antwortet mir. Irgendwann höre ich auf, zu schreien und meine Fäuste am Türholz blutig zu schlagen, und sacke kraftlos zu Boden. Die Trommeln von der Großen Pyramide, die Kriegs-, Wut- und Schmerzensschreie, das Krachen der Schüsse und nun auch noch das Prasseln von Feuer – das alles zusammen erzeugt einen so höllischen Lärm, dass mich sowieso niemand hören könnte. Mir bleibt nur noch die Wahl, hier drinnen zu verbrennen oder am Rauch zu ersticken – oder mich kopfüber aus dem Fenster zu stürzen, in der jämmerlichen Hoffnung, dass ich mir zumindest das Genick brechen werde! Dann bekommen sie mich wenigstens nicht lebend, sage ich mir, dann können sie mir immerhin nicht das Herz aus der Brust reißen und an ihren Götzen verfüttern – jedenfalls nicht, solange es noch schlägt!

Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Tür und lasse meinen Kopf auf die Brust sinken. Carlita!, denke ich. Geliebte Carlita! Hoffentlich konntest du dich in Sicherheit bringen!

»Orteguilla«, wispert es irgendwo in meiner Nähe. Zuerst glaube ich, dass ich träume oder vor Angst den Verstand verloren habe. »Orte!«, flüstert es von einem Loch in der linken Seitenwand her, das eben noch ganz bestimmt nicht vorhanden war. »Liebster, komm schnell!«, ruft es leise aus dem Loch. Es ist Carlitas Stimme, kein Zweifel, aber wie kann das nur sein?

Ich rappele mich auf und trotte zu dem Loch hinüber. Es befindet sich knapp über dem Boden und tatsächlich schaut mich Carlita durch die Öffnung an. Ihre Haare sind voller Staub und Spinnweb, aber sie ist es, sie ist wirklich da!

Ich werfe mich vor dem Loch – vor ihr – auf die Knie. Neben mir entdecke ich eine runde Scheibe am Boden. Sie ist von der einen Seite so weiß getüncht wie die Zimmerwand und von der anderen aus altersdunklem Holz. »Carlita!«, stammele ich. »Wie kommst du da hinein? Was hast du vor?«

Draußen krachen Schüsse, gellen Schreie. Die Trommeln grollen. Rauchschwaden wabern durch das Fenster herein. Abermals fliegt das Tor krachend auf – unsere Männer unternehmen einen weiteren Ausfall!

»Schnell, Orte!«, sagt Carlita wieder. »Das hier ist einer der Geheimgänge – ich habe dir doch davon erzählt! Diese Kammer hier muss früher einmal zu den königlichen Gemächern gehört haben – und die sind alle an die Geheimgänge angeschlossen, damit unser König heimlich Boten empfangen oder notfalls auch selbst unbemerkt kommen und gehen kann.«

Ich starre sie aus großen Augen an. Vor Erstaunen vergesse ich einen Moment lang sogar meine Angst. »Alle königlichen Gemächer haben Zugang zu diesen Geheimgängen?«, frage ich und deute zur Decke hinauf. »Auch die Zimmer im dritten Stock, in denen Montezuma gefangen ist?«

Carlita nickt und wirkt nun ein wenig schuldbewusst. »Komm jetzt Orte!«, sagt sie erneut. »Und verschließe hinter dir wieder den Zugang! An der Rückseite des Deckels ist ein Griff.«

Sie verschwindet wieder in dem Wandloch. Rasch stopfe ich noch die bekritzelten Blätter, Feder und Tintenfass in mein Bündel, dann folge ich ihr mit den Füßen voran. Im letzten Moment ergreife ich den Deckel und setze ihn in die Wand ein, wie Carlita es mir aufgetragen hat.

Jetzt ist es stockdunkel. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob das hier ein Traum ist oder ob Carlita wirklich gekommen ist, um mich zu retten. Doch der Knotenstrick, an dem ich hinter ihr abwärtsklettere, fühlt sich vollkommen echt an. Genauso wie der runde Schacht aus Holz, der uns umschließt. Mir wird langsam klar, dass wir uns im Innern eines ausgehöhlten Baums befinden. Carlita hat mir schon früher einmal erzählt, dass die Paläste der Azteken meist doppelte Außenwände besitzen und die Hohlräume dazwischen als Verstecke oder einfach als Lager für allerlei dienen. Da liegt es natürlich nahe, diese Zwischenräume auch für geheime Verbindungen zwischen den Etagen zu benutzen – auch wenn es eine seltsame Vorstellung ist, dass ein königlicher Bote oder sogar der König selbst an so einem Knotenstrick heimlich durch den Palast turnt.

Als wir unten angekommen sind, umarmt und küsst mich Carlita. Doch sie löst sich gleich wieder von mir und flüstert mir ins Ohr: »Wir sind jetzt unter dem Palast. Hinter mir führen Stufen zu einem weiteren Geheimgang hinab. Der zieht sich unter dem ganzen Herzen Unserer Welt hindurch. Aber er ist eng und modrig und stellenweise müssen wir kriechen.«

»Wohin bringst du mich?«, frage ich sie.

»Dorthin, wo ich glücklich war«, gibt Carlita zurück. »Und wo auch wir beide glücklich sein werden – zumindest für kurze Zeit.«

Sie nimmt mich bei der Hand und zieht mich hinter sich her.

- 4 -

»Wo sind wir hier, Carlita?«, frage ich. Dabei ahne ich, was sie antworten wird, aber ich will es aus ihrem Mund hören.

