NEUNTES KAPITEL
Seid mein Gast in eurem Reich

- 1 -

Mitternacht ist vorbei, doch in dieser Nacht wird niemand von uns ein Auge zutun. Cortés hat angeordnet, die Wachen zu verdoppeln, die Kanonen zu laden und die Zünder zu überprüfen. Auch unsere Armbrustschützen sind in Alarmbereitschaft versetzt. Sie liegen oben auf dem Palastdach auf der Lauer und beobachten unaufhörlich das Herz Unserer Welt.

Doch auf dem Platz scheint alles ruhig zu sein. Nur die Götzenpriester drüben auf der Großen Pyramide haben mit ihren Muscheltrompeten zur Mitternachtsstunde geblasen. Morgen früh werden sie in gleicher Weise wie immer den Sonnenaufgang verkünden – und unseren schmählichen Abzug dazu?

In meinem Kopf geht alles durcheinander, und mehr noch in meinem Herzen. Was bleibt uns jetzt noch übrig, als unser Heil in der Flucht zu suchen? Aber in mir sträubt sich alles gegen diesen Gedanken: davonzuschleichen wie Diebe in der Nacht. Aus der Alten Welt verstoßen und aus der Neuen verjagt!

Auf Cortés’ Geheiß haben wir uns wiederum in unserem Palast im Thronsaal der früheren Aztekenherrscher versammelt. Vorher hat er uns in den Saal neben seinen Gemächern befohlen, in dem die Funde aus jenem Versteck aufgehäuft liegen. Dort ließ er seine Vertrauten und die anderen Hauptleute den ungeheuren Schatz aus dem vermauerten Tempel begutachten. Mit ausdrucksloser Miene schaute er zu, wie sie die goldenen Figuren betasteten, Goldketten durch ihre Finger rinnen ließen, sich grinsend in Tellern aus Gold und in Schalen aus Silber spiegelten. Sie badeten ihre Hände in jenem Bottich, der mit Tausenden von Tränen des Sonnengottes gefüllt ist. Ihre Augen begannen zu glitzern, ihre Stimmen wurden schrill, auf ihren Stirnen schimmerte der Schweiß. Und sobald die Gier nach dem Gold in ihnen allen aufs Neue geweckt war, schickte Cortés sie hinaus und befahl ihnen, sich unten im Thronsaal zu versammeln.

Ließ er sie deshalb vorher den gewaltigen Schatz sehen – damit sie, vom Goldfieber ergriffen, nicht das Irrsinnige seines Plans erkennen? Schließlich kann einen solchen Plan nur ein Wahnsinniger ausbrüten – oder ein Mann, dessen Wege Gott selbst vorherbestimmt!

»Du glaubst doch nicht im Ernst, Hernán, dass sie uns freiwillig mit ihrem Gold abziehen lassen?«, rief Alvarado aus, kaum dass wir hier im Thronsaal zusammengekommen waren. »Was dieser Cuitlá-Sonstwas vorhin gesagt hat, war keine leere Drohung! Der Kerl will uns die ganze Zeit schon an den Kragen – und nur weil sein Bruder bisher glaubte, dass du Quetzal-Cortés wärest, musste er stillhalten! Aber damit ist es jetzt offenbar vorbei: Er wird uns angreifen – entweder noch hier in der Stadt oder draußen auf dem Damm, falls wir so dumm sein sollten, uns auf diesem Weg davonzumachen.«

»Einen anderen Weg gibt es allerdings nicht«, sagte Sandoval. »Und der Kerl heißt Cuitláhuac – aber in allem anderen gebe ich dir recht, Pedro: Wir sitzen in der Falle und werden unter dem Messer ihrer Opferpriester enden, wenn uns nicht ganz schnell ein überzeugender Plan einfällt.«

Daraufhin schrien alle durcheinander – Portocarrero sowieso, aber auch die beiden Franciscos, Tapia und einige andere Hauptleute, die Cortés zu dieser Besprechung befohlen hatte.

»Ich war immer dagegen, dass wir hierhermarschieren«, behauptete Morla und raufte sich den honigblonden Bart. »Wenn Velazquez wüsste, wo wir uns hier hineingeritten haben …«

Alvarado sah ihn so drohend an, dass er es vorzog, seinen Satz nicht zu beenden.

»Und ich sage: Wir gehen jetzt zu dem verdammten Oberhäuptling hinüber und zünden ihm seinen stinkenden Palast unter seinem verschissenen Hintern an!«, brüllte der »Dröhnende«. Er schüttelte seine Faust in Sandovals Richtung. »Da hast du deinen überzeugenden Plan, Ritter vom Veilchenhain!«

»Recht hat er!«, murmelte Diego, der neben mir an der Wand lehnte. »Wenn wir schon sterben müssen, dann im offenen Kampf!«

Ich warf ihm einen raschen Blick zu. Diego sah elend aus vor Angst. Den Kopf des armen Argüello hat er glücklicherweise nicht zu sehen bekommen – auf Geheiß unseres Herrn habe ich ihn Fray Bartolomé übergeben, damit der ihn bis zur feierlichen Bestattung verwahrt. Aber die Nachricht, dass an der Küste einer der Unseren von aztekischen Kriegern gefangen und ihren Götzenpriestern geopfert worden ist, verbreitete sich bei uns natürlich in Windeseile. Und sich den abgehackten Kopf eines Gefährten vorzustellen ist wahrscheinlich sogar noch grauenvoller, als ihn leibhaftig zu sehen. Wenn auch nicht annähernd so grässlich, wie ihn in Händen zu halten.

»Wenn du willst, dass sie dir dein Herz herausreißen – nur zu, Alonso! Geh rüber und zünde seinen Palast an!«, entgegnete Sandoval dem »Dröhnenden«.

Aufs Neue schrien alle durcheinander. Ihre Stimmen klangen erregt, ihre Augen glitzerten – vor fiebriger Gier, doch ebenso vor Angst.

»Jetzt haben sie einen von uns dem Teufel geopfert!«, schrie einer von Velazquez’ Gefolgsleuten. »Und damit haben sie den Satan selbst auf ihrer Seite, mit seiner ganzen Heerschar böser Geister – ihr werdet schon sehen!«

»Lieber nicht – lasst uns verschwinden, Kapitän-General!«, schrie ein anderer. »Solange uns noch ein Herz in der Brust schlägt und solange wir unseren Kopf noch auf dem Hals tragen!«

»Ihr habt doch das Gold gesehen!«, hielt Tapia entgegen. »Davon gibt es hier bestimmt noch viel mehr! Wir können doch nicht einfach verschwinden, ohne das alles vorher einzusammeln!«

»Aber ihre Zauberer können grässliche Geister beschwören – sagen die Tlaxcalteken!«, schrie wieder ein anderer Konquistador. »Gespenster, die ihren Kopf unter dem Arm tragen und ihren Brustkorb auf- und zuschnappen lassen!«

Unser Herr nahm seinen Hut vom Kopf und ließ ihn achtlos neben sich auf den Thron fallen. Auf sein Geheiß hat Diego heute früh die roten Federn wieder von der Krempe entfernt. »Hört auf, wie Hühner durcheinanderzugackern!«, befahl er uns. »Wir haben eine Mission zu erfüllen, wie könnt ihr das nur vergessen?« Er saß so aufrecht auf dem Thron, als ob er Montezumas Zepter verschluckt hätte. »Gott selbst hat uns hierhergeschickt!«, rief er aus. »Wir sind getaufte Christen – kein Teufelszauber kann einem von euch etwas anhaben, solange ihr nur euren Glauben bewahrt! Unsere Mission wird erst dann erfüllt sein, wenn sich Montezuma zum einzig wahren Glauben bekannt und unserem König den Vasalleneid geleistet hat. Und noch dazu ist die ganze Stadt voller Gold! Es quillt aus allen Kellern und Mauerlöchern! Was bringt euch nur auf die Idee, das alles aufzugeben – ohne jede Not?«

Wir starrten ihn ungläubig an. Wieder schrien alle durcheinander.

»Ohne jede Not?«, wiederholte Alvarado. »Was bei allen Heiligen soll das heißen, Hernán?«

Unser Herr reckte sein Kinn vor und starrte ins Leere – oder in eine glänzende Zukunft, die allein er vor sich ausgebreitet sah. »Habe ich euch nicht schon mehrfach von dem Traum erzählt, der mich in letzter Zeit immer wieder heimsucht?«, fragte er in anklagendem Tonfall. »Es ist einer jener Träume, die Gott der Herr mir schickt, um mir den Weg zu weisen.«

Seine Vertrauten wechselten verstohlene Blicke. Francisco de Morla verdrehte sogar die Augen und schaute den anderen Francisco in einer Weise an, als wollte er sagen: Siehst du jetzt, dass er den Verstand verloren hat?

»In dem Traum sitze ich mit Montezuma zusammen auf einem Thron«, fuhr Cortés fort. »Die Botschaft, die Gott der Herr mir durch diese Vision schickt, ist vollkommen klar: Ich soll Montezuma nicht gewaltsam von seinem Thron verdrängen, sondern mit ihm und durch ihn das Land regieren und auf diese Weise langsam und unmerklich die Herrschaft an mich ziehen.«

Unser Herr unterbrach sich und schaute sich suchend um, bis sein Blick auf mich traf. Er nickte mir zu und jenes Lächeln kräuselte seine Lippen. Doch ehe er weitersprechen konnte, rief Sandoval aus: »Die Herrschaft an dich ziehen – wie stellst du dir das um Himmels willen vor, Hernán? Du hast doch selbst gesehen, dass sein Bruder ihm die Zügel aus der Hand genommen hat!«

Noch nicht!, schoss es mir durch den Kopf, und mein Herz begann mit einem Mal, wie irrsinnig zu hämmern. Noch ist es nicht so weit!, dachte ich und verstand selbst nicht einmal zur Hälfte, was diese Gedankenfetzen bedeuteten. Aber ich spürte, dass ich drauf und dran war, einen Blick in Montezumas Herz zu erhaschen. Vor Aufregung vergaß ich wieder einmal zu atmen.

