FÜNFTES KAPITEL
Die goldene Göttin

- 1 -

»Hört mich an, Commandante!«, sagt Francisco de Montejo in drohendem Tonfall. »Diese Männer haben mich zu ihrem Sprecher bestimmt. Wenn Ihr nicht hören wollt, was ich Euch zu sagen habe, müsst Ihr uns alle in Eisen legen.«

Er schwenkt seinen Arm im Halbkreis. Rund fünfzig Männer stehen eng zusammengedrängt hinter ihm, mit grimmigen und angespannten Gesichtern.

Cortés thront hinter den Goldtischen auf einem prächtig verzierten Sessel. Obwohl die Sonne schon hoch am Himmel steht, ist heute noch kein einziger Indianer aus den umliegenden Dörfern gekommen, um sein Gold gegen unseren Klimperkram einzutauschen. Nach dem Zusammenstoß zwischen Cortés und dem Tributeintreiber Teudile gestern Abend wird sich wohl auch kein Totonake mehr in unser Lager wagen.

»Ich habe immer ein offenes Ohr für die Sorgen meiner Leute.« Unser Herr verschränkt die Arme vor der Brust und nickt Montejo zu. »Also lass hören, Francisco!«

Von allen Seiten kommen nun weitere Konquistadoren herbei – vom Strand, von den Hütten und vom Wald her, wo sie auf der Jagd nach Wildbret waren. Die Stimmung in unserem Lager ist gedrückt. Da Teudile uns sämtliche Diener weggenommen hat, müssen wir uns auch wieder selbst um die Beschaffung von Nahrungsmitteln kümmern. Außerdem steckt die grässliche Spuknacht wohl jedem von uns noch in den Knochen. Mir selbst vielleicht sogar mehr als allen anderen – immer wieder muss ich an Carlita denken, daran, wie sie das teuflische Zauberding freigescharrt hat. Heute habe ich sie noch nicht zu sehen bekommen. Diego musste sie und Malinali in aller Frühe zur Santa Maria hinüberbringen, wo Fray Bartolomé die beiden auf ihre Taufe vorbereiten soll – »in klösterlicher Abgeschiedenheit«, wie Cortés vorhin zu mir gesagt hat.

Montejo berät sich murmelnd mit seinem Verbündeten Francisco Morla. »Unsere Mission ist beendet, Commandante Cortés!«, verkündet er schließlich und seine Stimme klingt unsicher. »Eure Instruktionen verbieten Euch und uns allen, Krieg gegen die Indianer zu führen. Dazu würde es aber unweigerlich kommen, wenn wir gegen ihren Willen noch länger hier bleiben wollten. Freiwillig werden sie uns nicht einmal mehr die nötigsten Nahrungsmittel überlassen. Also ermannt Euch, Commandante, und gebt den Befehl zur Rückkehr nach Kuba! Oder wollt Ihr, dass wir alle wegen Hochverrats am Galgen enden?«

Cortés mustert sein Gegenüber mit ausdrucksloser Miene. Ich spüre, dass ihn dieser Auftritt der Velazquez-Getreuen aus irgendeinem Grund erheitert. »Du hast recht, Francisco«, sagt er. »Was Montezuma mir gestern durch seinen Tributeintreiber ausrichten ließ, verändert alles.« Er spricht in beiläufigem, fast gelangweiltem Tonfall, so als würde er mitteilen, dass wir heute Hasen- statt Perlhuhnbraten zu essen bekämen. »Unter diesen Umständen«, fährt er dann aber fort, »können wir unsere Expedition nicht länger fortsetzen.«

Alle starren ihn an. Die eben noch grimmigen Gesichter der Velazquez-Getreuen beginnen, in ungläubiger Freude zu erstrahlen. Zugleich verdüstern sich die Gesichter aller anderen Männer in sämtliche Schattierungen der Verwirrung und des Zorns.

»Was soll das bedeuten?«, schreien sie durcheinander. »Abhauen, nur weil Häuptling Truthahnfeder das plötzlich so will? Kommt nicht infrage!«, rufen sie aus. »Wenn wir hier bleiben, werden wir alle reich! Hier gibt es fruchtbares Land für jeden von uns – und mehr als genug Gold!«, schreien sie. »Commandante, gebt es zu, Ihr habt Euch einen Scherz erlaubt!«

Auch Sandoval, Alvarado und Portocarrero werfen einander erstaunte Blicke zu und schütteln die Köpfe. Der »Durchtriebene« spielt seine Rolle so gut, dass ich beinahe darauf hereingefallen wäre. Portocarreros Flüche hören sich sowieso immer gleich an, egal ob er gerade zufrieden, wütend oder durcheinander ist. Doch Sandovals Gesicht verrät mir, dass sie die ganze Szene vorher einstudiert haben müssen. Seine Augen sind übertrieben weit aufgerissen, seine Wangen vor Verlegenheit gerötet.

»Nein, José, das hier ist bitterer Ernst«, antwortet Cortés dem Soldaten, der eben ausgerufen hat, unser Herr habe sich bestimmt einen Scherz gestattet. »Ich habe gründlich nachgedacht und bin zu folgender Entscheidung gelangt«, fährt er fort. »Wir werden lediglich noch eine Bucht ausfindig machen, die sich als natürlicher Hafen für eine größere Flotte eignet – für die Schiffe der nächsten Expedition, falls unsere Obrigkeiten beschließen sollten, eines Tages wieder jemanden herzuschicken, der unser Werk fortsetzen soll. Um eine solche Bucht zu finden, genügt eine einzige Brigantine, die die Küste entlang weiter nach Norden segelt.«

Cortés legt eine kurze Pause ein. Er wirft Montejo einen sinnenden Blick zu, so als wäre ihm gerade eben eine Idee gekommen. »Ja, so machen wir es«, sagt er und erhebt sich von seinem Sessel. »Damit du erkennst, Francisco, wie ernst es mir mit meiner Entscheidung ist, gebe ich dir das Kommando bei dieser Erkundungsfahrt.«

Er kommt um den Goldtisch herum und legt Montejo seine Hand auf die Schulter. »Nimm fünfzig Männer mit«, fügt er hinzu, »das genügt. Und da ungefähr diese Anzahl Männer hinter dir stehen, die offensichtlich dein Vertrauen genießen, so sollen sie dich begleiten. Dich und den anderen Francisco.«

Lächelnd hält er inne und winkt Morla herbei. Er legt dem blonden Neffen von Gouverneur Velazquez, dem er gestern noch Kerkerhaft angedroht hat, gleichfalls eine Hand auf die Schulter. »Brecht unverzüglich auf«, befiehlt er. »Es liegt ganz allein bei euch, wie lange diese Expedition noch andauern wird. Unterdessen lasse ich unsere Habseligkeiten an Deck schaffen und bereite alles für die Rückreise nach Kuba vor. Gott sei mit euch.«

- 2 -

Drei Tage später marschieren wir die Küste entlang – mit dreihundertfünfzig Mann, darunter zwanzig Armbrustschützen und ebenso viele Arkebusiere. Sogar zwei Feldgeschütze haben wir dabei und unsere Artilleristen schimpfen alle paar Hundert Schritte auf die kubanischen Sklaven ein, wenn wieder einmal eine der zentnerschweren Kanonen bis über die Achse im Sand versunken ist.

