SIEBTES KAPITEL
Der Tag, an dem wir uns vergaßen

- 1 -

»Was Rom für die Christen und Mekka für die Muslime – das ist Cholollan für die Indianer: eine tausendjährige Stadt voll majestätischer Tempel und Pyramiden!« Mit diesem begeisterten Ausruf beginnt ein Brief an König Karl, den unser Herr vorgestern Diego diktiert hat. Tatsächlich ist Cholollan die weitaus größte und großartigste aller Indianerstädte, die wir bisher zu sehen bekommen haben – zehnmal größer als Potonchan oder Cempoallan. Cortés schätzt, dass in den Stein- und Lehmziegelhäusern von Cholollan mindestens zweihunderttausend Menschen leben – oder, besser gesagt, bis vor Kurzem gelebt haben.

Unzählige Chololla säumten die Straßen, als wir vor drei Tagen um die Mittagsstunde hier Einzug hielten – unsere Reiter vorneweg, gefolgt von sechs Kompanien zu Fuß, die in voller Rüstung, mit Helm und Schild marschierten. Auch unsere Kanonen, die Gewehr- und Armbrustschützen machten auf die Chololla offenbar gewaltigen Eindruck. Sie jubelten uns nicht gerade zu, doch die meisten hatten sich uns zu Ehren festlich gekleidet und geschmückt. Auf mich wirkten sie angespannt und aufgeregt, aber keineswegs feindselig.

Immerhin hatten ihre beiden Herrscher selbst uns eingeladen, einige Tage in ihrer Stadt zu verbringen, bevor wir uns auf die letzte Etappe unserer Reise machen würden. Cholollan ist den Azteken tributpflichtig, und der friedliche Empfang schien darauf hinzudeuten, dass sich Montezuma endgültig entschlossen hatte, uns in seiner Hauptstadt willkommen zu heißen. Zahllose Boten und Gesandte hat er uns in den zurückliegenden Monaten geschickt, und jeder von ihnen brachte eine andere Begründung vor, warum der Aztekenherrscher uns nun doch nicht – oder jedenfalls noch nicht – in Tenochtitlan empfangen könne. Doch Cortés hörte sich die Botschaften immer nur gleichmütig an und ließ dem Großen Montezuma jedes Mal ausrichten, dass nichts und niemand ihn daran hindern könne, seinen königlichen Freund zu besuchen.

Von Cholollan aus sind es nur noch gut fünfundvierzig Meilen bis Tenochtitlan – nicht mehr als drei Tagesmärsche, wenn man einigermaßen ungestört vorankommt. Für die hinter uns liegenden hundertfünfzig Meilen haben wir allerdings zwei Monate gebraucht! Und so viele Tage davon erschienen mir wie Ewigkeiten voller Entbehrungen und Qualen! Mehr als dreißig unserer Männer sind unterwegs umgekommen – im Schneesturm der Hochgebirge erfroren, von Speeren durchbohrt, von den messerscharfen Klingen der indianischen Steinschwerter zerfetzt oder jenem heimtückischen Fieber erlegen, das auch unseren Herrn zwischenzeitlich niederstreckte.

Doch im Rückblick kommen mir alle diese Mühen und Schrecken beinahe klein vor. Montezuma hat uns in einen Hinterhalt gelockt! Cholollan ist eine Falle!

Die Herrscher von Cholollan haben uns in ihrem größten Palast einquartiert und großzügig bewirtet, zumindest am ersten Abend. Nicht einmal an den mehr als Tausend Tlaxcalteken-Kriegern, die mit uns in ihre Stadt einzogen, schienen sie Anstoß zu nehmen – dabei sind die Tlaxcalteken die Todfeinde der Azteken und aller Völker, die Montezumas Oberherrschaft anerkennen. Hätte es uns nicht misstrauisch machen müssen, dass die Chololla scheinbar ungerührt zuschauten, wie ihre ärgsten Widersacher in voller Bewaffnung durch ihre Straßen marschierten?

Doch jetzt ist es zur Umkehr zu spät: Unsere Unterkunft ist von Tausenden Chololla-Kriegern umzingelt! Zusammen mit unserem Herrn und seinen Vertrauten, mit Marina und Carlita stehe ich auf dem flachen Dach unseres Palastes und schaue hinab auf den großen Tempelplatz. Der Abend dämmert schon. Überall dort, wo eine Straße in den Platz einmündet, haben die Chololla Feuer angezündet. So ist klar und deutlich zu sehen, dass sämtliche Straßen durch Fallgruben und Sperren blockiert worden sind. Auf den Dächern der Bauwerke um uns herum liegen gewaltige Steinmengen aufgehäuft – und neben jedem Steinhaufen kauern Indianer, bereit, uns mit einem Steinhagel zu empfangen, sobald wir uns ins Freie wagen.

Dafür, dass wir uns hier drinnen nicht mehr lange verschanzen können, sollen offenbar die Krieger sorgen, die den innersten Ring um unsere Behausung bilden. Ihre Gesichter sind furchterregend bemalt. Jeder von ihnen hält eine lodernde Fackel in der Hand – und zweifellos warten sie nur noch auf den Befehl ihrer Anführer, unseren Palast von allen Seiten gleichzeitig in Brand zu setzen!

Ach, Carlita, klage ich mich im Stillen an, warum habe ich deine Warnungen nicht ernster genommen? Und weshalb habe ich Cortés nur einen kleinen Teil von all den grässlichen Dingen berichtet, die sie mir in den zurückliegenden Monaten anvertraut hat? Weil ich sie schützen wollte? Das natürlich auch. Aber ebenso aus einem weniger ehrenhaften Grund: weil auch ich unbedingt nach Tenochtitlan will – koste es, was es wolle!

Das Gold, das Montezuma angeblich in seinen Palästen hortet, lässt mich nach wie vor kalt. Aber schon bei der bloßen Vorstellung, dass wir unverrichteter Dinge umkehren könnten, ohne auch nur einen Fuß in das »goldene Herz« des Aztekenreichs gesetzt zu haben, wird mir ganz elend zumute. So als wäre ich nicht nur vom Hof meines Vaters und aus meiner alten Heimat vertrieben, sondern nun auch noch aus der Neuen Welt verstoßen worden. Lieber würde ich sterben, als jetzt noch den Rückzug anzutreten, so kurz vor dem Ziel!

Und so habe ich unserem Herrn zwar größtenteils getreulich berichtet, was Carlita mir in den letzten Wochen offenbart hat. Doch gleichzeitig habe ich ihre eigene Rolle bei jener unseligen »Ringelblumen-Verschwörung« nach Kräften heruntergespielt. Carlita stammt tatsächlich aus einer hochangesehenen Adelsfamilie in Tenochtitlan. Ihre Vorfahrinnen waren Hohepriesterinnen der damals noch mächtigen Göttin Xochiquetal – und Carlita sollte eines Tages, wenn sie erst alt genug dafür wäre, selbst zur höchsten Priesterin der gütigen Mond- und Liebesgöttin geweiht werden! Die Verschwörerinnen wollten den alten Kult um Xochiquetal wiederbeleben und sie zur mächtigsten Gottheit neben ihrem Bruder Quetzalcoatl erheben. Alle Völker und Stämme würden ihr zujubeln, davon waren sie überzeugt – doch bevor es so weit kommen konnte, wurden die Verschwörerinnen verraten und Montezuma sandte seine Zauberer aus.

Wenn Cortés wüsste, welche Rolle Carlita damals tatsächlich spielte, dann wäre ihm auch schlagartig klar, dass sie mit den verborgensten Verhältnissen von Tenochtitlan vertraut sein muss. Nicht nur mit Götterriten und Priesterkulten, sondern auch mit Schatzverstecken und geheimen Verbindungswegen, die sich wie ein Spinnennetz durch die ganze Stadt ziehen. Und wenn er gar von jenem Ort äußersten Grauens wüsste, dem Menschentierhaus, wie Carlita diese Stätte genannt hat – ich glaube, selbst unser Herr würde zögern, weiter nach Tenochtitlan zu marschieren. Das Menschentierhaus ist ein Ort, wie ihn wohl wirklich nur der Teufel ersinnen kann. Und doch muss ich schweigen, es geht nicht anders!

Denn trotz allem, was ihr selbst, ihrer Familie und ihren Gefährtinnen in Tenochtitlan angetan wurde, ist Carlita nicht bereit, ihr eigenes Volk an uns, die bleichhäutigen Eindringlinge, zu verraten. Das hat sie mir mehr als einmal mit Tränen in den Augen versichert. Deshalb muss ich unserem Herrn verschweigen, wer Carlita wirklich ist! Er würde nicht zögern, ihr durch »gestrenge Befragung« die Zunge zu lösen – Carlita oder wem auch immer, wenn er sie anders nicht zum Sprechen bringen kann. Dahin darf ich es auf keinen Fall kommen lassen – obwohl ich so abermals zum Verräter werde, zum Verräter an Cortés.

Gestern, als die Stimmung der Krieger draußen auf dem Platz immer feindseliger wurde, ließ Cortés zwei Chololla-Priester aus einem benachbarten Götzentempel ergreifen und durch Fray Bartolomé befragen – seinen Lieblingspriester, der früher in Valladolid in den Diensten der Inquisition stand. Ich wollte Carlita und mir selbst den peinvollen Anblick ersparen, doch unser Herr befahl uns, bei der Vernehmung dabei zu sein. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis die beiden Chololla stöhnend preisgaben, was sie über die Pläne ihrer Oberen wussten: Frauen und Kinder seien heimlich aus der Stadt geschafft, die Sperren und Fallgruben schon vor Tagen angelegt worden. Auf der Straße nach Tenochtitlan liege außerdem eine aztekische Streitmacht im Hinterhalt. Falls es uns gelänge, aus Cholollan zu entfliehen, so sollten uns Montezumas Krieger dort unter Steinlawinen begraben. Doch die Befehle des Aztekenherrschers, so offenbarten die beiden Götzenpriester, wechselten schnell wie die Gezeiten der Meere. Vormittags ordne Montezuma an, die weißhäutigen Fremden zu töten, am Nachmittag befehle er, uns in allen Ehren nach Tenochtitlan zu geleiten. Und abends treffe dann der dritte Eilbote ein und keuche atemlos hervor, dass nicht einer der weißhäutigen Fremden aus Cholollan entkommen dürfe!

Fray Bartolomé triefte der Schweiß von der Stirn und das Blut von den Händen, als er mit der Befragung fertig war. Unser Herr aber wirkte vollkommen ungerührt. Während die Götzenpriester unter der Marter ächzten, schaute er mehrfach zu Carlita und mir herüber, so durchbohrend, wie nur er das kann. Doch dieser Warnung, falls es eine war, hätte es nicht bedurft. Seit Kurzem weiß ich, dass er zu unerhörten Grausamkeiten fähig ist, wenn er glaubt, dass er sein Ziel anders nicht erreichen kann – aber daran will ich jetzt wirklich nicht denken.

Ich kauere neben Carlita am Rand des Palastdachs. Schräg hinter uns stehen Cortés und seine Vertrauten beisammen und beraten sich murmelnd. »Carlita, hör mir zu!«, sage ich leise. »Denk immer daran, was wir ausgemacht haben! Du warst im Xochiquetal-Tempel nur eine unbedeutende Novizin, verstehst du? Du bist in Tenochtitlan aufgewachsen, aber du stammst aus einer Adelsfamilie von geringem Rang. Bitte vergiss das nie!«

Sie schaut in meine Richtung, doch ich spüre, dass sie mich höchstens wie durch eine Nebelwand wahrnimmt. Mit ihren Gedanken ist sie wieder in jener grauenvollen Nacht, als sie und ihre Gefährtinnen von Scharen heulender Dämonen gejagt wurden. Eine Nacht, die damit begann, dass die Zauberer ihren Xochiquetal-Tempel in Brand steckten – ganz genau so, wie die Krieger dort unten es gleich mit unserer Behausung machen werden!

Ich streiche ihr übers Haar und lächle ihr zu. Ich fühle mich hilflos und schuldig. »Geht nicht nach Tenochtitlan!«, hat sie mich wieder und wieder beschworen. »Montezuma wird uns alle töten, wie er es mit meinen Gefährtinnen und meiner Familie gemacht hat! Er selbst war einst der Hohepriester von Kriegsgott Huitzilopochtli und versteht sich auf die grausigsten Zauberkünste! Cortés und seine Obersten werden darum betteln, dass er ihren Qualen ein Ende macht – aber Montezuma kennt kein Erbarmen! Sie werden im Menschentierhaus schmachten und unaufhörlich schreien und winseln vor Schrecken, vor Schmerzen und vor Schmach!«

Doch wann immer Carlita mich in dieser Weise anflehte, lächelte ich ihr nur zu oder verschloss ihren Mund mit einem zärtlichen Kuss. Es ging nun einmal nicht anders! Und nun ist es für alles zu spät – für Reue, für Geständnisse, für Umkehr und Flucht sowieso!

In den Augenwinkeln sehe ich mit einem Mal, dass Cortés mich gebieterisch zu sich winkt. Ich springe auf und eile zu ihm und den anderen hinüber. Beinahe bin ich erleichtert, dass ich Carlitas traurige, verängstigte Blicke nicht länger auf mir spüren muss.

»Lauf runter zu Guerrero«, befiehlt mir unser Herr, »und sage ihm Folgendes: Niemand gibt einen Schuss ab, bis ich es anordne – weder mit den Kanonen noch mit den Gewehren! Von hier oben haben wir die Lage besser im Blick. Gerade jetzt scheint dort unten die Stimmung wieder einmal umzuschwenken – schau es dir selbst an!«

Er fasst mich beim Handgelenk und zieht mich so schwungvoll zum Dachrand, als wollte er mich in die Tiefe stoßen. »Pass auf, wohin du deine Schritte lenkst, Orteguilla!«, sagt er und sieht mich durchbohrend an.

Ich senke den Kopf und schaue auf den Platz hinab. Ist es nur mein unruhiges Gewissen, das mich in seinen Worten eine versteckte Drohung erspüren lässt?

»Du hast selbst gehört«, fährt Cortés fort, »was die beiden Götzenpriester unter der Folter offenbarten: Montezuma ändert seine Meinung mehrmals am Tag. Und gerade eben scheint er wieder einmal angeordnet zu haben, dass uns vorläufig kein Haar gekrümmt werden darf. Siehst du?«

Die Krieger unten auf dem Platz löschen einer nach dem anderen ihre Fackeln und lassen sie achtlos zu Boden fallen. Der Ring aus Tausenden kampfbereiter Indianer, der eben noch unseren Palast umzingelt hatte, löst sich zu einer schwatzenden Menschenmenge auf. Auch die Krieger auf den Dächern gegenüber scheinen die neue Botschaft erhalten zu haben. Sie erheben sich, strecken ihre taub gewordenen Gliedmaßen, und viele von ihnen klettern durch eine der Luken, aus denen Leitern herausragen, ins Innere der Häuser zurück.

»Ja, Herr, es sieht ganz so aus«, sage ich. »Hoffentlich hält Montezuma diesmal an seiner Meinung fest, dass wir ihm willkommen sind.«

Cortés wirft noch einen Blick auf den Platz hinunter und wendet sich wieder ab. »Erinnere dich an unser Gespräch vor einigen Wochen!«, antwortet er mir. »Montezuma ist ein Zauderer, aber bestimmt kein Dummkopf. Er ist sich nicht sicher, ob er uns töten lassen kann, ohne dadurch den Zorn seiner Götzen herabzubeschwören. Falls es ihm aber gelingt, diese Zweifel zu überwinden, so wird er nicht zögern, die Schlinge zuzuziehen.«

- 2 -

Die Feuer unten auf dem Platz sind erloschen, die Menge hat sich zerstreut. Nur ein paar Dutzend Chololla-Krieger kauern noch immer dort, unbeweglich wie Steinfiguren. In dieser Nacht brauchen wir wohl keinen Angriff mehr zu befürchten, trotzdem harrt Cortés mit seinen Vertrauten auf dem Palastdach aus. Auch Diego und mir, Marina und Carlita hat er befohlen, in seiner Nähe zu bleiben.

Bei Einbruch der Dunkelheit hat es zu regnen begonnen. Ich liege neben Carlita unter einem der rasch aufgespannten Baldachine. Ihre Augen sind geschlossen, aber sie schläft so wenig wie ich. Wenn ich leise ihren Namen nenne, hält sie kurz den Atem an, doch sie gibt mir keine Antwort.

Auch ich schließe irgendwann meine Augen. Das gleichmäßige Rauschen des Regens lullt mich ein, aber ich weiß genau, dass ich in dieser Nacht nicht schlafen werde. In meinen Gedanken kehre ich zu den Geschehnissen der letzten Monate zurück. Bin ich wirklich mitschuldig daran, dass wir in diese Falle getappt sind? Hätte ich unser aller Leben retten können, wenn ich Cortés nur rechtzeitig alles berichtet hätte, was Carlita mir anvertraut hat? Hätte er unseren Marsch nach Tenochtitlan abgebrochen, wenn er erfahren hätte, dass Montezuma uns in die Tiefe der Hölle zu schleudern vermag?