Kaum eine Stunde ist vergangen, seit sich jenes Loch in meiner Kerkerwand aufgetan hat. Groß und glühend rot schwebt die Abendsonne über den Baumwipfeln, die ineinander verflochten sind zu einem Dach aus Blättern und Schatten, Ästen und Licht. Singvögel schwirren zwischen blühenden Büschen umher. Eine Quelle, glasklar bis zum sandigen Grund, lädt zum erfrischenden Bad ein. Daneben erhebt sich ein rußschwarzer Steinsockel mit einem kleinen Tempelbau darauf, dessen Außenwände gleichfalls brandgeschwärzt sind. Doch durch das lückenhafte Dach fällt Sonnenlicht ins Innere des Tempels und sein Widerschein ist strahlend hell und rein.

»Beim Xochiquetal-Tempel natürlich.« Carlita führt mich die Stufen hoch zur Tür und bleibt vor der Schwelle stehen. »Wirf einen Blick hinein«, sagt sie, »damit du dich schon einmal freuen kannst!«

Der Altartisch ist mit Blumen übersät. Daneben steht ein hölzernes Bildnis der Göttin, anmutig lächelnd, mit Blumengirlanden geschmückt. Auch der Boden um den Altar herum ist mit Blumen bestreut und mitten im Raum befindet sich ein üppiges Lager aus duftendem Heu.

»Die goldene Göttin ist unten in ihrem Versteck geblieben«, sagt Carlita, »aber dieses Bildnis ist doch auch sehr schön, oder?«

»Es ist wunderschön«, antworte ich. »Aber du bist noch tausendmal schöner, Liebste!«

»Ich bin vor allem tausendmal dreckiger!«, ruft Carlita aus und zieht mich wieder die Treppe hinab. »Bevor wir in den Tempel dürfen, müssen wir uns säubern.«

Noch auf dem Weg zur Quelle fangen wir an, uns gegenseitig auszuziehen. Unsere Gewänder sind mit Staub und Spinnweb überzogen, genauso wie unsere Haare. Meine Stiefel sind triefnass von der schlammigen Brühe, durch die wir in den Geheimgängen gewatet sind. Aber mit jedem Kleidungsstück, das wir von uns werfen, lassen wir auch ein wenig von den Schrecken und der Mühsal der letzten Tage hinter uns. Als wir schließlich in die Mulde voll herrlich klarem Quellwasser tauchen, fühle ich mich so leicht und unbeschwert wie seit langer, langer Zeit nicht mehr.

An einem Baum neben der Quelle hängen Tücher und Gewänder für uns bereit. Im Gras liegen Ananas und Melonen, Kokosnüsse und Bananen, alles frisch gepflückt und liebevoll arrangiert. »Ich habe immer noch Angehörige und Freunde hier in der Stadt«, sagt Carlita. »Sie haben auf meine Bitte hin alles hier vorbereitet, und sie werden auch jemanden schicken, um dich zu fragen, wenn die Zeit gekommen ist.«

Um mich was zu fragen? Wenn die Zeit wofür gekommen ist? Dunkel ahne ich, was diese Rätselworte bedeuten sollen. Als mich Carlita an sich zieht, lasse ich mir bereitwillig meine Lippen mit einem Kuss verschließen.

Wir umarmen und streicheln einander, wir waschen uns gegenseitig und bespritzen uns mit dem Quellwasser, das angenehm warm und doch köstlich erfrischend ist. »Fühlst du, wie rasch mein Herz schlägt?«, frage ich und lege ihre Hand auf meine linke Brustseite, wie damals, als Montezumas Magier unser Hüttendorf unten am Meer verzauberten.

Doch diesmal ist es Carlita, die mich verzaubert – Carlita und ihre Göttin Xochiquetal, deren Lächeln diese liebliche Stätte bescheint.

»Und fühlst du auch mein Herz, Liebster?«, fragt Carlita.

Ich beginne sogleich, mit meinen Händen und Lippen ihre Herzgegend zu erkunden.

»Nicht so stürmisch!«, flüstert meine Hohepriesterin. »Jetzt sind wir gereinigt und dürfen ihren Tempel betreten.«

Wenig später liegen wir auf dem duftenden Bett aus Heu und Blumen vor Xochiquetals Altar. Der Mond scheint silbern zu uns herein. Wir flüstern uns Liebesschwüre zu und füttern uns gegenseitig mit den köstlichen Happen, die Carlitas Verwandte und Freunde rund um unser Liebeslager für uns bereitgestellt haben.

Wie oft habe ich mir ausgemalt, wie es sein mag, Carlita in dieser Weise zu umarmen! Auch für sie ist es das erste Mal und so sind wir beide anfangs etwas ängstlich und stellen uns ziemlich unbeholfen an. Aber wir lernen rasch dazu, und wir sind unersättlich – wir beide spüren ja, wie uns die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt. Wir sind wie Verdurstende, die gierig einer vom anderen trinken, wie Verhungernde, die einander am liebsten lebendig verschlingen würden – damit nichts und niemand uns je wieder entzweien kann!

So vergeht die Nacht und der nächste Tag. Wir lachen miteinander und küssen uns, wir baden in der Quelle und kräftigen uns mit Ananasschnitzen und Kokosnussmilch. Carlita erzählt mir von den Zeremonien zu Ehren der Liebesgöttin und zeigt mir einige rituelle Tänze. Ich muss mit ihr tanzen, und da es Liebestänze sind, landen wir schließlich wieder auf unserem Lager aus Blumen und Heu. Und so vergeht auch die nächste Nacht und ein weiterer Tag.

»Ich bin so froh«, sagt Carlita, »dass uns zumindest diese Frist geschenkt worden ist.«

»Wie meinst du das?«, frage ich beunruhigt. Plötzlich fallen mir auch ihre Rätselworte wieder ein: Wenn die Zeit gekommen ist, würden ihre Freunde jemanden zu uns schicken, um mich zu fragen.