Während dieser drei Tage wurde die Stimmung im Lager und auf den Schiffen immer bedrohlicher. Die Männer, die Cortés bisher bedingungslos gefolgt waren, verstanden einfach nicht, warum er plötzlich zu den Velazquez-Getreuen umgeschwenkt ist. Mindestens dreimal täglich erschienen Abordnungen von unseren Männern, von den Artilleristen, den Seeleuten der verschiedenen Schiffe und sogar von den Zimmerern, um Cortés umzustimmen. Ihre Forderung war jedes Mal dieselbe: Sie wollten in diesem Land bleiben, das ihnen so viel mehr zu bieten schien als jeder andere Fleck auf dieser Welt. Sie wollten eine Siedlung errichten, wie die Totonaken es uns schließlich angeboten hatten. Sie wollten eigenes Land besitzen, auf dem sie nach Gold schürfen und als Hazienderos leben könnten, mit indianischen Arbeitssklaven und indianischen Ehefrauen. Diese wollten sie vorher von unseren Patres unterweisen und taufen lassen – »so wie Ihr, Commandante, es mit der Indianerin Malinali haltet!«. Das nämlich hatte sich auch längst herumgesprochen und es steigerte die Verwirrung unserer Männer nur noch mehr. »Wenn Ihr entschlossen seid, in wenigen Tagen nach Kuba zurückzukehren«, so fragten sie ihn immer wieder, »warum macht Ihr Euch so viel Mühe mit Malinali und mit der anderen Indianerin – der kleinen Sklavin Eures Pagen Orteguilla?«

Sie musterten mich argwöhnisch. Aber auf ihre Frage wusste ich auch keine Antwort, und wenn ich sie gekannt hätte, so hätte ich sie ihnen sicher nicht verraten.

Cortés hörte sich alle Forderungen und Vorwürfe mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an. »Ich verstehe euch«, antwortete er jedem Fragesteller, »aber als Leiter unserer Expedition kann ich nicht anders handeln.«

Bei dieser Meinung blieb er sogar heute früh, als Alvarado und Portocarrero vor aller Ohren damit drohten, ihm die Freundschaft aufzukündigen. »Du bist nicht mehr der Mann, dem wir als unserem Expeditionsführer bedingungslos gefolgt sind!«, beschwerte sich Alvarado.

»Er ist zu einem verfluchten Beamten geworden!«, schrie Portocarrero. »Aber mit einem beschissenen Federfuchser kann man keine neuen Welten entdecken, sondern höchstens irgendwelche von Spinnweb verdreckten Paragraphen!«

Jenes stille Lächeln huschte über Cortés’ Gesicht und erlosch gleich wieder. »Auch ihr habt recht, alle beide«, gab er zu. »Ich kann und darf nicht mehr als euer Expeditionsführer voranmarschieren. Was stattdessen kommen wird, liegt allein in Gottes Hand.«

Unser Herr wandte sich dem dritten seiner engsten Vertrauten zu. »Und was ist mit dir, Gonzalo?«, fragte er in bekümmertem Tonfall. »Willst du mir auch die Freundschaft aufkündigen?«

Sandoval schüttelte den Kopf, dass seine braunen Locken flogen. »Du weißt genau, Hernán«, sagte er, »dass ich dich wie einen älteren Bruder liebe und verehre. Wenn ich mit dir brechen wollte, würde ich mich mir selbst zum Feind machen, und was sollte das für einen Sinn haben?«

Er sandte Cortés sein unbekümmertstes Lächeln. »Aber anstatt hier herumzusitzen und auf die Rückkehr der beiden Franciscos zu warten, könnten wir doch noch ein wenig die Gegend erkunden – was meinst du? Vielleicht entdecken wir ja einen Ort, an dem dann unsere Nachfolger eine Siedlung gründen können, falls der König sie mit einer solchen Mission betraut! Und wenn nicht, dann haben wir uns doch wenigstens noch etwas die Zeit vertrieben. Du siehst es ja selbst, Hernán: So viele Männer, die tagelang tatenlos zusammenhocken – das gibt nur schlechte Stimmung und Streit.«

Cortés schaute sinnend vor sich hin. Mittlerweile weiß ich, dass seine Entschlüsse längst gefasst sind, wenn er sich in dieser Weise nachdenklich stellt.

»Sämtliche Ausrüstungsstücke sind auf den Schiffen verstaut«, fügte Sandoval in bittendem Tonfall hinzu. »Was jetzt noch zu tun bleibt, können wir getrost unseren Seeleuten überlassen. Also gib dir einen Ruck, mein Freund, und lass uns zum Abschied eine letzte kleine Wanderung in dieser herrlichen Neuen Welt unternehmen!«

Cortés rieb sich die Schläfen und klopfte sich sogar mit der Fingerspitze aufs Kinn wie jemand, der heftig um eine Entscheidung ringt. »Also gut!«, sagte er schließlich. »Dagegen lässt sich wirklich nichts einwenden. Hundert Mann bleiben hier, um die Schiffe zu bewachen. Alle anderen sammeln sich hier oben auf dem Platz!«

Das Erstaunen steht den meisten unserer Männer immer noch in die Gesichter geschrieben, als wir nach stundenlangem Marsch eine kleine Talsenke erreichen. Warum sind wir bei brütender Hitze zehn Meilen lang die Küste entlanggewandert? Und aus welchem Grund hat Cortés angeordnet, dass wir die Kanonen mit uns führen sollen? Wahrscheinlich versteht so gut wie niemand von unseren Männern, was das alles hier eigentlich soll. Unterwegs sind wir an endlosen Feldern vorbeigekommen, auf denen Getreide und Gemüse üppiger wachsen als irgendwo in der Alten Welt. Die Wälder sind voll mit schmackhaftem Wild, Bäche und Seen wimmeln vor Fischen.

Aber wozu soll es gut sein, dass wir uns an all diesen Köstlichkeiten hungrig schauen – wenn wir doch in ein paar Tagen schon dieses Paradies verlassen müssen, um höchstwahrscheinlich nie mehr hierher zurückzukehren? Diese Fragen lese ich in sämtlichen Gesichtern und auch ich selbst quäle mich Stunde um Stunde mit ihnen herum. Jedem von uns ist klar, dass gerade wir, die treuen Gefolgsleute von Cortés, keine weitere Chance mehr bekommen werden. Die nächste Expedition wird Velazquez persönlich ausrüsten und zweifellos wird er die Schiffe nur mit seinen eigenen Anhängern füllen.

Das kleine Tal, in dem Cortés uns zu rasten befiehlt, ist kaum mehr als eine sandige Mulde zwischen dem Strand und dem Dschungel, der einige Hundert Schritte weiter westlich in den Himmel emporragt. Bestimmt haben etliche unserer Männer gehofft, Sandoval würde uns zu einem besonders idyllischen Ort führen, um Cortés so vielleicht doch noch zu einem Sinneswandel zu bewegen. Aber diese Senke ist für die Gründung einer Siedlung noch weniger geeignet als der Platz, auf dem Teudiles Diener unser Hüttendorf errichtet haben.

Erschöpft und niedergeschlagen lassen wir uns auf den Boden oder auf einen der herumliegenden Steinbrocken fallen, wie es gerade kommt. Auch Diego, der sich neben mir in den Sand gekauert hat, wirkt bedrückt. Und was mich selbst betrifft, ich fühle mich so durcheinander und traurig, dass meine Augen zu brennen beginnen.

Carlita und Malinali sind auf der Santa Maria zurückgeblieben, bei Fray Bartolomé, der sie noch immer im Glauben an Gott den Herrn unterweist. In meiner Niedergeschlagenheit kommt es mir vor, als sollte ich Carlita nie mehr wiedersehen.

Ich lasse den Kopf hängen und grüble vor mich hin, bis mich Diego mit dem Ellbogen anstößt. »He, Orte«, raunt er mir zu, »was soll das denn jetzt?«

- 3 -

Ich hebe meinen Kopf und schaue zu Cortés und seinen Vertrauten hinüber. Sie stehen auf einer kleinen Felsplattform mitten in der Senke wie auf einer natürlichen Bühne. Außer dem »Tollkühnen«, dem »Durchtriebenen« und dem »Dröhnenden« entdecke ich auch die knochige Gestalt von Notar Gutierrez – mir war bisher gar nicht aufgefallen, dass er mit uns die Küste entlanggewandert ist. Gutierrez trägt seine nahezu bodenlange Robe, und im ersten Moment glaube ich, dass er einmal mehr das Requerimiento verlesen wird. Aber dann wird mir klar, dass der in schwarzes Leder gebundene Foliant nicht wie sonst bei solchen Anlässen unter seinem Arm klemmt.