Je öfter ich mir wegen dieser Fragen den Kopf zermartere, desto unmöglicher scheint es mir, eine Antwort zu finden. Zaudernd und schwankend wie Montezuma denke ich einmal: Aber ja!, und im nächsten Moment: Natürlich nicht! Sicher bin ich mir eigentlich nur in einem Punkt: Als wir Mitte August von Vera Cruz aufbrachen, konnte nicht einmal Cortés voraussehen, welche Gefahren und Strapazen vor uns lagen.

Unter der Führung des getreuen Juan de Escalante ließen wir hundertfünfzig Männer in Vera Cruz zurück, überwiegend Seeleute und Handwerker. Die verbleibenden gut dreihundert Soldaten wurden in sechs Kompanien zu jeweils fünfzig bis sechzig Mann aufgeteilt. Außer unseren hundertfünfzig kubanischen Sklaven folgten uns rund achthundert Totonaken-Krieger. Ohne zu murren, verrichteten sie jede Arbeit, die wir ihnen befahlen. Wenn wir in offenem Gelände übernachteten, erbauten sie Hütten, suchten Feuerholz, machten Jagd auf essbare Tiere und kochten für uns. Tagsüber trugen sie die drei Kanonen, die wir mit uns führten, und alle anderen Ausrüstungsgegenstände.

In den ersten Tagen kamen wir rasch und beinahe mühelos voran. An die feuchtheiße Witterung waren wir mittlerweile gewöhnt. Montezumas Statthalter in den Städten Jalapa und Xicochimalco hießen uns freundlich willkommen. In Xicochimalco ist eine aztekische Garnison stationiert und von der mächtigen Festungsanlage zeigte sich sogar Portocarrero beeindruckt. Wir wurden großzügig bewirtet und verbrachten die Nacht recht bequem unter dem Dach des aztekischen Statthalters.

Am nächsten Tag ließen wir die tropische Ebene hinter uns und folgten dem schmalen Felspfad zu einem steilen Gebirgspass hinauf. Dort kämpften wir uns tagelang durch Frost und Nebel. Unsere aztekischen Führer trugen warme Baumwollgewänder, doch die Totonaken waren ebenso wenig wie unsere kubanischen Sklaven auf eisige Nächte eingestellt. Nach der ersten Nacht im Gebirge wachten etliche von ihnen nicht mehr auf. Auch mehrere unserer eigenen Männer klagten über Erfrierungen oder erkrankten an Fieber und rasselndem Husten.

Der Häuptling, der unsere Totonaken anführt, heißt Mamexi. Cortés hielt ihm vor, sein König Pazinque habe niemals erwähnt, dass der Weg nach Tenochtitlan durch derart unwirtliche Gegenden führe. Er verdächtigte die aztekischen Führer, die uns der Statthalter von Xicochimalco mitgegeben hatte, uns absichtlich über diesen Pfad zu führen, damit wir in der Kälte umkommen oder zumindest den Mut verlieren und umkehren würden. Doch Mamexi zuckte nur mit den Schultern: Er war noch niemals so weit von zu Hause fort gewesen und kannte den Weg nach Tenochtitlan so wenig wie wir.

Als wir den Gebirgspass endlich hinter uns hatten, fanden wir uns auf einer öden Ebene wieder, die größtenteils aus einem gewaltigen Salzsee besteht. Dort gab es keine Quellen oder Flüsse, aus denen man trinken, und keine Wälder, in denen man Wildbret jagen konnte. Außer Agaven und anderen Kakteenarten wächst in dieser Gegend so gut wie nichts. Unsere Kolonne schleppte sich auf schlammigen Pfaden um den Salzsee herum. Drei Tage lang mussten wir fast ohne Nahrung und Trinkwasser auskommen. Als wir schließlich wieder auf befestigte Straßen stießen, waren wir alle so erschöpft, dass wir wie Betrunkene dahintaumelten.

In dem Städtchen Xalacingo wurden wir freundlich empfangen. Der Häuptling beschenkte Cortés mit einem goldenen Halsband, einigen einfachen Gewändern und zwei jungen Sklavinnen. Aber schon am nächsten Morgen mussten wir weitermarschieren: In Xalacingo und den genauso ärmlichen Nachbardörfern gab es einfach nicht genügend Nahrungsmittel, um uns auch nur einen weiteren Tag lang zu verköstigen. Nachdem wir uns abermals einen steilen Pass hinaufgequält hatten und dann auf einem schmalen Serpentinenpfad durch endlose Kiefernwälder wieder abwärts marschiert waren, erreichten wir drei Tage später die Indianerstadt Zautla.

Wir waren am Ende unserer Kräfte. Eine Streitmacht entschlossener Angreifer hätte wenig Mühe mit uns gehabt. Doch glücklicherweise nahm uns Olintecle, der Herrscher von Zautla, gastfreundlich auf. Cortés befahl ihm, sich unserem König Karl als Vasall zu unterwerfen und uns alles Gold auszuhändigen, das es in seiner Stadt gab. Davon wollte der Herrscher jedoch nichts wissen. »Ich bin dem Großen Montezuma tributpflichtig«, erklärte er, »und ich werde mich niemandem sonst unterwerfen – außer wenn Montezuma selbst es mir befiehlt!«

Olintecle ist ein stämmiger Mann von vielleicht vierzig Jahren, mit kupferfarbener Haut und würdevollem Gebaren. Er führte uns durch seine Stadt und versäumte es nicht, uns die gewaltig große Festung zu zeigen, in der eine aztekische Garnison stationiert ist. »Der Große Montezuma gebietet über dreißig mal hunderttausend Krieger«, behauptete er. »In Tenochtitlan werden Jahr für Jahr zwanzigtausend Menschen zu Ehren der Götter geopfert – dreimal so viele, wie meine ganze Stadt an Einwohnern zählt! Und da verlangt Ihr, bärtiger Herr, dass ich mich mit Euch gegen die Azteken verbünden soll?«

Er schaute uns ungläubig an und wir alle starrten entgeistert zurück. Eine Armee von drei Millionen Kriegern? Doch noch ungeheuerlicher erschien uns die zweite Zahl, die Olintecle genannt hatte.

»Zwanzigtausend Opfer pro Jahr?«, wiederholte Alvarado. »Was zum Teufel …?« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Ich meine«, setzte er neu an, »so unersättlich kann doch nicht einmal der Satan sein!«

Olintecle schaute verstohlen über seine Schultern. »Ich weiß nicht, wer dieser Gott namens Satan sein soll«, erklärte er, nachdem Marina die Worte des »Durchtriebenen« übersetzt hatte. »Montezuma und seine Hohepriester behaupten jedenfalls, dass der Blutdurst ihrer Götter seit jeher unstillbar sei. Für ihren wilden Kriegsgott Huitzilopochtli mag das stimmen – der stand nirgendwo in besonders hohem Ansehen, bis die Azteken nach Mexiko kamen. Aber dem Wettergott Tlaloc oder auch unserem Mais- und Kriegsgott Tezcatlipoca wurden in früheren Zeiten bei Weitem nicht so viele Menschen geopfert. Auch nicht in den Anfangszeiten, als die Azteken aus dem Norden eingewandert waren und sich in Texcoco und anderswo als Söldner verdingten.«

Wieder schaute er sich verstohlen nach allen Seiten um. »Unersättlich wurde der Blutdurst unserer Götter erst«, fuhr er beinahe flüsternd fort, »nachdem die Azteken reich und mächtig geworden waren. Das sagen jedenfalls unsere Geschichtserinnerer – bei uns in Zautla, müsst Ihr nämlich wissen, kann niemand lesen und schreiben.«

Es war einer der wenigen Momente, in denen mir unser Herr aufrichtig verblüfft vorkam. Er wechselte einen Blick mit Alvarado und fragte dann Olintecle: »Du meinst, sie haben die Riten geändert?« Er packte den Herrscher von Zautla bei seinem reich verzierten Umhang und schüttelte ihn hin und her. »Sie haben irgendwann angefangen«, rief Cortés aus, »ihren Teufelsgötzen sehr viel mehr Menschenblut und Menschenherzen zu opfern, als es bis dahin üblich war? Ist es das, was du uns sagen willst?«

Marina übersetzte und der Herrscher nickte zaghaft. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er seine Redseligkeit längst bereute. Doch bevor Cortés oder irgendwer sonst dazu kam, ihm mit einer weiteren Frage zuzusetzen, geschah etwas ganz und gar Unerwartetes. Genauer gesagt: etwas, womit ich nicht im Mindesten gerechnet hatte. Auch Alvarado, Portocarrero und Sandoval wirkten ehrlich überrascht. Nur Cortés und Marina schauten die Ursache der allgemeinen Verblüffung auf eine Weise an, als ob sie längst mit einem solchen Ausbruch gerechnet hätten.

Carlita! Sie hatte urplötzlich zu schluchzen begonnen. »Alles vernichtet … neu geschrieben!«, brachte sie hervor. Ihr ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Sie krümmte sich zusammen, vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte hemmungslos.

»Na, na, meine Kleine«, raunte Marina und nahm sie in den Arm. »Sei ganz ruhig, das wird schon wieder!«

Doch Carlita schien vollkommen außer sich. »Auch Xochiquetal … die gütige Göttin …« Mehr war nicht zu verstehen. Carlita weinte und weinte.

Cortés machte Marina ein Zeichen und warf mir zugleich einen auffordernden Blick zu. Sie packte Carlita bei den Handgelenken und schubste sie unsanft in meine Richtung. Carlita taumelte und wäre wohl hingefallen, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte. Sie klammerte sich an mich, wie sie sich eben an Marina geklammert hatte, und drückte ihr heißes, tränennasses Gesicht in meine Schulterbeuge.

»Jetzt ist sie so weit, Junge«, sagte Marina zu mir. »Frag sie nach dem Geheimnis! Lass nicht locker, bis du alles weißt!«

Da hatte sich Cortés nach seiner üblichen Art bereits wieder abgewandt und winkte Marina zu sich. »Sag dem Herrscher«, befahl er, »dass wir gekommen sind, um ihm und seinem Volk den wahren Glauben zu bringen. Er soll dem Teufelsglauben abschwören, alle Tempel von Blut und Götzenbildern säubern und nie wieder Menschenopfer in seiner Stadt dulden. Zum Lohn wird er in den Himmel kommen. Wenn er sich weigert, schmachtet er für alle Ewigkeit in der Hölle!«

Marina übersetzte, und Olintecle riss die Augen auf und schüttelte den Kopf, dass sein Federschmuck wogte. Die immer noch schluchzende Carlita in meinem Arm, lief ich hinter ihnen her, auf eine Pyramide zu, auf deren First ein würfelförmiger Tempel stand. »Bitte beruhige dich, Carlita!«, flüsterte ich ihr ein ums andere Mal zu. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, ich schwitzte und klapperte gleichzeitig mit den Zähnen, so aufgewühlt war ich.

Vor der Pyramide blieb Olintecle stehen und die anderen folgten seinem Beispiel. Das Bauwerk steht am Kopfende eines großen Platzes, der von Palästen und weiteren Tempelbauten gesäumt ist, wie wir es auch in Potonchan und Cempoallan gesehen hatten. Doch das Schädelgerüst vor der Pyramide war noch weitaus größer als sein Gegenstück in der Hauptstadt von König Pazinque. Neben Hunderten sonnengebleichter Totenschädel prangten auch einige Dutzend Knochen, die so lang und dick wie ein gut in der Hand liegender Holzprügel waren.

»Oberschenkelknochen!«, klärte uns der Herrscher von Zautla auf. Seine Laune besserte sich zusehends, während er uns seine schaurige Sammlung zeigte. »Natürlich heben wir nicht alle Totenköpfe und schon gar nicht jeden Beinknochen auf«, verkündete er. »Alles, was Ihr hier seht, Ihr knochenbleichen Herren, sind die Überreste von besonders tapferen Kriegern und hochrangigen Edelleuten.«

Portocarreros Gesicht wurde blauviolett. »Du hast doch gerade selbst gesagt, du stinkender Wilder«, polterte er los, »dass die anderen Teufelsjünger sich das alles hier nur ausgedacht haben, um euch in Angst und Schrecken zu versetzen! Nicht mal der Satan selbst verlangt, dass ihr derartige Blutbäder anrichtet! Also lass es verdammt noch mal sein – sonst reiße ich dir eigenhändig deinen Kopf vom Hals und stopfe ihn zu den anderen Totenschädeln!«

Olintecle starrte den »Dröhnenden« eingeschüchtert an.

»Er sagt, ihr sollt aufhören, Menschen zu opfern«, übersetzte Marina.

Carlita hielt den Atem an und erstarrte geradezu in meinem Arm. Mit einem Ausdruck kindlicher Hoffnung schaute sie den Herrscher von Zautla an – so als läge es in seiner Macht, sie aus dem Albtraum zu befreien, in dem sie gefangen war.

»Ganz im Gegenteil!«, antwortete Olintecle und strahlte Portocarrero an. »Morgen feiern wir ein Fest zu Ehren von Tezcatlipoca. Ihr seid herzlich eingeladen, an der Zeremonie teilzunehmen – natürlich als unsere Gäste! Um Tezcatlipoca gnädig zu stimmen, werden wir fünfzig bestens gemästete junge Männer opfern.«

»Das wirst du nicht tun, du gefiederter Kuhfladen!«, schrie Portocarrero.

Er wollte sich auf den Herrscher stürzen, doch in diesem Moment flog eine Tür in einem flachen Anbau neben der Pyramide auf. Ein Dutzend Krieger stürmte heraus. Sie schwenkten ihre Speere und schrien ohrenbetäubend.

»Lass ihn, Alonso!«, sagte Sandoval und packte den »Dröhnenden« vorsichtshalber hinten am Gürtel. »Oder willst du als Nummer einundfünfzig auf ihrem Opferstein enden?«

- 3 -

Nach diesem Zusammenstoß am Fuß der großen Pyramide blieben die Beziehungen zwischen uns und den Indianern von Zautla angespannt. Cortés rief den Totonaken-Häuptling Mamexi zu sich und befahl ihm, seine vier angesehensten Krieger nach Tlaxcala zu schicken – in die Hauptstadt der erbitterten Todfeinde von Montezuma, die etwa auf halber Strecke zwischen Zautla und Tenochtitlan liegt. Sie sollten den Herrschern von Tlaxcala ankündigen, dass er, Hernán Cortés, der Statthalter des einzigen und allmächtigen Gottes und des Königs von Spanien, sie in Kürze aufsuchen werde. Er sei entschlossen, den Tlaxcalteken in ihrem aufopferungsvollen Kampf gegen das teuflische Tenochtitlan beizustehen. Cortés gab den vier Totonaken einen roten Tafthut und eine Abhandlung über die Allmacht Gottes mit, die er Diego noch am Vorabend diktiert hatte. »Aber niemand in Tlaxcala wird imstande sein, Euren Traktat zu lesen!«, wandte Marina ein, doch unser Herr gab ihr keine Antwort. Er überreichte den Totonaken Hut und Brief und scheuchte sie davon.

Auf irgendeine Weise bekam Olintecle heraus, wohin Cortés die vier Totonaken-Krieger geschickt hatte. Daraufhin wurde die Stimmung zwischen ihm und unserem Herrn noch frostiger. Noch am selben Tag schickte Olintecle zwei finster dreinblickende Boten mit der Aufforderung, uns zur großen Opferzeremonie auf der Pyramide einzufinden. Es war mehr ein Befehl als eine Einladung, und nach kurzer Beratung mit seinen Vertrauten erklärte Cortés, er werde zur vorgesehenen Stunde dort sein. Er bestimmte, dass ihn Portocarrero, Alvarado und Francisco Montejo begleiten sollten, außerdem Cristóbal de Tapia, der würdevolle Konquistador, dem ich in Potonchan das Leben gerettet hatte. Des Weiteren sollten Diego und Marina an der Zeremonie teilnehmen sowie zwei Dutzend Männer zu ihrer Bewachung. »Du bleibst hier im Palast, Orteguilla!«, befahl mir unser Herr. »Du weißt, was du zu tun hast.«

Ich senkte meinen Kopf. Ich fühlte mich beschämt, weil mich Cortés vor aller Augen zurechtwies. Doch zugleich war ich erleichtert, weil ich so nicht mitansehen musste, wie die Götzenpriester mit ihren schwarzen Steinmessern fünfzig wehrlose Opfer abschlachten würden. Vor allem aber spürte ich, dass Cortés sich nicht länger gedulden würde. Wenn er später am Tag hierher zurückkäme und ich ihm dann nicht zumindest ein paar vielversprechende Fetzen von Carlitas Geheimnis vorweisen könnte – dann würde er Fray Bartolomé befehlen, das Mädchen auf seine Weise zu befragen. Und das durfte auf gar keinen Fall geschehen!

Ich suchte Carlita überall im Palast, doch ich fand keine Spur von ihr. Hatte sie etwa die Flucht ergriffen? Nein, unmöglich, sagte ich mir – wohin hätte sie denn fliehen können? Sie trug schließlich das Sklavenzeichen auf ihrem Unterarm, eine daumennagelgroße Raubvogelkralle. Und ob Sklavin oder frei – ein Mädchen oder eine junge Frau ohne bewaffneten Schutz war in dieser kriegerischen Welt verloren.

