17.

 

Elle hielt sich an Jacksons Hand fest und schlang ihre Finger eng um seine, als sie das Lebensmittelgeschäft von Inez betraten. Jackson hatte die Heiratserlaubnis in der Tasche. Sie hatten in die Kreishauptstadt fahren müssen, eineinhalb Stunden landeinwärts gelegen, um dort den Papierkram zu erledigen. Aber das war jetzt geschafft, und sie wollten kurz reinschauen, um sich mit Inez zu beratschlagen. Bomber stolzierte an seiner Leine dicht neben Jackson her und hob die Pfoten etwas höher als normal, um aufzuschneiden.

Die gesamte Tour hatte den größten Teil des Vormittags in Anspruch genommen, und als sie über die hölzernen Planken des Gehwegs zum Lebensmittelladen spazierten, lugte die Sonne durch eine aufgelockerte Wolkendecke. Etliche Leute kamen aus ihren Geschäften, um Elle mit strahlender Miene zu begrüßen und sie zu beglückwünschen. Jackson begegneten sie mit Hochachtung, als hätte er allen anderen den ersten Preis weggeschnappt.

»Wir sorgen hier für einigen Tumult«, bemerkte Elle, die dieses ganze Aufsehen nervös machte. Es half, dass sie Bomber dabeihatten, denn oft sprachen Menschen sie an und stellten Fragen zu ihrem Verschwinden. Dann lenkte Bomber sie rasch ab.

Sie winkte, als Irene Madison und ihr Sohn Drew aus der Buchhandlung kamen, Drew mit einem Stapel Bücher in den Amen, Irene mit strahlendem Gesicht; doch als ihr Blick auf Elle fiel, wäre sie fast gestolpert. Als Elle Irene das letzte Mal gesehen hatte, war die Frau mit ihrer Handtasche auf Libby losgegangen und hatte lautstark verlangt, sie solle Drew von seiner Leukämie heilen. Sie hatte Libby die Schuld daran gegeben, dass der Junge ein riskantes verschreibungspflichtiges Medikament eingenommen hatte und durch dieses Mittel fast in den Selbstmord getrieben worden war. Elle war nicht allzu versöhnlich gewesen, als sie ihrer Schwester zu Hilfe geeilt war, und wenn Jackson nicht gewesen wäre, hätte sie der Frau echten Schaden zufügen können. Trotzdem fiel es Elle schwer, Reue zu empfinden, denn schließlich hatte Irene Libby verletzt.

Irene versuchte es mit einem zaghaften Lächeln. Sie schien dem Deutschen Schäferhund nicht so recht über den Weg zu trauen, und das freute Elle insgeheim. Vielleicht spürte Bomber ihre Abneigung gegen die Frau, denn er gab sich nicht freundlich, sondern schob sich so vor Elle, als wollte er entweder sie beschützen oder Irene einschüchtern. Elle umklammerte Jacksons Hand noch fester und rang sich ein Lächeln ab. »Irene, wie nett, Sie zu sehen. Drew sieht gut aus.«

»Mir geht es gut, Elle«, sagte Drew, bevor seine Mutter zu Wort kam. »Dieses Jahr spiele ich Basketball.« Er grinste sie an.

»Natürlich sitze ich oft auf der Reservebank, aber ich habe es geschafft, in die Mannschaft aufgenommen zu werden.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Gut, dass die Schule so klein ist und nur mit Mühe und Not genug Spieler hat, um eine Mannschaft aufzustellen, aber ich bin immerhin dabei.«

»Es hat Spaß gemacht, zu all den Spielen zu gehen«, gestand Irene. »Drew ist jetzt schon seit Monaten dabei.«

»Das ist ja wunderbar«, sagte Jackson.