»Commandante Cortés!«, ruft Alvarado gerade eben mit schallender Stimme aus. »Ich wurde von einer Vielzahl redlicher Männer aus Eurem Gefolge beauftragt, an diesem Ort und zu dieser Stunde die Gründung der Stadt Villa Rica de la Vera Cruz einzuleiten. Ich fordere Euch auf, mir die Instruktionen auszuhändigen, die Ihr von Gouverneur Velazquez erhalten habt. Ich will Euch und allen Anwesenden darlegen, dass und inwiefern wir berechtigt sind, die Stadt Vera Cruz in vollkommener Übereinstimmung mit Euren Instruktionen und den allgemeinen spanischen Rechtsgrundsätzen hier auf dem Boden Neuspaniens zu gründen.«

Cortés gibt sich redlich Mühe, überrumpelt dreinzuschauen. Doch seine Gesichtsmuskeln bringen nur ein seltsames Zucken zustande. Er fährt mit beiden Händen unter seinen Umhang und zieht eine Papierrolle hervor, die mit einer roten Siegelschnur umwunden ist.

»Da ich die Instruktionen stets an meinem Herzen trage …« Er unterbricht sich mitten im Satz, macht einen Schritt auf Alvarado zu und reicht ihm mit weit ausgestrecktem Arm die Papierrolle.

Der »Durchtriebene« löst den Knoten, entfernt die Siegelschnur und entrollt die in Cortés’ eigener Handschrift säuberlich beschrifteten Blätter. Er überfliegt Absatz um Absatz und ich schaue ihm so gebannt wie alle anderen dabei zu. In jedem von uns steigt mit einem Mal eine ganz und gar verrückte Hoffnung auf – dass Alvarado in den Instruktionen einen Paragraphen finden wird, der es uns doch noch erlaubt, die Stadt Villa Rica de la Vera Cruz zu gründen, ohne dadurch ein todeswürdiges Verbrechen zu begehen. Doch wenn es diesen Paragraphen gäbe, müsste ihn Cortés dann nicht lange vorher entdeckt haben?

Portocarrero und Sandoval stehen jetzt nahe bei Alvarado und spähen ihm über die Schultern. »Aus dem Gekrakel mag der Teufel schlau werden!«, schreit der »Dröhnende«.

Noch ehe sein Geschrei gänzlich verhallt ist, hebt Alvarado eine Hand und sagt: »Hier ist es.«

Wir alle vergessen zu atmen. Carlita, denke ich – vielleicht werden unsere Herzen ja doch nicht schon morgen oder übermorgen für immer auseinandergerissen! Vielleicht steht ja in den Instruktionen doch dieser rettende Satz, den Cortés nur aus irgendeinem Grund übersehen hat. Mein Verstand weiß genau, dass es nicht sein kann. Aber mein Herz antwortet unbeirrbar: Du wirst schon sehen.

»Hier!«, wiederholt Alvarado und hackt mit der Fingerspitze auf dem Papier herum, das Sandoval vor ihm ausgespannt hält. »Seht ihr das? Falls jedoch Umstände eintreten sollten, die in dieser Instruktion nicht ausdrücklich berücksichtigt worden sind, so ist der Unterzeichnete dieser Instruktionen berechtigt und verpflichtet, im Geist der vorliegenden Bestimmungen, im Interesse der spanischen Krone und auf der Grundlage spanischen Rechts zu verfahren

Alvarado reißt die Arme hoch wie ein Feldherr nach gewonnener Schlacht. »Das hier sind besondere Umstände, wenn es jemals welche gegeben hat!«, ruft er aus. »Was könnte mehr im Interesse des Königs sein als die Gründung von Villa Rica de la Vera Cruz? Ich fordere euch alle auf, Caballeros: Lasst uns die Stadt gründen und uneinnehmbar befestigen! Wenn wir einfach so abziehen würden, hätten die Indianer Zeit genug, um Verteidigungsmaßnahmen zu treffen, und die nächste Expedition könnte an dieser Küste nicht einmal mehr unbehelligt landen!«

Cortés steht noch immer zwei Schritte abseits von den Männern, die er bis zu dieser Stunde als seine engsten Vertrauten angesehen hat. Er wirkt angespannt und keineswegs zufrieden, und mit einem Mal überkommen mich Zweifel: Vielleicht haben sie ihn ja doch überrumpelt, weil er sich nicht dazu durchringen konnte, ihre hochverräterischen Pläne gutzuheißen?

»Nach spanischem Gesetz«, fährt Alvarado fort, »besitzen wir als Versammlung redlicher Männer ohnehin das Recht, eine Stadt zu gründen und eine Versammlung von Ratsherren sowie an deren Spitze einen Bürgermeister zu wählen.« Er reißt erneut beide Arme empor. »Ist das euer Wille, Männer?«, ruft er uns zu. »Dann tut eure Zustimmung kund, indem ihr eine Hand hebt!«

Einen Augenblick lang sitzen unsere Männer noch wie betäubt da und starren einander an oder schauen verwirrt auf den Boden. Dann erheben sich alle und werfen ihre Hände hoch und schreien wie aus einer Kehle: »Ja, ja – es ist unser Wille, ja!«

Auf der kleinen Felsplattform, die wie eine Bühne aus dem sandigen Boden emporragt, befiehlt uns Cortés mit einer knappen Handbewegung zu schweigen. Augenblicklich wird es totenstill. Nur das Rauschen des Meeres kann ich noch hören und mein Herz, das wild in meiner Brust pocht.

»Euer Entschluss steht also fest?«, wendet sich Cortés an Alvarado und die beiden anderen. »Ihr werdet den Willen dieser Versammlung redlicher Männer erfüllen?«

»Ja, Commandante Cortés«, antwortet Alvarado. »Das werden wir nun unverzüglich tun.«

Unser Herr schüttelt ganz leicht den Kopf, breitet seine Arme aus und lässt sie wieder sinken. »Da es sich so verhält«, sagt er in schleppendem Tonfall, »trete ich hiermit von allen meinen Ämtern als Anführer, Richter und oberster Befehlshaber zurück. Es gibt fortan keine Expedition mehr, also kann es auch deren Commandante und Caudillo nicht länger geben.«

Ein Stöhnen geht durch die Menge, wie von einem verwundeten Tier. Die Männer reißen die Augen auf und raufen sich die Haare. Vollkommen durcheinander schauen wir alle zu, wie unser Herr abermals in seinen Umhang greift und die Goldkette mit dem königlichen Siegel unter seinen Gewändern hervorzieht. Er streift sich die Kette über den Kopf und wiegt sie kurz in der Hand, als wollte er sie wegwerfen oder Alvarado übergeben. Doch dann steckt er sie nur in eine der Taschen, die außen an seinem Umhang angebracht sind.

»Ich bin jetzt nur noch ein einfaches Mitglied dieser Versammlung redlicher Männer«, verkündet er und springt von der Felsplattform zu uns herab in den Sand.

Der »Durchtriebene« macht Gutierrez ein Zeichen und der Notar greift unter seine Robe und zieht einen kleinen Stapel beschrifteter Papierbögen hervor. »Wir beginnen nun mit der Wahl der Ratsherren von Villa Rica de la Vera Cruz«, verkündet Gutierrez und schaut sich verdrießlich nach einer Sitzgelegenheit um. »Wer dafür ist, dass der edle und redliche Don Pedro de Alvarado zum Ratsherrn gewählt wird, der hebe seine Hand!«

Diego krampft seine Finger in meinen Oberarm. »Was hat das zu bedeuten, Orte?«, knirscht er zwischen den Zähnen hervor. »Das kann Cortés doch nicht machen – er muss doch unser Commandante bleiben!«

Diego hat Tränen in den Augen. Ich überlege, was ich zu ihm sagen kann, um uns beide irgendwie aufzumuntern. Dabei geht mein Blick erneut zu Cortés hinüber, und ich sehe, dass er mir verstohlene Zeichen macht.