Ich fand Carlita schließlich in einer Kammer im obersten Stock des Palastes. Sie saß auf einer Steinbank am Fenster und starrte auf den Platz hinab, offenbar ohne irgendetwas wahrzunehmen.

»Carlita«, sagte ich leise und setzte mich neben sie. Seit sie vor der Opferpyramide in Tränen ausgebrochen war, hatte sie kein Wort mehr mit irgendwem geredet. »Bitte«, sagte ich. »Erzähle mir, was dich bedrückt.«

Sie schaute mich an und gleich wieder fort. Stumm sahen wir beide auf den Platz hinunter, wo eben unser Herr aus dem Tor trat. Mindestens fünfzig Krieger, bunt bemalt und festlich gewandet, bildeten sogleich einen Ring um ihn und sein Gefolge. Sie brachten ihn fast im Laufschritt zur anderen Seite des Platzes – es sah mehr wie eine Gefangennahme als wie ein feierliches Geleit aus.

Carlitas Finger krampften sich in meine Hand. »Es stimmt, was Olintecle gestern gesagt hat«, flüsterte sie. »Ich weiß es von Ixhuicatli, unserer Hohepriesterin!«

Wieder schaute sie mich an. Ihre Augen waren von Tränen verschleiert und ich fühlte mich hilfloser und schuldiger als jemals vorher in meinem Leben. Wenn sie nun erneut einen Weinkrampf bekäme – was sollte ich dann nur machen? Dann konnte ich sie doch nicht einfach weiter bedrängen, bis sie zusammenbrechen und mir alles anvertrauen würde, was sie seit so langer Zeit am tiefsten Grund ihres Herzens verbarg! Aber genauso wenig konnte ich das alles weiter auf sich beruhen lassen, sonst würde Fray Bartolomé auf seine Weise in sie dringen – mit glühenden Zangen und Klingen!

»Versprichst du mir etwas?«, flüsterte Carlita.

»Alles, was du willst«, antwortete ich.

Sie beugte sich zu mir herüber und ihre Lippen berührten beinahe mein Ohr. »Versprich mir, dass du alles tun wirst, was in deiner Macht steht, damit euer Herr seinen Plan aufgibt! Überrede ihn, beschwöre ihn, flehe ihn an, was auch immer – aber bringe ihn dazu, nicht nach Tenochtitlan zu gehen!« Sie legte einen Arm um meinen Hals, als ob sie mich würgen wollte. »Versprichst du es mir?«

Von der Pyramide am anderen Ende des Platzes schallte Trommeldonner zu uns herüber. Die Priester bliesen in Muschelflöten und stießen Schnalz- und Trillerlaute aus. Am Fuß der Pyramide und auf allen fünfzig oder sechzig Stufen bis hinauf zum First standen die Menschen dicht gedrängt. Auf den Stufen war nur eine schmale Gasse frei geblieben und durch diese Gasse führten die Priester in ihren blutverkrusteten Gewändern nun die Opfer zum Tempel empor. Ihre Köpfe waren mit Blumenkränzen geschmückt, ihre Körper nackt bis auf das Hüfttuch und ein blutrotes Zeichen über ihren Herzen. Gehorsam stiegen sie die Treppe empor, ohne sich gegen ihr schreckliches Los zu sträuben. Vielleicht empfanden sie es gar nicht als grausam oder sinnlos, schoss es mir durch den Kopf – vielleicht fühlten sie sich sogar geehrt, weil sie glaubten, dass sie von einer mächtigen Gottheit ausgewählt worden seien?

»Wenn wir nach Tenochtitlan gehen, kommen wir alle um!«, fuhr Carlita mit bebender Stimme fort. »Ein schrecklicheres Ende wartet dort auf euch, als ihr es euch in euren schwärzesten Albträumen ausmalen könnt! Sogar die Qualen, die die armen Burschen da drüben auf der Pyramide erleiden, und die Ängste, die sie durchmachen mussten, seit sie in den Opferkäfig eingesperrt wurden – das alles ist die reinste Kinderei, verglichen mit der Hölle, die euch in Tenochtitlan erwartet! Also versprich mir, dass du Cortés davon abbringen wirst, wenn du erst gesehen hast, was ich in der dunkelsten Kammer am tiefsten Grund meines Herzens mit mir herumtrage!«

Mir war heiß und kalt, mein eigenes Herz klopfte hart und schnell. Ich empfand Mitleid mit Carlita und ich kam beinahe um vor Liebe. Aber irgendetwas in mir blieb zugleich kühl wie Cortés und flüsterte mir zu: Versprich es ihr nur! Was kannst du dafür, wenn er deinen Rat nicht befolgt? Du bist ja nur sein Page!

»Offenbare mir das dunkle Geheimnis, das du mit dir herumträgst!«, sagte ich zu Carlita. »Ich schwöre dir, dass ich nichts unversucht lassen werde, um Cortés klarzumachen, dass Montezuma uns in Tenochtitlan auf schreckliche Weise umbringen will.«

- 4 -

Ixhuicatli, so erzählte mir Carlita, war von frühester Kindheit an ihre Lieblingstante gewesen. Sie war die jüngste Schwester von Carlitas Mutter und lebte bei ihnen in dem weitläufigen Palast im Adelsbezirk von Tenochtitlan. Carlitas Elternteile stammten beide aus hoch angesehenen Adelsfamilien. Noch die Urgroßmutter von Carlitas Mutter und von ihrer Tante Ixhuicatli war Hohepriesterin der Mondgöttin Xochiquetal gewesen und vor ihr hatten zahlreiche ihrer Vorfahrinnen dieses ehrenvolle Amt ausgeübt.

Doch unter der Herrschaft des kriegerischen Königs Itzalcoatl, mit dem vor fast hundert Jahren der Aufstieg der Azteken zu ihrer heutigen Macht und Pracht begonnen hatte, war etwas äußerst Merkwürdiges geschehen. Praktisch über Nacht waren die Riten und Zeremonien bei fast allen Götterkulten verändert worden. Die Priester und Hohepriester waren dieselben wie vorher – nur erzählten sie auf einmal ganz andere Geschichten vom Wirken der Götter und führten Zeremonien durch, von denen man vorher noch nie gehört hatte. Wer nachzufragen wagte, was es mit diesen Veränderungen auf sich hatte, bekam günstigstenfalls etwas von »wiedergefundenen Schriftrollen« zu hören. Die meisten Fragesteller fanden sich jedoch bald darauf im Kerker wieder oder sogar auf dem Opferstein einer der Gottheiten, die über Nacht so blutdürstig geworden waren.

Das alles rief beträchtliche Unruhe hervor. Selbst Götter, die sich bis vor Kurzem noch mit der gelegentlichen Opferung einzelner Menschenherzen begnügt hatten, erschienen in den Schilderungen der Priester auf einmal als unersättlich blutgierige Wesenheiten. Andere Götter, die von der Wüste bis zum Meer für ihre Milde und Menschenfreundlichkeit bekannt waren, wurden kurzerhand zu Gottheiten minderen Ranges erklärt. Dem alten Kriegsgott Tezcatlipoca beispielsweise waren bis dahin allenfalls ein paar alt gewordene Sklaven und meistens nur ein Hund oder sogar bloß ein Huhn geopfert worden. Doch plötzlich hieß es, Tezcatlipoca giere nach dem lebenswarmen Blut und den zuckenden Herzen junger Krieger! Ebenso hatte sich der Wettergott Tlaloc bisher meist schon erweichen lassen, wenn die Priester nur ein paar Kinder durch Ohrfeigen zum Weinen brachten. Ihre Tränen hatten ihm als Opfer genügt, und zum Dank hatte er die Felder mit seinen gewaltigen Tränen genetzt – doch auf einmal hieß es, Tlaloc verlange, dass die Priester bei jeder Zeremonie eine Anzahl Kinder zu Tode quälten!

Seltsamerweise waren auch sämtliche Schriftrollen, in denen die bis dahin bekannten Mythen und üblichen Zeremonien verzeichnet waren, über Nacht verschwunden. Doch außer den Priestern und den Adeligen konnte sowieso kaum jemand die traditionellen Bilderhandschriften lesen. Vor allem aber stellte sich heraus, dass die Priester den so erschreckend gestiegenen Blutdurst der Götter hauptsächlich durch die Opferung von Sklaven und Kriegsgefangenen stillten. Anstelle von Beunruhigung und Angst empfanden die meisten Azteken daraufhin Stolz auf ihre so mächtigen Götter: Monat für Monat wurden fortan mehr als Tausend junge Männer und Frauen, Mädchen und Jungen aus ganz Mexiko nach Tenochtitlan geschafft – die Blüte der tributpflichtigen und in Kriegen unterlegenen Völker, die zum Wohl der aztekischen Götter auf den Opfersteinen hingeschlachtet wurden.

Carlitas Familie verlor durch diese Entwicklung an Einfluss und Ansehen. Xochiquetal galt auf einmal nur noch als niedere Gottheit. Den Tempeldienst versahen keine Priesterinnen mehr, sondern bloß noch ein paar einfache Dienerinnen, über die natürlich auch keine Hohepriesterin mehr wachte. Die Frauen in Carlitas Familie akzeptierten diese Erniedrigung nie – auch wenn sie sich nach außen nichts anmerken ließen.

Im Geheimen gaben sie das Wissen um die alten Riten und Zeremonien von einer Generation zur nächsten weiter. Carlitas Mutter und Ixhuicatli waren noch nicht geboren, als die gigantische Huitzilopochtli-Pyramide auf dem Tempelplatz von Tenochtitlan eingeweiht wurde – nach christlicher Zeitrechnung im 1487. Jahr des Herrn. Nicht weniger als achtzigtausend Menschen ließ der Große Itzalcoatl damals zu Ehren des Kriegsgottes opfern – ein Wochen währendes zeremonielles Massaker, das niemand, der dabei war, jemals wieder vergaß. Die ganze Stadt roch nach Blut und Eingeweiden und verbranntem Menschenfleisch. Das Huitzilopochtli-Standbild im Tempel oben auf der Pyramide, eine zehn Fuß hohe Hohlskulptur, quoll über vor blutigen Menschenherzen, die die Priester ihrem unersättlichen Gott in den aufgerissenen Jaderachen stopften. Blutströme ergossen sich durch die Rinnen am Rand der 113 Pyramidenstufen in die Tiefe und schwappten unten auf das sonst so makellos weiße Pflaster.

Irgendwo dort unten auf dem Platz stand auch Carlitas Großmutter und beobachtete die grauenvolle Zeremonie. Damals war sie eine junge Frau von kaum zwanzig Jahren, und sie schwor sich, dass sie nicht ruhen würde, bis die gütige Xochiquetal im Götterhimmel der Azteken wieder den ihr gebührenden Platz eingenommen hätte. »Ein Volk, das nur den Krieg und die Grausamkeit anbetet«, erklärte sie viele Jahre später ihren Töchtern, »ist dem Untergang geweiht! Das wurde mir an jenem Tag erschreckend klar. Und deshalb bitte ich euch, meine Töchter, lasst uns gemeinsam und in aller Stille den Kult der Göttin Xochiquetal wiederbeleben. Wenn wir die gütige Mondgöttin verehren und anbeten, wie sie es in früheren Zeiten gewöhnt war, so wird sie uns irgendwann erhören und ihr mildes Licht wieder über unserem Volk erstrahlen lassen.«

Carlitas Mutter und Ixhuicatli stimmten begeistert zu. Ihnen war bewusst, dass sie alle sterben müssten, wenn ihr Treiben bekannt würde. Aber alleine nur die alten Zeremonien in aller Stille durchzuführen erfüllte sie mit einer solchen gelassenen Sanftheit, dass es jeder von ihnen das Wagnis mehr als wert schien. Sie wählten Ixhuicatli zu ihrer Hohepriesterin. Die alten Gesänge, die sie anstimmten, das Räucherwerk, das sie verbrannten, die Tänze um den blumengeschmückten Altar der Mond- und Liebesgöttin – das alles verlieh ihnen eine ungekannte Kraft und stille Zuversicht. Und so wurden sie mit der Zeit immer mutiger und wohl auch ein wenig sorglos.

Nach und nach weihten sie die Frauen und Mädchen aus einigen weiteren Adelsfamilien ein, aus denen in früheren Zeiten gleichfalls Xochiquetal-Priesterinnen hervorgegangen waren. Über mehrere Mittelsmänner kaufte Ixhuicatli schließlich in einem abgelegenen Stadtviertel ein Anwesen, das seit vielen Jahren nicht mehr genutzt worden war. In einem hoch ummauerten Innenhof stand dort ein quaderförmiger Bau auf einem verwitterten Steinsockel, den Überresten einer uralten Pyramide. Gewiss erinnerte sich kaum jemand mehr daran, dass es einst ein Xochiquetal-Tempel gewesen war. Fast Hundert Jahre waren vergangen, seit in diesem Bauwerk zum letzten Mal eine priesterliche Zeremonie stattgefunden hatte. Doch in Carlitas Familie war auch dieses Wissen von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden – einschließlich genauer Angaben, wo die letzten Priesterinnen dieses Tempels die kostbaren Ritualgegenstände verborgen hatten.

Zu jener Zeit gehörte Carlita bereits dem Kreis der Xochiquetal-Priesterinnen an. Noch war sie eine Novizin, aber für alle stand fest, dass sie eines Tages die neue Hohepriesterin sein würde. Schon als kleines Mädchen hatte sie im Traum die göttlichen Zeichen empfangen. Sie hatte mehrfach geträumt, dass sie ein ganz aus Ringelblumen geflochtenes Gewand trug und auf dem Rücken eines riesengroßen silbernen Kaninchens zum Mond emporschwebte. Das waren die Träume, die seit altersher anzeigten, dass ein Mädchen zur Hohepriesterin berufen war.

Carlita lernte, wie sie das Räucherwerk mischen, wie sie den Altar für die jeweiligen Zeremonien schmücken musste und welche Tänze und Gesänge zu den verschiedenen Riten gehörten. Mit vierzehn Jahren sollten sie und einige weitere Mädchen zu Priesterinnen geweiht werden. Zwei Jahre später, an ihrem sechzehnten Geburtstag, würde sie in einer feierlichen Zeremonie das Amt der Hohepriesterin von ihrer Tante Ixhuicatli übernehmen.

Eines Abends aber, vor mittlerweile mehr als zwei Jahren, wurden sie in ihrem Heiligtum überfallen. Grau gewandete Männer stürmten den Tempel und setzten ihn mit Fackeln in Brand. Es waren Montezumas Zauberer, und sie zwangen die Mädchen und Frauen, in einem lichtlosen Gewölbe im Sockel der Pyramide Zuflucht zu suchen. Dort geschah dann das Grauenvolle: Die Zauberer beschworen Unmengen übelwollender Geister und die Priesterinnen waren in dem Gewölbe gefangen und wurden die ganze Nacht hindurch von den Dämonen gepeinigt.

Giftgelbe, blutrote und grell grüne Dämpfe waberten durch den Raum und benebelten ihnen die Sinne. Bald schon konnten sie nicht mehr zwischen ihren Gefährtinnen und den umhertobenden Spukgestalten unterscheiden. Sie stürzten sich kreischend aufeinander, versuchten sich gegenseitig die Augen auszukratzen und die Kehle zu zerquetschen. Irgendwann stellten sie fest, dass die Gewölbetür nicht mehr verschlossen war – sie taumelten ins Freie, auch von den Zauberern war weit und breit nichts mehr zu sehen. Aber die Dämonen waren weiterhin bei ihnen – oder in ihnen. Der Tempel auf dem Pyramidenfirst stand in hellen Flammen. Von den dämonischen Spuk- und Trugbildern verblendet, stürzten sich Carlitas Gefährtinnen schreiend ins Feuer, tanzten und sangen zu Ehren von Xochiquetal und kamen allesamt in den Flammen um.

Nur Carlita überlebte diese schreckliche Nacht. Ihre Tante Ixhuicatli hatte sie im letzten Moment in der geheimen Kammer im Pyramidensockel versteckt, in der seit jeher die unermesslich kostbaren Ritualgegenstände verwahrt wurden. Neben der sechs Fuß hohen Xochiquetal-Statue, deren linke Hälfte aus Gold und die rechte aus Silber besteht, kauerte Carlita im Dunkeln. Durch Ritzen im Mauerwerk sah sie, wie Ixhuicatli und die Priesterinnen im Gewölbe umherrannten, sich schreiend aufeinanderstürzten und zu Boden fielen, während fieberfarbene Dämonen hinter ihnen herjagten, ungreifbar wie Nebelschwaden …

Carlita war mit ihrer Geschichte noch nicht fertig, doch an dieser Stelle brach sie unvermittelt ab und schaute nur noch stumm auf den Platz hinunter. Ihre Augen waren glasig, ihre Stimme rau vor ungeweinten Tränen. Ab und an wurde sie von einem Schluchzer geschüttelt, aber sie brach nicht in Tränen aus. Mir wäre es sogar lieber gewesen, wenn sie die Fassung verloren hätte, denn sie kam mir wie versteinert vor. Wie eingemauert in ihren schrecklichen Erinnerungen!