Sie verschließt meinen Mund mit ihren Lippen – noch einmal, ein letztes Mal! Ich spüre es nun auch: Es geht zu Ende, Carlita, auch mit unserer Zweisamkeit!

»Immer, immer werde ich dich lieben«, flüstere ich irgendwann später atemlos.

Carlita weint. Sie gibt nicht den leisesten Schluchzer von sich, aber ich sehe, dass sie weint. Dabei ist längst wieder die Nacht hereingebrochen, doch die Mondsichel spiegelt sich in den Tränenschleiern auf ihren Augen.

»Hörst du, Liebster?«, haucht sie. »Er kommt! Welche Botschaft mag er bringen?«

»Wer?«, frage ich. »Wen meinst du, Carlita?«

Sie wirft sich eines der silberfarbenen Gewänder über, die an der Quelle für uns bereitgelegen hatten, und widerstrebend folge ich ihrem Beispiel. Nur ein paar Atemzüge später tritt ein junger Azteke zu uns in den Tempelraum, in der Hand eine brennende Fackel.

»Das ist Mixtli, ein entfernter Cousin von mir«, sagt Carlita und heißt ihn freundlich willkommen. Er verneigt sich ehrerbietig vor ihr und grüßt mich mit einem knappen Kopfnicken.

»Drei Tage lang sind unsere Krieger gegen die Festung der Bärtigen angerannt«, beginnt er ohne weitere Umschweife zu berichten. »Sie haben den Palast mehrmals in Brand gesteckt, doch den Fremden gelang es immer wieder, das Feuer zu löschen. Sie haben Breschen in die Außenmauern geschlagen und die Bärtigen Tag und Nacht von den umliegenden Dächern mit Steinen bombardiert. Die Gegenwehr der Fremden wurde immer schwächer, und gestern früh schien unser Sieg fast schon sicher zu sein – doch dann ist ihr Anführer Cortés aus dem Tiefland zurückgekehrt.«

»Er ist wieder da?«, rufe ich aus und versuche vergeblich, meine Freude zu verbergen.

Mixtli wirft mir einen düsteren Blick zu. »Wie er das angestellt hat, weiß ich nicht«, antwortet er, »aber er hat seine Gegner bei Cempoallan überrumpelt. Der andere Bärtige, der ihn gefangennehmen sollte, ist tot, und seine gesamte Streitmacht ist zu Cortés übergelaufen. Gestern ist er mit tausenddreihundert Eisenmännern und noch einmal so vielen tlaxcaltekischen Kämpfern über den großen Dammweg zurückgekehrt. Es kam erneut zu erbitterten Kämpfen mit unseren Kriegern, die gestern und heute fast ununterbrochen andauerten. Momentan ist im Herz Unserer Welt alles ruhig, aber es ist eine trügerische Ruhe.«

Ich schaue von Carlita zu ihrem Cousin. »Eine trügerische Ruhe?«, wiederhole ich. »Wie meinst du das, Mixtli?«

Er wirft mir wieder einen finsteren Blick zu, und Carlita sagt mit einem begütigenden Lächeln: »Orteguilla kann nichts dafür, ich habe es dir doch erklärt.«

Mixtli zuckt mit den Schultern. »Mehr als dreißigtausend unserer Krieger sind bei den Kämpfen gefallen«, berichtet er weiter. »Auch von den Bärtigen sind etliche umgekommen, vielleicht zweihundert oder ein paar mehr und wenigstens fünfhundert von den tlaxcaltekischen Aasfressern. Der Große Cuitláhuac schätzt, dass die Fremden außerdem drei- oder vierhundert Verletzte zu beklagen haben.«

Cuitláhuac!, schießt es mir durch den Kopf. Er hat es also geschafft, die Macht an sich zu reißen! Und obwohl es wirklich der reine Wahnsinn ist, empfinde ich abermals eine seltsame Genugtuung.

»Die Bärtigen sind also ziemlich am Ende«, berichtet Mixtli weiter, »zumal sie heute Abend auch noch ihr letztes Faustpfand verloren haben.«

»Ihr letztes Faustpfand«, fragt Carlita. »Heißt das, unsere Krieger haben Montezuma doch noch befreit?«

»Im Gegenteil«, antwortet ihr Cousin. »Die Bärtigen haben ihn auf das Palastdach gebracht, damit er unsere Krieger auffordert, die Waffen niederzulegen. Aber er kam über den ersten Satz nicht hinaus: Eine Salve von Steingeschossen ging auf ihn und seine Begleiter nieder und Montezuma wurde tödlich am Kopf und an der Brust getroffen. Vorhin haben die Bärtigen seine Leiche vor ihrem Tor auf den Platz gelegt. Unsere Leute haben sich daraufhin mit dem toten Montezuma zurückgezogen. Cuitláhuac ist sich sicher, dass die Fremden noch heute Nacht ihr Heil in der Flucht suchen werden. Und ich glaube, er hat recht: Sie haben nichts mehr in der Hand! Sie haben seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen und mindestens die Hälfte von ihnen ist mehr oder weniger schwer verwundet.«

Mixtli verstummt und ich denke bedrückt über seine Worte nach.