»Alles wird sich schon irgendwie zum Guten wenden«, sage ich und springe auf. »Bis später, Diego – unser Herr verlangt nach mir.«

- 4 -

Cortés umfasst mein Handgelenk, wie es seine Art ist, und zieht mich ein paar Schritte beiseite. Auf der Felsplattform ruft Notar Gutierrez einen Namen nach dem anderen aus, und jedes Mal heben die Konquistadoren ihre Hände und schreien: »Ja, er soll unser Ratsherr sein!«

Im Schatten einer Palme bleibt Cortés stehen. Er wendet der »Versammlung redlicher Männer«, die ihn gerade eben entmachtet hat, seinen Rücken zu und schaut starr aufs Meer hinaus. Mir ist beklommen zumute. Ich will ihn so vieles fragen und wage es kaum, mich auch nur zu räuspern.

Auf dem sandigen Platz brandet erneut Beifall auf. Offenbar hat der »Durchtriebene« alles sorgsam vorbereitet. Wen auch immer Gutierrez als Ratsherrn vorschlägt – er wird einstimmig gewählt und lauthals bejubelt. Als Erste Alvarado und Portocarrero. Dann ein halbes Dutzend weiterer Konquistadoren, die nacheinander die Plattform erklimmen und sich in alle Richtungen verneigen. Ich entdecke einige bekannte Gesichter, auch den würdevollen Cristóbal de Tapia, dem ich in Potonchan das Leben gerettet habe. Die Männer johlen und applaudieren. Sie steigern sich geradezu in einen Zustimmungsrausch hinein. Doch mir ist immer noch nicht klar, welche Rolle unser Herr bei diesem sonderbaren Spektakel spielt.

Schließlich erwacht Cortés aus seiner Versunkenheit und sieht mich an. »Wie soll sie heißen?«, fragt er mich.

Ich reiße meine Augen auf. »Wie …?«, stammele ich. »Wie soll wer …?« Doch im nächsten Moment wird mir klar, was Cortés meint – oder, besser gesagt, wen. »Carlita«, sage ich und spüre, wie meine Wangen heiß werden. »Für mich hieß sie vom ersten Augenblick an Carlita.«

»Vom ersten Augenblick an?« Cortés schaut mich an, wie nur er das kann. Spöttisch, durchbohrend, voller Argwohn. Aber ich spüre, dass er mir trotz allem vertraut und auch ein wenig Sympathie für mich empfindet. Obwohl er ahnt, dass ich ihn verraten habe. Damals in Potonchan.

»Nun, ich meinte natürlich«, berichtige ich mich, »als ich zum ersten Mal ihren Namen gehört habe. Carapitzli.« Ich erwidere seinen Blick und gebe mir alle Mühe, gelassen auszusehen. »Heißt das, Herr, dass Fray Bartolomé ihre religiöse Unterweisung abgeschlossen hat?«

Cortés nickt. »Sie werden heute getauft«, sagt er. »Aus Malinali wird Marina – und aus Carapitzli also Carla.« Jenes Lächeln kräuselt seine Lippen und erlischt. »Unser König Karl wird erfreut sein«, fügt er hinzu. »Falls er jemals davon erfährt.«

Hinter uns ruft Notar Gutierrez unaufhörlich weitere Namen aus und die Männer antworten ebenso unermüdlich mit Jubelschreien. Ich werfe einen Blick über meine Schulter – die kleine Felsplattform ist gedrängt voll mit frisch gewählten Würdenträgern. Wenn sie so weitermachen, geht es mir durch den Kopf, wird die neue Stadt bald ebenso viele Einwohner wie Ratsherren zählen – und kein einziges Haus, nicht einmal eine strohgedeckte Hütte!

Mit einem Mal wird mir wieder bang ums Herz. »Was wird nun werden, Herr?«, frage ich. »Bleiben wir wirklich hier – an diesem Ort?«

Cortés sucht in seinen Taschen herum. Meine Frage scheint er nicht gehört zu haben – oder er zieht es vor, nicht darauf zu antworten. Als seine Hand wieder zum Vorschein kommt, ist sie zur Faust geballt. »Unten am Strand wartet Juan de Escalante mit fünf Männern und einem Segelboot«, sagt er. »Sie bringen dich zurück zu unserem Lager. Hole Marina und Carla und schaffe sie umgehend hierher. Beantworte keine Fragen – egal, wer sie dir stellt. Hast du das verstanden, Orteguilla?«, fragt mich Cortés und hält mir seine Faust unter die Nase.

»J-ja, Herr«, stottere ich. »Ich werde alles so ausführen, wie Ihr es mir aufgetragen habt.«

»Sehr gut«, sagt Cortés. »Und das hier überreiche unseren Christenmädchen.«

Er lässt seine Faust aufschnappen und auf seiner Handfläche funkelt es golden. »Diese ist für Marina bestimmt«, fährt er fort und schiebt mit der Fingerspitze zwei goldene Halsketten auseinander. »Und diese für die geheimnisvolle Carlita.«

Er lässt die Schmuckstücke in meine Hand hinüberrrieseln. Mit ihren schlichten Kruzifixen und den Kettengliedern aus gehämmertem Gold sehen sie vollkommen gleich aus, nur ist die eine Kette breit und massiv, die andere schmal und zart.

»Hänge sie ihnen um und beglückwünsche sie, weil sie durch das Sakrament der Taufe von ihrem Heidentum erlöst worden sind!«, befiehlt mir Cortés. »Heute noch werden Montejo und Morla von ihrer Erkundungsfahrt zurückkehren«, setzt er übergangslos hinzu. »Es ist dafür gesorgt, dass sie nicht mehr ins Lager zurückkehren, sondern gleich hier unten am Strand vor Anker gehen. Aber auch davon sagst du zu niemandem ein Wort. Und jetzt geh!« Er nickt mir zu und wendet sich um.

Ein Knäuel an Fragen steckt mir in der Kehle, doch ich würge alles wieder herunter. Ich verstaue die Taufketten in meiner Gewandtasche, während Cortés mit bedächtigen Schritten zu der »Versammlung redlicher Männer« zurückkehrt.

Ich bin schon ein paar Schritte in Richtung Meer gerannt, da lässt mich ein wohlvertrautes Dröhnen erstarren. »Ich bin jetzt euer verdammter Alcalde!«, schreit Portocarrero. »Auch deiner, Hernán – also komm schon her, wenn dein Bürgermeister dich ruft! Oder willst du vielleicht, dass ich dir meinen Obersten Wachtmeister Sandoval auf den Hals hetze, du elender Sturkopf?«

Portocarreros Bassstimme klingt so donnernd und rau wie immer, und auch die Anzahl der Flüche und Schimpfwörter, die er in einem einzigen Satz unterbringt, ist weder größer noch kleiner als gewöhnlich. Und trotzdem vergesse ich zu atmen, während ich mich umdrehe und Cortés hinterherstarre, wie er den sandigen Platz überquert. Langsam, fast schlendernd, als wollte er betonen, dass er nur noch ein einfacher Bürger der Stadt Vera Cruz sei, geht unser Herr auf die kleine Felsplattform zu. Dort oben stehen mittlerweile nur noch rund fünfzehn Männer – die Ratsherren, nehme ich an, die zu ihrer ersten Sitzung zusammengekommen sind.

»Die Ratsversammlung von Vera Cruz«, schreit Portocarrero, während Cortés die Plattform erklimmt, »hat mich beauftragt, Euch, Don Hernán Cortés, folgende städtische Ämter anzutragen! Wir wünschen, dass Ihr das Amt des Obersten Richters bekleidet. Und wir wünschen, dass Ihr als Kapitän-General den Oberbefehl über unsere Streitkräfte übernehmt! Und nun erklärt Euch, Don Hernán Cortés – aber hurtig, denn die Wolke da oben sieht aus wie ein riesengroßer Arsch, der in Kürze über uns allen explodieren wird. Nehmt Ihr die Ernennung zum Obersten Richter und Obersten Militärkommandanten von Villa Rica de la Vera Cruz an?«

Cortés reckt sein Kinn vor. »Ich danke der Ratsversammlung für das Vertrauen, das sie mir entgegenbringt.« Er legt die linke Hand auf sein Herz und nimmt Haltung an. »Ich nehme die Ernennung an!«

Die Männer auf dem Platz brechen in ohrenbetäubende Jubelschreie aus. Sie schlagen sich gegenseitig mit den Fäusten auf die Arme, packen einander bei den Schultern und schütteln und rütteln sich vor übermächtiger Freude.