»Das hat er Libby und Tyson zu verdanken«, räumte Irene ein. »Sie haben mir geholfen, Drew in einer neuen Testreihe mit einem Medikament unterzubringen, das Ty entwickelt hat.«

Elle schluckte schwer und nickte. Das war das Höchste, wozu sie sich durchringen konnte. Sie würde niemals den Moment vergessen, als sie den heftigen Schmerz gefühlt hatte und Libby zu Boden gegangen war, elend, verwirrt und total kaputt. Sie hätten sie beinah verloren, und selbst wenn das nicht ganz und gar die Schuld dieser Frau gewesen war, dann hatte sie Libby trotzdem in einem Moment geschlagen, in dem ihre Schwester wehrlos gewesen war. Der Wind wehte vom Meer her, eine laue Brise, die ihr das Haar zerzauste und die besänftigende Berührung ihrer Schwester Hannah mit sich trug.

Elle drehte sich nach dem Drake-Haus um und sandte eine Kusshand zur Aussichtsplattform; ihre Hände hoben sich, um den Wind sanft zu lenken, damit er zu ihrer Schwester zurückkehrte. Ihr fiel auf, dass sich auch der Hund zum Haus ihrer Familie umdrehte, und sie ließ ihre Hand auf seinen Kopf sinken, um ihm dankbar das Fell zu streicheln. Er erleichterte ihr ganz eindeutig diesen ersten offiziellen Auftritt in der Öffentlichkeit.

Jackson räusperte sich. »So geht das ständig, dieses ganze Hin und Her«, erklärte er.

Drew lachte. »Das weiß doch jeder. Am liebsten mögen wir es alle, wenn Hannah Jonas den Hut vom Kopf weht.«

»Tut sie das immer noch?«, fragte Irene.

»Und ob. Letztens war er hinter zweien von uns her, als er uns am Big River beim Skimboarden gesehen hat, und sie hat den Wind benutzt, um ihn aufzuhalten, damit wir ungeschoren davonkommen«, berichtete Drew fröhlich, denn ihm war Elles warnendes Kopfschütteln entgangen. Er hatte völlig vergessen, dass seine Mutter neben ihm stand. »Mann, war das komisch. Er hat angefangen, den Wind anzuschreien, und jedes Mal, wenn er sich gebückt hat, um seinen Hut aufzuheben, hat der Wind ihn gepackt und ihn direkt außerhalb seiner Reichweite wieder fallen lassen. Der Hut kam dem Wasser immer näher, und er hat x-mal geschrien: ›Hannah, wag es nicht‹ aber dann hatten wir es endlich geschafft, von dort wegzukommen, und deshalb weiß ich nicht, wie es ausgegangen ist.«

»Das macht ihr großes Vergnügen«, sagte Elle in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Es tut ihr gut und so bleibt sie in Übung. Sie ist wirklich geschickt und zielt sehr präzise.«

Irene hatte die Arme in die Hüften gestemmt und blickte finster. »Und wann genau warst du mit deinem Skimboard am Big River, Drew?«

Der Junge lief leuchtend rot an und begann zu stottern.

»Hast du etwa die Schule geschwänzt?«, hakte Irene nach.

Jackson nahm Elle am Arm.

Vermutlich ist das ein geeigneter Zeitpunkt, um zu verschwinden, bevor ihr klar wird, dass Hannah die Jungen vor großen Scherereien bewahrt hat. Jonas hätte sie höchstwahrscheinlich zu ihren Eltern gebracht.

»Bis demnächst, Irene, Drew«, sagte Jackson. »Ich hoffe, ihr kommt beide zu dem Fest.«

Irene strahlte ihn und Elle an und ließ sich vorübergehend ablenken. »Zu eurer Hochzeit. Selbstverständlich. Das ließen wir uns um keinen Preis entgehen. Und noch etwas, Jackson ...«

Er wich zurück und bekam rote Ohren. Die Hand auf ihrem Rücken übte Druck aus, damit Elle sich in Bewegung setzte, aber sie drehte sich absichtlich um und zwang Jackson, höflich zu warten.