»Sie haben noch die anderen Fürsten als Geiseln«, wende ich schließlich ein. »Cacama und die Herrscher von Itzapalapa und …«

Er schneidet mir mit einer müden Handbewegung das Wort ab. »Sie sind alle tot«, sagt er. »Deine Leute haben ihnen die Kehlen durchgeschnitten und sie gleichfalls vor ihrem Tor abgelegt – schon vor drei Tagen, nachdem sie unsere Tänzer zu Tausenden abgeschlachtet hatten.«

Ich senke meinen Kopf und schweige erneut. Was könnte ich zu unserer Rechtfertigung auch anführen? Dass Cuitláhuacs Kämpfer uns genauso abgeschlachtet hätten, wenn wir ihnen nicht zuvorgekommen wären? Schließlich hat uns niemand gezwungen, in ihre Stadt einzumarschieren – geschweige denn, ihren König aus seinem eigenen Palast zu entführen und in seiner eigenen Stadt als Geisel festzuhalten.

»Und wenn sich die Spanier tatsächlich entschließen, heute Nacht abzuziehen«, fragt Carlita ihren Cousin, »glaubst du denn, dass Cuitláhuac sie gehen lässt?«

Mixtli zuckt wieder mit den Schultern. »Zurückhalten wird er sie bestimmt nicht. Deshalb bin ich hier, wie Carapitzli es wünschte«, wendet er sich an mich. »Wenn du willst, bringe ich dich zu deinen Leuten zurück. Aber du musst dich sofort entscheiden.«

»Gib uns noch einen Moment«, sagt Carlita mit einem bittenden Lächeln. »Wir nehmen nur noch Abschied.«

Ich will ihr widersprechen – schließlich liegt es bei mir, ob ich bei ihr bleiben oder Cortés folgen will! Aber ich schließe meinen Mund wieder, ohne eine einzige Silbe hervorzubringen. Wäre Cortés nicht zurückgekehrt, dann sähe alles anders aus. Aber so bleibt mir keine Wahl.

Ich ziehe meine alten Kleidungsstücke und meine Stiefel wieder an. Das silberfarbene Gewand lasse ich auf dem Heubett zurück. Carlita umwickelt unterdessen die Papiere aus meinem Bündel mit Palmblättern und Wachstuch. »Gegen den Regen«, sagt sie, und obwohl mir das reichlich übertrieben vorkommt, wende ich nichts ein.

Wir umarmen uns ein letztes Mal. Wir klammern uns aneinander wie zwei Gebirgskletterer, die kurz vor dem Gipfel abgestürzt sind und eng umschlungen den Steilhang hinabkollern. Oder nein, denke ich dann: Zwei Tage und Nächte durften wir zusammen auf dem Gipfel des Glücks verbringen. Und in meinem Herzen, Carlita, sind wir für immer vereint.

- 5 -

Auf geheimen Wegen bringt mich Mixtli an den westlichen Stadtrand. Tatsächlich hat leichter Regen eingesetzt und die Gestirne sind hinter dunklen Wolken verborgen. Längst hat der Götzenpriester auf der Großen Pyramide in seine Muscheltrompete geblasen – Mitternacht ist vorbei.

»Bleib hier im Graben«, flüstert mir Mixtli zu. Die Nacht ist so finster, dass ich nur seine Zähne und das Weiße seiner Augen sehe, obwohl er direkt neben mir kauert. »In ein paar Minuten wird deine Räuber- und Mörderbande hier sein.« Ehe ich etwas antworten kann, ist er auf und davon.

Räuber und Mörder, denke ich, weniger empört als verwundert – sind wir wirklich nichts anderes?

Der Regen wird stärker. Mein Gewand, meine Haare triefen vor Nässe. In Gedanken kehre ich zurück zu Carlita und mein Herz zieht sich schmerzlich zusammen. Warum bin ich nicht für immer bei ihr geblieben? Doch wie Aguilar als Fremder unter den Indianern zu leben, mich von Kopf bis Fuß tätowieren zu lassen, ihre Bräuche anzunehmen, gar bei den Götzenfeiern mitzutun – nein, das könnte ich nicht. Und Carlita würde es in meiner Welt genauso gehen – aber wo und was soll das überhaupt sein, schießt es mir dann durch den Kopf: meine Welt? Aus der Alten Welt verjagt, aus der Neuen verstoßen!, denke ich wieder – doch ehe jener dunkle Zorn von mir Besitz ergreifen kann, beschwöre ich Carlitas liebes Gesicht erneut in mir herauf. Und sogleich wird mir ein wenig leichter ums Herz.

Der Graben, in dem ich kauere, zieht sich entlang der Straße zum westlichen Stadttor, hinter dem der eigentliche Dammweg zum Seeufer beginnt. Doch auch hier, auf der letzten Meile innerhalb der Stadt, verläuft die Straße schon auf dem Damm durch den See. Da und dort erheben sich ärmliche, eingeschossige Häuser am Straßenrand, auf Pfählen errichtet oder waghalsig in den Schlamm gebaut, der sich im Lauf der Zeit an den Damm angelagert hat. Unmittelbar dahinter erstreckt sich die weite Fläche des Sees. Tropfen prasseln darauf nieder und Nebelschwaden wehen über dem Wasser umher.

Von der Stadt her nahen nun Schritte, gedämpft und doch von so zahlreichen Füßen, dass es wie leises Donnern klingt. Ich ducke mich tiefer in den Graben und starre zugleich angestrengt nach links. Doch es vergehen noch unzählige weitere Augenblicke, bis ich endlich die Spitze unseres Zuges herannahen sehe.

Der Nebel wird immer dichter, der Regen stärker. Nur mit Mühe erkenne ich Sandoval und Tapia, die auf ihren Pferden vorwegreiten – zumindest diese beiden haben also alle Kämpfe überlebt! Der »Tollkühne« trägt seinen linken Arm in der Schlinge und der »Würdevolle« hat einen Verband um seine Stirn gewickelt, doch sie wirken beide munter und bei Kräften. Ihnen folgen rund zweihundert Fußsoldaten, und fast jeder von ihnen weist irgendeine Verwundung auf. Etliche ziehen ein Bein nach, viele tragen Verbände um Kopf oder Arm. Zu fünfzigst oder sechzigst schleppen sie ein ungeheures hölzernes Trumm mit sich, das gegen dreißig Fuß lang ist und kaum weniger breit.