»Ich habe mich getäuscht«, räumte Cortés freimütig ein, »wenn auch nicht im Grundsatz, so doch in einer wichtigen Einzelheit. Der Thron, von dem aus ich mit Montezuma dieses Reich regieren soll – als Statthalter Gottes und unseres Königs –, steht nicht drüben in Montezumas Palast.«

Er klopfte neben sich auf den mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Sitz. »Dieser Thron steht hier! Was starrt ihr mich so an?«, fuhr er fort. »Gleich morgen früh werde ich zu Montezuma hinübergehen und ihn einladen, für eine gewisse Zeit mein Gast zu sein.«

»Dein Gast zu sein?«, schrie Portocarrero. »In seiner eigenen verfluchten Stadt, seinem eigenen mit Teufelsfladen zugeschütteten Reich?«

»Wo sonst, Alonso?«, gab Cortés zurück. Er erhob sich von seinem Thron. »Und jetzt lasst uns bei einem kräftigenden Mahl besprechen, wie wir die Aktion im Einzelnen durchführen werden.«

- 2 -

Während wir uns mit Kakao, Tortillas und kaltem Truthahnbraten stärken, erklärt uns Cortés, wie »die Aktion« im Groben ablaufen soll. Unter dem Vorwand, von Montezuma Abschied zu nehmen, wird er mit vier Hauptleuten und dreißig Leibwächtern am frühen Vormittag in den Königspalast hinübergehen. Auch Marina und ich sollen dabei sein, sonst aber niemand, damit die Palastwache keinen Verdacht schöpft. Unsere Soldaten werden wie jedes Mal im Vorraum vor Montezumas Thronsaal zurückbleiben. Auf ein Zeichen von Cortés hin sollen sie notfalls hereingestürmt kommen. Montezumas Leibwache vor dem Thronsaal besteht allerdings aus mehreren Dutzend schwer bewaffneten Kriegern und auch im Saal selbst halten sich meist einige bewaffnete Wächter auf.

»Montezuma müsste freiwillig mitkommen«, sagt Alvarado. »Aber wie willst du ihn dazu bringen, Hernán? Wenn Cuitláhuac anwesend ist, können wir unseren Plan sowieso gleich vergessen. Aber selbst wenn wir in diesem Punkt Glück haben sollten – was könnte Montezuma veranlassen, dich hierherzubegleiten?«

»Nach dem Zusammenstoß gestern Abend wird er auf der Hut sein«, pflichtet Sandoval bei. »Auch wenn er wohl nicht im Traum daran denkt, dass wir so dreist sein könnten, ihn aus seinem eigenen Palast zu entführen.«

»Das haben wir auch nicht vor!«, entgegnet Cortés in strengem Tonfall. »Wir sind keine Räuber und wir entführen erst recht keine Könige.«

Francisco Montejo gibt ein Schnauben von sich, das halb empört und halb belustigt klingt. Doch Cortés sieht ihn durchbohrend an, und so zieht es Montejo vor, seine Ansichten für sich zu behalten.

»Er wird mitkommen, ohne Gewalt«, beharrt Cortés. »Ich bin mir nur noch nicht ganz im Klaren, wie wir ihn in Bewegung setzen werden.«

Wieder schaut er suchend umher. »Orteguilla, dich wollte ich vorhin schon nach deiner Meinung fragen«, sagt er und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich stoße mich von der Wand ab, an der ich neben Diego gelehnt habe, und schlucke krampfhaft. Alle Blicke sind auf mich gerichtet – und ich habe nicht die blasseste Ahnung, was ich jetzt antworten soll! Oder vielmehr, eine Ahnung habe ich schon, aber sie ist so verworren, dass ich sie unmöglich vor Cortés und seinen Hauptleuten ausbreiten kann. Ich würde mich für alle Zeiten lächerlich machen – und unseren Herrn dazu, weil er mir zugetraut hat, dass ich ihnen irgendwie weiterhelfen kann!

»Nun, Orteguilla«, ermahnt mich Cortés, »öffne uns dein Herz!«

Da bricht es aus mir heraus: »Montezuma ist wie Leonel, Herr! Wie mein Zwillingsbruder, der nur wenig vor mir zur Welt gekommen und deshalb aber der rechtmäßige Erbe ist! Für mich dagegen war kein Platz auf dem Hof unseres Vaters – und so herrschte von früh an Zwietracht zwischen Leonel und mir! Genauso verhält es sich bei Montezuma und seinem Bruder Cuitláhuac – das weiß ich genau!«

Plötzlich wird mir bewusst, was ich da für ein wirres Zeug gestammelt habe, und ich beiße mir auf die Zunge. Gleichzeitig wird mir heiß, und ich spüre, wie ich glühend rot werde – wenn auch nicht halb so rot wie das Gesicht von Portocarrero, der mich aus voller Kraft anschreit: »Lass uns mit deinen weichkäsigen Kindergeschichten zufrieden, du Milchbart! Was interessiert es uns, dass dein Papa dich vom Hof gejagt hat! Der Alte wird schon gewusst haben, warum!«

»Halte einmal deinen Mund, Alonso!«, sagt Cortés halb in Gedanken. »Und du rede weiter, Orteguilla!«, wendet er sich wieder an mich. »Wie meinst du das: Du weißt, wie es um Montezuma und seinen Bruder steht?«

»Das … das … nun ja, Herr«, stammele ich. »Es ist nicht leicht zu erklären. Bitte hört mich noch einen Moment länger an!« Ich hole tief Luft und beginne von Neuem. »Bei meinem Bruder Leonel war es so, dass er sich immer gewünscht hat, mit mir in brüderlicher Eintracht zu leben – nur ging es eben nicht, weil er der Begünstigte war und ich es ihm neidete und deshalb in allem schlecht von ihm dachte! Und auch ich konnte nicht anders, obwohl ich ja wusste, dass ihn keine Schuld traf! Und so hat er sich einem Jungen aus der Nachbarschaft angeschlossen, den er ›Bruder‹ nannte, obwohl dieser andere nicht einmal entfernt mit uns verwandt ist! Aber Leonel liebte und bewunderte ihn wie einen Bruder – und genauso«, schloss ich endlich, »verhält es sich wohl mit Montezuma und Cuitláhuac. Und, Herr, mit Euch.«

»Mit mir?«, wiederholt Cortés, und an seinem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass er anfängt zu begreifen. »Du meinst, Montezuma sieht in mir jenen anderen Bruder, der ihm den wirklichen, aber verfeindeten ersetzen soll? Aber wie kommst du darauf?«

Ich stülpe meine Unterlippe vor und puste mir Kühlung zu. Noch immer glüht mein Gesicht bis in die Stirn hinauf, aber nun ist es ein Glühen vor Stolz. Ich spüre, dass Cortés mir glaubt, und vor allem spüre ich, dass es mir wahrhaftig geglückt ist, Montezumas Herz zu ergründen!

»Er selbst hat es mir offenbart, Herr«, antworte ich. »Beim Abstieg von der Großen Pyramide sagte er zu mir: ›Don Hernando wird mein Bruder sein, weil ich das so wünsche!‹ Damals verstand ich nicht, was seine Worte bedeuten sollten, aber jetzt spüre ich ganz deutlich: Wenn Ihr ihn als sein Bruder darum bittet, wird er Euch hierherbegleiten und diesen Thron mit Euch teilen.«

Wieder starren mich alle an. Doch diesmal lese ich auf ihren Gesichtern, dass ich sie überzeugt habe oder dass sie zumindest nachdenklich geworden sind.

»Also dann, Hernán«, sagt schließlich der »Durchtriebene«, »machen wir uns bereit, deinen Herzensbruder heimzuholen!«

Cortés schenkt ihm keinerlei Beachtung. »So könnte es wirklich gehen«, sagt er. »Wir werden ihn hier in allen Ehren aufnehmen und weiterhin als König behandeln. Er soll von diesem Thron aus regieren wie bisher – nur mit dem Unterschied, dass ich neben ihm sitzen werde. So wie es mir geträumt hat und so wie er selbst es sich anscheinend wünscht.«

Cortés hebt seinen Blick und ein heiteres Lächeln fliegt über sein Gesicht. »Und du, Orteguilla, wirst unser beider Page sein!«

- 3 -

»Ist es Euer schmerzendes Herz, Don Hernando«, fragt Montezuma lächelnd, »das Euch zu so früher Stunde zu mir treibt? Lechzt ihr nach weiteren Tränen des Sonnengottes?«

»Ihr seid zu großzügig, edler Freund«, antwortet Cortés.

Hinter Montezumas Thron sind wieder die greisen Ratgeber versammelt. Doch im Augenblick sind keine Wächter im Saal und auch den grimmigen Cuitláhuac kann ich nirgends entdecken.

Cortés grüßt die Ratgeber ehrerbietig. Dabei geht er auf Montezuma zu, gefolgt von seinen drei Vertrauten, Tapia und mir. Marina hält sich dicht neben unserem Herrn. Sie trägt ihre Halskette mit dem massiven Goldkreuz, und ihre Augen sind unverwandt auf Cortés gerichtet, so als ob sie ihn verzaubern wollte.

»Ihr habt sicher bemerkt, dass ich sehr beschäftigt bin«, sagt Montezuma zu unserem Herrn und macht eine Handbewegung zur Tür hin. »Aber für Euch habe ich immer Zeit, mein Freund.«

Obwohl wir keinen Boten vorausgeschickt haben, um uns anzumelden, hat er uns unverzüglich in seinen Thronsaal vorgelassen. Dabei drängen sich unten in der Halle und im Innenhof unzählige Bittsteller und Abgesandte.

»Wollt Ihr die wirklich alle empfangen?«, fragt Cortés.

»Jeden Einzelnen«, bestätigt Montezuma. »Sie alle haben eine Beschwerde vorzubringen oder wollen einen Rat erbitten. Und ich habe für jeden ein offenes Ohr – so bin ich immer auf dem Laufenden und weiß ganz genau, was in den Köpfen und Herzen meiner Untertanen vorgeht.«

Cortés wechselt einen Blick mit Alvarado. »Ihr seid ein guter Herrscher, Montezuma«, sagt er, »und Euer Land ist wohlbestellt.« Er scheint wirklich beeindruckt.

Das Lob unseres Herrn heitert Montezuma noch weiter auf. »Vielleicht schmerzt Euer Herz heute ja auf eine Art, gegen die kein Gold hilft?«, fragt er mit schelmischem Lächeln. »Auch dafür weiß ich eine Arznei: Ich gebe Euch eine meiner Töchter zur Frau! Was haltet Ihr davon, Don Hernando? Oder auch zwei, wenn Ihr mögt«, fügt er hinzu und sein Lächeln wird zum verschwörerischen Grinsen.

Marina hat diese letzten Sätze des Herrschers nur widerwillig übersetzt. Grimmig schaut sie Cortés an, doch gleich darauf hellt sich ihr Gesicht wieder auf.