»Ganz herzlichen Dank, dass Sie uns geholfen haben, Drew für die Woche der Alternativpädagogik in diesem Lager in Tahoe unterzubringen. Das hätten wir ohne Sie niemals geschafft, und er hatte wirklich großen Spaß dort.«

»Das war ja so was von cool, Jackson«, stimmte Drew seiner Mutter zu. »Da konnte ich Skateboard fahren, auf einem Trapez rumwirbeln und Segeln gehen.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Ich bin sogar Rennen gefahren, mit einem Gokart. Das hatte ich alles vorher noch nie getan.«

Jackson räusperte sich und wich Elles Blick aus. »Ich habe deine Karte bekommen, Drew. Das genügt doch. Es freut mich, dass du deinen Spaß hattest.« Seine Stimme war mürrisch und seine Ohren waren jetzt knallrot. Jackson schob Elle vor sich her und hoffte nur, sie könnten sich im Lebensmittelgeschäft in Sicherheit bringen, bevor sie wieder jemand anhielt.

Obwohl einige Wolken die Sonne immer wieder verdeckten, war es doch sehr hell, weil die Sonne vom Wasser reflektiert wurde. Daher brauchte man eine Sonnenbrille und Jackson setzte sie nun endlich auf.

»Das ist ja schlimmer als mit einer ver ... - einer ... äh ... einer Berühmtheit durch die Gegend zu ziehen«, zischte Jackson durch zusammengebissene Zähne. »Kein Wunder, dass Joley Ilja heiratet. Sie braucht einen professionellen Leibwächter, um von einer Straßenecke zur nächsten zu kommen.«

»Du wolltest doch laufen.« Ein Anflug von Gelächter klang in ihrer Stimme mit. Da sich Jackson mittlerweile unbehaglich fühlte, könnte der Spaziergang vielleicht doch noch Spaß machen. Bomber musste da ganz ihrer Meinung sein, denn er blickte zu ihr auf, und auch in seinen Augen stand Gelächter. »Du hast mir noch gar nicht erzählt, dass du Drew geholfen hast, eine Woche lang eine Jugendfreizeit zu besuchen.«

Er zuckte die Achseln. »Der Junge konnte doch nie irgendwas tun, er ist immer so krank gewesen. Und die anderen Jugendlichen kommen zurück und reden ohne Ende über all die Orte, an denen sie waren, und all die Erfahrungen, die sie gemacht haben, und ich dachte mir einfach, es könnte ihm guttun.«

»Es hat ihm bestimmt gutgetan.«

»Er hat ständig seine Mutter am Hals, die einen solchen Wirbel um ihn macht. Er liebt sie, aber er ist ein Teenager, er braucht auch mal ein bisschen Freiheit.«

Es klang fast so, als wollte sich Jackson verteidigen. Elle blickte zu ihm auf. »Was hast du sonst noch für ihn getan?«

»Nichts. Da ist nur noch dieses Programm, in dem ich ihn im kommenden Sommer unterbringen will. Es ist so was in der Art von Schüleraustausch. Er wird durch vier Länder reisen und ein bisschen was von der Welt sehen. Er braucht das, Elle.« Sie blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen, schlang ihm die Arme um die Taille, zog sich auf die Zehenspitzen und bedeckte sein Kinn mit Küssen, bis sie seinen Mund erreicht hatte. Seine Hände legten sich auf ihre Hüften, und er hielt sie etwas weiter von sich weg. »Was tust du da? Alle sehen uns zu.«

»Ich küsse dich.«

»Dann lass das.«

»Ich küsse dich nun mal gern.«

»Nicht in der Öffentlichkeit. Es ist mein Ernst, Elle, du brauchst gar nicht so verrucht zu lächeln.«

»Der große, böse Jackson. So weich unter der harten Schale«, verspottete sie ihn. Lachend nahm sie seine Hand und lief mit ihm zum Lebensmittelgeschäft. Bomber ging bei Fuß.