Sie tat mir furchtbar leid, aber ich spürte, dass ich nichts tun konnte, außer bei ihr zu sein und sie in den Arm zu nehmen, wenn sie das wollte. Ob wir nach Tenochtitlan weitermarschieren oder nicht – so ging es mir durch den Kopf –, in ihren Gedanken und Albträumen sitzt Carlita sowieso die ganze Zeit in jener lichtlosen Kammer und hört die Schreie ihre Gefährtinnen und sieht, wie sie von den dämonischen Dämpfen gejagt und verblendet werden. Und niemals, niemals durfte Cortés erfahren, dass in jener geheimen Kammer im Pyramidensockel ein sechs Fuß großes Bildnis der Xochiquetal verborgen war – zur Hälfte aus Silber geschmiedet und zur Hälfte aus Gold!

Ich legte behutsam meinen Arm um Carlitas Schultern und zog sie auf der Steinbank näher zu mir heran. Die Opferzeremonie drüben auf der Pyramide war anscheinend zu Ende – die Trommeln waren verstummt, ebenso die schrillen Gesänge der Priester und das Trillern der Muschelflöten. »Warum glaubst du denn, dass Montezuma auch uns auf diese Weise töten lassen will«, fragte ich Carlita, »wenn wir zu ihm nach Tenochtitlan gehen?«

»Weil er Xochiquetal hasst!«, antwortete sie. »Die sanfte Göttin verkörpert alles, was er verabscheut – Liebe, Güte, Verzeihen! Davon haben meine Eltern und meine Tante Ixhuicatli oft genug gesprochen. Bevor die angebliche ›Ringelblumen-Verschwörung‹ aufflog, gehörten wir immer noch zu den angesehensten Adelsfamilien von Tenochtitlan. Meine Eltern und Ixhuicatli wurden recht häufig in den Königspalast eingeladen und kannten Montezuma ziemlich gut.«

Darüber dachte ich erst einmal nach, während unser Herr über den Platz zu unserem Palast zurückkam. Wieder waren er und seine Begleiter von einem Ring aus Kriegern umzingelt – es sah fast aus, als ob sie in den Kerker geführt werden sollten.

»Aber wir verlangen ja nicht, dass sich Montezuma zu Xochiquetal bekehrt!«, wandte ich schließlich ein. »Wir bringen ihm den Glauben an den allmächtigen Gott und an …«

»… die gütige Muttergottes Maria!«, fiel mir Carlita ins Wort. »Und die sieht eben aus wie Xochiquetal! Trotz der Unterweisung durch Fray Bartolomé habe ich bis heute nicht richtig verstanden, wodurch sich die Liebe Frau Maria von der Liebesgöttin Xochiquetal unterscheiden soll. Von ihr geht genau die gleiche Güte und Sanftheit aus – all das, was Montezuma, seine Krieger und Priester auf den Tod hassen!«

Sie wand sich unter meinem Arm hervor und erhob sich von der steinernen Bank. »So glaub mir doch, Orteguilla!«, fuhr sie in beschwörendem Tonfall fort. »Montezuma und seine Ratgeber werden sich ganz bestimmt nicht die Mühe machen, nach irgendwelchen Unterschieden zu suchen. Für ihn sieht es so aus, als wäre Cortés gekommen, um den Völkern von Mexiko den Glauben an die sanften Götter Quetzalcoatl und Xochiquetal zurückzubringen! Und das heißt für ihn eben, dass ihr ihn selbst und den Kriegsgott Huitzilopochtli stürzen wollt, den die Azteken über alle anderen Götter gestellt haben!«

Ich lächelte sie an und suchte nach einer beruhigenden oder tröstlichen Bemerkung, aber mir fiel nichts Brauchbares ein. »Sprich mit niemandem über das, was du mir eben erzählt hast!«, sagte ich zu ihr. »Und erwähne vor allem nicht, dass du aus einer mächtigen Adelsfamilie aus Tenochtitlan stammst – oder gar, dass du Hohepriesterin werden solltest! Versprichst du mir das, Carlita?«

Sie schaute mich erstaunt und irgendwie geistesabwesend an. »Wozu soll das noch wichtig sein?«, fragte sie zurück. »Berichte deinem Herrn alles, was ich dir eben anvertraut habe – dann muss er erkennen, dass er auf gar keinen Fall nach Tenochtitlan gehen darf! Alles andere spielt dann doch keine Rolle mehr!«

Ich war mir da keineswegs so sicher, aber das konnte ich ihr erst recht nicht sagen. So hauchte ich ihr nur einen Kuss auf die Wange und eilte in meine und Diegos Kammer im Erdgeschoss. Bald schon würde mich Cortés zu sich rufen, und vorher musste ich meine Gedanken ordnen und mir darüber klar werden, was ich ihm berichten konnte und was ich unbedingt verschweigen musste. Um Carlita zu schützen und um sicherzustellen, dass wir trotz allem weitermarschieren würden – nach Tenochtitlan, ins goldene Herz des Aztekenreichs.

- 5 -

Am nächsten Tag verließen wir Zautla mit dem ersten Tageslicht. Die vier Totonaken, die Cortés nach Tlaxcala geschickt hatte, waren noch nicht wieder aufgetaucht, doch unser Herr hatte beschlossen, nicht auf ihre Rückkehr zu warten. Olintecle beschwor ihn, Tlaxcala zu umgehen und über das befreundete Cholollan nach Tenochtitlan zu reisen, da die Tlaxcalteken geschworene Feinde der Azteken seien.

Aber Cortés gab nur düster zurück, das werde er unterwegs entscheiden. Offenbar hatte die Opferung der fünfzig jungen Sklaven sogar ihm ziemlich zugesetzt, auch wenn er sich in seiner üblichen Art nichts anmerken ließ. Jedenfalls konnte ihm unser Aufbruch aus Zautla gar nicht schnell genug gehen.

Als unser Herr mich kurz vor der Mittagsstunde zu sich heranwinkte, war er noch immer ungewöhnlich bleich und unter seinen Augen lagen schwarze Schatten. »Ich habe über das nachgedacht, was du mir gestern Abend berichtet hast«, sagte er zu mir. »Es hilft mir, Montezuma und seine Denkungsart noch besser zu verstehen. Aber im Gegensatz zu dem, was deine Carlita anzunehmen scheint, bestärkt mich das alles nur noch mehr in meinem Plan: Wir müssen und werden nach Tenochtitlan gehen! Montezuma mag die teuflischsten Zauberkünste beherrschen und seine Streitmacht mag eine Million oder sogar drei Millionen Mann stark sein – weit stärker ist aber die Angst in seinem Herzen! Das habe ich durch deinen Bericht erst richtig begriffen. Diese Angst in seinem Herzen ist stärker als jeder Teufelszauber und jedes Heer – und wenn ich mich mit ihr gegen ihn verbünde, dann fällt mir sein Reich kampflos zu.«

Ich starrte in die gurgelnden Fluten des Gebirgsstroms hinab, an dem wir seit Stunden entlangmarschierten. Ich war wieder einmal von Reue erfüllt, weil mein Bericht das Gegenteil dessen zu bewirken schien, was Carlita sich davon erhofft hatte – und weil ich selbst das im Voraus geahnt und es insgeheim sogar darauf angelegt hatte. Aber zugleich war ich von Stolz und Dankbarkeit erfüllt, weil Cortés so offen und vertrauensvoll mit mir sprach. Es war das erste Mal, seit wir in Potonchan in jenem Bücherturm beisammengesessen hatten, und ich spürte, dass er begonnen hatte, mir zu verzeihen. Auch wenn er gewiss nicht vergessen hatte, dass ich Carlita liebte und meine Treue deshalb entzweigespalten blieb.

»Was glaubt Ihr, Herr«, fragte ich, »wovor ängstigt sich Montezuma? Davor, dass Ihr der wiedergekehrte Götze Quetzalcoatl sein könntet – und unsere Muttergottes in Wahrheit jene Liebesgöttin Xochiquetal, wie Carlita meint?«

»Ich glaube, dass es noch viel ärger um ihn steht – um ihn und seine Ratgeber.« Das stille Lächeln kräuselte Cortés’ Lippen. »Sie haben ihren eigenen Götzenglauben verfälscht und die überlieferten Schriften vernichtet. Seither leben sie in der Angst, dass ihre Götzen ihnen deshalb zürnen könnten – die einen, weil sie herabgewürdigt und an den Rand gedrängt wurden, aber auch die anderen, weil die Priester auch über sie letzten Endes Lügen erzählen. Und das ist noch nicht einmal alles.«

Cortés gab mir durch einen Wink zu verstehen, dass ich mein Ohr näher an seinen Mund heranführen sollte. Da wir unverwandt voranmarschierten und unser Weg überdies recht holprig war, gelang es mir nicht ohne Mühe, diesen Befehl zu befolgen.

»Schon in Cempoallan habe ich von König Pazinque etwas sehr Eigenartiges gehört«, fuhr Cortés mit gedämpfter Stimme fort. »Gestern habe ich Olintecle danach gefragt – auf der Pyramide, kurz bevor das Schlachten anfing – und er hat mir alles bestätigt. Die Azteken haben anscheinend nicht nur ihren Götzenglauben, sondern auch die Geschichte ihres Volkes verfälscht. Einen Tagesmarsch nördlich von Tenochtitlan steht eine gewaltige Tempelstadt, die von den Tolteken erbaut worden sein soll – einem geheimnisvollen Volk, das in ganz Mexiko bewundert und verehrt wird. Als die Azteken vor rund zweihundert Jahren in diese Gegend kamen, war die Tempelstadt der Tolteken schon seit einem halben Jahrtausend verlassen, und niemand wusste zu sagen, wohin die Bewohner gegangen waren.«

Er unterbrach sich und schaute starr vor sich hin. »Es gab aber schon damals eine Prophezeiung, die angeblich von Potonchan bis Texcoco jeder Knabe und jeder Greis kennt«, sprach er fast flüsternd weiter. »Diese Prophezeiung lautet: Eines Tages werden die Tolteken zurückkehren und wie früher über ganz Mexiko herrschen. Und die Azteken behaupteten nun einfach, dass sie die Nachkommen jener Tolteken seien und dass sich ihnen deshalb alle Völker Mexikos unterwerfen müssten, so wie sie auch früher den Tolteken untertan waren. Der Unterschied war allerdings, dass die Tolteken ein allgemein bewundertes Volk großartiger Baumeister waren und die Azteken damals nur eine Horde neureicher Emporkömmlinge. Deshalb glaubt ihnen bis heute niemand, dass sie die Nachkommen der Tolteken sind – und vor allem konnten sie selbst niemals vergessen, dass sie ihre eigene Vergangenheit gefälscht haben. Aus diesem Grund leben Montezuma und seine Vorgänger seit Jahrhunderten in der Angst, dass die wirklichen Nachkommen der Tolteken eines Tages zurückkehren und sie von ihrem angemaßten Platz verjagen werden. Verstehst du?«, fragte mich Cortés.

Durch einen weiteren Wink gab er mir zu verstehen, dass ich mein Ohr wieder von seinem Mund entfernen sollte. Erleichtert brachte ich meinen Rücken und Hals in die Senkrechte.

»Ich bin nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe«, sagte ich und rieb mir verstohlen meinen Nacken. »Die Azteken haben also ihre Götterkulte und ihre eigene Geschichte verfälscht? Dann leben sie sogar in zweifacher Angst: dass irgendwelche ihrer Götzen sie dafür bestrafen könnten und dass die wirklichen Tolteken eines Tages wiederkehren und ihnen gleichfalls ihre Lügen heimzahlen könnten – ist das so richtig, Herr?«

Cortés starrte in seiner gewohnten Art durch mich hindurch. »Richtig, wenn auch unvollständig«, antwortete er. »Der Götze, dessen Zorn Montezuma und seine Ratgeber offenbar am meisten fürchten, ist ausgerechnet der gütige Quetzalcoatl. Und weißt du auch, warum sie glauben, dass gerade dieser Quetzalcoatl mehr Gründe als alle anderen Götzen hat, mit einem Donnerknall in Montezumas Palast zu erscheinen?«

Ich nickte und hob gleichzeitig meine Schultern. »Nun, Herr, weil Ihr gekommen seid und weil so vieles, was sie diesem Quetzalcoatl zuschreiben, auf Euch zutrifft. Ihr verschmäht Menschenopfer und fordert die Indianer auf, die Muttergottes zu verehren, die für sie niemand anderes als Xochiquetal ist, die göttliche Schwester jenes Quetzalcoatl. Außerdem seid Ihr so weise und gütig wie …«

»Genug!«, fiel mir Cortés ins Wort. »Das alles sind Gründe, warum Montezuma glauben kann, dass ich der wiedergekehrte Quetzalcoatl bin. Aber es erklärt überhaupt nicht, warum die Aztekenherrscher schon seit hundert Jahren in der Angst leben, dass gerade Quetzalcoatl an ihrem Thron rütteln wird. Der Grund dafür ist so eigenartig, dass ich es erst gar nicht glauben wollte.«

Unser Herr schüttelte den Kopf. Die Mittagssonne brannte auf uns herunter, aber hier oben am Ufer des Gebirgsflusses war die Luft trotzdem ziemlich frisch.

»Bevor dieser Quetzalcoatl«, sagte Cortés, »nach dem Aberglauben der Indianer zum Gott erhoben wurde und zu den Sternen emporfuhr, war er angeblich ein sterblicher Mensch – nämlich der weise Anführer der Tolteken! Die Aztekenherrscher leben also in einer doppelten Angst, wie du ganz richtig gesagt hast. Aber das Entscheidende ist, dass beide Arten von Angst denselben Namen haben: Quetzalcoatl, Herrscher und Gott! Und solange Montezuma nicht ganz sicher sein kann, dass ich nicht dieser wiedergekehrte Quetzalcoatl bin, wird er sich nur immer auswegloser in seinen Zweifeln und Befürchtungen verstricken.«

Cortés sah mich durchbohrend an. »Aber wie könnte er sich dessen jemals sicher sein?«, fuhr er fort. »Quetzalcoatl kann als Mensch genauso gut wie als Gott in Erscheinung treten. Also bleibt Montezuma gar nichts anderes übrig, als halbtot vor Angst in seinem Palast auszuharren und sich einmal für den Kampf gegen mich, dann wieder für demütige Unterwerfung zu entscheiden – und jeden dieser Entschlüsse sofort wieder umzuwerfen und in sein Gegenteil zu verkehren! Und je länger er in seinem Thronsaal auf mich warten und in seinen Ängsten schmoren muss, desto zermürbter wird er sein, wenn ich endlich vor ihm stehe.«

So sprach Cortés zu mir oder eigentlich mehr zu sich selbst, während wir auf das Land der Tlaxcalteken zumarschierten. Weiter hinten in unserer Kolonne lief Carlita neben Marina und die ganze Zeit über spürte ich ihren Blick auf mir. Aber ich schaffte es kein einziges Mal, mich zu ihr umzudrehen – aus Zerknirschung und weil ich Cortés keinen Anlass geben wollte, erneut an meiner Treue zu zweifeln.

»Frage sie weiter aus!«, befahl mir unser Herr schließlich. »Die Kleine weiß noch mehr, das spüre ich!«

Ich murmelte, dass ich alles so ausführen würde, wie er es wünschte. Und dann machte unser Weg eine scharfe Biegung um einen hoch aufragenden Felsen herum, und plötzlich standen wir vor etwas so Eigenartigem, in dieser Einöde so gänzlich Unerwartetem, dass ich für Augenblicke alles andere vergaß. Cortés, meine Versprechen und Treuebrüche und sogar Carlita und die albtraumhaften Schrecknisse, von denen sie mir erzählt hatte.

Vor uns ragte eine Mauer auf, rund zehn Fuß hoch. Sie zog sich meilenweit durch die felsige Ebene und endete links wie rechts an einem schroffen Felshang. Nur ein schmaler Durchgang war in dem Wall ausgespart, eben breit genug, dass sich ein einzelner Mann hindurchzwängen und sein Pferd hinter sich herziehen konnte.

»Dahinter fängt das Land der Tlaxcalteken an«, verkündete Mamexi. »Das sagt zumindest er.« Der Totonaken-Häuptling deutete zu dem Indianer, der an seiner Seite marschierte und den der Herrscher Olintecle uns widerwillig als Führer mitgegeben hatte. »Und er sagt«, fügte Mamexi hinzu, »wer da hindurchgeht, wird Camaxtli geopfert, dem Kriegsgott der Tlaxcalteken!«

- 6 -

Warum befahl uns Cortés trotzdem, durch die Mauerpforte zu gehen? Gerade eben hatte er mir noch auseinandergesetzt, dass und warum uns Tenochtitlan kampflos in die Hände fallen würde. Also hätten wir doch das Land der Tlaxcalteken umgehen und geradewegs ins Herz des Aztekenreichs marschieren können. Doch ganz sicher schien sich unser Herr in diesem Punkt nicht zu sein – und als Verbündete kam für uns außer den Tlaxcalteken niemand infrage. Sie sind das einzige Indianervolk, das sich der aztekischen Oberherrschaft beharrlich und erfolgreich widersetzt.