»Ich bin ein Christ und achte die Gebote Gottes«, antwortet unser Herr in feierlichem Tonfall. »Eine ungetaufte Frau kann niemals mein Herz für sich gewinnen. Außerdem habe ich bereits eine Frau.«

Er wölbt seine Brust heraus und reckt das Kinn vor. Seine Miene verhärtet sich. »Genug der scherzhaften Vorreden!«, sagt er. »Ihr habt im Land der Totonaken gegen meine Garnison Krieg geführt, Montezuma! Wie könnt Ihr mich Freund nennen, wenn Ihr gleichzeitig Euren Offizieren befehlt, gegen meine Männer zu kämpfen? Soll sich alles, was in Cholollan geschehen ist, noch einmal wiederholen?«

Montezuma starrt ihn entgeistert an. »Aber so war es nicht!«, wendet er in kläglichem Tonfall ein. »Ihr wart doch selbst zugegen, als mein Bruder Cuitláhuac erklärt hat, dass sich die Dinge in Cempoallan ganz anders zugetragen haben!«

»Euer Bruder!«, wiederholt Cortés. »Merkt Ihr nicht, dass er Euch zu schaden versucht? Wahrscheinlich säße er gerne selbst auf Eurem Thron!«

Montezuma beobachtet ihn mit bebenden Lippen. »Bei allen Göttern, worauf wollt Ihr hinaus?«

»Ich hatte so sehr gehofft, mein Freund«, gibt Cortés zurück, »dass Ihr mich als Euren Bruder ansehen würdet!«

Da erhebt sich Montezuma von seinem Thron und streckt unserem Herrn seine Hände entgegen. »Für mich seid Ihr mein Bruder!«, ruft er aus. »Es ist mein heißester Herzenswunsch!«

Cortés ergreift seine Hände und zieht den Herrscher nahe an sich heran. »Dann kommt mit mir in meinen Palast, mein Bruder!«, sagt er in eindringlichem Tonfall. »Ich bin bereit, Euch zu vergeben, doch meine Hauptleute bestehen darauf, dass Ihr uns begleitet.« Er deutet mit dem Kopf zu seinen drei Vertrauten und Tapia. »Sie werden Euch auf der Stelle töten«, fügt er hinzu, »wenn Ihr um Hilfe ruft oder Euch in irgendeiner Weise sträubt.«

Montezuma ist nun vollkommen fassungslos. Abwechselnd starrt er Cortés und Marina an, Portocarrero und die anderen Hauptleute, deren Hände auf dem Knauf ihrer Waffen ruhen. Schließlich löst er sich aus Cortés’ Griff und sinkt auf seinen Thron zurück.

»Ich bin der König!«, murmelt er. »Ich bin nicht dazu geschaffen, in den Kerker zu gehen.« Seine Augen sind weit aufgerissen, seine Nasenflügel beben. Er wendet sich zu seinen Ratgebern um, doch die alten Männer wirken allesamt wie versteinert.

»Wer redet denn vom Kerker?«, antwortet ihm Cortés. »Begleitet mich, und ich schwöre Euch bei allem, was mir heilig ist, dass Euch kein Leid geschehen wird.«

Montezuma schüttelt bekümmert sein blau gefiedertes Haupt. »Die Götter werden Euch zürnen, wenn Ihr mich, den König, gefangen nehmt! Ihr würdet den Himmel kränken, die Mächtigen der Ober- und der Unterwelt!« Einige Augenblicke brütet er vor sich hin. »Ich weiß einen Ausweg!«, ruft er dann und schaut Cortés fast triumphierend an. »Ich übergebe Euch drei meiner Söhne! Nehmt sie in Gewahrsam – so vermeidet Ihr die Kränkung der Götter und die Beschmutzung der Königswürde!«

Cortés wendet sich um. »Was sagt ihr dazu?«, fragt er seine Hauptleute.

Wie sie es vorher abgesprochen haben, schütteln alle vier gleichzeitig den Kopf. »Kommt nicht infrage!«, sagt Alvarado. »Auch wenn er dein brüderlicher Freund ist, Hernán – wir bestehen darauf, dass er mitkommt. Wenn du ihn nicht davon überzeugen kannst, werde ich ihn hier auf seinem Thron hinrichten.«

Unser Herr ringt die Hände. »Ihr seid hart und herzlos!«, ruft er seinen Vertrauten zu. »Vielleicht hat sich ja doch alles so zugetragen, wie es Cuitláhuac dargestellt hat?«

»Um das herauszufinden«, gibt Alvarado prompt zurück, »müssen wir zuerst Boten zur Küste hinunterschicken. Und bis dahin muss Don Montezuma auf jeden Fall unser Gast sein.«

»So müsste es gehen«, murmelt Cortés und schaut scheinbar nachdenklich vor sich hin. »Meint Ihr nicht auch, mein Freund?«, wendet er sich an Montezuma. »Am besten schickt Ihr unverzüglich einige Gesandte los. Und bis sie zurück sind, führt Ihr einfach von meinem Palast aus Eure Regierungsgeschäfte weiter! Niemand wird etwas Besonderes daran finden – warum auch? Ihr werdet einfach erklären, dass Ihr Euren Amtssitz für ein paar Wochen in den alten Königspalast verlegt, um unsere Freundschaft zu festigen. Was sagt Ihr nun, mein edler Bruder?«

Cortés ergreift erneut beide Hände des Herrschers und zieht ihn von seinem Thron hoch. Er schaut ihn so durchbohrend an, wie nur er das kann, und da gibt sich Montezuma schließlich geschlagen.

»Um Euch zu zeigen, dass ich guten Willens bin«, sagt er mit leiser Stimme, »werde ich mit Euch gehen. Und ihr«, wendet er sich an seine Ratgeber, »folgt mir hinüber in den Palast meines Vaters!«

Die Ältesten wechseln Blicke. Ihre Lippen sind zusammengekniffen, ihre Augen schmale Schlitze. Ich kann den meisten von ihnen ansehen, dass sie diesem Befehl nicht folgen werden.

Eine halbe Stunde später hat Montezuma drei Gesandte nach Cempoallan losgeschickt, begleitet von Sandoval und seinen kampferprobtesten Soldaten. Der Aztekenherrscher tritt zusammen mit unserem Herrn aus dem Thronsaal in den Vorraum. Er weist seine Wächter an, auf ihrem Posten zu bleiben, und geht mit Cortés die Treppe hinunter in die Halle. Dort warten schon seine fürstlichen Träger mit der blau gefiederten Sänfte, die mit Gold und Edelsteinen übersät ist.

Montezuma setzt sich hinein, ohne nach links oder rechts zu schauen. Er wirkt benommen und niedergedrückt. »Macht alles, was Don Hernando Euch befiehlt!«, sagt er zu seinen Trägern.

Sie schauen ihn voller Bestürzung an und wechseln besorgte Blicke. »Wollt Ihr, dass wir zu unseren Waffen greifen, Großer Montezuma?«, fragt einer von ihnen. »Drohen die bärtigen Fremden Euch mit Gewalt, falls Ihr nicht mit ihnen geht?«

Montezuma schüttelt den Kopf, ohne irgendjemanden anzusehen. »Huitzilopochtli hat mir eine Botschaft gesandt«, antwortet er. »Um meiner Gesundheit willen soll ich einige Zeit mit meinen spanischen Freunden verbringen. Ich folge ihnen aus freien Stücken.«

Mittlerweile steht die Sonne hoch am Himmel und der Platz ist wieder voller Schaulustiger. Der Zepterträger marschiert der königlichen Sänfte voran und Cortés wandelt neben Montezuma her. Seine Hauptleute und unsere dreißig bewaffneten Soldaten folgen – ein lachhaft kleiner Trupp inmitten Tausenden von Indianern. Doch alle sehen nur stumm und starr zu, wie wir uns einen Weg zu unserem Palast bahnen.

»Sollen wir gegen die Fremden kämpfen, Großer Montezuma?«, ruft einer der Wächter vor den Opferzellen zu uns herüber. »Haben sie Euch in ihrer Gewalt?«

Aber Montezuma antwortet nur: »Nein, ich begleite sie, weil Huitzilopochtli das so will.« Vier oder fünf seiner Ratgeber folgen ihm und so sieht es zumindest nicht ganz und gar nach einer Entführung aus.

Während der Eingang zu unserem Palast mit den drohend auf den Platz gerichteten Kanonenrohren bereits in Sicht kommt, winkt mich Montezuma an seine Sänfte heran. »Brüder«, sagt er mit benommenem Lächeln zu mir. »Du erinnerst dich doch an unser Gespräch?«

Ich nicke heftig. »Und wie ich mich erinnere, Euer Gnaden!«, antworte ich und werde förmlich überflutet von gegensätzlichen Gefühlen: Stolz und Reue, Triumph und Schuldgefühl … Ich habe sein Herz ergründet!, sage ich mir. Nur deshalb ist er ohne Gegenwehr mitgekommen – weil ich erspürt habe, dass er sich nach der brüderlichen Freundschaft unseres Herrn sehnt!

Doch mein Triumph hat den bitteren Beigeschmack von Verrat. Nur durch jenen schwarzen Zorn, der tief in mir umherrast, konnte ich Montezumas geheime Sehnsucht erspüren und ihn so in die schmachvolle Falle locken – eine Falle, in der ich in dunklen Stunden mit Freuden meinen eigenen Bruder schmachten sähe!

Ich bin nun vollkommen durcheinander. So muss also Montezuma für meine Zurücksetzung büßen, klage ich mich an, für die er doch nicht das Mindeste kann! Durch meine Schuld glaubt er in Cortés den ersehnten Bruder gefunden zu haben. Dabei würde sich unser Herr niemals mit irgendwem verbrüdern – außer mit sich selbst, mit dem Bildnis seiner eigenen strahlenden Zukunft.

- 4 -

Montezuma sitzt auf dem Thron seines Vaters und um ihn herum ist es gespenstisch still und leer. Außer jener Handvoll greiser Ratgeber ist dem Herrscher niemand in unseren Palast gefolgt. Auch von den unzähligen Bittstellern, Beschwerdeführern und Ratsuchenden, die sich drüben in der Halle seines Palastes drängten, hat kein Einziger den Weg hierhergefunden. Dabei sind bereits drei Tage seit unserer »Aktion« vergangen.

Nur eine Handvoll untergeordneter Beamter und Offiziere, die ihm persönlich Bericht erstatten oder Befehle von ihm entgegennehmen müssen, haben sich bisher zu Montezuma vorgewagt. Ab und zu erscheint ein Tributeintreiber, der mit Missernten zu kämpfen hat, oder ein Garnisonskommandeur, dem aufsässige Vasallenhäuptlinge das Leben sauer machen. Den größten Teil des Tages aber erscheint niemand. Und doch harrt Montezuma auf dem Thron aus, als ob alles wie immer wäre.

Er ist bester Laune und scherzt mit Cortés. Stundenlang hält unser Herr ihm Vorträge über Gott und den spanischen König und unser erst seit Kurzem geeintes Königreich. Marina und ich übersetzen, bis uns die Köpfe rauchen. Meine Zunge fühlt sich schon wund und unförmig an, so unablässig muss ich Nahuatl sprechen. Doch Montezuma hört sich alles mit unersättlicher Wissbegierde an. Immer wieder stößt er Begeisterungsrufe aus, wenn unser Herr von den Mirakeln erzählt, die Jesus Christus auf Erden gewirkt hat, und von Seiner wundersamen Auferstehung. Draußen auf dem großen Platz wirkt alles noch immer vor Schrecken wie versteinert – nur Montezuma selbst, der Gegenstand dieser Bestürzung, scheint sein neues Leben förmlich zu genießen.