Eine bewegliche Brücke!, wird mir klar – offenbar rechnet unser Herr damit, dass Cuitláhuacs Krieger die Holzbrücken aus den Dammwegen entfernt haben, damit wir nicht heimlich fliehen können. Also haben unsere Zimmerer aus Palasttüren und Deckenbalken einen Steg gebaut, um die Lücken im Dammweg zu überwinden. Doch dieses Trumm zu tragen ist offenkundig mühsam, und bevor man eine weitere Bresche damit schließen kann, muss erst die ganze Kolonne darüber hinweggezogen sein.

Hinter den Fußsoldaten entdecke ich nun unsere Priester, außerdem Marina und zahlreiche andere Frauen, Diego und weitere Pagen. Eben will ich aus dem Graben hervorklettern und mich unauffällig unter sie mischen, da fällt mein Blick auf Cortés.

Er sitzt hoch aufgerichtet auf seinem Schimmelhengst, dessen Hufe wie bei allen anderen Pferden mit Filztüchern umwickelt sind. Seine Haltung ist noch stocksteifer als gewöhnlich – wie niedergeschlagen er ist, sieht ihm wahrscheinlich niemand an außer mir. Und mein Herz – verzeih mir, Carlita! – mein Herz jubelt ihm zu!

Ihr seid wieder bei uns, mein geliebter Herr, so rufe ich im Stillen – ich wusste, dass Ihr Narváez besiegen würdet! Und dass Ihr uns niemals im Stich lassen würdet, wusste ich sowieso! Aber wie soll es nun weitergehen? Wie ist es um die strahlende Zukunft bestellt, die Ihr für Euch selbst und uns alle vorausgesehen habt?

So begrüße und befrage ich ihn still für mich, und der Moment, um mich unbemerkt einzureihen, ist längst verstrichen. Weiterhin hocke ich im Graben, der Regen strömt auf mich herab. Hinter unserem Herrn reitet sein Schatzmeister Escobar, der vier kräftige Stuten am Zügel führt. Die Pferde sind mit Kisten und Säcken beladen und durch das Dröhnen der unzähligen Sohlen und Hufe hindurch höre ich es leise scheppern und klirren. Goldene Bildnisse ragen aus den Umhüllungen hervor, Säulen und Vasen aus Gold und Silber, besetzt mit funkelnden Edelsteinen. Unser Herr hat eigens zwei Metallschmelzer aus Kuba mitgenommen, aber um die ungeheuren Gold- und Silbermengen vollständig zu Barren einzuschmelzen, hätten sie gewiss noch Wochen gebraucht.

Hinter Cortés und Escobar marschieren sieben- oder sogar achthundert weitere Soldaten. Viele von ihnen habe ich nie zuvor gesehen – das müssen die Männer sein, die unser Herr mit List und Gold auf seine Seite gezogen hat. Auch sie sind vielfach bandagiert, humpeln oder tragen gebrochene Arme in der Schlinge. Aber in ihren Augen bemerke ich jenes ungut vertraute Glitzern – und nun erkenne ich auch, dass es aus den Taschen jedes einzelnen Soldaten golden hervorblitzt. Jeder von ihnen trägt offenbar ein paar goldene Platten oder Barren mit sich – und so glauben sie alle, dass doch nicht alles umsonst war und unser Spiel noch nicht verloren ist!

Erst als das Hauptheer an mir vorübergezogen ist, löse ich mich aus dem Dunkel des Grabens und klettere auf den Damm hinauf. Von links kommt in einiger Entfernung unsere Nachhut herangetrabt. Sie besteht aus vielleicht fünf Dutzend Reitern und nochmals rund hundert Soldaten zu Fuß. Falls Alvarado und Portocarrero noch am Leben sind, werden sie wohl wie üblich unsere Reiterschar anführen. Oder vielmehr, berichtige ich mich – falls Cortés seinen engsten Vertrauten Alvarado nicht zur Strafe degradiert hat, weil der Durchtriebene in kürzester Zeit unsere Stellung zerstört hat.

Aber trifft Alvarado überhaupt irgendwelche Schuld an dem, was während der Abwesenheit unseres Herrn in Tenochtitlan geschehen ist? Hat unser Absturz nicht schon viel früher begonnen? Ich komme nicht dazu, mir über diese Frage den Kopf zu zerbrechen: Von Westen her, bei der Spitze unseres Zugs, erschallen plötzlich schrille Schreie, die die nächtliche Stille förmlich in Fetzen reißen.

»Azteken, eilt herbei!«, kreischt ein anscheinend altes Weib auf Nahuatl. »Unsere Feinde wollen sich davonstehlen!«, schreit sie mit überkippender Stimme. »Zu den Waffen, lasst nicht zu, dass sie …«

Ihre Warnrufe ersticken in einem Gurgeln, aber zu spät, viel zu spät! Nur ein paar Atemzüge später beginnen im Innern der Stadt die Kriegstrommeln machtvoll zu dröhnen.

- 6 -

Noch ist es tiefe Nacht, der Himmel so schwarz, wie ich ihn hier in der Neuen Welt noch nie gesehen habe. So schwarz wie ein Priestergewand, so schwarz wie die Seelen der »Räuber und Mörder«, die wir in den Augen von Carlitas Cousin sind. Und in den Augen fast aller anderen Azteken wohl auch.