Jackson seufzte tief und fuhr mit einem Finger über den runden Ausschnitt seines T-Shirts. »Es ist heiß heute.« Er beschleunigte seine Schritte und zog Elle in der Hoffnung mit sich, die Tür zu erreichen, ehe weitere derartige Begegnungen zustande kamen. »Ach ja?« Der spöttische Tonfall verlieh ihrer Stimme etwas Anzügliches.

Er sah sie finster an und setzte auf Einschüchterung. Sie war in einer typischen »Drake-Laune«. Wenn die sieben Schwestern zusammenkamen, konnte sie nichts und niemand davon abhalten, sich über alles und jeden lustig zu machen, der in ihre Schusslinie geriet. Elle schien ihn heute im Fadenkreuz zu haben. Mit einem Gefühl von Erleichterung streckte er eine Hand über Elles Kopf, stieß die schwere Ladentür auf und trat höflich zurück, um ihr den Vortritt zu lassen. Er folgte ihr ... geradewegs in die Hölle.

Jackson blieb mitten in der Tür erstarrt stehen, mit einem Fuß drinnen und mit dem anderen Fuß draußen. Die halbe Ortschaft drängte sich in dem Geschäft. Seine Hand spannte sich instinktiv fester um Bombers Leine und der Hund reagierte sofort mit größter Wachsamkeit.

»Jackson!«, rief Inez mit scharfer Stimme. »Sie lassen die Fliegen rein.«

Hier gab es keine Fliegen. Aber sie verstand sich wirklich darauf, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Alle Köpfe drehten sich zu ihm um und starrten ihn mit einem breiten Grinsen an. »Du siehst aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht«, flüsterte Elle. Ihre Stimme klang selbstzufrieden.

Er streckte die Hand nach ihr aus, um den Stoff ihrer Bluse zu packen, und er spielte mit dem Gedanken, sie rückwärts aus dem Laden herauszuzerren. Doch sie war ihm bereits entschlüpft und hatte sich seiner Reichweite haarscharf entzogen, als ob sie seine Reaktion vorhergesehen hätte. Vereinzelt wurde Beifall geklatscht, und er konnte fühlen, wie die Röte unter seinem Hemd in seinen Hals aufstieg.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Reginald Mars zu ihm und gab ihm einen kräftigen Klaps auf den Rücken. »Gut zu wissen, dass es in dieser Stadt jemanden gibt, der den Grips hatte, sich dieses Mädel zu schnappen.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme gerade so weit, dass es verschwörerisch wirkte, aber doch laut genug war, damit Elle ihn hören konnte. »Die da ist ganz schön feurig. Da werden Sie alle Hände voll zu tun haben.«

Elle lachte. »Machen Sie ruhig so weiter, und ich werde jede üble Geschichte, die ich über Sie kenne, an meine Tante Carol ausplaudern.«

Reginald Mars hatte seine eigene Farm, und sein Gemüse war gefragt und galt als das beste. Aber der Mann konnte sehr schwierig sein, und ehe die Tante der Drake-Schwestern in die Stadt zurückgekehrt war, hatte er seine Waren ebenso oft nach Menschen geworfen, wie er sie verkauft hatte.

Er zwinkerte ihr zu. »Kauf bloß nicht diesen Dreck mit dem Gift aus der Massenproduktion, Elle. Ich habe schon eine Kiste Gemüse auf Jacksons Veranda stehen lassen. Das bin ich ihm schuldig, weil ...«

»Das war sehr freundlich von Ihnen, Reginald«, fiel ihm Jackson ins Wort. »Ich versuche Elle so gesund wie möglich zu ernähren. Besonders gern mag ich diese Tomaten, die Sie mir vor circa zwei Wochen gegeben haben.«

Als Ablenkungsmanöver hätte sich das bewähren sollen. Mars hatte zum Thema Tomaten so viel zu sagen wie Clyde Darden über Blumen, aber der Mann ließ sich durch absolut nichts beirren. Er tat ganz einfach so, als hätte Jackson kein Wort gesagt.