Fürs Erste darf niemand von uns den Palast verlassen. Montezumas Diener versorgen uns wie bisher mit Lebensmitteln und Wasser, Brennholz und allem anderen, was wir verlangen. Nach wie vor sind unsere Schützen in Alarmbereitschaft und die Wachtposten bei Tag und Nacht verdoppelt. Aber alles bleibt friedlich und still – unheimlich still. So als ob die ganze Stadt um uns herum vergessen hätte zu atmen.

Am fünften Tag nach der »Aktion« kommt ein Bataillon von rund hundert aztekischen Kriegern quer über den Platz auf unseren Palast zumarschiert. Was hat das zu bedeuten? Vielleicht ist es ein Ablenkungsmanöver, auf das der eigentliche Angriff gleich folgen wird?

Guerrero befiehlt den Gewehrschützen, ihre Waffen durchzuladen. Doch da hebt der voranmarschierende Krieger eine Fahne aus weißen Federn und ruft irgendetwas auf Nahuatl. Guerrero versteht »Cempoallan« und »Vera Cruz« – und dann sieht er, dass die Krieger zahlreiche Gefangene mit sich führen.

Der Anführer mit der weißen Fahne und die Gefangenen werden in den Thronsaal gebracht. »Diese fünfzehn Offiziere haben den Angriff auf Eure Männer befohlen, Don Hernando«, sagt Montezuma, nachdem er sich den Bericht des Anführers angehört hat. »Sie gehören allesamt zu unserer Garnison bei Cempoallan. Anscheinend wollten sie sich den Tribut von den Totonaken in die Tasche stecken, doch dann kamen Eure Kämpfer ihnen in die Quere. Sie haben gestanden, dass sie auf eigene Faust gehandelt haben. Hier in Tenochtitlan hat niemand von ihren verbrecherischen Plänen gewusst.«

Montezuma und unser Herr sitzen nebeneinander auf dem Thron, wie so oft in den letzten Tagen. Die Gefangenen kauern vor ihnen auf dem Boden, an Händen und Füßen gefesselt.

»Übergebt sie mir, mein brüderlicher Freund!«, sagt Cortés. »Ich will sie noch einmal befragen und dann das Urteil über sie sprechen.«

Er sieht Montezuma argwöhnisch an, doch der hebt bloß die Schultern und stimmt ohne zu zögern zu. »Sie gehören Euch, Don Hernando«, sagt er. »Macht mit ihnen, was Ihr für richtig haltet. Aber sputet Euch, ich bitte Euch – ich kann Eure Gesellschaft nicht lange entbehren.«

Cortés schaut einen Moment lang wie sinnend vor sich hin. »Das braucht Ihr auch nicht«, entgegnet er dann. »Wir werden sie hier vor Euren Augen befragen.«

Ich zucke zusammen und meine Kehle verkrampft sich vor Schreck. Er will sie befragen lassen! Ich weiß ja, was das zu bedeuten hat!

»Diego«, befiehlt unser Herr, »rufe Fray Bartolomé herbei! Er soll mitbringen, was er für die Befragung braucht. Und dann bestelle Guerrero, dass ich die beiden Juans sehen will – die Raufbolde, die er gestern in den Kerker gesteckt hat, weil sie sich gegenseitig fast die Schädel eingeschlagen haben.«

»Ihr wollt sie sehen?«, wiederholt Diego. »Soll ich sie denn hierher bringen lassen – in den Thronsaal, Herr?«

Cortés hat sich schon wieder abgewendet. Er nickt Diego über die Schulter zu und sagt gleichzeitig zu Montezuma: »Ich hoffe so sehr, mein Freund, dass Ihr die Wahrheit gesprochen habt und Eure Offiziere wirklich ohne Euer Wissen gehandelt haben.«

»Es schmerzt mich, Don Hernando, dass Ihr an meiner Aufrichtigkeit zu zweifeln scheint«, antwortet Montezuma. »Aber befragt sie, solange Ihr wollt – sie werden Euch nur immer wieder versichern, dass sie allein die Schuld an allem tragen.«

Cortés erhebt sich und geht zwischen dem Thron und der Reihe der Gefangenen auf und ab. »Für dieses Verbrechen gibt es nach spanischem Recht nur eine Strafe«, verkündet er, »die Verbrennung bei lebendigem Leib!« Er sieht Montezuma durchbohrend an. »Wer auch immer in diese Verschwörung verwickelt ist – er wird den Flammentod sterben!«

Noch immer wirkt Montezuma durchaus nicht alarmiert. Er schaut von Cortés zu seinen fünfzehn Offizieren, die ihr Leben jetzt schon verwirkt haben, was immer sie aussagen werden. Doch auch Mitgefühl kann ich in seinem Gesicht nicht entdecken. Aber wie könnte er auch ahnen, zu welchen Grausamkeiten Fray Bartolomé fähig ist – ein christlicher Priester von leutseligem Aussehen, der bei jeder Gelegenheit von Güte und Gnade spricht!

Der Pater tritt ein, unter dem Arm ein unheilvoll klirrendes Bündel. Ihm auf dem Fuß folgen die beiden blutdürstigen Soldaten, die unser Herr als »Raufbolde« bezeichnet hat. Tatsächlich sind es Wölfe in Menschengestalt.

Was sodann geschieht, ist grausiger als jede Schlacht, die ich bis dahin miterlebt habe. Gütiger Gott, was würde ich dafür geben, wenn ich auch nur einen kleinen Teil davon ungeschehen machen könnte! Oder wenn ich es zumindest aus meinem Gedächtnis löschen könnte! Das Zuschnappen der glühenden Zange, die Fray Bartolomé so schrecklich kunstfertig gebraucht! Die Schreie, den Geruch nach Blut und verschmorter Haut! Die Fausthiebe und Fußtritte, die die beiden Juans den Azteken versetzten, und das alles immer wieder, bei jedem einzelnen Gefangenen aufs Neue, bis der letzte der gepeinigten Körper sich ein letztes Mal aufgebäumt hat und in sich zusammengesackt ist, von krampfhaftem Zucken geschüttelt!

Am Ende haben sie alle fast wortwörtlich ein und dasselbe ausgesagt: Zuerst das, was sie auf Befehl ihrer Vorgesetzten gestehen sollten, und unter der Folter das, was Fray Bartolomé ihnen in den Mund gelegt hat. Zuerst »Außer uns wusste niemand davon!« und unter der Folter dann »Montezuma hat es uns befohlen«. Und so fünfzehn Mal nacheinander, und am Ende ist der Boden vor dem Thron mit Blut beschmiert, ebenso wie die Hände und Zangen unseres Priesters und die Fäuste unserer beiden »Raufbolde«.

Als alles vorbei ist und die »geständigen« Offiziere abgeführt worden sind, ist Montezuma halb ohnmächtig vor Grauen und Angst. Unser Herr setzt sich mit düsterer Miene wieder neben ihn auf den Thron und gibt sich den Anschein, über einer schwierigen Frage zu brüten.

»Sie werden alle im Feuer sterben, gleich morgen früh«, sagt er schließlich. »Sie werden draußen auf dem Platz brennen – und Eure Priester und Offiziere und alle anderen Würdenträger sollen zusehen, Montezuma!« Er sieht den Herrscher durchbohrend an. »Auch Ihr habt Euer Leben verwirkt«, fährt er fort. »Doch ich habe Euch in mein Herz geschlossen, edler Freund, und so will ich Euch noch einmal vergeben.«

Er reicht Montezuma seine Hand und der Herrscher ergreift sie und bricht in krampfhaftes Schluchzen aus. »Mein Bruder!«, ruft Montezuma aus und zieht unseren Herrn an seine gefiederte Brust.

- 5 -

»Montezuma war immer ein grausamer Herrscher«, sagt Carlita, »aber dein Herr übertrifft ihn bei Weitem!«

Vom Herz Unserer Welt her ertönen die Schreie der fünfzehn Männer, die bei lebendigem Leib verbrannt werden. Cortés hat befohlen, sie mit einer Ankerkette, die wir seit Vera Cruz mit uns führen, nebeneinander an Pfähle zu fesseln, damit sie »wie Fackeln zum Ruhm des Allmächtigen« brennen. Graue Qualmwolken wabern über den Platz und bis in den kleinen Park hinter unserem Palast. Der Gestank ist entsetzlich, aber viel schlimmer sind die Schreie der lebenden Fackeln.

Alle sind auf den Platz hinausgelaufen – unsere Männer, die Tlaxcalteken, unsere aztekischen Diener –, alle wollen sie das grauenvolle Schauspiel unbedingt mitansehen. Ich aber habe unseren Herrn gebeten, im Palast bleiben zu dürfen, und glücklicherweise hat er es mir erlaubt. Mir ist so elend zumute, dass ich fürchte, mich erbrechen zu müssen. Ich halte Carlita fest umschlungen, aber nicht einmal ihre Nähe, ihre Küsse, der Duft ihrer Haare können mich heute ermuntern. Wir liegen auf dem Heu in unserer heimlichen Hütte – und doch sehe ich alles, was draußen auf dem Platz geschieht, so überdeutlich vor mir, als ob ich neben Cortés und Montezuma auf der Tribüne säße, die unsere Handwerker eilends zusammengezimmert haben. Alle sind gekommen, wie unser Herr es vorgesehen hat: die Priester, Offiziere und Würdenträger, überdies Tausende Schaulustige aus der ganzen Stadt.

Vielleicht gehen ihnen die lebenden Fackeln nicht einmal allzu sehr zu Herzen – schließlich haben sie hier auf dem Platz schon unzählige Opfer auf die grässlichste Weise sterben sehen. Aber unser Herr hat befohlen, nicht nur die Todgeweihten in Eisen zu legen. Für jeden sichtbar, thronen er und Montezuma ganz oben auf der Tribüne, und der Aztekenherrscher trägt ein Eisenband um den Hals und eiserne Ketten um seine Hand- und Fußgelenke. Sein Gesicht drückt Angst und tiefe Beschämung aus – auch das sehe ich überdeutlich vor mir, denn mein Gewissen malt es mir seit gestern unablässig vor!