Mir geht es nicht anders – auch ich kann mich vor Glück und Erleichterung kaum fassen, während ich endlich zum Strand hinunterlaufe. Unser Herr hat das Kommando wieder übernommen!, sage ich mir. Ob die Truppe, die er anführt, nun »Expedition« oder »Streitkräfte von Vera Cruz« heißt – Hauptsache ist doch, dass er unser aller Schicksal wieder in seine Hände genommen hat!

So versuche ich, mir die Dinge zurechtzulegen, während ich Juan de Escalante und seine Männer begrüße. Escalante stammt wie Cortés aus Medellín und gehört zu jenen Männern, die für unseren Herrn durchs Feuer gehen würden. Ich steige ins Boot und in rascher Fahrt segeln wir die Küste wieder hinab gen Süden. Doch währenddessen vermischt sich mein Glücksgefühl mehr und mehr mit Unbehagen. Was werden Montejo, Morla und die anderen Velazquez-Getreuen sagen, wenn sie von ihrer Erkundungsfahrt zurückkehren und feststellen müssen, dass sich unsere Expedition in eine Stadt verwandelt hat?

Dann kommt die Bucht mit unserer Schiffsflotte in Sicht und ich vergesse alle Grübeleien. Gleich werde ich Carlita wiedersehen! Ich werde ihr die Halskette umlegen. Ich werde meine Arme um sie schließen und ihr Herz auf meinem fühlen und ihre Lippen auf meinem Mund. Yolehua!

- 5 -

Wir sind jetzt eine Stadt – und trotzdem setzen wir uns am nächsten Tag neuerlich in Marsch. Unser Ziel ist die Bucht, die Montejo und seine Männer mit der Brigantine ausfindig gemacht haben, etwa dreißig Meilen weiter nach Norden. Dort wollen wir die Stadt Vera Cruz nun tatsächlich in Holz und Stein errichten – mit einem Marktplatz und einer Kirche, mit Straßen und Häusern und einer unbezwingbaren Mauer darum herum.

Wir marschieren eine befestigte Straße entlang, die parallel zur Küste verläuft. Gerade ist wieder einmal ein Sturzregen niedergegangen, und das Regenwasser fließt nach rechts ins Mangrovendickicht und linker Hand auf die fruchtbaren Felder ab, die sich Meile um Meile an der Straße dahinziehen.

Es ist wahrlich ein reiches Land, sage ich mir. Selbst wenn Cortés nun doch noch beschließen sollte, dass wir uns dort oben an der Küste einfach als Hazienderos niederlassen – ich würde mit meinem Schicksal nicht hadern.

Jedenfalls kommt es mir in diesen glücklichen Stunden so vor. Carlita ist bei mir. Ich schaue sie von der Seite an, und ein Leuchten scheint von ihr auszugehen – von ihren großen Augen, von dem Lächeln ihrer schön geschwungenen Lippen. Um den Hals trägt sie die Goldkette mit dem Kruzifix, dessen Streben beinahe so zart wie Schmetterlingsfühler sind. »Fray Bartolomé hat alles erklärt«, hat sie vorhin, noch auf der Santa Maria, zu mir gesagt. »In eurem Glauben ich wiedergefunden habe, was scheinbar für immer verloren: die Göttin der Liebe, die ihr Maria nennt! Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich glücklich bin!«

Ich starrte sie mit offenem Mund an. Wie gut sie Spanisch zu sprechen gelernt hat – in so wenigen Tagen! Während ich noch überlegte, was ich ihr antworten sollte, schlang Carlita ihre Arme um meinen Hals und küsste mich so leidenschaftlich wie noch nie.

Ich war nun noch mehr durcheinander, weil sie ja gesagt hatte, dass sie wegen der Madonna so glücklich sei – und nicht wegen mir! Auch dass sie die heilige Mutter Maria »Göttin der Liebe« nannte, kam mir nicht ganz geheuer vor. Aber je länger und zärtlicher sie mich küsste, desto mehr zerschmolzen meine Bedenken. Bald schon konnte ich an nichts anderes mehr denken als daran, wie es sich anfühlen würde, wenn Carlita und ich uns einmal umarmten, ohne dass unsere Körper von irgendwelchen Kleidungsstücken umhüllt wären. Ich hatte ihre kleine Hand schon einmal auf meinem Herzen gefühlt, und es drängte mich, ihr gleichsam einen Gegenbesuch abzustatten.

Aber schon bei diesem Kuss, den wir in der Pagenkajüte unter Deck der Santa Maria tauschten, hätten wir leicht ertappt werden können. Draußen im Gang stampften die Seeleute und Zimmerleute hin und her. So winzig Diegos und meine Kammer ist, dient sie doch gleichzeitig als Lagerraum für schadhafte Spanten und Planken. Schon mehr als einmal ist es geschehen, dass ein Zimmermann oder ein Schiffsjunge frühmorgens zu uns hereingepoltert kam und in den Bretterstapeln herumkramte, während Diego und ich uns schlaftrunken die Augen rieben. Wenn stattdessen Carlita und ich auf meinem Kajütbett lägen, unbekleidet und eng umschlungen, und gerade in diesem Moment ein Matrose hereingestampft käme – nein, das will ich mir lieber gar nicht vorstellen.

Doch meine Gedanken irren wieder und wieder zu dieser Szene zurück, während Carlita und ich Seite an Seite in der Kolonne der Konquistadoren marschieren. Wir liegen auf meinem Bett, wir küssen einander und ich erkunde ihren Körper mit meinen Händen und meinem Mund … Wenn es mir nur gelingen würde, meinen Tagtraum an dieser Stelle anzuhalten und sozusagen auf der Stelle traben zu lassen! Aber sooft ich es auch versuche, ich schaffe es kein einziges Mal. Immer wieder lasse ich mich von den erhitzenden Wunschbildern mitreißen, weiter und weiter – bis abermals ein Matrose oder Zimmerer hereingepoltert kommt! Er lacht schallend auf und ruft seine Kameraden herbei. »Schaut nur, der kleine Orteguilla! Tja, so eine Indianerbraut kann nicht Nein sagen, was?« Mir wird dann jedes Mal noch heißer als sowieso schon – doch diesmal vor Verlegenheit. Nicht, weil sie mich mit meinem Mädchen erwischt haben, sondern weil es ja stimmt, womit sie mich in meinem Tagtraum verspotten: Carlita ist meine Sklavin – und dadurch gerät alles in ein schiefes Licht.

Ich muss Cortés dazu bringen, dass er sie freilässt!, sage ich mir. Aber welche Begründung könnte ich für diesen sonderbaren Wunsch anführen? Gewiss sind wir hauptsächlich deshalb hierhergekommen, um den Indianern unseren Glauben zu bringen – doch als Preis dafür nehmen wir ihnen ihr Gold und ihre Freiheit weg.

An diesem Gedanken würge ich herum, er macht mir Unbehagen und Angst. Ich spüre schon, wie er sich tief und immer tiefer in mich hineinbohrt. Aber es stimmt ja gar nicht, wende ich im Stillen ein, dass wir den Indianern alles wegnehmen – zumindest bei der Freiheit stimmt es nicht! Die zwanzig Mädchen und Frauen, die der Herrscher von Potonchan uns »geschenkt« hat, waren ja vorher schon seine Sklaven! Bisher haben wir keinen einzigen Maya-Indianer und ebenso wenig einen Totonaken versklavt – doch je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass sich das wohl bald schon ändern wird. Die Indianer auf Kuba und Hispaniola fristen ein elendes Sklavendasein. Sie müssen auf den Landgütern, in den Gold- und Silberminen ihrer spanischen Herren bis zur totalen Erschöpfung arbeiten – und wenn sie tot umfallen, fordert der Landbesitzer bei Gouverneur Velazquez einfach neue Arbeitssklaven an.