Allerdings gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sie uns freundlich empfangen würden – ganz im Gegenteil. Unsere Boten waren nicht zurückgekehrt. Olintecle hatte uns eindringlich vor seinen rauen Nachbarn im Südwesten gewarnt: Die Tlaxcalteken seien mit jedermann verfeindet und trauten niemandem über den Weg als ihren eigenen Waffen, Kriegern und Göttern.

Der Späher, den uns Olintecle mitgegeben hatte, weigerte sich, uns auch nur einen Schritt weit hinter die Grenzmauer zu begleiten. Die Tlaxcalteken seien Nachkommen der Hundemenschen aus dem Norden, erklärte er, wild und barbarisch, berühmt für ihre Tapferkeit und berüchtigt für ihre Grausamkeit. »Eure Boten, Herr, sind bestimmt längst geopfert, ihre Gliedmaßen auf der Camaxtli-Pyramide in Tlaxcala verspeist worden. Wenn Ihr nicht genauso enden wollt, dann haltet Euch von dort fern!« Damit warf er sich herum und rannte zurück nach Zautla.

Hätten wir nur auf ihn gehört! Doch Cortés wies uns an, einer nach dem anderen durch die schmale Bresche in der Mauer zu marschieren. Auch unsere drei Kanonen und alle fünfzehn Pferde gelangten unbehelligt durch das Nadelöhr hindurch. Kein einziger Grenzwächter versuchte uns aufzuhalten – doch das bedeutete nicht, dass wir willkommen waren.



Zwei Tage und ebenso viele erbitterte Schlachten später saßen wir bei eisigen Temperaturen auf einem Berggipfel mitten im Land der Tlaxcalteken fest – umzingelt von mindestens fünfzigtausend feindlichen Kriegern!

Die Stimmung in unserem Lager war gedrückt. Viele unserer Männer waren verwundet. Einer von ihnen war so schwer verletzt worden, dass er in der Nacht nach unserem ersten Kampf gegen die Tlaxcalteken starb. Es war Pedro de Moron, ein Velazquez-Getreuer, der schon in Vera Cruz zu den Verschwörern gehört hatte. Sein Tod erschütterte auch viele treue Gefolgsleute von Cortés. Bisher hatte es immer so ausgesehen, als ob wir sogar gegen eine erdrückende Übermacht von Indianern letzten Endes den Sieg davontragen müssten. Doch Morons Tod führte uns vor Augen, dass auch die mit Steinsplittern gezähnten Holzschwerter der Indianer tödliche Waffen waren. Selbst wenn jeder unserer Kämpfer fünfzig von ihnen ins Verderben reißen würde – gegen eine tausend- oder sogar zweitausendfache Übermacht zu allem entschlossener Krieger konnten wir nicht bestehen.

Das erste Heer der Tlaxcalteken hatte sich uns entgegengeworfen, als wir gerade erst eine halbe Stunde tief in ihr Land eingedrungen waren. Da hätten wir noch hinter jene Mauer zurückweichen können, aber Cortés befahl seinen Hauptleuten, sämtliche Kompanien in die Schlacht zu führen. Die Tlaxcalteken hatten ihre Gesichter so bemalt, dass sie wie die Fratzen zorniger Dämonen aussahen. Als sie uns angriffen, schrien sie markerschütternd und vollführten so wilde Sprünge, dass selbst unsere abgebrühtesten Konquistadoren weiche Knie bekamen.

Sie kämpften tapferer und geschickter als alle Indianer, mit denen wir es bis dahin zu tun bekommen hatten. Todesmutig griffen sie sogar unsere Reiter an, klammerten sich an den Lanzen fest und schafften es, mehrere Reiter aus den Sätteln zu ziehen. Gleich bei dieser ersten Schlacht töteten sie zwei unserer unersetzlichen Pferde. Nur mit Mühe gelang es unseren Männern, die Kadaver in Sicherheit zu bringen.

Als sich die Tlaxcalteken nach stundenlangen Kämpfen endlich zurückgezogen hatten, befahl Cortés, die toten Pferde zu zerlegen und die Einzelteile an weit entfernten Stellen zu vergraben. Wenn die Tlaxcalteken schon herausgefunden hatten, dass unsere Pferde sterblich waren, sollten sie zumindest keine Gelegenheit erhalten, ihren Körperbau zu erforschen. Aber auch diese Mühen waren vergebens: Am zweiten Tag warfen uns die Tlaxcalteken eine Streitmacht von fünfzigtausend Kriegern entgegen, und diesmal gelang es ihnen, eine lebende Stute zu erbeuten.

Stunden und Stunden dauerte diese furchtbare Schlacht. Erst bei Einbruch der Nacht ließen die Angreifer urplötzlich von uns ab. Wir zogen uns auf den Gipfel eines Berges zurück, der wie eine natürliche Pyramide aus der Ebene aufragt. Solange wir nicht auszubrechen versuchten, ließen uns die Tlaxcalteken in Ruhe, aber dort oben gab es keine Quelle, keine essbaren Pflanzen und kein jagdbares Wild. Unseren Durst konnten wir nur mit Regenwasser stillen und unsere einzige Nahrung waren getrocknete Bohnen. Zwei zermürbende Wochen lang saßen wir auf diesem öden Felsen fest und unsere Stimmung wurde mit jedem Tag düsterer. Außer einer kleinen Götzenkapelle gab es dort buchstäblich nichts. Und obwohl Fray Bartolomé die Kapelle feierlich der Muttergottes geweiht und auf den Namen »Vitoria« getauft hatte, waren wir einem Sieg sehr viel ferner als dem Verderben.

Immer offener machten unsere Männer ihrem Unmut Luft. Insgesamt waren weit mehr als fünfzig von ihnen umgekommen, seit wir vor nicht einmal vier Monaten in Kuba aufgebrochen waren. Viele waren Krankheiten erlegen oder bei Unfällen ums Leben gekommen, aber das änderte nichts daran, dass unsere Zahl immer geringer wurde – und auch von denen, die noch am Leben waren, war fast die Hälfte verwundet. Überdies grassierte in unserem Lager ein tückisches Fieber. Ganz zu schweigen von Hunger und Durst, die uns alle fast unaufhörlich plagten, und von der ständigen Angst, dass die Indianer uns massakrieren oder in ihre Opfertempel verschleppen könnten.

Noch sprach es niemand offen aus, aber was die Männer dachten, war leicht von ihren Gesichtern abzulesen: Cortés hat uns in diese Lage manövriert – also soll er uns gefälligst auch wieder heraushauen! Und genau das tat er dann auch.



Gütiger Gott, wie gerne würde ich ungeschehen machen, was an jenem Septembertag geschehen ist! Oder es zumindest vergessen können, aus meiner Erinnerung löschen – wenigstens das! So wie sich Diego nichts sehnlicher wünscht, als die Bilder aus seinem Gedächtnis zu tilgen, die sich in Zautla in sein Bewusstsein eingebrannt haben, als er unseren Herrn zu jener Opferzeremonie begleitet hat. Ich weiß es genau, auch wenn Diego niemals mit mir darüber gesprochen hat. Seine Schreie, sein Gestammel, wenn er wieder einmal nachts aus einem Albtraum aufschreckt, verraten mir mehr als genug. Tapferer Diego! Doch was die blutverkrusteten Götzenpriester mit ihren Opfern anstellen, hat mit ehrenvollem Kämpfen nichts zu tun! So wenig allerdings wie die unerhörten Grausamkeiten, die uns Cortés an jenem Morgen Anfang September verüben ließ.

Uns, ja – auch mich! Diesmal war es an mir, unseren Herrn als Page zu begleiten, während Diego der Lagerwache zugeteilt worden war. Ich selbst habe weder mein Schwert noch auch nur eine Hand gegen die Bewohner jener Indianerdörfer erhoben – und doch werde auch ich mich für alle Zeiten mitschuldig fühlen. Mitschuldig an dem Blut, das wir vergossen, an den Schmerzen, die wir zugefügt haben, an den Qualen, der Erniedrigung und Angst. Warum, Herr, warum das alles? Das frage ich mich seit damals Nacht für Nacht.

Es war noch vor dem ersten Morgenlicht, als wir jenen Ausfall wagten. In der Dunkelheit, so hatte uns Häuptling Mamexi erklärt, würde kein Indianer jemals in den Kampf ziehen – aus Angst vor übelwollenden Dämonen und weil sie es für unehrenhaft hielten, einen Feind im Schlaf zu überrumpeln. Nun, beiderlei Bedenken waren Cortés fremd. Auf seinem lilienweißen Hengst sprengte er uns voran, Alvarado und Portocarrero folgten gleichfalls zu Pferde, und wir anderen, gut fünfzig Mann, rannten hinterher, so rasch unsere Füße uns trugen.

Was in den folgenden Stunden geschah … Entsetzen und Reue hindern mich noch immer, all die grässlichen Einzelheiten aus meinem Gedächtnis aufzurufen. Wir fanden ein Dorf, ein zweites, schließlich ein drittes – und jedes Mal stürmten wir hinein und unsere Männer setzten alles in Brand. Die Bewohner stürzten aus ihren brennenden Hütten, einfache Bauern und ihre Frauen, kleine Kinder und Greise. Cortés befahl, sie allesamt zu töten – und sie nicht einfach nur umzubringen, sondern zudem zu verstümmeln, auf möglichst erniedrigende, abschreckende Weise, und ihre Überreste dort aufzuhängen, wo jeder sie unweigerlich sehen müsste. An Bäumen und am rußschwarzen Dachgebälk der wenigen festen Häuser.

Die Schreie werde ich niemals vergessen, die Angstschreie, die Schmerzensschreie. Die Schreie des Entsetzens und der ungläubigen Wut. Und die Stille danach, wenn endlich alles vorbei war, das ganze Dorf tot! Alles niedergebrannt und ausgeplündert, die Bäume sich biegend unter der entsetzlichen Last, die unsere Männer ihnen ins Geäst gehängt hatten. Unsere Männer, die mir mit einem Mal ganz fremd geworden waren – obwohl ich doch seit Monaten mit ihnen herumzog und zusammenlebte wie mit einer großen Familie! Auch Cristóbal de Tapia war unter ihnen und selbst seine Gebärden hatten alle Feierlichkeit verloren. Auch sein Gesicht war gerötet und zur Fratze verzerrt. Auch seine Zähne waren gefletscht, und auch seine Augen glitzerten, als ob er den Verstand verloren hätte!

Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber ich glaube, das gelang mir nur schlecht. Ich wollte schreien und presste meine Lippen aufeinander. Ich wollte wegrennen und befahl meinen Füßen, wie angeleimt zu verharren. Tränen brannten mir in den Augen und in der Kehle. So betete ich im Stillen, inbrünstig wie seit meinen Kinderjahren nicht mehr. Doch ich betete nicht für mich, und ich betete auch nicht für die unglücklichen Dorfbewohner – die waren als Heiden gestorben und würden niemals zu unserem allmächtigen Gott in den Himmel gelangen.

Ich betete für Cortés.

- 7 -

Noch am selben Tag griffen uns die Tlaxcalteken erneut mit fünfzigtausend Kriegern an. Wir waren erst seit ein paar Stunden zurück in unserem Lager, und obwohl wir immerhin größere Mengen an Nahrungsmitteln erbeutet hatten, war die Stimmung unter unseren Männern womöglich noch niedergedrückter als vorher. In Windeseile hatte sich herumgesprochen, dass bei unserer »Strafaktion« Hunderte unschuldiger Dorfbewohner umgekommen waren, und nicht nur unsere totonakischen Verbündeten waren fassungslos. Häuptling Mamexi flehte unseren Herrn geradezu an, so etwas auf keinen Fall noch einmal zu machen – er befürchte, dass seine eigenen Krieger sich sonst gegen uns wenden könnten. Wehrlose Frauen, Kinder und alte Männer abzuschlachten – das vertrug sich nicht mit ihrer Kriegerehre und das rief den Zorn der Götter hervor!

Ich war dabei, als Mamexi unseren Herrn in dieser Weise beschwor – und bei allem, was mir heilig ist: Ich spürte, dass er im Recht war! Was wir getan hatten, war Unrecht! Schreckliches Unrecht, an das ich auch jetzt noch nicht denken kann, ohne mich innerlich zusammenzukrümmen vor Reue, vor Scham und Schmerz!

Zu allem Überfluss hatten wir nun auch noch den Rachedurst der Tlaxcalteken angestachelt. Mit nervenzerfetzendem Geschrei stürmten sie den Berg herauf, und unsere Männer drängten sich bei der Kapelle »Vitoria« zusammen wie eine Hühnerschar, in deren Gehege der Fuchs eingedrungen ist. Der ganze Berghang war schwarz vor schreienden, hüpfenden, Speere und Schwerter schwingenden Indianern. »Wir sind verloren!«, riefen unsere Männer aus. »Heilige Muttergottes, hab Erbarmen!«, jammerten sie und schüttelten sich gegenseitig die Hände, als ginge es nun endgültig ans Abschiednehmen.

Doch Cortés und seine Vertrauten hatten wieder einmal alles vorausbedacht. Sie gaben den Artilleristen die vorher ausgemachten Zeichen, und unsere drei Kanonen donnerten kurz nacheinander los und richteten schreckliche Verheerungen unter den Angreifern an. Die Geschütze waren mit Steinkugeln geladen, und die Splitter jeder Kugel reichten aus, um Dutzende Menschen zu durchbohren, wenn sie nur dicht genug zusammengedrängt waren. Während die Tlaxcalteken noch dabei waren, ihre Toten und Verletzten in Sicherheit zu bringen, gab Sandoval den Gewehrschützen ein Zeichen. Es krachte und donnerte aus fünfzehn Hakenbüchsen und wieder wurden zahlreiche Indianer verwundet oder getötet. Alle anderen rannten und schrien durcheinander.

Ihre Kriegerehre verbot den Indianern nicht nur, wehrlose Bauernfamilien abzuschlachten oder einen Gegner im Schutz der Dunkelheit zu überfallen. Dieselbe Ehre gebot ihnen auch, sich Reihe um Reihe hintereinander aufzustellen und immer erst dann anzugreifen, wenn die Linie der Krieger vor ihnen von unseren Waffen niedergemäht worden war. So zumindest hatte es uns Mamexi erklärt und die Tlaxcalteken hielten es in diesen Dingen offenbar genauso wie die Totonaken. Die Ehre verbot ihnen sogar, mit Pfeilen und Speeren aus der Entfernung anzugreifen statt im ritterlichen Nahkampf mit dem Schwert. Und da sie ihre Gegner möglichst nicht auf dem Schlachtfeld töten, sondern gefangennehmen und ihren Opferpriestern bringen wollten, hielten wir auch an jenem Tag ihrem erbitterten Angriff stand. In der Abenddämmerung zogen sie sich endlich wieder zurück. Hunderte oder sogar Tausende von ihnen waren getötet worden und doch fühlte sich wohl niemand von uns wie ein Sieger.

Wir waren am Ende unserer Kräfte. Ohne unsere tapferen totonakischen Verbündeten hätten wir gewiss nicht so lange standgehalten und auch die Totonaken hatten mehr als Hundert Krieger verloren. Zwei Drittel unserer Männer waren mehr oder weniger schwer verwundet. Fast alle litten an jenem Fieber, gegen das die Arzneien von Wundarzt Jeminez nur wenig auszurichten vermochten. Auch Cortés wurde nach diesem Tag voll düsterer Ereignisse von dem Fieber befallen, das den Körper des Erkrankten glühen lässt und mit Schüttelfrost peinigt.

Eine weitere Schlacht wie die heutige, das war uns allen klar, würden wir nicht überstehen. Und gerade jetzt lag unser Anführer krank danieder! Die Männer wurden immer unruhiger. Und es waren längst nicht mehr nur die Velazquez-Getreuen, die Cortés die Gefolgschaft aufzukündigen drohten. Viele Konquistadoren hatten auf Kuba, Hispaniola oder zu Hause in Spanien Frau und Kinder, Haus und Hof. Sie waren aus Abenteuerlust mit uns losgezogen und natürlich in der Hoffnung, reich zu werden. Nun aber war aus dem Abenteuer ein Krieg gegen eine zweihundertfache Übermacht geworden. Und in Tenochtitlan mochten die Dächer und Teller und was sonst noch alles aus reinem Gold sein – doch Montezuma gebot über Hunderttausende oder sogar Millionen von Kriegern! War es da nicht höchste Zeit zum Rückzug, so fragten sich unsere Männer – solange sie noch Beine und Füße besaßen, auf denen sie davonrennen konnten?