»Cortés setzt nur dort Grausamkeit ein, wo alle anderen Mittel versagen würden«, antworte ich und mir wird noch elender zumute. »Er führt deinen Leuten vor, dass Montezuma seine willenlose Puppe ist – damit sie begreifen, dass er selbst nun ihr wahrer Herrscher ist.«

»Damit werden sie sich nicht abfinden«, murmelt Carlita. »Dein Herr hätte Montezuma nicht vor aller Augen demütigen dürfen. Mein Volk verehrt seine Herrscher seit jeher als große Beschützer, die die Götter ausgewählt haben, damit sie uns vor Not und Leid bewahren. Aber ein König, der sich wie ein Hund an der Leine führen lässt – was für einen Wert hat der schließlich noch?« Sie presst sich an mich und ich spüre ihr ängstlich pochendes Herz an meiner Brust. »Sie werden Montezuma umbringen«, flüstert sie und streicht mir wie tröstend übers Haar. »Und ihr neuer Herrscher wird gegen euch kämpfen, bis keiner von euch mehr am Leben ist!«

»Aber was sollen wir tun, Carlita?«, frage ich.

»Es ist zu spät, Liebster«, flüstert sie. »Ihr hättet niemals hierherkommen dürfen! Jetzt gibt es keine Rettung mehr – für euch nicht und für uns beide erst recht nicht!«

Hastig verschließe ich ihren Mund mit meiner Hand. »Das ist nicht wahr!«, erwidere ich. »Cortés hat alles vorausbedacht. Sein Plan wird aufgehen!«

Die Schreie vom großen Platz her sind endlich verstummt. Doch der Gestank nach brennendem Haar und kochendem Blut liegt immer noch erstickend in der Luft, als Carlita nach einem letzten zärtlichen Kuss wieder nach draußen schlüpft. Ich warte wiederum einige Augenblicke, dann trotte ich durch den Park zurück zum Palast, wo gerade eben Cortés eintrifft. Er winkt mich zu sich, seine Augen funkeln – anscheinend ist er in heiterster Stimmung. »Alles ist ganz genauso verlaufen, wie ich es vorgesehen hatte«, erzählt er mir. »Zum Abschluss des großen Strafgerichts habe ich selbst Montezuma die Fesseln abgenommen und vor aller Ohren verkündet, er sei frei und könne in seinen Palast zurückkehren. Und was, glaubst du, hat der wackere Herrscher mir geantwortet?«

Ich hebe meine Schultern und spüre, wie sich gleichzeitig meine Augenbrauen aufwärtsbewegen. »Hat er Euch gedankt und Euch seinen edlen Bruder genannt, Herr?«, antworte ich aufs Geratewohl.

Cortés lässt jenes Lächeln kurz um seine Lippen spielen. »Ganz recht«, sagt er. »Das ungefähr waren die Worte, die er für alle hörbar gesprochen hat. Dann aber hat er sich zu mir herübergebeugt und etwas geflüstert, das nicht für die Ohren seiner Untertanen bestimmt war.« Er packt mich beim Handgelenk, wie es seine Art ist, und zieht mich mit sich die Treppe hinauf. »Errätst du auch das, Orteguilla?«, fragt er mich.

Ich überlege fieberhaft, während wir ins Obergeschoss hinaufeilen. Offenbar zieht es Cortés geradewegs wieder in den Thronsaal, und das kann doch eigentlich nur einen einzigen Grund haben! Nun wird mir auch klar, warum er so glänzender Laune ist. »Montezuma hat erklärt, dass er nicht in seinen Palast zurückkehren will – ist es das, Herr?«

Cortés nickt mir zu und lässt mein Handgelenk wieder los. »Genau das, Orteguilla!«, lobt er mich. »Du bist wahrlich ein begabter Herzensergründer! Er äußerte die Befürchtung, dass seine Ältesten ihn drängen könnten, gegen uns vorzugehen. Aber wir seien nun einmal seine Freunde und deshalb könne er derlei Aktionen nicht gutheißen.« Unser Herr bleibt unvermittelt stehen. »Was sagst du dazu?«, fragt er und schaut mich argwöhnisch an. »Du wirkst bedrückt, Orteguilla«, fügt er hinzu. »Aus welchem Grund? Glaubst du denn, dass Montezuma sich verstellt?«

Ich senke meinen Blick und überlege verzweifelt, was ich ihm antworten soll. Die Wahrheit, auch wenn er die gewiss nicht hören will? Oder lieber irgendwelche tröstlichen Lügen?

Schließlich gebe ich mir einen Ruck. »Ihr könnt es bestimmt viel besser als ich beurteilen, Herr«, antworte ich. »Aber vielleicht will Montezuma auch deshalb lieber bei Euch bleiben, weil er in seinem eigenen Palast um sein Leben fürchten müsste.«

Cortés schaut mich verwundert an. »Du glaubst, sie würden ihren eigenen König ermorden – aber weshalb?«

Wieder ringe ich einen Moment lang mit mir. »Wenn ich Cuitláhuac wäre«, stoße ich hervor, »würde ich ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit umbringen und mich selbst zum König krönen lassen!«

- 6 -

Das restliche Jahr vergeht ohne weitere Zwischenfälle. Anscheinend hat Cortés doch wieder einmal alles richtig vorausbedacht – und Carlita hat viel zu schwarzgesehen!

Montezuma regiert sein Land von unserem Palast aus und niemand scheint mehr daran Anstoß zu nehmen. Die Bittsteller und Beschwerdeführer drängen sich nun in unserem Innenhof und warten in langen Schlangen die Treppe hinauf bis zum Thronsaal. Wie früher versammeln sich die greisen Ratgeber hinter dem Thron ihres Herrschers – nur dass dieser Thron jetzt in unserem Palast steht und unsere Männer die Tore bewachen. Montezuma lebt in einer Flucht von Gemächern im dritten Geschoss, dort empfängt er seine Haupt- und Nebenfrauen, und von dort steigt er in manchen Nächten aufs Dach hinauf, um die Sterne zu beobachten.

Wie Cortés es in jenen Träumen vorausgesehen hat, verbringen er und Montezuma viele Stunden gemeinsam auf dem Thron oder zumindest im Thronsaal. Fast immer bin auch ich zugegen – als Übersetzer oder um mit den beiden zusammen Toloqui oder Patolli zu spielen. Beim Toloqui-Spiel geht es darum, kleine Goldkugeln nach bestimmten Regeln über ein Spielfeld zu bewegen. Patolli dagegen ist ein Würfelspiel, das unserem Tric Trac ähnelt. Als Spielfiguren dienen Kakaobohnen, in die Zahlensymbole eingeritzt worden sind.

Wir spielen halbe Tage lang mit Würfeln und Bohnen, auf Fellen oder Matten vor dem Thron. Manchmal bin ich auch mit Montezuma allein und dann erzähle ich ihm von meiner spanischen Heimat. Von den prachtvollen Kirchen und Palästen in Valladolid und den weniger prachtvollen in Medellín, wo ich zur Schule gegangen bin. Montezuma beteuert immer wieder, dass er Cortés »wie einen Bruder« liebe. Auch für mich scheint er mehr und mehr Zuneigung zu hegen. Er beschenkt mich mit kleinen Goldstücken, und ab und an fragt er mich, wie es mit mir in Liebesdingen bestellt sei. »Du hast doch bestimmt eine kleine Gefährtin, Orteguilla!«, sagt er dann beispielsweise. »Willst du sie mir nicht einmal vorstellen? Ich würde sie gerne beschenken – mit einer hübschen Bluse oder einer Kette!« Ich murmele dann jedes Mal, dass meine Pagendienste mir für derlei keine Zeit ließen, und wechsele hastig das Thema.

Längst hat Fray Bartolomé die Marienkapelle im Südflügel eingeweiht. An jedem Tag besuchen Diego und ich seitdem mit unserem Herrn die Heilige Messe. Mehrmals pro Woche lässt sich Montezuma von einem unserer Priester im christlichen Glauben unterweisen. Zum nächsten Osterfest will er sich taufen lassen und in einer feierlichen Zeremonie auf dem großen Platz zu unserem Glauben bekennen. Das zumindest verspricht er Cortés immer wieder. Doch bis Ostern sind es noch rund zwei Monate, als Montezuma unseren Herrn zu einer eiligen Besprechung herbeirufen lässt.

»Das ist Coquatzin, der Fürst von Tollocan«, sagt Montezuma ohne Umschweife, kaum dass Cortés eingetreten ist. Er deutet auf einen würdevoll aussehenden Indianer mittleren Alters, der einen golden bestickten Umhang aus weißem Hirschleder trägt. »Coquatzin hat mir soeben von einer Verschwörung berichtet«, fährt Montezuma fort. »König Cacama hat die Fürsten der größeren Städte an den Seeufern dazu angestiftet, mich zu stürzen! Sie wollen an meiner Stelle einen neuen Herrscher einsetzen – und dann Euch, Don Hernando, und Eure Männer ermorden! Auch Coquatzin wollte sich an dem Komplott anfangs beteiligen«, fährt er mit einem düsteren Seitenblick zu unserem Besucher fort. »Zu sechst trafen sie sich in einem von Cacamas Landhäusern und wurden sich anscheinend rasch einig. Nur gefiel es Coquatzin nicht, dass Cacama auch noch den Thron von Tenochtitlan an sich reißen will – mein ungetreuer Neffe Cacama!«, ruft Montezuma aus. »Nur durch mich ist er zum König von Texcoco aufgestiegen und so dankt er es mir!«

Mit Cortés sind seine drei Vertrauten herbeigeeilt. Unser Herr winkt sie ein paar Schritte beiseite und bedeutet auch mir, mich zu ihnen zu gesellen.

»Nun, du hattest offenbar nicht ganz unrecht«, sagt er zu mir. »Auch wenn anscheinend nicht sein Bruder, sondern sein ungetreuer Neffe dahintersteckt. Aber wie auch immer – wir werden den Spieß einfach umdrehen und eine Entscheidung erzwingen, die längst überfällig ist.«

Alvarado sieht ihn verständnislos an. »Eine Entscheidung erzwingen?«, wiederholt er. »Wie stellst du dir das vor?«

»Das wird sich zeigen«, antwortet Cortés. »Jetzt wisst ihr jedenfalls, was auf uns zukommt.«

Mit raschen Schritten kehrt er zu Montezuma und Coquatzin zurück, die in feindseliges Schweigen versunken sind. »Edler Freund«, sagt er zu Montezuma, »Euer Neffe Cacama hat ein todeswürdiges Verbrechen begangen! Ihr müsst ihn angemessen bestrafen, damit er so etwas nie wieder wagt! Greift Texcoco an! Ich verspreche Euch, ich werde mit meinen Männern an Eurer Seite kämpfen.«

Montezuma sieht Cortés entgeistert an. »Texcoco angreifen? Das ist vollkommen unmöglich!«, ruft er aus. »Texcoco ist der Hort unserer Kultur. Jedermann bewundert und verehrt die Texcoca für ihre Dichtkunst, Weisheit und verfeinerte Lebensart. Wer es wagt, Texcoco anzugreifen, macht sich damit selbst zum verachteten Außenseiter, dem jeder ins Gesicht spucken darf!«

Portocarrero verdreht die Augen. Er will eben anfangen loszupoltern, als ihn Cortés mit einer Handbewegung zum Schweigen bringt.