«... er mir mit dem Papierkram für die Genehmigungen geholfen hat. Ohne ihn wäre ich da nie durchgestiegen. Ich war mir auch ziemlich sicher, dass Jackson die Leute vom Bauamt überredet hat, mir meinen Gebäudeanbau zu genehmigen, und Darryl vom Gericht hat mir das bestätigt.«

»Ich verkaufe keine vergifteten Tomaten«, stritt Inez im Hintergrund ab. Sie hatte ihre Arme in die Hüften gestemmt und funkelte sie alle finster an. »Mein Gemüse ist genauso gesund.«

Jackson wäre am liebsten im Erdboden versunken. Elle strahlte ihn an. Er biss die Zähne zusammen und rang sich mühsam etwas ab, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Lächeln aufwies.

Sag kein Wort. Nicht ein einziges Wort.

Elle bedachte ihn aus weit aufgerissenen Augen mit einem Unschuldsblick, den er ihr keinen Moment lang abkaufte.

»Elle!«

Trudy Garret stürzte auf Elle zu und rannte sie fast um. Daher streckte Jackson eine Hand aus, um ihr Halt zu geben, und ließ die Hand auf ihrem Rücken liegen, damit sie wusste, dass er ihr jederzeit eine Stütze sein würde. Er trat näher und presste sich an ihren Körper, als er fühlte, wie sie sich sofort zurückzog. Sie wappnete sich, und als Trudy sie umarmte, half Jackson ihr dabei, den Strom an Informationen einzudämmen, indem er ein inneres Schutzschild für sie aufbaute. Neben Trudy stand ihr kleiner Sohn Davey. Trudy war mit Danny Granite verlobt, Matts jüngstem Bruder, und sie arbeitete im Grillroom der Salt Bar.

»Wie geht es dir?«, fragte Trudy und hielt ihren Sohn fest an der Hand. Er zog an ihr und versuchte an Bomber heranzukommen. Jackson ließ den Hund etwas näher zu ihm. Im nächsten Moment streichelte Davey den Deutschen Schäferhund und redete auf ihn ein.

»Gut. Und wie läuft es bei euch?«, erwiderte Elle. Sie lehnte sich an Jackson.

»Einfach toll. Danny und ich spielen mit dem Gedanken, den Grillroom zu kaufen. Er wird zum Verkauf angeboten. Seine Eltern haben gesagt, sie würden uns helfen.« Sie grinste. »Ich glaube, sie wollen natürlich, dass wir erst heiraten, was ja nur logisch wäre.«

»Spricht etwas dagegen?«

»So ist das also. Da du jetzt den großen Schritt unternimmst, willst du den Rest von uns auch dazu bringen«, spottete Trudy, aber ihr Lächeln verblasste. »Ich will nur sicher sein, dass Danny Davey wirklich liebt. Ich will nicht, dass Davey in irgendeiner Weise zur Seite gedrängt wird.«

»Danny redet doch von nichts anderem mehr«, warf Jackson hilfreich ein. »Er spricht nur noch von Davey. Danny ist ein anständiger Kerl.«

»Das nervt, dieses Gerede«, steuerte Reginald bei, »das nervt gewaltig.«

Elle tätschelte seinen Arm. »Das war jetzt gar nicht hilfreich, Reginald. Wir wollen, dass Trudy Danny heiratet.«

»Wenn das so ist, dann hört auf, vor den Augen des Jungen in Sünde zu leben«, rief Reginald.

Inez sah den alten Mars finster an. »Sie sollten sich schämen!«

»Wenn es doch so ist«, sagte Reginald. »Zu meinen Zeiten hätten sie diesen Knaben hinter die Scheune mitgenommen und ihm eine Lektion erteilt. Mit den Gefühlen einer Dame spielt man nicht.«

»Danny hat ihr doch einen Heiratsantrag gemacht«, sagte Inez.