Ich renne an unserem Hauptheer vorbei, überhole Bataillon um Bataillon, bis ich endlich zu Cortés aufgeschlossen habe. Von seinem Pferd schaut er starr zu mir herunter und befragt mich stumm: Wo warst du, Orteguilla? Wir dachten schon, du wärest tot!

Ganz im Gegenteil, antworte ich ihm mit meinen Blicken. Zwei Tage und zwei Nächte lang war ich so lebendig, so von Liebe und Lebendigkeit erfüllt wie niemals vorher.

Von beiden Seiten des Dammwegs kommen nun Kanus herbeigeschossen – ich höre sie mehr, als dass ich sie im nebligen Dunkel erkennen kann. Die Ruder klatschen ins Wasser, die schlanken Boote zerpflügen mit leisem Zischen die Fluten – und dann prasseln Hagel von Pfeilen auf uns hernieder!

»Den Steg her – schnell!«, schreit Sandoval. »Die Hunde haben tatsächlich den Damm blockiert!« Vorne wird geflucht, und das Holztrumm kracht auf den Boden, dass der Damm erzittert. »Vorsicht!«, schreit der »Tollkühne«. »Wenn der Steg zu Bruch geht, sind wir verloren!«

Neben und hinter uns schwingen sich unzählige Azteken aus ihren Kanus auf den Damm. Sie schwingen ihre steinern gezähnten Knüppel und nach kürzester Zeit liegen um mich herum fünf unserer Männer am Boden! Ihre Köpfe sind zerbrochen, das Blut schwappt nur so hervor – und mir wird blitzartig klar, welchen Befehl Cuitláhuac seinen Kämpfern erteilt haben muss: Schlagt die Bärtigen tot! Versucht nur nicht, Gefangene zu machen! Schlagt sie tot, wie es Räubern und Mördern zukommt – mit dem Knüppel auf ihre Köpfe!

Unsere Gewehrschützen laden ihre Waffen, drücken ab – doch es erklingt nur ein jämmerliches Klacken. Bei Regen wird das Schießpulver feucht und so sind auch noch unsere Feuerwaffen unbrauchbar.

Ich renne weiter und schaffe es endlich, zu der Gruppe der Frauen, Priester und Pagen aufzuschließen. »Wo kommst du denn her?«, schreit Diego und haut mir auf die Schulter. Ich tätschele ihm den Arm. »Ich bin so froh«, schreie ich zurück, »dass du noch lebst!«

Wir rennen über den Steg, den Sandoval und seine Männer über die Lücke im Dammweg gewuchtet haben. Wir lassen das Stadttor hinter uns und um uns herum ist nur noch der weite, nachtdunkle See. Nebel wallt über das Wasser und im Schutz der wabernden Schwaden kommen unzählige weitere Kanus herangejagt. Wieder prasseln Hunderte Pfeile auf uns herab. Ich ducke mich hinter Diegos Schild. Von allen Seiten wird jetzt gerufen und geflucht und geschrien. Schwerter klirren, Knochen knacken, Knüppel krachen auf Eisen oder Fleisch. Die Indianer stoßen ihre markerschütternden Kriegsschreie aus, und unsere Männer schreien vor Wut oder vor Schmerzen, wenn sie von einem Pfeil oder einem gezähnten Knüppel getroffen worden sind.

Ich wende mich um und sehe, dass auch Cortés die bewegliche Brücke hinter sich gelassen hat. Er treibt Escobar mit energischen Armbewegungen an, doch die vier Pferde sind so schwer bepackt, dass sie nur mühsam einen Huf vor den anderen setzen können. Der See links und rechts von uns wimmelt mittlerweile vor Kanus.

»Macht schon!«, schreit Sandoval. »Holt den Steg!«

»Aber die Nachhut ist noch weit zurück!«, schreit irgendwer.

»Die sollen sehen, wie sie zurechtkommen!«, antwortet der »Tollkühne«. »Alvarado hat uns das alles hier schließlich eingebrockt! Los jetzt!«

Tatsächlich schaffen es seine Männer irgendwie, in dem Chaos aus Toten und Verletzten, im Hagel der Pfeile und Speere, im Wirrwarr unserer panisch vorandrängenden Soldaten die tonnenschwere Brücke bis zur Spitze unseres Zugs zu schleppen. Auf Sandovals Kommando senken sie den Steg über die nächste Bresche. Abermals rennen und reiten wir alle darüber hinweg, und ohne auf unsere Nachhut zu achten, lässt Sandoval die Brücke gleich wieder nach vorne holen. Die zusammengezimmerten Bretter und Balken sehen bald schon reichlich mitgenommen aus. Aber uns bleibt keine Wahl – wir müssen weiter fliehen, über Breschen hinweg, unter Pfeilhageln hindurch – hinaus auf den offenen See!

Diego und ich rennen neuerlich über den Steg, gefolgt von Fray Geronimo und Fray Bartolomé. Cortés reitet dicht hinter ihnen her, und als Schatzmeister Escobar zögert, winkt er ihm energisch, uns mit den Pferden zu folgen. Eine weitere Pfeilsalve geht auf uns nieder. Escobars Pferd macht einen Satz, die vier Packpferde trotten hinterdrein – und da bricht der Holzsteg unter ihnen entzwei! Es kracht und knirscht entsetzlich und die Pferde stoßen erbärmliche Wieherschreie aus. Escobar flucht und versucht, sich aus den Steigbügeln und dem Gewirr der Zügel zu befreien. Aber es hilft alles nichts: Unter ihm öffnet sich ein Abgrund, der ihn mit allen fünf Pferden verschlingt!