Währenddessen lag Cortés fiebernd in seinem Zelt, allem Anschein nach in tiefem Schlaf. Und am nächsten Morgen, ehe der Himmel sich auch nur felsgrau färbte, war er wieder auf den Beinen und rief seine treuesten Gefolgsleute zu sich, darunter auch Marina. »Ich weiß genau, was ihr denkt«, sagte er, »aber wir können nicht zurück. Wir werden nach Tenochtitlan gelangen oder auf dem Weg dorthin sterben. Doch seid unbesorgt, ich hatte letzte Nacht wieder einmal einen prophetischen Traum. Ihr wisst, dass Gott selbst mir diese Träume schickt, um mir in der Finsternis, durch alle Angst und Verwirrung hindurch, den Weg zu weisen.«

Er schaute starr vor sich hin, und als mehrere Männer gleichzeitig fragten, was er geträumt habe, gab er keine Antwort. »Ich weiß jetzt, was zu tun ist«, sagte er nur. »Folgt mir, wir werden den Krieg mit den Tlaxcalteken noch heute beenden!«

Der Wundarzt Jeminez wollte ihm den Puls fühlen, offenbar in der Annahme, unser Herr rede im Fieberwahn. Aber Cortés entriss ihm seine Hand, schwang sich auf sein Pferd und galoppierte mit seinem Fähnlein davon.

Wir anderen, die wir im Lager zurückgeblieben waren, verlebten diesen Tag in wachsender Angst. Es wurde Mittag, dann Nachmittag – und Cortés kehrte nicht zurück. Schreckliche Vorahnungen quälten uns: Bestimmt waren sie den Tlaxcalteken in die Hände gefallen – und während wir untätig hier herumsaßen, wurden Cortés und seine Getreuen womöglich in einem Götzentempel dem Teufel geopfert!

Erst in der Abenddämmerung kehrten sie in unser Lager zurück. Cortés war bleich wie der Tod. Er stieg aus dem Sattel und wäre wie ein gefällter Baum umgesunken, wenn Diego und ich ihn nicht festgehalten hätten. Wir geleiteten ihn zu seinem Zelt und betteten ihn auf den Teppich, der ihm als Schlafunterlage diente. Und noch während ihm Jeminez seine wirkungslosen Arzneien einflößte, fiel Cortés in ohnmachtsähnlichen Schlaf.

Von Alvarado und Portocarrero, die ihn bei diesem jüngsten Ausfall begleitet hatten, war wenig zu erfahren. Sie waren bis zu der Tlaxcalteken-Stadt Tzompatzinco gelangt, ohne unterwegs angegriffen zu werden. In Tzompatzinco hatte Cortés den örtlichen Herrscher zu sprechen verlangt und ihm versichert, dass er mit den Tlaxcalteken Frieden schließen wolle. Sie hätten einen gemeinsamen Feind, verkündete er, und der heiße Montezuma. Wenn sie einander an die Gurgel gingen, würde das nur den Azteken in die Hände spielen. Er hielt ihnen sogar seine übliche Predigt und versicherte, dass er der Statthalter des allmächtigen Gottes und des Königs von Spanien sei. Wenn Notar Gutierrez mit ihm gekommen wäre, dann hätte unser Herr höchstwahrscheinlich auch noch das Requerimiento verlesen lassen.

Ob es ihm gelungen war, die Tlaxcalteken von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen, mochten oder konnten Portocarrero und Alvarado nicht sagen. Zumindest hatten die Indianer nicht versucht, Cortés und seine Gefolgsleute zu ergreifen und auf dem Opferstein hinzuschlachten. Aber auch das lag vielleicht nur an ihren Vorstellungen davon, welche Verhaltensweisen ehrenvoll waren und welche nicht.

Am nächsten Morgen war unser Herr wieder bei klarem Bewusstsein. Unsere Lagerwache meldete, dass von Südwesten her erneut eine gewaltige Streitmacht auf unseren Berg zumarschiert kam, aber Cortés schien dem keine Bedeutung beizumessen. »Niemand schießt!«, befahl er und schickte die Wache ohne weitere Anweisungen wieder weg.

Er war so geschwächt, dass Diego und ich Mühe hatten, ihn auf seine Füße zu hieven. Kaum hatten wir ihn aus seinem Zelt ins Freie geschafft, da eilten die beiden Franciscos auf uns zu.

»Erteilt den Befehl zum Rückzug, Kapitän-General!«, beschwor ihn Francisco de Morla. »Noch ist es nicht zu spät!«

»Wenn wir nach Nordosten zurückweichen, werden sie uns unbehelligt ziehen lassen!«, bekräftigte Francisco Montejo. »Aber wir müssen auf der Stelle aufbrechen!«

Unser Herr klammerte sich links und rechts an Diego und mir fest. Doch sein Kinn war vorgereckt, die Brust gewölbt. »Die Flucht ergreifen?«, rief er aus. »Gerade jetzt, wo der Krieg gewonnen ist? Ihr müsst den Verstand verloren haben!«

Die beiden Franciscos tauschten finstere Blicke.

»Und diese zwanzigtausend Wilden da unten – was glaubt Ihr, warum die schon wieder im Sturmschritt angerannt kommen?«, rief wiederum Morla.

»Um uns um Frieden zu bitten«, antwortete Cortés. »Und um sich zu entschuldigen.«

Er krampfte seine Hand in meinen Unterarm. Sein Gesicht war grau und mit Schweiß bedeckt. Doch seine Augen funkelten vor Zuversicht und sogar vor Spottlust. Er schien sich seiner Sache vollkommen sicher zu sein und der ungläubige Zorn der beiden Franciscos erheiterte ihn offenbar sehr.

»Und um uns feierlich in ihre Hauptstadt zu geleiten«, fügte er hinzu.

- 8 -

Tatsächlich kam alles genau so, wie Cortés es vorausgesagt hatte. Niemand von uns begriff so richtig, wie das möglich war – ob er auch diese glückliche Wendung in einem prophetischen Traum vorhergesehen oder dies alles am Vortag mit dem Herrscher von Tzompatzinco ausgehandelt hatte.

Das Heer der Tlaxcalteken jedenfalls lagerte unten am Fuß des Berges, während eine festlich gewandete Gesandtschaft zu uns emporstieg. Ihr Anführer war ein groß gewachsener Indianer von vielleicht dreißig Jahren. Er kniete vor unserem Herrn nieder und beugte sich vor, um den Boden zu küssen. Mühsam machte es ihm Cortés nach. Er hatte Diego und mir verboten, ihn zu stützen oder festzuhalten – die Tlaxcalteken sollten nicht bemerken, dass er geschwächt war.

»Ich bin der Sohn von Xicotencatl, einem der beiden Könige der Tlaxcalteken«, erklärte der Abgesandte und maß erst Cortés, dann die Umstehenden mit einem stolzen und finsteren Blick. »Mein Vater ist ebenso wie Maxixcatzin, unser zweiter König, zu betagt, um die beschwerliche Reise hierher persönlich auf sich zu nehmen«, fuhr er fort. »Aber sie laden Euch ein, mit Eurem Gefolge nach Tlaxcala zu kommen und dort unsere Gäste zu sein, solange es Euch bei uns gefällt.«

Cortés sah noch starrer als sonst durch sein Gegenüber hindurch. »Wie ist dein Name?«, fragte er. »Du hast eure Krieger im Kampf gegen uns befehligt – habe ich recht?«

Der Tlaxcalteke kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er heiße Xicotencatl, genauso wie sein Vater, erklärte er, und sei an dessen Stelle als militärischer Führer in die Schlacht gezogen. »Im Namen unserer Könige bitte ich Euch um Verzeihung, dass wir Euch angegriffen haben, bärtiger Fremder«, fuhr er fort. »Wir Tlaxcalteken schätzen unsere Freiheit so hoch, dass wir niemandes Vasallen sein wollen – lieber nehmen wir in Kauf, dass wir in Armut leben und uns in diese einfachen Gewänder aus Pflanzenfasern hüllen müssen, die Ihr an unseren Körpern seht. Montezuma hat allen Völkern verboten, mit uns Handel zu treiben. Deshalb sind wir arm, doch als Tribut bringen wir Euch das Kostbarste, was wir besitzen: Truthahnfleisch und Maisfladen, Federn und Weihrauch sowie einige junge Sklaven. Wenn Ihr Götter seid, die Fleisch und Blut zu sich nehmen, so verzehrt die Sklaven, seid Ihr milde Götter, so nehmt den Weihrauch und die Federn. Seid Ihr aber Menschen, so lasst Euch Truthahn und Tortillas schmecken.«

Er machte seinen Begleitern ein Zeichen und sie breiteten die mitgebrachten Gaben aus. Drei Indianer setzten Körbe voll köstlich riechender Nahrungsmittel vor unserem Herrn ab, drei weitere entrollten Bündel, die Weihrauch und kunstvoll gearbeiteten Federschmuck enthielten. Als Letztes traten fünf kräftige Tlaxcalteken vor, die ebenso viele junge Sklaven vor unserem Herrn zu Boden stießen.

Cortés schaute sich das alles ausdruckslos an.

»Leider können wir Euch kein Gold überreichen«, fügte Xicotencatl hinzu. »Wir haben gehört, dass Ihr die Tränen des Sonnengottes höher als jedes andere Besitztum schätzt, doch in unserem Land gibt es nirgendwo Gold. Dennoch ist es unser aufrichtiger Wunsch, Vasallen Eures Königs zu werden.«

Cortés wandte sich kurz zu Alvarado um und hätte dabei fast das Gleichgewicht verloren. »Wir benötigen das Gold gegen die Krankheit unserer Herzen«, erklärte er. »Eine Krankheit, die daher rührt, dass wir unsere Heimat vor so langer Zeit verlassen mussten.«

Diese Worte versetzten mir einen Stich. Also litt auch unser Herr manchmal an Heimweh?, fragte ich mich, während Marina übersetzte. Also kannte auch er diese schmerzliche Sehnsucht nach dem Ort, an dem er aufgewachsen war?

»So stimmt es also?«, fragte Xicotencatl und sein Gesichtsausdruck wurde scheu. »Ihr seid Quetzalcoatl, Herr – zurückgekehrt, um mit Eurem Volk, den Tolteken, wieder hier in Mexiko zu leben? Also seid Ihr wahrhaftig ein Gott?«

Cortés schaute noch starrer, falls das überhaupt möglich war. »War Quetzalcoatl nicht auch ein sterblicher Mensch«, fragte er zurück, »ehe er zum Gott erhoben wurde?«

Da erst wurde mir klar, dass er seine Worte eben ganz anders gemeint haben musste. Er hatte vom angeblichen Heimweh des Tolteken-Herrschers Quetzalcoatl gesprochen – und nicht von seiner eigenen Sehnsucht, eines Tages nach Spanien zurückzukehren! Oder begann er sich in seine Rolle als angeblicher Quetzalcoatl schon so sehr einzuleben, dass beides sich für ihn vermischte?

Der Tlaxcalteke wechselte verwirrte Blicke mit seinen Begleitern. Aus der Antwort unseres Herrn konnten sie herauslesen, dass er Quetzalcoatl sei, auch wenn er das nicht ausdrücklich behauptet hatte. Überdies hatte er sie daran erinnert, dass es nach ihrem eigenen Glauben in der Macht jenes Quetzalcoatl stand, als Gott oder auch verkörpert als Mensch unter ihnen zu erscheinen.

Mit großartiger Gebärde legte Cortés zwei der vor ihm kauernden Sklaven seine Hände auf den Kopf. »Ich schone euer Leben«, sprach er. »Ich bin milde und gütig und verabscheue Menschenopfer.« Er wedelte sie mit seinen Händen von sich fort. Alle fünf Sklaven rappelten sich auf und stolperten zur Seite. »Den Weihrauch brennt für mich ab und einige der roten Federn steckt mir an meinen Hut«, wies unser Herr mich und Diego an. »Dies auch zum Zeichen«, wandte er sich wiederum an Xicotencatl, »dass ich bereit bin, euch im Namen meines Königs als Vasallen zu akzeptieren. Und nun lasst uns gemeinsam den Truthahn verspeisen!«

Von den Gesichtern der Tlaxcalteken konnte ich ablesen, dass sie nun vollkommen verwirrt waren. Ob Cortés ein Gott oder ein Mensch war, der wiedergekehrte Quetzalcoatl oder der Statthalter des Königs von Spanien – oder vielleicht auch das alles zusammen –, hätte bestimmt niemand von ihnen sagen können. Und in meinem Kopf sah es nicht sehr viel klarer aus.

Noch am selben Tag reisten wir jedenfalls nach Tlaxcala ab. Eben noch hatten uns die Tlaxcalteken erbittert bekämpft – nun trugen sie uns in eigens mitgebrachten Sänften und Hängematten im Laufschritt den Berg hinab und durch die weite Ebene bis in ihre Hauptstadt. Dort wurden wir von den beiden greisen Königen, Maxixcatzin und Xicotencatl der Ältere, herzlich empfangen und in einem gewaltig großen Palast untergebracht. Nicht einmal die obersten Herrscher der Tlaxcalteken besaßen Umhänge aus Hirschleder oder aus Baumwolle und anstelle von Gold- und Silberketten trugen sie einfachen Kupferschmuck. Doch ihr stolzer Freiheitsdrang beeindruckte unseren Herrn und nötigte sogar Portocarrero ein wenig Respekt ab. »Die beiden Alten«, dröhnte er, »besitzen jedenfalls mehr beschissenen Stolz als unsere beiden Franciscos! Wozu allerdings auch verdammt wenig gehört!«

Nachdem wir so lange auf jenem Berggipfel gehungert hatten, schlugen wir uns in Tlaxcala von früh bis spät die Bäuche voll. Cortés und die anderen Kranken kurierten ihr Fieber und ihren Husten aus, und unsere Verletzten ließen die Wunden heilen, die ihnen die Tlaxcalteken mit den steinernen Schneiden und Spitzen ihrer Schwerter und Speere beigebracht hatten. Sooft es ging, schlenderten Carlita und ich durch die weitläufige Stadt und versuchten, nicht an gestern und schon gar nicht an morgen zu denken. Das gelang uns nur selten, doch wenn wir einen Winkel fanden, in dem wir uns ungestört küssen und umarmen konnten, gelang es uns umso besser.

Während wir auf dem Berggipfel bei der Kapelle »Vitoria« festsaßen, hatte Carlita mir auch den Rest ihrer schrecklichen Geschichte erzählt. Wegen »Verschwörung gegen den Thron von Tenochtitlan« waren die Familien aller Xochiquetal-Priesterinnen zu harten Strafen verurteilt worden. Die meisten wurden mit der blumenumwundenen Drahtschlinge hingerichtet – unter ihnen auch Carlitas Eltern, da die Hohepriesterin Ixhuicatli die Schwester von Carlitas Mutter war und in ihrem Haushalt gelebt hatte. Andere wurden in die Verbannung geschickt. Das Vermögen aller Familien, die der Verschwörung überführt worden waren, wurde eingezogen und an Adelsfamilien verteilt, die Montezuma treu ergeben waren. Kurz nach der Hinrichtung ihrer Eltern und Geschwister gelang es Carlita mithilfe eines hochgestellten Freundes ihres Vaters, unerkannt aus Tenochtitlan zu fliehen. Doch sie geriet bald schon in die Fänge eines Sklavenhändlers, der sie mit dem Krallenzeichen auf ihrem Unterarm brandmarkte und schließlich für dreizehn Jadeplättchen auf dem Sklavenmarkt von Potonchan verkaufte.

Das alles berichtete ich getreulich weiter an Cortés. Doch ich hütete mich zu erwähnen, auf welchen verborgenen Wegen Carlita aus der Stadt geschafft worden war – durch ein Labyrinth aus Geheimgängen, das nur wenigen Eingeweihten in Tenochtitlan bekannt ist. Denn diese Geheimgänge bilden ein Netzwerk von Fluchtwegen für den äußersten Notfall und führen überdies zu den Schatzkammern von Tenochtitlan.

Genauso wenig erwähnte ich das Menschentierhaus, zu dem Carlitas Eltern bereits verurteilt worden waren, als Montezuma selbst sie zum Tod durch die Blumenschlinge »begnadigte«. Auch von diesem grässlichen Kerker wissen in Tenochtitlan nur die Angehörigen der fünfzehn oder zwanzig mächtigsten Adelssippen. Oder genauer gesagt, so wie Carlita es mir erklärt hat: Jeder, der jemals Tenochtitlan besucht hat, kennt auch Montezumas Tierpark mit seinen Unmengen seltener Affen und Alligatoren, Ozelots und Jaguare. Und so kennt auch jeder die Abteilung für »menschliche Monstren« – Missgebildete mit zwei Köpfen, zusammengewachsene Zwillinge und andere bedauernswerte Kreaturen, die Montezuma gleichfalls in seinem Zoo zur Schau stellen lässt. Doch in einem Winkel des weitläufigen Tiergartens, noch hinter dem Alligatorsumpf, steht laut Carlita eine fensterlose Halle, die sich über einer abgrundtiefen Schlammgrube erhebt. Wer sich erkundigt, was in dieser Halle verwahrt wird, aus der bei Tag und Nacht ein schauriges Gewinsel dringt, der erhält die Auskunft, dass es das »Lager für lebendiges Tierfutter« sei. Tatsächlich aber, sagt Carlita, ist es der Albtraumkerker, den die Eingeweihten in Tenochtitlan das Menschentierhaus nennen.