Will unser Herr also auch die hiesigen Indianer versklaven?, grübele ich und meine Stimmung wird immer düsterer. Nein, ganz bestimmt nicht!, antworte ich mir und glaube mir selbst kein Wort. Das Hüttendorf über der Bucht haben Teudiles Diener für uns gebaut, weil der Tributeintreiber hoffte, uns auf diese Weise von Tenochtitlan fernzuhalten. Aber Montezuma wird uns gewiss nicht noch einmal zweitausend Diener zur Verfügung stellen – und um eine ganze Stadt aus Holz und Stein zu errichten, brauchen wir doch bestimmt noch ein paar Tausend Arbeiter mehr.

Aber vielleicht hat ja die Ratsversammlung von Vera Cruz vor, ihre indianischen Bauarbeiter zu entlohnen? Ich versuche mir einzureden, dass sie das höchstwahrscheinlich schon beschlossen haben – vorhin, als ich mit Escalante zurück zur Santa Maria gefahren bin. Doch wiederum ist mir klar, dass ich mir etwas vormache. Portocarrero würde sich eher eine Hand abhacken, als einem Indianer freiwillig einen noch so kargen Arbeitslohn zu bezahlen – und schließlich haben sie den »Dröhnenden« heute zum Bürgermeister unserer Stadt gewählt.

Carlita berührt meine Hand und lächelt mich von der Seite an. »Was bekümmert dich?«, fragt sie mich. »Du siehst fast so düster aus wie Tlaloc, unser Regengott … wie der Wettergötze meines Volkes«, berichtigt sie sich rasch.

Ich neige mich so weit zu ihr hinüber, dass mein Mund fast ihr Ohr berührt. Ich rieche den Duft ihres Haars, das sie sich hinter ihr hübsch geformtes Ohr gestrichen hat. Alles Düstere, Niedergedrückte, das ich eben noch in mir spürte, löst sich auf wie Nebelschwaden im Sonnenschein.

»Tzoconia«, flüstere ich. »Ich möchte dich küssen, Carlita. Mit dir allein sein will ich und mit meiner Hand fühlen, wie dein Yollotli voller Verlangen nach mir pocht.«

Sie lächelt mich an. »Es ist Sünde, sagt Fray Bartolomé«, gibt sie zurück und ihr Lächeln erlischt. »Außer bei Eheleuten«, fügt sie hinzu, »denn dann schaut die Göttin Maria zu und aus der Sünde wird Liebe.«

Ich starre sie entgeistert an. Eheleute?, wiederhole ich still für mich. Soll das etwa heißen, dass ich Carlita heiraten muss, damit wir einander küssen und berühren dürfen?

Es kommt mir so absonderlich vor, dass ich beinahe in Gelächter ausgebrochen wäre. Ich bin ein Junge von gerade einmal sechzehn Jahren und Carlita ist bestimmt nicht älter als ich! Aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger lächerlich finde ich diese Idee. Wenn ich Carlita heiraten würde, wäre sie nicht länger meine Sklavin. Wir würden in unserem eigenen Haus in Villa Rica de la Vera Cruz leben, mit einer eigenen Schlafkammer, in die niemand einfach so hereingepoltert kommen könnte … Und schon entrollt sich jener Tagtraum aufs Neue in meinem Kopf. Carlita und ich liegen auf unserem breiten und bequemen Bett, wir beide sind vollkommen nackt und wir umschlingen einander und …

»He, Orte! Schläfst du wieder mal mit offenen Augen?« Das ist natürlich Diego, der mich ausgerechnet an dieser Stelle aus meinem Tagtraum herausreißen muss.

Ich schaue ihn wütend an, doch im nächsten Moment weicht meine Wut der Verblüffung. Unsere Kolonne hat das Ufer eines breiten Stroms erreicht, auf dem ein gewaltig großes Kanu auf uns zuhält. Mindestens dreißig Indianer sitzen darin, allesamt prächtig gekleidet, bemalt und geschmückt. In ihrer Mitte, auf einem erhöhten Sitz, thront ein stämmiger Indianer, der einen silbern schimmernden Umhang trägt. Auf seinen Knien hält er eine aufrecht stehende goldene Figur, die so lang wie der Oberarm eines ausgewachsenen Mannes ist.

Der stämmige Indianer ist Sturmbezwinger, das wird mir klar, noch bevor das Kanu unser Ufer erreicht hat. Die Figur auf seinen Knien funkelt im Licht der untergehenden Sonne. Sie stellt eine überirdisch schöne junge Frau dar, deren glückseliges Lächeln alles und jeden in ihrer Umgebung erstrahlen lässt.

»Eine Madonna!«, sagt Diego. »Wie kommen diese Wilden zu einer Skulptur unserer Muttergottes?«

Ich zucke ratlos mit den Schultern. Sturmbezwinger springt ans Ufer und schreitet auf Cortés zu.

»Das ist Xochiquetal, die Göttin der Liebe«, flüstert Carlita. Sie lächelt beinahe so glückselig wie die goldene Figur. »Die gleiche Göttin, die ihr Maria nennt!«

Diego starrt sie zornig an und hat den Mund schon halb offen – zweifellos, um Carlita entgegenzuschleudern, dass wir Christen im Gegensatz zu den »Wilden« nur den einen und allmächtigen Gott anbeten. Doch ich werfe Diego einen strengen Blick zu und schüttele den Kopf.

Bei der religiösen Unterweisung durch Fray Bartolomé scheint Carlita etwas missverstanden zu haben. Aber darüber werde ich und sonst niemand mit ihr sprechen. »Wenn man an einem Fadenende zieht, das scheinbar zufällig irgendwo heraushängt«, hat Cortés zu mir gesagt – »dann zeigt sich nicht selten, dass alles, was man gesucht hat, wie aufgefädelt daran hängt.«

Ich schaue von Carlita zu der goldenen Göttin, die Sturmbezwinger soeben Cortés überreicht – und ich spüre, dass Xochiquetal, die Göttin der Liebe, ein solches Fadenende ist. Wenn ich behutsam daran ziehe, werde ich Carapitzlis Geheimnis daran aufgefädelt finden.

- 6 -

Diese Nacht verbringen wir in einem Waldstück am Fluss, als Sturmbezwingers Gäste. Nachdem der Totonaken-Häuptling unseren Herrn ehrfürchtig begrüßt hatte, sandte er seine Krieger aus, um uns ein bequemes Lager zu bereiten. Schon nach kurzer Zeit kehrten sie mit unzähligen Körben voll köstlich duftender Nahrungsmittel zurück. Außerdem brachten sie Unmengen an Hängematten mit, und während wir uns ausgehungert über Truthahnfleisch und Tortillas hermachen, hängen sie die bunt gemusterten Flechtmatten für uns zwischen den Bäumen auf.

Sandoval hat einige Wachen rund um unser Lager postiert, aber das ist eigentlich nicht nötig. Das hier ist Sturmbezwingers Land, und er würde niemals dulden, dass einem von uns auch nur ein Haar gekrümmt wird.

Wir sitzen im Kreis um eines der Lagerfeuer, die die Totonaken für uns aufgeschichtet und angezündet haben – Sturmbezwinger und zwei würdevoll dreinblickende Krieger, Cortés und seine drei Vertrauten, außerdem Marina und Aguilar, Carlita und ich. Das Bildnis der Göttin Xochiquetal steht neben unserem Herrn auf einem Baumstumpf und er lässt es nicht einen Moment lang aus dem Blick. Ganz gleich, ob er isst oder trinkt, mit Sturmbezwinger spricht oder gedankenvoll schweigt – seine Augen kleben geradezu an der goldenen Skulptur. Und sie glitzern wie bei hochgradigem Fieber.