Sandoval, Diego, Marina, sogar unsere beiden Priester – alle schreien und stöhnen wie aus einer einzigen Kehle auf, als vor unseren Augen die unermesslichen Goldschätze untergehen. Nur unser Herr schaut stumm und scheinbar ungerührt in das schwarze Wasser hinab. Weder von Escobar noch von einem der Pferde ist auch nur die geringste Spur zu sehen. Der See hat sie verschluckt – und ich ahne, dass er sie auch nicht wieder hergeben wird. So wenig wie das Gold.

»Weiter!«, ruft Cortés und deutet gebieterisch auf den offenen See hinaus. »Den Schatz holen wir uns später zurück!«

Diego schaut mich aus weit aufgerissenen Augen an. »Was hat er da gesagt?«, fragt er. Und wieder komme ich nicht dazu, ihm zu antworten, aber ich hätte auch diesmal keine Antwort gewusst.

Der Dammweg vor und hinter uns wimmelt vor aztekischen Kriegern. Diego hat längst sein Kurzschwert aus dem Gürtel gezogen und verteidigt sich selbst, die Priester und die Frauen, so gut es gehen mag.

Ich bin kein mutiger Kämpfer, ich bin es nie gewesen. Ich verabscheue den Krieg, und er zahlt es mir heim, indem er mich zu Tode ängstigt. Aber jetzt bleibt auch mir keine Wahl mehr: Ich beuge mich zu einem unserer Männer hinab, die kreuz und quer auf dem Dammweg liegen, so starr, wie nur Tote daliegen können. Ich nehme ihm weg, was er nie wieder brauchen wird – seinen Schild, seinen Helm und sein Schwert. Aus seinen Taschen schimmert es golden hervor, aber die rühre ich nicht an.

Das Schwert ist so schwer, dass ich den Knauf mit beiden Händen umklammern muss. Ich schwinge es hoch empor und lasse es niedersausen. Bis in meine Schultern hinein spüre ich, wie die furchtbare Klinge in einen Körper fährt und durch ihn hindurchgeht. Bitte verzeih mir, Carlita!, denke ich wieder. Ich will das hier nicht tun, ich verabscheue es, aber mir bleibt keine Wahl! Ich will leben, auch wenn ich im Moment überhaupt nicht weiß, wie und wozu! Aber ich kann und will mich nicht einfach so abschlachten lassen – und so schwinge ich mein Schwert und kämpfe mich den Dammweg voran, auf das Westufer zu, das quälend langsam näher rückt.

Schließlich stehen wir vor der nächsten Lücke im Damm, doch nun haben wir keinen Steg mehr – nur noch ein sieben oder acht Schritte breites Loch vor uns, mit schwarzem Wasser gefüllt! Die Azteken beschießen uns vom See her mit Speeren und Pfeilen. Sie sind überall, auch auf dem Weg um uns herum, und für jeden Krieger, den mein Schwert trifft, scheinen drei weitere aus dem Boden zu wachsen.

»Springt!«, schreit Sandoval und macht es uns auch gleich vor. Er schwingt sich aus dem Sattel, springt in den See hinab und zieht sein sich sträubendes Pferd am Zügel hinter sich her. Seine Stute wiehert erschrocken, mit gewaltigem Platschen schlagen Pferd und Reiter auf dem Wasser auf. Doch kurz darauf sehe ich den »Tollkühnen« neben dem Damm mit Händen und Füßen paddeln, und sein Pferd folgt ihm schnaubend und mit den Hufen stampfend. »Bis zum Ufer … eine Viertelmeile!«, hören wir Sandovals abgerissene Rufe, dann verschlucken ihn der Nebel und die Nacht.

Unser Herr schwingt sich aus dem Sattel. Mit seiner Schwerthand wehrt er die Angreifer ab, mit seiner Linken packt er Marina beim Handgelenk. »Die Armbrustschützen geben uns Feuerschutz!«, ruft er. »Alle anderen mir nach! Hinab in den See und auf zu neuen Ufern!« Es klingt wahrhaftig so, als ob ihn diese irrwitzige Verfolgungsjagd erfreuen würde!

Unsere Armbrustschützen senden Pfeil auf Pfeil in die Nebelschwaden hinaus und halten die Kanus auf Abstand. Beklommen sehe ich zu, wie unser Herr in die Tiefe springt, die schreiende Marina an seiner Seite und seinen Schimmelhengst im Schlepptau. Wie Sandoval tauchen sie kurz darauf aus den Fluten auf und streben prustend und paddelnd dem Ufer entgegen.

Immer paarweise, Hand in Hand, springen nun eine Frau und ein Page in den See hinab, bis von unserer Gruppe schließlich nur Aguilar und ich noch übrig sind. Der Tätowierte reicht mir seine Hand, und nach kurzem Zögern ergreife ich sie und ziehe ihn mit mir, wie Cortés es machen würde. Und wie unser Herr springe ich mit einem Satz in die schwarzen Fluten hinab und rufe: »Auf zu neuen Ufern!«

- 7 -

Als über Texcoco auf der anderen Seeseite die Sonne aufgeht, sitzen wir unweit dem Westufer im Gras unter einem gewaltig großen Baum. Seine Blätter sind so fein wie Vogelfedern gefächert und bewegen sich flirrend im leichten Wind. Wir – das sind Cortés und seine Vertrauten, Tapia und Guerrero, Marina und die beiden Patres, Diego und ich. Der Rest unseres grausam geschlagenen Trupps lagert im Gras um uns und den Baum herum.