»Ihr habt recht, edler Freund«, lenkt er ein. »Einen Angriff auf die Wiege Eurer Zivilisation sollten wir möglichst vermeiden. Aber das lässt sich nur dann bewerkstelligen, wenn uns Fürst Coquatzin alles offenbart, was er über die Verschwörung weiß.«

Der Herrscher von Tollocan schaut Cortés unsicher an. »Ich habe Euch alles gesagt!«, beteuert er.

»Das ist wahr – jedenfalls im Großen und Ganzen«, stimmt ihm unser Herr zu. »Nur eines habt Ihr noch nicht erwähnt, sicher bloß aus Vergesslichkeit. An welchem Ort und zu welcher Stunde soll die nächste Zusammenkunft der Verschwörer stattfinden?«

Von Coquatzins Gesicht kann ich ablesen, was in ihm vorgeht. Natürlich hat auch er von der grausamen Strafe gehört, die jene fünfzehn aztekischen Offiziere erleiden mussten – für ein ungleich kleineres Vergehen! Einen Moment lang starrt er noch vor sich auf den Boden. »In drei Tagen«, sagt er dann, »in demselben Landhaus wie beim ersten Mal.«

Cortés kniet vor Coquatzin nieder und beugt seinen Oberkörper vor, als wollte er den Boden küssen. Überrumpelt wirft sich der Fürst von Tollocan gleichfalls zu Boden.

»Ich danke Euch von Herzen, Don Coquatzin, für Eure Treue zu König Montezuma«, sagt Cortés. »Geht in drei Tagen wie vereinbart zu dem Treffen der Verschwörer und lasst Euch nichts anmerken! Ich versichere Euch, dass Euch nichts Arges geschehen wird.«

Damit entlässt er den Fürsten von Tollocan und kurz darauf ziehen auch er selbst und seine drei Vertrauten sich zurück. Mir schärft Cortés vorher noch ein, dass ich Montezuma in den nächsten Tagen nicht aus den Augen lassen soll. »Falls er irgendwelche ungewöhnlichen Besucher empfängt, gib mir sofort Bescheid!«

Ich verspreche ihm, alles auszuführen, wie er es wünscht. »Wie werdet Ihr nun vorgehen, Herr?«, frage ich.

Cortés wendet sich ab und geht zur Tür. »Was du nicht weißt«, sagt er über die Schulter zu mir, »kannst du auch nicht versehentlich ausplaudern!«

- 7 -

Was genau sich am 12. Januar im 1520. Jahr des Herrn in jenem Landhaus abgespielt hat, weiß ich nicht – und bei Gott, ich will es auch nicht wissen. Weder Cortés, der die »Aktion« persönlich leitete, noch Tapia oder Alvarado wollten anschließend darüber sprechen. Ihre Männer hatten sie zu eisernem Schweigen verpflichtet und selbst Diego brachte so gut wie nichts aus ihnen heraus. Dabei fragte er jeden, der dabei war, ob das Landhaus bewacht gewesen sei und ob die Verschwörer sich gewehrt oder sofort die Waffen gestreckt hätten.

Als die königlichen Gefangenen hier im Palast eintrafen, waren sie jedenfalls in einem elenden Zustand. Von ihren kostbaren Gewändern waren nur ein paar Fetzen übrig. Ihre Gesichter waren grau, ihre Augen fast so starr wie Glasmurmeln. Sie schleppten sich mühsam voran, so als ob jedes bisschen Lebenskraft aus ihnen herausgeprügelt worden wäre.

Der Herrscher von Itzapalapa – dem Fürstentum am Südufer, dessen Bauwerke teilweise auf Pfählen stehen – kroch auf allen vieren aus seiner Sänfte und die Treppe hinauf. Der Fürst von Coyoacan – eines der bezaubernden Städtchen, an denen wir bei unserem Einmarsch nach Tenochtitlan staunend vorbeigezogen sind – verzerrte bei jedem Atemzug schmerzlich das Gesicht. König Cacama hatten sie gar nicht erst mitgebracht: Er war mit Alvarado »weitergereist«, um ihm »die Goldvorräte von Texcoco zu übergeben«. Das erklärte mir jedenfalls Tapia, um im nächsten Atemzug hinzuzufügen: »Bitte frage mich nichts, mein Retter! Cacamas Bruder Conacochtzin wird der neue König von Texcoco. Er und die anderen werden tun, was man von ihnen erwartet. Dafür dürfen sie weiterleben und weiterhin Fürsten spielen.«

Doch vorerst durften sie nicht einmal so tun, als ob sie noch die Herrscher ihrer Völker und Städte wären. Cortés ließ sie, mit Ketten und Eisenbändern gefesselt, in den Thronsaal bringen. Er selbst sah furchterregend aus, sein Gesicht noch verzerrt und mit kaltem Schweiß bedeckt, seine Hände mit Blut bespritzt. »Morgen Abend«, sagte er zu Montezuma, »werden diese Herrscher mir den Vasalleneid leisten. Und Ihr werdet mit gutem Beispiel vorangehen, mein brüderlicher Freund.«

Ich war dabei, und ich sah, wie sich Montezumas Augen mit Tränen füllten.

Es geht zu Ende!, durchzuckte es mich und ein heftiges Schwindelgefühl erfasste mich, dabei verstand ich nicht im Mindesten, was diese Vorahnung eigentlich besagte. Dass wir endlich den Sieg errungen hatten – oder dass die Ereignisse in jenem Landhaus unsere endgültige Niederlage bedeuteten.

Am Tag darauf stakste jedenfalls Notar Gutierrez zur anberaumten Stunde in den Thronsaal, das Requerimiento unter dem Arm. Cuitláhuac war gleichfalls zugegen, ebenso wie Dutzende weiterer hochgestellter Ratgeber und Offiziere aus Tenochtitlan und aus den anderen Königshäusern. Außerdem hatte unser Herr natürlich alle Hauptleute herbeibefohlen, seine Vertrauten, den »Würdevollen« und den »Narbigen«, die beiden Franciscos und alle anderen. Nur der »Tollkühne« fehlte – er war als Stadtkommandant in Vera Cruz geblieben. Cortés’ treuer Gefolgsmann Juan de Escalante war in jenem Kampf gegen die aztekische Garnison schwer verletzt worden und wenige Tage später gestorben.

Montezuma weinte aufs Neue, als Gutierrez die entscheidende Passage aus dem Requerimiento vortrug. Dabei schaute der Notar so verdrießlich wie immer drein, weil es wieder einmal keine Sitzgelegenheit für seine knochigen Gliedmaßen gab und weil er voraussah, dass sich die Vereidigung von sieben indianischen Fürsten elend lang hinziehen würde. Zumal Marina wiederum übersetzen musste und vier der künftigen Vasallen mehr tot als lebendig schienen. Während der fünfte hemmungslos weinte und selbst Conacochtzin, der neue König von Texcoco, sichtlich um Fassung rang.

»Hiermit erklären wir, die Herrscher von Tenochtitlan, Texcoco und Tlacopan, Tollocan und Itzapalapa, Matalcingo und Coyoacan, dass wir uns Seiner Majestät, König Karl I. von Spanien, als Vasallen unterwerfen und der spanischen Krone für alle Zeiten Tribut und Gehorsam schulden

Marina übersetzte und Montezuma schluchzte noch lauter und verbarg sein Gesicht in den Händen. Unser Herr aber saß neben ihm auf dem Thron, das aufgeschraubte Tintenfass in der Hand. »Taucht Eure Fingerspitze hier hinein, mein edler Bruder«, sagte er sanft, »und drückt sie dann auf das Dokument. Das ist alles – und Ihr werdet sehen, danach fühlt Ihr Euch leicht und frei.«

Wie Montezuma sich anschließend fühlte, weiß ich nicht zu sagen – sein Herz war vor Schmerz so verkrampft, dass ich es nicht zu ergründen vermochte. Doch er tunkte seinen Finger fügsam in die Tinte und drückte ihn dann auf das Requerimiento. Und mit einiger Mühe, unter Tränen und Ächzen machten es ihm die anderen Könige nach.

Kurz darauf feuerten unsere Artilleristen die Kanonen ab – sieben donnernde Salutschüsse zum Lob Gottes, unseres Königs und unseres siegreichen Anführers Cortés. Ich stand an einem der großen Fenster des Thronsaals und da erfasste mich aufs Neue jenes Schwindelgefühl. Ich schaute hinaus und erblickte eine der großen Steinkugeln, die aus unseren Kanonen abgefeuert worden waren. Sie flog zum Himmel empor und stand einen atemberaubenden Augenblick lang so groß und strahlend am Firmament wie die Sonne selbst. Doch nur einen Wimpernschlag darauf wurde sie vom Sog der Schwere erfasst und stürzte zur Erde zurück.

Es geht zu Ende!, dachte ich wieder, noch ganz benommen von meiner Vision.

- 8 -

Nun, es sollte noch länger als einen Wimpernschlag dauern, bis auch uns jener Sog ergriff. Fast vier Monate sind vergangen, seit Montezuma und die anderen Fürsten unserem Herrn den Treueeid schworen – doch im Rückblick erscheint mir auch diese Zeitspanne unwirklich kurz. Als hätten sich das Rieseln der Körner in der Sanduhr, der Wechsel von Tag und Nacht, die Drehungen der Gestirne am Himmel irrsinnig beschleunigt, seit wir am höchsten Punkt unseres Triumphs für einen Moment wie schwerelos schwebten.

Während ich diese Sätze aufs Papier werfe, bin ich gefangen in der Pagenkammer unseres Palastes, und einer jener »Raufbolde« steht als Wache vor meiner Tür! Cortés ist fort und mit ihm der größte Teil unserer Männer! Auch Diego ist mit unserem Herrn davongezogen, und Alvarado soll als Cortés’ Statthalter hier die Stellung halten. Doch der »Durchtriebene« ist drauf und dran, uns alle ins Verderben zu reißen! Aus Angst, gewiss nur aus Angst, dass die Azteken uns abschlachten werden, wenn er ihnen nicht zuvorkommt. Seit Tagen sehen wir ihnen dabei zu, wie sie draußen auf dem Platz unzählige Pfähle aufrichten. Die Trommeln grollen und donnern bei Tag und bei Nacht. Oben auf der großen Pyramide haben sie gleichfalls einen Pfahl aufgestellt. Xicotencatl, der Anführer unserer tlaxcaltekischen Verbündeten, schwört Stein und Bein, dass sie Alvarado an diesen Pfahl gebunden opfern wollen – morgen Abend, als Höhepunkt ihrer teuflischen Zeremonie!