Wir blieben drei Wochen in Tlaxcala. Die beiden greisen Könige hatten Cortés in ihr Herz geschlossen und wollten ihn gar nicht wieder ziehen lassen. Als unser Herr ihnen erklärte, dass er nun endlich nach Tenochtitlan marschieren müsse, um ihren gemeinsamen Feind Montezuma in die Knie zu zwingen, da wollten sie ihm eine Streitmacht von achtzigtausend Mann mitgeben. Doch Cortés bat sie, uns lediglich ihre zweitausend besten Krieger und einige Hundert Diener zu überlassen. »Wenn ich mit einer ganzen tlaxcaltekischen Armee anrücke«, sagte er, »wird Montezuma seine Stadt vor mir verrammeln. Ich will aber, dass er mich für seinen Freund hält und mir seine Stadt und sein Herz öffnet. Erst wenn ich mich im Innersten seines Herzens eingenistet habe, soll er erkennen, wen er eingelassen hat.«

Die Könige Maxixcatzin und Xicotencatl rieten Cortés dringend, dann aber zumindest nicht über Cholollan zu reisen. Ihre Späher hätten ihnen berichtet, dass die Chololla Vorbereitungen träfen, um uns in ihrer Stadt einzukesseln und zu ermorden.

Aber unser Herr ließ sich auch diesmal auf nichts festlegen. Das werde er unterwegs entscheiden, erklärte er lediglich und hatte es auf einmal wieder sehr eilig, die Stadt zu verlassen, in der wir so gastfreundlich aufgenommen worden waren.

Kurz zuvor hatte ihm König Maxixcatzin offenbart, was mit der Stute geschehen war, die die Tlaxcalteken bei der zweiten Schlacht von uns erbeutet hatten. Bestimmt hatte es unserem Herrn zugesetzt, dass sie die Stute ihrem Götzen Camaxtli geopfert hatten. Seine Abhandlung über unseren allmächtigen Gott im Himmel hatten sie feierlich verbrannt und schließlich die Überreste des Pferdes zusammen mit dem roten Tafthut vor der Camaxtli-Pyramide vergraben.

Am 12. Oktober im 1519. Jahr des Herrn machten wir uns auf den Weg nach Cholollan.

- 9 -

Hätte ich wirklich verhindern können, dass wir in die Schlinge tappten, die Montezuma hier in Cholollan für uns ausgelegt hat? Jetzt, da ich mir alles noch einmal vor Augen geführt habe, bin ich mir sicher: Es stand nicht in meiner Macht.

Wenn ich Cortés von dem Menschentierhaus in Tenochtitlan berichtet hätte, dann hätte er unweigerlich auch noch herausbekommen, dass Carlita von jenem Netz aus Geheimgängen und Schatzkammern weiß. Und dieses Wissen hätte ihn bestimmt nicht davon abgehalten, nach Cholollan und von hier aus weiter nach Tenochtitlan zu marschieren. Ganz im Gegenteil: Es hätte ihn nur noch mehr in seinem Plan bestärkt, in die Hauptstadt der Azteken vorzudringen und den größten Goldschatz der Welt an sich zu bringen – auch auf die Gefahr hin, dass er und seine treuesten Gefolgsleute in jenem Höllenkerker zugrunde gehen. Bis zu den Knien in übelriechendem Schlamm versunken, von dämonischen Dämpfen und giftigen Schlangen gepeinigt – so hat Carlita mir die elende Lage der »Menschentiere« beschrieben. Aber nicht einmal diese grausige Aussicht hätte ihn abschrecken können – das Goldfieber hätte Cortés weiter vorangetrieben, so oder so.

Kaum hatten wir das Land der Tlaxcalteken hinter uns gelassen, da stießen wir auf eine Gruppe kostbar gekleideter Azteken. Sie hatten in einem Gasthof am Straßenrand auf uns gewartet, und ihre Anführer warfen sich unserem Herrn sogleich zu Füßen und erklärten, der Große Montezuma habe sie ausgesandt. Einen von ihnen erkannte ich wieder, nachdem sie die Geste des Bodenküssens vollendet und ihre Oberkörper wieder aufgerichtet hatten. Es war Cuitlalpitoc, der uns schon zu Ostern im Land der Totonaken aufgesucht hatte, zusammen mit dem Tributeintreiber Teudile.

Cuitlalpitoc war diesmal noch kostbarer gekleidet, falls das überhaupt möglich war. Sein Umhang schimmerte vor Gold und Silber, und er klirrte und klingelte bei jeder Bewegung wie eine Marienkapelle, so verschwenderisch waren sein Hals, seine Handgelenke und sogar seine Fußknöchel mit Gold- und Silberketten umwunden. »Der Große Montezuma ist erstaunt und befremdet, Herr«, verkündete er, »weil Ihr Euch so lange bei seinen Feinden, den Tlaxcalteken, aufgehalten habt. Aber er ist bereit, Euch auch diesmal zu verzeihen, und betrachtet Euch weiterhin als seinen Freund.«

Cortés war stocksteif stehen geblieben, während die Abgesandten vor ihm auf den Knien lagen. »Wie viele Krieger befehligt der Große Montezuma? Und wie oft hat er schon vergeblich versucht, die Tlaxcalteken zu bezwingen?«, fragte er in gleichgültigem Tonfall, so als würde er sich erkundigen, wie viele Paar Schuhe der Aztekenherrscher besaß. »Ich jedoch habe ihnen mit ein paar Hundert Männern widerstanden und bin bis in ihre Hauptstadt marschiert«, fuhr er mit dem gleichen leiernden Stimmklang fort. »Die Herrscher von Tlaxcala haben sich mir, dem Statthalter des Königs von Spanien, als Vasallen unterworfen – und du redest von Verzeihen? Ich verlange, dass sich mir Montezuma gleichfalls unterwirft – sonst wird er es sein, der mich um Verzeihung anfleht! Aber dann wird es zu spät sein!«

Cuitlalpitoc und die anderen Abgesandten wechselten bestürzte Blicke. »Ihr missversteht, Herr …«, begann einer von ihnen, doch Cortés brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Die roten Federn wippten an seinem Hut – und in diesem Moment erst wurde mir klar, warum er mir und Diego damals bei der Kapelle »Vitoria« befohlen hatte, gerade diese Federn an seinem Hut zu befestigen. Weil Rot nach dem Glauben der Indianer die Lieblingsfarbe des sanften Götzen Quetzalcoatl ist.

»Ich bin milde und gütig«, sagte Cortés und starrte durch Cuitlalpitoc hindurch. »Ich verschmähe nicht nur Menschenopfer, sondern jede Art von unnötiger Gewalt. Aber selbst meine Geduld ist nicht unendlich – richte das Montezuma aus!«

Cuitlalpitoc stammelte irgendetwas und nickte dazu immer wieder mit dem Kopf. Er winkte ein halbes Dutzend Sklaven heran und sie rollten Matten vor Cortés’ Füßen aus und häuften darauf Unmengen kostbarer Geschenke auf: kunstvoll verzierte Umhänge und Federschmuck sowie etliche eindrucksvolle Figuren und Masken aus Jade und Grünstein.

»Nichts davon hilft gegen die Krankheit unserer Herzen!«, rief Cortés aus. »Hat der Große Montezuma etwa kein Gold mehr?«

Cuitlalpitoc versetzte einem der Sklaven einen Tritt, und der beeilte sich, ein weiteres Bündel vor unserem Herrn auszurollen. Zum Vorschein kamen fünf goldene Teller und ebenso viele Becher aus gehämmertem Silber.

»Der Große Montezuma«, verkündete einer der Abgesandten, »lädt Euch ein, Euch nach Cholollan zu begeben und dort in aller Bequemlichkeit auszuruhen. In wenigen Tagen wird eine Abordnung der edelsten aztekischen Fürsten nach Cholollan kommen und Euch in allen Ehren nach Tenochtitlan geleiten.«

Cortés reckte sein Kinn vor und wölbte die Brust heraus. »Um bis dahin zumindest die ärgsten Qualen unserer Herzen zu lindern, gebt uns alles Gold, das ihr bei euch tragt!«

Wieder wechselten die Gesandten erschrockene Blicke. Zögernd griffen sie nach ihren Goldketten, streiften sie über ihre Köpfe und legten sie neben den Bechern und Tellern unserem Herrn zu Füßen.

»Alles«, beharrte Cortés. »Auch die Armbänder und Fußketten. Und eure Umhänge und Sandalen – alles, was auch nur einen Faden Gold enthält!«

Wenig später standen Montezumas Abgesandte nahezu nackt da. Vielleicht hätte Cortés ihnen auch noch befohlen, ihre Hüfttücher abzuwerfen, doch die waren zum Glück für Cuitlalpitoc und die anderen nicht mit Goldfäden durchwirkt. Gedemütigt rissen sie ihren Sklaven die Umhänge von den Schultern und hüllten sich in diese einfachen Gewänder aus Pflanzenfasern, die in Tlaxcala sogar die höchsten Herrscher tragen, jedoch mit viel mehr Würde und Stolz.

»Zwei von euch bleiben bei uns«, befahl Cortés. »Zwei weitere eilen uns voraus. Bevor ich Cholollan betrete, sollen sich die Herrscher dieser Stadt mir als Vasallen unterwerfen! Und der Rest von euch begibt sich auf schnellstem Weg zurück zu Montezuma! Fort mit euch!«

Cuitlalpitoc und ein zweiter Adliger aus Tenochtitlan blieben bei uns. So zogen wir weiter die Straße entlang nach Südwesten. Die Nacht verbrachten wir zum ersten Mal nach Wochen wieder in offenem Gelände. Sandoval teilte doppelt so viele Männer wie üblich als Lagerwachen ein und ordnete an, dass die ganze Nacht über an allen vier Ecken unseres Lagers Feuer unterhalten werden sollten. Auch ich musste in dieser Nacht Wache halten, und das Los bestimmte, dass Cristóbal de Tapia und ich vier Stunden lang zusammen am Feuer saßen.

Tapia nannte mich wieder »mein Retter«, er benahm sich sogar noch feierlicher als sonst. Irgendwann im Verlauf dieser Nacht kam mir der Gedanke, dass er mich so vielleicht vergessen machen wollte, wie er sich an jenem Tag in den Tlaxcalteken-Dörfern betragen hatte. Ich überlegte, wie ich das Gespräch auf den Blutrausch bringen könnte, der ihn und die anderen damals befallen hatte. Aber ich schaffte es einfach nicht und schließlich kam der schlaftrunkene Diego herbeigewankt und löste mich ab.

Am nächsten Morgen erschien tatsächlich eine Delegation aus Cholollan, angeführt von zwei ungemein würdevollen Fürsten. Sie knieten vor Cortés nieder und leisteten ihm den Treueid, indem sie Wort für Wort wiederholten, was Notar Gutierrez vorlas und Marina übersetzte. Auf mich wirkten sie mehr wie Bischöfe oder Oberpriester als wie weltliche Herrscher, und wirklich erklärten sie, dass Cholollan vor allem als Stadt der Tempel und Götterfeste weithin berühmt sei. Zu ihrem Gefolge gehörten zahlreiche Priester, die zu Cortés’ Ehren Weihrauch verbrannten und auf Muscheltrompeten spielten.

»Diese verfluchten Teufelspriester – sie beten dich an, Hernán!«, dröhnte Portocarrero. »Wenn sie so weitermachen, schließe ich sie doch noch in mein Herz!«

Das stille Lächeln kräuselte Cortés’ Lippen. Der Wind spielte mit den roten Federn an seinem Hut.

»Bitte nehmt Platz, Herr!«, sagte einer der Fürsten mit einer ehrerbietigen Verneigung. Er deutete auf eine kostbar verzierte Sänfte, die von sechs Sklaven getragen wurde.

Da stürzte Xicotencatl der Jüngere herbei und fasste unseren Herrn ungestüm beim Arm. Er zog ihn einige Schritte zur Seite und Cortés ließ es geschehen. Der Tlaxcalteken-Prinz persönlich führte die zweitausend Krieger an, die die beiden greisen Könige von Tlaxcala uns überlassen hatten. »Geht nicht nach Cholollan, Herr!«, sagte er leise. »Ihr scheint darauf zu setzen, dass sie Euch für den wiedergekehrten Quetzalcoatl halten. Aber was wäre, wenn sie Euch das nur glauben machen wollen, damit Ihr ihnen arglos in die Falle geht?«

Cortés wechselte einen Blick mit Marina. Auch Alvarado war zu ihnen getreten und unser Herr schaute auch ihn fragend an. Der »Durchtriebene« schüttelte fast unmerklich den Kopf.

»Wenn Cholollan, wie du sagst, eine Falle ist«, antwortete Cortés schließlich Xicotencatl, »was ist dann deiner Meinung nach Tenochtitlan?«

Er wandte sich um und nahm in der Sänfte Platz. Noch vor der Mittagsstunde erreichten wir Cholollan.

Sie brachten uns geradewegs zu ihrem gewaltig großen Tempelplatz im Herzen der Stadt. Dort erklärten uns die beiden Fürsten mit sichtlichem Stolz, welche Götter in welchem Tempel angebetet wurden. Eine stattliche Pyramide, die neuer als alle anderen Bauwerke aussah, war himmelblau bemalt und Huitzilopochtli geweiht – dem Kriegsgott der Azteken, der erst seit gut Hundert Jahren auch in Cholollan verehrt wurde. Die weitaus größte Pyramide, die von einem wuchtigen Würfelbau gekrönt wurde, sah dagegen uralt aus und war es wohl auch. »Die größte Pyramide der Welt!«, erklärte einer der Fürsten. »Hundertzwanzig Stufen misst sie bis hinauf zum Tempel des Tlaloc – sieben Stufen mehr sogar als die Huitzilopochtli-Pyramide in Tenochtitlan!«

Die Stufen waren mit Blut verkrustet. »Quält ihr hier auch Kinder zu Tode, damit euer stinkender Wettergötze euch Regen schenkt?«, schrie Portocarrero.

Falls Marina seine Frage übersetzte und falls irgendjemand ihm darauf antwortete, so bekam ich es jedenfalls nicht mit. Ich starrte die gigantische Bildsäule an, vor der Cortés mitsamt seiner Sänfte abgesetzt worden war. Die Säule steht vor einem lang gezogenen Tempelbau, der sich auf einer steinernen Plattform erhebt und von einer hohen Mauer umschlossen ist.

Cortés stieg aus seiner Sänfte und trat vor das kunstvoll gemeißelte Bildnis. Er legte seinen Kopf in den Nacken und sah es aufmerksam an. Sein Gesicht war ausdruckslos wie fast immer, aber ich spürte, dass er tief beeindruckt war. Geradezu ergriffen, wie ich ihn niemals vorher gesehen hatte.

Ergriffen von sich selbst.

Die Bildsäule ist sicher schon viele Hundert Jahre alt und wenigstens neun Fuß hoch. Sie stellt einen schlanken, fast zierlichen Mann in mittleren Jahren dar. Sein Gesicht ist schmal und wundersamerweise von einem schütteren Bart gesäumt. Er trägt einen weit geschnittenen Umhang, der fast bis zu seinen Fußknöcheln reicht, und eine seltsame Kopfbedeckung, die wirklich einem Hut nach spanischer Mode ähnelt. Sein Kinn ist vorgereckt, die Brust gewölbt. Der helle Marmorstein mag im Lauf der Zeit von der Sonne noch zusätzlich gebleicht worden sein. Jedenfalls sieht es so aus, als ob der steinerne Mann weißhäutig wäre.

»Quetzal-Cortés!«, schrie Portocarrero.

- 10 -

Der Morgen dämmert herauf, und ich spüre, dass es unser letzter Morgen ist – hier in Cholollan oder überhaupt auf dieser Welt. Seltsamerweise fühle ich mich ganz ruhig – weder von Angst noch von Schuldgefühlen geplagt wie fast durchweg in den letzten Tagen.

Ich drehe mich zur Seite, stütze meinen Kopf in die Hand und schaue Carlita an. Ihre Augen sind geschlossen, sie seufzt und murmelt im Schlaf. Wie sehr ich dich liebe, Carlita!, denke ich. Aber bevor ich auch nur auf die Idee kommen kann, einen Kuss auf ihre Lippen zu hauchen, höre ich irgendwo neben mir Stimmengemurmel.

Ich rappele mich auf und finde Cortés und seine Vertrauten einige Schritte abseits in leisem Gespräch. Sie kräftigen sich durch ein Frühstück, das offenbar so karg ausfällt wie unsere gestrigen Mahlzeiten: altbackene Fladen und lauwarmes Wasser. Nur am ersten Tag haben uns die Herrscher von Cholollan großzügig bewirtet. Danach haben sie uns nur noch ein paar kümmerliche Reste geschickt und gestern Abend – an unserem dritten Tag in ihrer Stadt – sogar bloß Brennholz und Wasser.