»Xochiquetal war in früheren Zeiten eine mächtige Göttin«, erklärt Sturmbezwinger. »Gleichberechtigt standen ihre Tempel neben den Heiligtümern, in denen wir den gütigen Quetzalcoatl, ihren Bruder, verehrten. Doch die Azteken haben Xochiquetal mehr und mehr an den Rand gedrängt. Sie verbieten uns nicht geradezu, die sanfte Göttin anzubeten, aber sie verhöhnen sie als Gottheit der Schwachen und Kranken, der Kinder und Weiber. Je grausamer und blutdürstiger eine Gottheit ist, desto inbrünstiger wird sie in Tenochtitlan verehrt. So ist das nun einmal«, schließt Sturmbezwinger mit einem bekümmerten Lächeln, »und solange Montezuma von der Wüste bis zur Küste über alle Völker herrscht, wird sich daran auch nichts ändern.«

Marina übersetzt seine Worte direkt in unsere Sprache, ohne Umweg über Aguilar. Der einstige Minoritenmönch wird offenbar nicht länger als Dolmetscher gebraucht, und sein angespanntes Gesicht verrät mir, dass ihn diese Entwicklung beunruhigt.

Cortés nickt gedankenversunken und behält die goldene Göttin im Blick. »Was wird ihr geopfert?«, fragt er. »Wirklich kein Menschenblut und keine Menschenherzen?«

Sturmbezwinger schüttelt so heftig den Kopf, dass sein Federschmuck auf und nieder weht. »Nicht einmal ein Huhn oder ein kleiner Hund!«, beteuert er. Ein fast kindliches Lächeln huscht über sein Gesicht. »Bei den Opferzeremonien verbrennen die Xochiquetal-Priesterinnen lediglich Blumen – und zwar hauptsächlich …«

Marina gerät ins Stocken. Um den Namen dieser speziellen Opfergabe ins Spanische zu übersetzen, braucht sie doch wieder den Beistand des Tätowierten. Eine ganze Weile lang beratschlagen sie auf Chontal und währenddessen hält Marina das goldene Kreuz an ihrer Halskette mit der linken Hand umklammert. Schließlich haben sie sich auf das gesuchte Wort geeinigt, und beide sagen fast gleichzeitig auf Spanisch: »Ringelblumen.«

Portocarrero bricht in donnerndes Gelächter aus. »Diese verschissenen Wilden!«, schreit er. »Warum geben sie ihrer Teufelsgötzin nicht gleich Gras zu fressen – wie einem Pferd

Sturmbezwinger wirft dem »Dröhnenden« über das Feuer hinweg einen befremdeten Blick zu. Auch wenn ihm niemand Portocarreros Worte übersetzt, hat er ihren Sinn offenbar erfasst. »Ihr verehrt ja die gleiche Göttin«, sagt er leise. »Ihr nennt sie nur anders – Madonna Maria. Auch eure Priester verbrennen während der Zeremonie Weihrauch. Nur opfern sie der Göttin Palmzweige anstelle von Ringelblumen – so jedenfalls wurde es uns von den Maya aus Potonchan erzählt. Auch die Maya-Völker verehren die Göttin der Liebe, nur heißt sie bei ihnen nicht Maria oder Xochiquetal, sondern Ixchel – ›Frau Regenbogen‹«, übersetzt Marina, diesmal wieder ohne den Tätowierten. »Drei Namen, eine Göttin«, fügt der Totonaken-Häuptling hinzu, »gebt Ihr mir recht, Herr?«

Cortés starrt die Göttin an. Mittlerweile ist die Nacht hereingebrochen. Der flackernde Feuerschein spiegelt sich in der goldenen Figur, es sieht beinahe so aus, als ob sie selbst in Flammen stünde.

»Ich mache dir keinen Vorwurf«, antwortet unser Herr. »Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend, aber das hier ist schließlich nur ein Götzenbild.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Es gibt nur einen einzigen, allmächtigen Gott«, erklärt er den Totonaken. »Maria war nur eine sterbliche Frau, die den Gottessohn geboren hat.«

Sturmbezwinger und die drei anderen Totonaken wechseln verwirrte Blicke. Sie besprechen sich untereinander, und ich spüre die Aufregung, die sich ihrer bemächtigt. »Dieser Gottessohn, von dem Ihr gesprochen habt«, wendet sich Sturmbezwinger schließlich wieder an Cortés, »er ist doch gewiss auch ein Gott? Und Maria ist also eine Frau, die einen Gott zur Welt gebracht hat – also muss auch sie weit mehr als nur eine gewöhnliche Sterbliche sein! Auch Ihr glaubt also an mindestens drei Götter, und wahrscheinlich noch ein paar mehr. Gebt Ihr mir recht, Herr?«, fügt er erneut mit einem bittenden Lächeln hinzu.

»Eine Kugel in deinen verlausten Pelz gebe ich dir gleich!«, donnert Portocarrero. »Oder einen Strick um deinen dreckigen Hals! Wie lange sollen wir uns noch anhören, wie dieser Teufel unseren Glauben verhöhnt? Dieser gefiederte Brüllaffe!«, brüllt Portocarrero in die Nacht hinaus.

Sandoval legt dem »Dröhnenden« eine Hand auf den Arm. »Er verhöhnt uns nicht, Alonso«, sagt er. »Und wenn ihr mich fragt – das Lächeln dieser Göttin da kann dem Satan unmöglich gefallen. Seht sie euch doch an – was für eine Sanftheit und Güte und selbstlose Liebe sie ausstrahlt!«

Der »Tollkühne« unterbricht sich und schaut sichtlich verlegen um sich. »Ihr wisst genau, dass ich sonst kein Freund gefühlvollen Geschwatzes bin«, setzt er aufs Neue an und deutet mit dem Kopf zu der goldenen Figur. »Aber wo ein solches Lächeln leuchtet, da hat der Teufel sein Spiel verloren!«

Cortés und Alvarado wechseln erstaunte Blicke. Portocarrero glotzt Sandoval mit hervorquellenden Augen an, zieht es aber glücklicherweise vor, keine weiteren Flüche anzubringen. Auch Carlita kommt mir ziemlich durcheinander vor. Sie sitzt so nah neben mir, dass sich unsere Knie berühren. So spüre ich ganz genau, wie sie vor innerer Bewegung erbebt. Sie greift nach meiner Hand und sieht mich von der Seite beschwörend an. Aber ich schüttele verstohlen den Kopf. Auch sie hat ja vorhin zu Diego und mir gesagt, dass unsere Gottesmutter Maria und die Indianergöttin Xochiquetal für sie ein und dasselbe sind. Doch warum gerade diese goldene Göttin sie derart in Aufregung versetzt, soll sie mir lieber erzählen, wenn uns niemand zuhören kann.

»Übersetze Sandovals Worte, Marina!«, befiehlt unser Herr. »Natürlich nur das, was er über das Lächeln des Götzenbildes gesagt hat.«

Marina dolmetscht. Währenddessen wendet sich Cortés dem »Tollkühnen« zu und behält weiter die goldene Göttin im Blick. »Ich gebe dir recht, Gonzalo«, fährt er fort. »Und damit stimme ich in gewisser Weise auch unserem Freund Sturmbezwinger zu. Heidenvölker, die eine gütige Götzin wie diese hier anbeten, lechzen förmlich danach, zum christlichen Glauben bekehrt zu werden. Ganz anders verhält es sich aber offenbar mit den Azteken. Sie verehren grausame, blutdurstige Götzen. Schon allein ein Lächeln wie dieses hier, das Sanftmut und Güte ausstrahlt, ist ihnen so verhasst, dass sie gar nicht anders können, als es mit Hohn und Schmutz zu besudeln.«

Cortés beugt sich zur Seite, nimmt das goldene Bildnis auf und hält es sich nah vor sein Gesicht, als wollte er die lächelnde Göttin küssen. »Montezuma und seine Azteken sind dem Satan verfallen«, sagt er in abschließendem Tonfall, »und deshalb ist es unsere heilige Christenpflicht, diesen obersten Teufelspriester von seinem Thron in Tenochtitlan zu stürzen.«

- 7 -

Von unserem Nachtlager am Fluss ist es nur noch ein Tagesmarsch bis zu der Bucht, an der wir Vera Cruz errichten wollen. Doch in aller Frühe, als wir uns erneut am Lagerfeuer versammeln, verkündet Cortés, dass wir einen Umweg machen werden.