Aber der Reihe nach, immer der Reihe nach! Ich habe nur noch einen kleinen Vorrat an Schreibpapier und Tinte, und ich will ihn nutzen, um möglichst klar und knapp zu berichten, was seit jenen Salutschüssen geschehen ist. Zunächst sah wirklich noch alles so aus, als wären wir zumindest mit einem Fuß schon im Ziel. Wir waren nach Tenochtitlan gekommen, um unserem König das Reich der Azteken tributpflichtig zu machen und Montezuma zu unserem Glauben zu bekehren. Das eine Ziel hatten wir schon erreicht, wenngleich mit Zwang und Gewalt, und das zweite schien gleichfalls zum Greifen nah: Schließlich hatte Montezuma mehrfach beteuert, dass er sich an Ostern vor aller Augen taufen lassen wollte. Und überdies hatten wir mehr Gold an uns gebracht, als alle abendländischen Könige zusammen ihr Eigen nennen.

Wenige Tage nachdem Montezuma den Vasalleneid geleistet hatte, forderte ihn unser Herr auf, eine Sondersteuer zu erheben. Schließlich müsse er seine Vasallenpflicht gegenüber unserem König erfüllen. »Am besten erhebt Ihr die Tributsteuer gleich in Gold, mein brüderlicher Freund«, schlug er vor – und Montezuma stimmte nach kurzem Zögern zu. Noch am selben Tag wurden Eintreiber in Marsch gesetzt, um die Goldvorräte herbeizuschaffen, die bei den im Land verstreuten Goldminen gelagert wurden. Unser Herr schickte jeweils zwanzig unserer Männer mit, angeführt von einem unserer Hauptleute, die herausfinden sollten, wie viel Gold die Minen enthalten.

»Auch hier in der Stadt gibt es doch sicher noch weitere Schatzkammern?«, fragte er kurz darauf Montezuma.

Ein schmerzlicher Ausdruck flog über das Gesicht des Aztekenherrschers. »Hat Cacama Euch nicht schon die unermesslichen Schätze von Texcoco übergeben?«, gab er zurück und bemühte sich um einen scherzhaften Unterton. »Habe ich Euch nicht die goldenen Bildnisse aus jenem vermauerten Tempelraum geschenkt? Sind nicht unsere Gesandten unterwegs, um die Goldlager im ganzen Land für Euch zu leeren? Euer Goldhunger ist unstillbar, Don Hernando!«

»Mir persönlich bedeutet materieller Reichtum überhaupt nichts«, behauptete unser Herr. »Ich führe nur die Befehle meines Königs aus. Außerdem verlangen meine Hauptleute ihren Anteil. Ihr wisst, wie aufbrausend sie sein können, mein Freund. Und unglücklicherweise sind sie nicht bereit, sich zu gedulden, bis Eure Eintreiber aus den Goldminen zurückkehren.«

Während er das sagte, trat jenes fiebrige Glitzern in seine Augen. Vielleicht sah auch Cortés in diesem Moment wieder vor sich, wie Alvarado mit einer ganzen Kolonne schwer bepackter Träger aus Texcoco zurückgekehrt war. Jeder Träger hatte eine Rückentrage geschleppt, die bis zum Rand mit Goldklumpen, goldenen Bildnissen und Schmuckstücken gefüllt war. Den gestürzten König Cacama hatte Alvarado an einem Strick hinter sich hergeführt, der an einem Halseisen befestigt war.

Auch den Goldschatz von Texcoco ließ Cortés in den großen Saal neben seinen Gemächern bringen. Dort ist mittlerweile so viel Gold aufgehäuft, dass man sich nur noch auf schmalen Pfaden zwischen den gestapelten Platten und Tellern und den Bildsäulen voranbewegen kann, die wie gefällte Baumstämme übereinanderliegen.

Montezuma stieß einen Seufzer aus. »Also wieder Eure Hauptleute, Don Hernando?«, rief er und zwang sich zu einem ergebenen Lächeln. »Warum seht Ihr Euch nicht einmal meinen Tiergarten an? Im Haus der Vögel werdet Ihr finden, wonach sie so unersättlich gieren.«

- 9 -

Nur ein paar Tage nach jener Unterredung suchten wir den Tiergarten auf. Er lag in einem der Außenbezirke von Tenochtitlan und die ganze Anlage war von bewundernswerter Schönheit: Der weitläufige Park mit seinen künstlich angelegten Bächen und kleinen Seen. Die Jaguare und Ozelots in ihren geräumigen Bambuskäfigen. Die Schlangenhäuser und selbst die Alligatorsümpfe, die von einer hohen Mauer umschlossen waren.

Durch schmale Sehschlitze konnte man in das düstere Reich der Panzerechsen hinüberspähen. Meist lagen diese Ungeheuer nur reglos wie Treibholz im dampfenden Schlamm, und doch sahen sie so gefährlich aus, dass vielleicht sogar den Jaguaren vor ihnen graute.

Die grellen Angst- und Alarmschreie der Vögel klingen mir noch immer in den Ohren. Ebenso das Fauchen der Raubkatzen, die Rufe der Affen – und das albtraumhafte Röcheln und Winseln aus jenem Bauwerk hinter den Alligatorsümpfen. Unter dem Kommando von Tapia brachen unsere Männer das Haus der Vögel auf. Seine Wände bestanden aus Bambusgittern und es bot Scharen von Papageien und Quetzal-Vögeln sowie Hunderten Kolibris Platz.

Montezuma hatte nicht erwähnt, wo genau der Goldschatz versteckt war. Doch Tapia befahl unseren tlaxcaltekischen Sklaven aufs Geratewohl, den Boden unter dem Kolibrigehege aufzuhacken, und nach kurzer Zeit kam eine reich verzierte Steinplatte zum Vorschein. Darunter befand sich eine sorgsam gemauerte Kammer, ungefähr fünf auf fünf Schritte groß und etwa ebenso hoch. Sie enthielt keinerlei Götzenbildnisse, Kunstwerke oder Schmuckstücke, doch sie war bis zum Rand mit Goldbarren und Säcken voller Goldstaub gefüllt.

Cortés kauerte am Rand des Erdlochs, sein Gesicht war verzerrt und in seinen Augen war jener fiebrige Glanz. Er schien nicht einmal zu bemerken, dass er die Säume seines Umhangs mit Vogelkot verschmutzte. Ich überlegte, wie ich ihn von dort weglocken konnte, ehe das Goldfieber noch mehr Gewalt über ihn bekam. Zu sehen, wie er dort im Dreck kniete und gierig in die Schatzhöhle hinabspähte, während Hunderte Vögel kreischend zwischen den zerbrochenen Gitterwänden umherstoben, tat mir richtiggehend weh.

»Habt Ihr einen Augenblick Zeit, Herr?«, fragte ich schließlich und kauerte mich neben ihn. »Mir ist etwas aufgefallen, das ich Euch zeigen möchte.«

Erstaunt schaute er mich an. Doch nachdem er noch einige Anweisungen erteilt hatte, gelang es mir, ihn von der Schatzhöhle fortzulocken. »Pass nur auf, Cristóbal, dass kein Krümel in irgendwelchen Taschen verschwindet!«, rief er Tapia noch zu. »Du bist mir persönlich verantwortlich dafür!«

Der »Würdevolle« salutierte. »Seid unbesorgt, Kapitän-General!«, antwortete er. »Ich passe auf wie ein Adler.«

Mir war ziemlich mulmig zumute, als ich Cortés zwischen dem Jaguarkäfig und dem Schlangenhaus hindurch zu den Alligatorsümpfen führte. »Das Bauwerk dort hinten«, sagte ich und zeigte auf den unscheinbaren Flachbau. »Vorhin, als ich mir die Alligatoren angesehen habe, hörte ich von dort ein sonderbares Gewinsel. Ich fragte einen der Wächter, aber der sagte nur, dass dort ›lebendiges Futter‹ gelagert würde.«

Cortés sah mich argwöhnisch an. »Und jetzt glaubst du, dass dort Menschen eingesperrt sind?« Offenbar versuchte er herauszufinden, worauf ich eigentlich hinauswollte – doch das wusste ich selbst nicht so genau.

Ich zuckte mit den Schultern. »Dieses Gewinsel – es klang nicht nach Ratten, Mäusen oder was immer sie hier unter ›lebendigem Tierfutter‹ verstehen. Es klang wie …« Ich unterbrach mich mitten im Satz. »Da ist es wieder – hört Ihr?«

Warum habe ich Cortés gerade zu dieser grässlichen Stätte geführt?, frage ich mich nun zum wiederholten Mal. Aus Mitleid mit den dort eingekerkerten Kreaturen? Das sicherlich auch. Aber ich würde mich selbst belügen, wollte ich behaupten, dass ich hauptsächlich aus Mitgefühl handelte. Irgendwie hat es wohl auch – oder sogar vor allem – mit Leonel zu tun. Mit meinem vom Glück begünstigten Bruder, der sich, als wir beide noch Kinder waren, in der Nachbarschaft einen Vertrauten suchte – nicht anders, als Montezuma unserem Herrn seine brüderliche Liebe geschenkt hat!

Wie dem auch sein mag: Tief in mir spürte ich jedenfalls ein altvertrautes eifersüchtiges Brennen – obwohl ich ja wusste, dass Cortés seine brüderliche Zuneigung zu Montezuma nur aus Berechnung vortäuschte. Ein Teil von mir konnte es einfach nicht ertragen, dass diese beiden sich scheinbar so gut verstanden – weil ihr Bündnis auf Kosten eines Dritten ging, des wahren Bruders! Dieser ausgebootete Dritte war in fernen Kindertagen ich selbst gewesen – hier und heute aber ist es Montezumas Bruder Cuitláhuac, der grimmige Heereskommandeur.

Was für ein Wahnsinn!, denke ich jetzt, nachdem ich diese letzten Sätze noch einmal gelesen habe. Cuitláhuac ist unser ärgster, gefährlichster Gegner – aber irgendetwas tief in mir fühlte dennoch mit ihm! Mit ihm, dem zurückgesetzten Bruder, der gewiss ein weiserer, mutigerer Herrscher gewesen wäre!

Montezuma hat es nicht verdient, auf dem Thron zu sitzen!, zischte jene innere Stimme mir zu. Er hat es nicht verdient, dass Cortés ihm seine brüderliche Freundschaft schenkt – und sei es auch nur zum Schein! Das alles gebührt einzig mir!, zischte es in mir – und wohl auch aus diesen dunklen Herzensgründen lenkte ich damals die Blicke unseres Herrn auf das »Menschentierhaus«. Ich wollte, dass er Montezuma nicht länger achtungsvoll behandelte. Ich wollte, dass er ihn schmähte und von sich stieß! Oder vielmehr – ich, sein getreuer Page, wollte all das natürlich nicht! Aber jene Stimme tief in mir wollte es umso mehr.