Als unser Herr bemerkt, dass ich wach bin, winkt er mich energisch herbei. »Du bleibst hier im Palast, Orteguilla!«, sagt er zu mir. »Behalte die Kleine im Auge – ihr beide dürft das Haus nicht verlassen, bis ich es euch ausdrücklich erlaube.« Seine Stimme klingt ernst, er sieht angespannt und übernächtigt aus.

»Was ist passiert, Herr?«, frage ich.

Er deutet zum Dachrand. »Schau es dir selbst an.«

Unten auf dem Platz haben sich erneut Tausende Chololla versammelt. Die Feuer an den Straßeneinmündungen sind wieder angezündet worden und daneben liegen frische Brandfackeln aufgestapelt. Ich lasse meinen Blick zu den Dächern der umliegenden Paläste schweifen – die Indianer, die dort gestern Abend neben den Steinhaufen kauerten, sind noch nicht auf ihre Posten zurückgekehrt. Aber eine gewittrige Spannung liegt in der Luft – sie werden uns angreifen, das spüre ich, noch an diesem Morgen!

»Wir kommen ihnen zuvor«, sagt Cortés, der sich erhoben hat und neben mich an den Dachrand tritt. »Ihre Fürsten und sonstigen Würdenträger haben sich da drüben versammelt – im Hof des Quetzalcoatl-Tempels.« Er deutet zur anderen Seite des Platzes hinüber. »Offenbar wollen sie die Gnade ihres Götzen erflehen – bevor sie mich angreifen!«

Ich schaue ihn von der Seite an. Er kommt mir geradezu empört vor. Das Tor in der Mauer hinter der Bildsäule ist geschlossen, doch von hier oben aus kann ich erkennen, dass sich auf dem Tempelhof dahinter wenigstens Hundert Indianer drängen.

»Es wird einen Kampf geben«, sagt Cortés noch. »Wir werden die Gewehre und vielleicht sogar die Kanonen einsetzen, also bleibt im Haus und meidet auch das Dach. Sie werden alles mit Steinen und Pfeilen eindecken, was sich hier drüben bewegt.«

»Wie Ihr befehlt, Herr«, sage ich. »Aber kann ich nicht auch dazu beitragen, dass wir diesen Kampf gewinnen?«

Cortés hat sich schon abgewendet und antwortet mir, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Behüte die Kleine! Das ist dein Beitrag zu unserem Sieg.«

Da wird mir schlagartig klar, dass er längst weiß oder zumindest ahnt, wer Carlita wirklich ist. Sie ist unser Schlüssel zum Goldschatz, sie ist es wahrhaftig!

Während mir diese Gedanken durch den Kopf schießen, sind Cortés und seine drei Vertrauten schon auf dem Weg nach unten. Bestimmt haben sie während der Nacht alles vorbereitet für den Fall, dass die Chololla heute erneut Anstalten machen, uns anzugreifen. Und die Versammlung der Fürsten und sonstigen Würdenträger drüben am Quetzalcoatl-Tempel bietet ihnen eine ideale Gelegenheit, sie durch einen Gegenangriff zu überrumpeln.

Von unserem Palast führen zwei Tore auf den Platz hinaus. In jedem Eingang steht eine Kanone, ihre Mündungsrohre bedrohen den Platz. Der Hof und der Garten hinter dem Palast sind so weitläufig, dass unser gesamtes Gefolge dort untergekommen ist – zweitausend Tlaxcalteken, achthundert Totonaken und nochmals rund fünfhundert Diener und Sklaven. Aus dem linken Tor kommen nun unsere Kompanien eine nach der anderen hervorgestürmt, aus dem rechten die Tlaxcalteken in weniger geordneter Formation. Sie tragen bunte Blumenbüschel auf den Köpfen, und nach einem Moment der Verblüffung wird mir klar, wozu dieser wenig kleidsame Kopfputz gut ist: Er soll verhindern, dass wir versehentlich unsere eigenen Verbündeten beschießen.

»Was ist hier los?«, murmelt eine verschlafene Stimme hinter mir. Carlita ist aufgewacht und reibt sich schlaftrunken die Augen.

»Nichts, was wir uns ansehen sollten«, sage ich rasch. »Komm, Carlita, lass uns nach unten gehen. In deine Kammer – dort sind wir in Sicherheit.«

Sie erhebt sich von der Flechtmatte, auf der wir die Nacht verbracht haben. Ich nehme ihre Hand und ziehe sie zu der Treppenluke weiter hinten im Dach. Da erschallt vom Platz her ein dröhnender Ruf: »Das Tor ist offen!«

Wir fahren herum und laufen zum Rand des Palastdachs zurück. Gerade noch bin ich geistesgegenwärtig genug, um mich flach auf den Bauch zu werfen und Carlita mit mir herunterzuziehen. So sind wir zumindest vom Platz aus nicht zu sehen. Die Indianer auf den Nachbardächern haben allerdings nach wie vor freien Blick auf uns – und freie Wurfbahn, falls sie beschließen sollten, uns mit Steinen zu bombardieren.

Auf der anderen Seite des Platzes stößt eben der »Dröhnende« das Tor zum Quetzalcoatl-Tempel weit auf. Er stürmt in den Hof, wo die Würdenträger versammelt sind. Ihm dichtauf folgen Alvarado und Cortés, Marina und rund dreißig unserer Männer, bewaffnet mit Schwertern und Gewehren. Marina trägt einen Helm und am Gürtel ein Kurzschwert. Sie sieht furchterregend aus und auf düstere Weise wunderschön. Hinter ihnen geht das Tor krachend wieder zu. Wenn die Azteken oder die Chololla an eine Kriegsgöttin glauben würden, geht es mir durch den Kopf – sie müsste aussehen wie Marina!

Die Chololla-Krieger auf dem Platz stehen wie versteinert da. Ohne ihre Anführer wissen sie offenbar nicht, was sie jetzt machen sollen. Unsere Männer und die Tlaxcalteken haben einen zweiten Wall vor der Mauer zum Quetzalcoatl-Tempel gebildet und halten die Chololla mit ihren drohend erhobenen Waffen in Schach.

»Warum wollt ihr uns töten?«, höre ich Cortés drinnen im Tempelhof fragen. Er spricht mit erhobener Stimme, doch in jenem scheinbar gleichgültigen Tonfall – wie immer, wenn ihn kalter Zorn erfüllt. »Wir sind eure Gäste«, fährt er fort, »ihr habt mir und meinem König den Vasalleneid geleistet – und nun trachtet ihr uns nach dem Leben! Aus welchem Grund?«

Marina übersetzt, und noch bevor sie damit fertig ist, rufen und stammeln mehrere Chololla durcheinander. »Montezuma hat es ihnen befohlen«, sagt Marina. »Sie wollten erst nicht gehorchen, aber er hat gedroht, ihre Kinder und Kindeskinder opfern zu lassen, wenn sie nicht tun, was er verlangt.«

Für einen Moment kehrt drüben Schweigen ein. Was hat Cortés vor?, überlege ich fieberhaft. Will er die Fürsten und Würdenträger von Cholollan als Geiseln nehmen und so unseren freien Abzug aus der Stadt erzwingen? Aber warum hat er den größten Teil unserer Männer und der tlaxcaltekischen Krieger auf dem Platz aufmarschieren lassen? Und wieso hat er vorhin zu mir gesagt, dass es einen Kampf geben würde?

»Das ist Hochverrat!«, ruft unser Herr aus. »Nach spanischem Recht habt ihr alle euer Leben verwirkt! Als Statthalter meines Königs ordne ich hiermit an, das Urteil unverzüglich zu vollstrecken.«

»Macht die verfluchten Wilden kalt!«, brüllt Portocarrero.

»Feuer frei!«, ruft Alvarado.

Schüsse krachen hinter der Tempelmauer, Schwerter klirren, und dazu schreien die angegriffenen Chololla ohrenbetäubend durcheinander. Von hier oben aus können Carlita und ich nur ein wildes Hin- und Herwogen von Köpfen sehen, schwarze Schöpfe mit buntem Federschmuck und eisern behelmte Häupter. Doch die gefiederten Köpfe werden immer weniger und nach kürzester Zeit sind dort drüben hinter der Mauer nur noch die Helme unserer Männer zu sehen. Und der Helm von Marina.

Ein Hagel von Steinen prasselt neben Carlita und mir auf das Dach.

»Orteguilla!«, ruft hinter mir irgendjemand. Im Liegen drehe ich meinen Kopf zurück. In der Treppenluke steht einer unserer Armbrustschützen. »Verschwinde von hier!«, ruft er mir zu. »Hat der Kapitän-General dir nichts gesagt? Du sollst die Prinzessin in Sicherheit bringen!«

Die Prinzessin? Fragend blicke ich Carlita an, aber sie scheint überhaupt nicht zugehört zu haben. Sie schaut starr auf den Platz hinab, auf dem nun tatsächlich ein wilder Kampf entbrennt. Doch nein – es ist mehr eine Treibjagd, ein Hetzen und Abschlachten von aufgescheuchtem Wild. Die Chololla-Krieger rennen schreiend durcheinander und unsere Männer laufen mit gezogenen Schwertern hinter ihnen her. Gewehre werden abgefeuert, Armbrustpfeile zischen durch die Luft. Schon liegen überall auf dem Platz Indianer herum, zuckend und schreiend oder so stumm und starr, wie nur Tote daliegen können.

Ich fasse Carlita bei der Hand und ziehe sie wieder hoch. Über dem Platz wabern Schwaden von Pulverdampf, während wir nach hinten zur Treppenluke rennen. In den Augenwinkeln sehe ich, dass die beiden Steinewerfer vom Nachbardach reglos neben ihrem Geröllhaufen liegen. Aus dem Rücken des einen ragt ein Armbrustpfeil und um sie herum ist alles voller Blut.

Unzählige Tote und Verwundete habe ich gesehen, seit wir aus Vera Cruz aufgebrochen sind! Doch der Anblick der beiden Chololla, die wie übereinandergeworfen zwischen den Steinhaufen lagen, geht mir noch nach, als ich mit Carlita zu ihrer Kammer im Erdgeschoss eile. Guerrero postiert sogleich zwei Wächter vor unserer Tür. Er grinst mir aufmunternd zu und aus irgendeinem Grund erinnert mich sein zernarbtes Gesicht erneut an die beiden toten Chololla oben auf dem Dach.

Wir werden wieder alle niedermachen!, geht es mir durch den Kopf. So und nicht anders haben Cortés und Alvarado, Sandoval und Portocarrero es in der Nacht bestimmt geplant: Sie werden jeden einzelnen Chololla abschlachten, den sie hier in der Stadt aufgreifen können. Sie werden ein Blutbad anrichten, sie werden die Indianer massakrieren und verstümmeln, genau wie vor Wochen in den Tlaxcalteken-Dörfern. Nur dass sich hier in der Stadt viele Tausend Krieger aufhalten und nicht nur ein paar Bauern mit ihren Familien!

Doch Cortés wird keinen von ihnen am Leben lassen, das ist mir mit einem Mal schrecklich klar. Bestimmt hat er schon in Tlaxcala vorausbedacht, dass Montezuma uns hier in Cholollan tatsächlich eine Falle stellen könnte – und dass wir aber gerade deshalb hierherkommen müssen, ohne Angst oder Argwohn zu zeigen. Denn schließlich – wie könnte er der wiedergekehrte Quetzalcoatl sein und sich gleichzeitig vor ein paar Tausend Chololla-Kriegern fürchten?

Carlita hat sich sogleich in ihre Hängematte gelegt und die Augen geschlossen. Ich dagegen stehe wie versteinert an einer Fensterluke und schaue hinaus. Der Platz hallt noch immer von Schreien und Gewehrschüssen wider, aber es sind jetzt größtenteils Echos aus den Straßen und Gassen ringsum. Unsere Männer verfolgen die Chololla bis in die äußeren Stadtviertel. Die Luft ist von Brandgeruch erfüllt. Rauchschwaden steigen überall auf.

Sie machen es wirklich wie in den Tlaxcalteken-Dörfern, sage ich mir und vergesse zu atmen. Sie zünden alles an und schlachten alles ab, was sich auf zwei Beinen bewegt! Und dann plündern sie die gebrandschatzten Häuser und raffen alles an sich, was ihnen des Raubens wert scheint. Oh mein Gott!, denke ich und presse meine Zähne zusammen, um nicht laut herauszuschreien, was mir wieder und wieder durch den Kopf geht: Was wir hier machen, ist Unrecht! Ein schreckliches Verbrechen! Auch wenn sie uns angreifen wollten und wir ihnen nur zuvorgekommen sind: Dürfen wir deshalb ihre Stadt anzünden? Ihnen alles wegnehmen – ihre Besitztümer, ihr Leben, sogar ihre Würde?

Ich balle meine Hände zu Fäusten und drücke sie mir auf die Augen, um nichts mehr zu sehen. Aber die Bilder sind in mir, die Schreie, der Schrecken, der Schmerz. Warum bin ich nicht so unbeirrbar wie Guerrero, der niemals an seinem Recht zu töten zweifelt? Warum nicht so selbstgerecht wie Portocarrero, so verschlagen wie Alvarado? Warum kann ich mir nicht einmal mehr wünschen, so unbekümmert wie Sandoval zu sein – der »Tollkühne«, der noch auf Kuba und noch in Potonchan mein strahlender Held war?

Diese und so viele andere Gedanken wirbeln in mir umher wie Papierfetzen im Wind, wie zerrissene Schreie, die der Sturm von irgendwo herbeiweht. Doch die ganze Zeit über ist da in mir auch noch eine andere Stimme, die kühl und gleichmütig bleibt. »Wir werden nach Tenochtitlan gelangen«, sagt diese Stimme, »oder wir werden auf dem Weg dahin sterben.« Und sie sagt: »Ich werde den Thron erklimmen, der für mich bestimmt ist, oder ich werde am Galgen enden!« Es ist Cortés’ Stimme, aber es ist auch meine eigene Stimme, das wird mir immer klarer, je länger ich ihr zuhöre. »Ich werde mir hier in der Neuen Welt den Platz erkämpfen, der mir zu Hause verwehrt worden ist!«, sagt die Stimme in mir. »Koste es, was es wolle!«

Erst als der Abend bereits dämmert, kehren unsere Männer zum Tempelplatz zurück. Sie kommen aus allen Himmelsrichtungen, aus allen Vierteln, aus den abgelegensten Stadtteilen. Auch Cortés und seine Vertrauten sind wieder da. Ich stehe bei ihnen auf dem Palastdach und schaue zu, wie sie ihre Blicke über die brennende Stadt schweifen lassen. Ihre Augen glitzern, ihre Hände und Gewänder sind mit Blut befleckt.

Unten auf dem Platz haben unsere Männer die gewaltigen Goldmengen aufgehäuft, die sie überall in der Stadt aus Tempeln, Palästen und Schatzverstecken geraubt haben. Unzählige goldene Becher und Teller, Figuren und Schmuckstücke. Es schimmert und funkelt zu uns herauf wie eine zweite Abendsonne: so blendend, so blutrot.

Vorhin war es Tapia, der an Carlitas Kammertür klopfte und mir auftrug, sofort zu Cortés hinaufzugehen. Auch seine Hände waren noch mit Blut besudelt und seine Augen glänzten fiebrig. Doch zugleich kam er mir niedergeschlagen vor, buchstäblich bedrückt von der neuen Last, die er auf sein Gewissen geladen hat.

»Ich hätte nie gedacht«, murmelte er, »dass sich so etwas wiederholen würde. Du weißt schon, mein Retter: ein solcher Tag, an dem wir uns ganz und gar vergessen. Aber ich habe mich geirrt.«

Er schüttelte den Kopf, und ich sinne seinen Worten noch immer hinterher, während ich hier oben auf dem Dach bei Cortés stehe.

»Glaubst du, dass es falsch war, sie für ihren Verrat so hart zu bestrafen?«, fragt unser Herr. Er legt eine Hand auf meine Schulter, und da erst wird mir klar, dass er es mich gefragt hat.

»Ich, Herr … ich glaube …«, stammele ich und überlege fieberhaft, was ich ihm antworten soll. »Ich frage mich«, bringe ich schließlich hervor, »ob Montezuma jetzt noch glauben wird, dass Ihr der gütige Quetzalcoatl seid.«

»Montezuma und seine Ratgeber werden zutiefst beunruhigt sein, wenn sie erfahren, was hier in Cholollan passiert ist«, antwortet mir Cortés. »Versetze dich in ihre Lage: Sie selbst haben ihre Hauptgötzen grausamer und blutrünstiger gemacht, vor allem ihren unersättlichen Kriegsgott Huitzilopochtli. Für sie muss es jetzt so aussehen, als greife auch Quetzalcoatl zu grausameren Mitteln – und wer könnte das besser verstehen als Montezuma?«

Cortés reckt sein Kinn vor und wölbt die Brust wie sein steinernes Ebenbild unten auf dem Platz. »Gütig und sanft konnte Quetzalcoatl sein, solange er als oberster Götze von allen anerkannt war«, fährt er fort. »Aber um den furchtbaren Kriegsgott zu stürzen und den höchsten Thron zurückzuerobern, muss er noch grausamer als Huitzilopochtli sein.«