»Wir wollen unsere Stadt an einer Bucht erbauen«, erklärt er, »die der Totonaken-König Pazinque als Teil seines Herrschaftsgebietes ansieht. Daher gebietet es die Klugheit mehr noch als die Höflichkeit, ihn persönlich um seine Unterstützung zu bitten.«

»Unser Herrscher wird sich tief geehrt fühlen, Herr«, versichert Sturmbezwinger, »wenn er Euch und Euer Gefolge in einem seiner Paläste beherbergen darf. Cempoallan liegt nur wenige Meilen abseits Eures Weges. Meine zuverlässigsten Krieger werden Euch bis vor die Palasttür geleiten.«

Während der Nacht waren wir in unseren Hängematten mehrfach bis auf die Haut durchnässt worden. So hat wohl niemand von uns etwas dagegen, die nächste Nacht in einer trockenen Unterkunft zu verbringen. Zumal an dem Ort, wo unsere Stadt entstehen soll, gegenwärtig noch keine zwei Steine aufeinanderstehen. Und was Cortés selbst angeht – er hat es bestimmt nicht allzu eilig, Montejo und die anderen Velazquez-Getreuen wiederzusehen. Auch wenn er es vor drei Tagen in bewundernswerter Weise geschafft hat, seine erbittertsten Widersacher ruhigzustellen.

Als Morla und Montejo von ihrer Erkundungsfahrt eintrafen und erfuhren, dass sich die Expedition in eine Stadt verwandelt hatte, die nie mehr nach Kuba zurückkehren könnte – da war Montejo so außer sich vor Zorn, dass er eine ganze Stunde lang kein Wort herausbrachte. Oder vielleicht war er auch klug genug, sich eine solche Schweigefrist aufzuerlegen, bis er halbwegs die Kontrolle über sich selbst zurückgewonnen hatte. Velazquez’ Neffe Morla kam mir nicht weniger erbittert vor, aber er ist nicht halb so wagemutig wie Kapitän Montejo.

Unser Herr jedenfalls wartete ab, bis sich die beiden einigermaßen beruhigt hatten, dann nahm er sie beiseite und machte ihnen ein Angebot. »Zweitausend Pesos für jeden von euch«, sagte er, »zusätzlich zu eurem Anteil an dem Gold, das wir bereits erhandelt haben und noch in unseren Besitz bringen werden.« Er legte jedem der beiden Franciscos eine Hand auf die Schulter. »Ohnehin wurdet ihr in Abwesenheit zu Ratsherren der Stadt Vera Cruz gewählt«, fügte er mit einem kaum sichtbaren Lächeln hinzu. »Also geht jetzt zu Bürgermeister Portocarrero und leistet ihm vor den Augen eurer Männer den Treueid.« Die beiden gehorchten, halb bestochen und halb eingeschüchtert – aber höchstwahrscheinlich werden sie die nächste Gelegenheit ergreifen, um die Männer aufs Neue gegen Cortés aufzuwiegeln.

Beim ersten Tageslicht marschieren wir jedenfalls weiter, geleitet von drei schweigsamen Totonaken-Kriegern. Unser Zug bewegt sich gemächlich auf dem Dammweg entlang. Ich lasse mich mit Carlita fast bis zum Ende der lang gezogenen Kolonne zurückfallen. Hier kann uns niemand belauschen – von unseren Hintermännern trennen uns ebenso wie von den Vorderleuten wenigstens zehn Schritte.

»Carlita«, sage ich leise. »Erzähle mir von eurer Göttin der Liebe.«

Sie errötet wie jemand, der bei seinen verstohlensten Gedanken ertappt worden ist. »Xochiquetal ist gütig und sanft«, antwortet sie mir sichtlich widerstrebend. »Mädchen ihr bringen Opfer, damit der junge Mann, in den sie verliebt sind, ihre Liebe erwidert. Junge Frauen flehen Xochiquetal um Hilfe an, wenn sie nicht schwanger werden können.« Sie schüttelt unwillig den Kopf. »Alles Aberglaube, sagt Fray Bartolomé – also lass uns von etwas anderem reden!«

Sie lächelt mich so verführerisch an, dass ich Mühe habe, mich auf die Frage zu konzentrieren, die ich ihr aber unbedingt noch stellen will. »Sturmbezwinger hat ja erzählt«, sage ich, »dass Xochiquetal von den Totonaken und anderen Völkern früher als mächtige Göttin verehrt wurde, genauso wie ihr Bruder Quetzalcoatl. Aber worin bestand denn eigentlich ihre Macht, Carlita – und was sind das für Götter, die seitdem an ihrer Stelle angebetet werden?«

Carlita starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Gesicht ist mit einem Mal aschgrau. Offenbar hat meine Frage sie fast zu Tode erschreckt – aber aus welchem Grund nur?

Ihre Lippen sind so fest aufeinandergepresst, als fürchte sie, dass ihr gegen ihren Willen doch noch eine Antwort entschlüpfen könnte. Mit stummer Heftigkeit schüttelt sie nur wieder und wieder den Kopf, bis ich ihre Hand ergreife und sie beruhigend anlächle.

»Du hast recht, Carlita«, sage ich, »lass uns von etwas anderem reden.«

Doch während der folgenden Stunden bleiben wir beide wortkarg. Meile um Meile marschieren wir bei brütender Hitze auf dem Dammweg entlang. Ganz genau die gleiche Angst, überlege ich währenddessen, habe ich schon einmal bei Carlita gesehen – in jener Nacht, als sie bei Blitz, Donner und Sturzregen im Hüttendorf herumirrte und drauf und dran war, eine dieser grässlichen Dämonenfiguren aus dem Boden hervorzuscharren. »Genauso ihre Schwestern und Gefährtinnen getötet!«, hatte sie laut Malinali damals wie in Trance offenbart. In den Tagen nach jener schauderhaften Zaubernacht hat Marina noch mehrmals versucht, aus Carlita herauszubekommen, was es mit der magischen Ermordung ihrer Schwestern und Gefährtinnen auf sich hat. Doch Carlita schüttelte immer nur stumm den Kopf – ganz genauso wie eben, als ich sie nach der Götzin Xochiquetal fragte.

Vielleicht ist das ja Carlitas Geheimnis, grüble ich vor mich hin: Womöglich gehörte sie zu einem geheimen Zirkel von Xochiquetal-Priesterinnen, die sich mit der Erniedrigung und Entmachtung ihrer Göttin nicht abfinden wollten – und die deshalb durch einen Dämonenzauber sterben sollten?

Ich werfe ihr von der Seite einen Blick zu. Auch sie ist tief in Gedanken versunken, und ihr bekümmerter Gesichtsausdruck verrät mir, dass es keine heiteren Gedanken sind. Bestimmt erlebt sie in der Erinnerung aufs Neue die entsetzliche Nacht, in der ihre Nächsten und Liebsten jenem teuflischen Zauber zum Opfer fielen. Wann ist das passiert? Und an welchem Ort? Carlita muss damals fast noch ein Kind gewesen sein, dreizehn oder höchstens vierzehn Jahre alt. Und bestimmt hat sich das alles in Tenochtitlan abgespielt – laut Marina spricht Carlita das Nahuatl so, wie es in der Aztekenhauptstadt gesprochen wird, und zwar »in den höchsten Adelskreisen«.

So viele Fragen brennen mir auf der Zunge, aber ich schlucke sie alle wieder herunter. Schon die eine Frage, die ich ihr gestellt habe, hat Carlita in Angst und Schrecken versetzt. Ich fühle mich schuldig, aber trotz allem muss ich weiter versuchen, ihr Geheimnis zu ergründen. Nicht nur deshalb, weil Cortés es mir befohlen hat, sondern mehr noch, weil ich glaube, dass es ihren Schmerz lindern wird, wenn sie mir das schreckliche Geheimnis am Grund ihres Herzens offenbart.

Wenn ihre »Schwestern und Gefährtinnen« damals umgekommen sind, so grüble ich weiter vor mich hin – wieso hat gerade Carlita überlebt? Irgendjemand muss ihr bei der Flucht geholfen haben, doch wer auch immer es war – er konnte nicht verhindern, dass sie als Sklavin verkauft wurde und schließlich bei den Maya in Potonchan landete, Hunderte Meilen südlich ihrer Heimatstadt Tenochtitlan.