»Also los«, sagte Cortés, »sehen wir es uns an.«

Wir gingen um die Alligatorsümpfe herum zu dem abweisenden Bauwerk. Zwei Wächter standen vor der Tür, und Cortés befahl ihnen, den Eingang freizugeben. Sie wechselten angstvolle Blicke und liefen Hals über Kopf davon. Cortés nickte mir zu und da stieß ich die Tür auf.

Finsternis quoll uns entgegen, so dick wie die Tinte, mit der ich diese Sätze schreibe, dazu ein in der Kehle würgender Gestank. Mit bebenden Händen kramte ich in meinen Taschen. Ach, hätte ich doch nichts gefunden, womit sich ein Licht anzünden ließ! Aber wie stets hatte ich alles Nötige bei mir und schaffte es nach einigem Gezittere auch, einen Kienspan anzuzünden.

Cortés trat ein und schob mich dabei vor sich her. Zu sehen war nach wie vor so gut wie nichts. Doch ich spürte, dass irgendwo zu meiner Rechten die »Menschentiere« sein mussten.

»Da vorne – Fackeln«, sagte Cortés. »Zünde sie an!«

Ich tappte fast blindlings in die Richtung, in die er mich schob, und stieß gegen eine Fackel, die senkrecht aus dem Boden ragte. Ich zündete sie an und entdeckte weitere Fackeln, ging wie ein Schlafwandler von einer zur anderen und setzte sie in Brand.

Dann erst wandte ich mich nach rechts, wo die Grube mit den »Menschentieren« sein musste. Im Voraus schon hielt ich den Atem an, auf einen entsetzlichen Anblick gefasst. Doch was ich zu sehen bekam, war so über alle Maßen grauenvoll, dass nicht einmal die grellste Einbildung mich hätte wappnen können.

Es war der Abgrund der Hölle, nichts anderes! Ein Loch voller Schlamm, in dem sich Schlangen wanden und in dem ein Dutzend elender Kreaturen an Pfähle angebunden kauerte und lag. Augenpaare, die geblendet ins Licht blinzelten, ausgemergelte Gesichter, von Grauen, Schmerz und Verzweiflung entstellt. Knochige Hände streckten sich uns entgegen, zahnlose Münder öffneten sich und stießen jenes Winseln und schwankende Heulen aus, das ich von den Alligatorsümpfen aus gehört hatte.

»Eine Hölle auf Erden, wenn es je eine gegeben hat!«, presste Cortés zwischen den Zähnen hervor. »Viel zu lange habe ich Nachsicht geübt! Aber jetzt wird ausgemistet!«

Er winkte mir, ihm zu folgen, und stürmte davon. Niemals vorher habe ich ihn derart wütend gesehen. Er schien sogar das Gold vergessen zu haben – jedenfalls würdigte er das Haus der Vögel keines Blickes, sondern eilte geradewegs zurück zu unserem Palast. Dort stellte er jedoch nicht etwa Montezuma zur Rede, wie ich das befürchtet (und ein Teil von mir es wohl insgeheim erhofft) hatte. Vielmehr rief er Portocarrero, Alvarado, die beiden Patres und unseren Festungskommandanten Guerrero zu sich.

»Verdopple die Torwachen!«, befahl er Guerrero. »Montezuma darf den Palast nicht verlassen, bis ich es ausdrücklich erlaube.«

»Was habt Ihr vor, Kapitän-General?«, wagte Guerrero zu fragen.

Unser Herr packte ihn wortlos bei den Schultern und stieß ihn in Richtung Treppe. »Jetzt wird nicht mehr disputiert und gezögert – jetzt wird ausgemistet!«, rief er aus. Sein Gesicht war grau und verzerrt vor Wut. »Folgt mir!«, befahl er dem Dröhnenden und dem Durchtriebenen. »Nehmt dreißig Bewaffnete mit! Jeder soll einen Eisenknüppel unter seinem Gewand verbergen. Und ihr kommt auch mit!«, wies er Fray Bartolomé und den Tätowierten an.

Damit stürmte er wieder los, die Treppe hinab und zum Tor. Mich hielt er am Handgelenk fest und zog mich hinter sich her. Gewiss ahnte er, dass ich mich am liebsten davongestohlen hätte, und wahrscheinlich spürte er auch, wie aufgewühlt ich war. Aber spürte er auch, was für ein Wirbelsturm peinvoller Gefühle in mir tobte? Oh, er ist ein guter Herzensergründer, also spürte er vielleicht sogar die zermalmende Reue in meinem Innern und noch viel tiefer in mir die umherrasende Schadenfreude. Wie der erbärmlichste Verräter kam ich mir vor, und zugleich fühlte ich mich so eins mit mir selbst wie seit Langem nicht mehr.

Als wir auf den Platz hinaustraten, hatte unser Herr sich wieder in der Gewalt. »Wir gehen hinauf und auf mein Zeichen ziehen wir die Eisenstangen aus dem Gürtel und hauen die Götzenbilder in Stücke. Es hat keinen Sinn, Pater!«, schnitt er Fray Bartolomé das Wort ab. »Was Ihr einwenden wollt, weiß ich sehr wohl. Aber wir müssen den Teufel und seine Götzen aus diesem Land vertreiben – oder er wird uns doch noch besiegen, obwohl wir so kurz vor unserem Ziel sind.«

Daraufhin wagte niemand mehr, irgendetwas einzuwenden. Wir erreichten die Pyramide, teilten uns auf und stürmten auf allen vier Seiten gleichzeitig empor. Oben waren nur ungefähr ein Dutzend Götzenpriester zwischen den beiden Tempeln versammelt. Als sie uns sahen, flohen sie in die finsteren Altarräume und einer von ihnen hob vorher seine Muscheltrompete und blies hinein. Der Pfiff schallte über den weiten Platz und hallte von Pyramiden und Palästen wider.

»Schnell!«, befahl Cortés und seine Augen blitzten vor Tatendurst. Er zog seine Eisenstange unter dem Umhang hervor und stürmte damit in den rechten Tempel, der dem glotzäugigen Wettergott Tlaloc gewidmet war. Ich folgte ihm und wieder konnte ich zunächst nur ein paar Schatten unterscheiden. Doch dann sah ich, wie Cortés auf die Götzenfigur neben dem Altar zustürmte und ihr mit aller Kraft die Eisenstange auf den Kopf schlug. Es schepperte gewaltig, und die aztekischen Priester, mit ihren schwarzen Kutten unsichtbar im Dunkeln, schrien wie aus einer Kehle auf.

»Bitte, Herr«, riefen sie, »greift Tlaloc nicht an! Er wird die ganze Stadt mit Feuersbrünsten und Sturzfluten zerstören in seinem Zorn!«

Sie schrien so gellend, dass unten auf dem Platz eine Menschenmenge zusammenströmte. »Wenn Montezuma es uns befiehlt, werden wir gehorchen«, beteuerten sie, und schließlich ließ sich Cortés erweichen. Er befahl, den Herrscher herbeizuschaffen. Kaum war Montezuma eingetroffen, da begann ihn Cortés mit jählings wieder aufflammender Wut zu beschimpfen: Ein Teufelsjünger sei er, der in seinen Tempeln dem Satan Menschen opfere und in seinem Tiergarten eine Hölle auf Erden betreibe. »Diese Götzenbildnisse müssen augenblicklich gestürzt, die Tempel gesäubert und unserer Muttergottes geweiht werden!«, schrie er. »Befehlt das Euren Priestern, Montezuma – oder ich lasse Euch in Eure Tierhölle sperren!«

Montezuma erbleichte, soweit das bei einem Mann mit rotgoldener Haut möglich ist. Doch er gewann seine Fassung rasch zurück und machte einen Vorschlag, dem Cortés nach einigem Sträuben zustimmte.

»Also meinetwegen«, sagte unser Herr. »Lasst Eure Götzen wegschaffen und an einen Ort Eurer Wahl bringen – aber sofort!«

Montezuma dankte ihm sichtlich erleichtert und erteilte seinen Priestern die nötigen Befehle.

»Und erklärt ihnen außerdem, dass sie Fray Geronimo aufs Wort gehorchen müssen!«, fuhr Cortés fort. »Er ist ab sofort der oberste Priester dieser Stätte«, fügte er hinzu und sah den Tätowierten durchbohrend an.

Fray Geronimo wirkte kaum weniger unglücklich als Montezuma. Anscheinend machte die Höhenangst ihm wieder zu schaffen, jedenfalls schwitzte und schlotterte er zum Erbarmen. Aber er nickte nur ergeben und versicherte unserem Herrn, dass er die Tempel und die ganze Pyramide im Handumdrehen in eine strahlende Stätte unseres Glaubens umwandeln werde.

Sein Blick irrte zu mir herüber und wie stets nickte ich ihm flüchtig zu. Doch diesmal fasste er sich ein Herz, trat zu mir und fragte mich mit leiser Stimme: »Habe ich damals im Fieber geredet?« Ich nickte abermals. »Und hast du deinem Herrn davon berichtet?« Ich nickte zum dritten Mal und überlegte zugleich, ob ich mich bei ihm entschuldigen sollte. Da legte mir Fray Geronimo eine Hand auf die Schulter und sagte: »Verzeih mir, dass ich dich mit meinen Sünden belastet habe!«

Tränen schossen mir in die Augen – hätte nicht ich viel eher ihn, unseren Herrn und wen sonst noch alles um Vergebung bitten müssen? Doch ich kam nicht dazu, dem Tätowierten zu antworten.

Weiter hinten auf dem Pyramidenfirst stieß einer der Priester einen markerschütternden Pfiff mit seiner Muscheltrompete aus. »Feuer! Zu Hilfe!«, schrie er. »Der Tiergarten brennt!«

Die Götzenpriester begannen nun allesamt zu zetern und zu wehklagen. Sie schrien, dass sich Tlaloc und Huitzilopochtli für ihre Vertreibung aus den Tempeln grässlich rächen würden – das Feuer im Tiergarten sei schon der Anfang ihres Rachefeldzugs!

Doch Fray Geronimo befahl ihnen, die blutverkrusteten Bildsäulen unverzüglich ins Freie zu schaffen. Mit einer Vielzahl von Seilen, Holzrollen und Matten ließen sie die Götzenbilder geschickt auf den fast senkrechten Stufen hinabgleiten und brachten sie auf einem Boot über den See davon.

Das Feuer verwüstete währenddessen den Tiergarten und einige Häuser im Umkreis. Es war im Lager für lebendiges Tierfutter ausgebrochen, in dem irgendjemand leichtsinnigerweise einige Fackeln angezündet hatte. »Meine herrlichen Jaguare und sogar meine Ozelots sind elend in den Flammen umgekommen!«, erzählte Montezuma am nächsten Tag unserem Herrn.

Die »Menschentiere« erwähnten weder er noch Cortés auch nur mit einem Wort.