Von den mehr als Tausend Mann, die sich um Mitternacht aus dem alten Königspalast davongestohlen haben, sind nur noch rund dreihundert am Leben. Wir haben fast alle unsere Pferde verloren, sämtliche Geschütze und fast alles Gold. Von unseren tlaxcaltekischen Verbündeten haben weniger als Hundert überlebt, darunter Prinz Xicotencatl. Viele unserer Männer sind ertrunken, weil die Goldbarren in ihren Taschen sie zum Grund des Sees hinabzogen. Unsere gesamte Nachhut mit allen sechzig Reitern und sämtlichen Fußsoldaten wurde bei der ersten Bresche im Dammweg von den Azteken regelrecht abgeschlachtet. Die Toten und Verwundeten häuften sich in der Lücke schon meterhoch übereinander – da rannten Portocarrero und Alvarado über diesen makabren Steg aus Leibern hinweg und waren gerettet. Doch sie ließen unzählige ihrer Männer im Stich. Noch von weit draußen auf dem See hörten wir sie wehklagen und schreien. »Bringt uns um, ihr Hunde! Erschlagt uns, wie unsere Kameraden!«, schrien sie. Und kurz darauf: »Alvarado, du verdammter Feigling, komm zurück! Sie bringen uns zu ihren Teufelspriestern!«

Doch schließlich verstummten ihre Schreie, so wie endlich auch alle anderen Kampfgeräusche erstarben. Aus irgendeinem Grund gaben sich Cuitláhuacs Krieger damit zufrieden, dass sie uns aus ihrer Stadt vertrieben hatten. Vielleicht glaubten sie, dass von uns keine Gefahr mehr ausging, oder ihre Vorstellungen von ehrenvollem Verhalten hinderten sie, einen bereits besiegten Gegner vollständig zu vernichten.

Aber wozu sollten sie sich diese Mühe auch machen? Wir sind geschlagen und werden uns niemals mehr von dieser Niederlage erholen – davon ist nach dieser schrecklichen Nacht gewiss jeder von uns überzeugt. In tödlichem Schweigen sitzen oder liegen wir da, während die Sonne langsam am Himmel emporsteigt.

Cortés sitzt mit dem Rücken an den mächtigen Baumstamm gelehnt, so starr, so grau, als ob auch er nicht mehr unter den Lebenden weilte. Irgendwann am späten Nachmittag rafft er sich auf und geht zum Seeufer zurück und bleibt dort lange stehen, wieder so reglos wie eine Säule aus Stein.

Der Abend dämmert schon, als er zu uns zurückkehrt. »Diese Nacht verbringen wir noch hier unter freiem Himmel«, verkündet er. »Morgen früh beim ersten Tageslicht ziehen wir weiter. Wir marschieren auf der Nordseite um den See herum. Dieser Weg ist weiter und beschwerlicher, als wenn wir den See auf der Südseite umgehen würden. Aber gerade deshalb wird Cuitláhuac nicht damit rechnen und so werden wir unbehelligt nach Tlaxcala gelangen.«

Er wölbt seine Brust und reckt sein Kinn vor. Seinen Hut hat er in der Schlacht verloren, sein Umhang ist zerfetzt und verschmutzt. Doch seine Augen funkeln schon wieder vor Tatendurst.

»Was wir hinter uns haben«, fährt er fort, »ist eine Nacht der Niederlage. Eine Nacht so schwarz vor Schmerz und Schmach, wie sie bis dahin wohl keiner von uns erlebt hat. Noch drücken Entkräftung und Trauer uns alle nieder. Aber hört mich an! Wir werden uns das Gold aus der Tiefe des Sees zurückholen – und alle Goldschätze, die noch in Tenochtitlan versteckt sind, dazu. Als Erstes werden wir in Tlaxcala neue Kräfte sammeln. Dann werden wir mit Tausend tlaxcaltekischen Trägern nach Vera Cruz gehen und dort einige unserer Schiffe zerlegen. Die Tlaxcalteken werden die Schiffsteile in ihre Hauptstadt tragen und dort werden unsere Zimmerer uns leichte Schiffe bauen, die hier auf dem See manövrieren können.«

Er hat alles schon wieder vorausberechnet!, denke ich, während Cortés unablässig weiterspricht. Neue Zuversicht durchströmt mich, und ich spüre, dass es auch den anderen so geht. So als ob wir alle bereits frische Kräfte gesammelt hätten, rappeln wir uns auf und umringen unseren Kapitän-General.

»Diese Schiffe werden wir mit Geschützen bestücken und drüben bei Texcoco zu Wasser lassen«, erklärt uns Cortés. »Und dann werden wir die Stadt vom See aus beschießen, bis Cuitláhuac kapituliert oder bis dort kein Stein mehr auf dem anderen steht. Wir werden ihre Aquädukte zerstören und die Abflusskanäle auf der Südseite des Sees öffnen und so wird er in kurzer Zeit austrocknen. Wir werden die versunkenen Goldschätze aus dem Schlamm hervorholen und danach werden wir die Seefläche mit dem Schutt der zerschossenen Häuser auffüllen. Wo heute Tenochtitlan und der See ist, wird die neuspanische Hauptstadt Mexiko entstehen, die größte und prächtigste Stadt in der Neuen Welt …«

So beschwört Cortés vor uns eine glanzvolle Zukunft herauf, und obwohl wir eben noch alles verloren glaubten, spüren wir mit jeder Faser unseres Herzens: So wird es kommen, ganz genau so!

Ich werde Carlita wiederfinden, träume ich still für mich, und ich werde ihre Tränen trocknen und sie für immer in meine Arme schließen. Wir werden uns ein bescheidenes Haus bauen, gerade dort, wo heute die rußgeschwärzte Tempelruine steht. Wir werden wieder in Xochiquetals Quelle baden und für immer in Liebe zusammenleben.