Reginalds buschige Augenbrauen zogen sich zusammen und er richtete seinen stechenden Blick auf Trudy. »Man tändelt nicht mit jungen Männern, wenn man es nicht ernst meint. Jedenfalls nicht in deinem Alter. Und erst recht nicht, wenn man einen Sohn hat, um den man sich kümmern muss.«

Trudy errötete heftig. Jackson hüstelte hinter vorgehaltener Hand.

Inez beugte sich über die Theke und nahm die Dinge selbst in die Hand, um die Aufmerksamkeit von Trudy abzuziehen. »Ich habe jede Menge Pläne geschmiedet, Jackson, und alle helfen mit. Es wird eine wunderbare Feier werden.« Sie errötete ein wenig und drehte sich zu dem stillen Mann um, der neben ihr hinter der Theke saß.

Elles Augen wurden groß, als ihr Blick auf Frank Warner fiel, der gerade erst aus dem Gefängnis herausgekommen sein konnte. »Frank, wie schön, Sie zu sehen.«

Er sah blass aus und wirkte viel älter; sein silbergraues Haar war kurz geschnitten, aber immer noch dicht und wellig. Er sah Elle mit einem leichten Lächeln an und schien ein wenig überrascht zu sein, als hätte er erwartet, dass sie ihn ignorierte.

Inez stellte sich dicht – und schützend – neben ihn. »Es freut mich auch, Sie hier zu sehen, Elle. Ich habe schon von den Hochzeitsplänen gehört.«

Jackson legte Elle einen Arm um die Schultern und hielt Frank die andere Hand hin. »Inez plant das alles für uns. Hoffentlich können Sie auch kommen. Wir hätten Sie gern als Gast dabei. Es wird keine förmliche Angelegenheit ...«

»Förmlich genug«, sagte Inez. »Ich habe Sarah eines dieser Designergewänder für Hochzeiten am Strand bestellen lassen.«

Jackson zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, eine Hochzeit am Strand heißt, man kommt in Badesachen, Inez.«

Sie lächelte abfällig. »Das kommt nicht infrage, Jackson Deveau, und das wissen Sie selbst. Für Elle werden Sie sich ordentlich herrichten.«

Er beugte sich zu Elle hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hatte mich schon so auf den Bikini gefreut.«

»Das habe ich gehört, junger Mann. Es mag ja sein, dass ich alt bin, aber ich habe immer noch ein scharfes Gehör.« Sie räusperte sich und nahm Franks Hand. »Frank und ich haben auch darüber geredet zu heiraten. Wir kennen einander schon seit so vielen Jahren, dass wir nicht mehr mitzählen können, und wir dachten uns, wir könnten eigentlich zusammen alt werden und gemeinsam auf unseren Schaukelstühlen auf der Veranda vor dem Haus sitzen.«

Als sie Jackson ansah, stand etwas auf ihrem Gesicht – das Bedürfnis nach Zustimmung oder vielleicht auch die Hoffnung, dass er einer Meinung mit ihr sein würde. Was auch immer sie empfand, sie wollte etwas von Jackson. Erst jetzt wurde Elle klar, dass hinter dieser Beziehung viel mehr steckte. Es ging nicht nur darum, dass Jackson Inez finanziell unter die Arme gegriffen hatte oder dass Inez ihm bei der Planung seiner Hochzeit behilflich war. Es hatte eher etwas von einem Verhältnis zwischen Mutter und Sohn oder zumindest der heiß geliebten Tante und ihrem Neffen.

Jackson ließ sich Zeit, bevor er lächelte und seine Augen nachdenklich über Frank Warners zerfurchtes Gesicht gleiten ließ. Der frisch entlassene Häftling schien nicht gerade der nächstliegende Kandidat zu sein, aber jeder in der Ortschaft wusste, dass sie zu dem Mann gestanden und ihn trotz der großen Entfernung, die sie zum Gefängnis zurücklegen musste, regelmäßig dort besucht hatte.

»Nun, Frank, dann bekommen Sie also die zweitwunderbarste Frau in Sea Haven. Ich hoffe, Sie wissen sie zu würdigen und sorgen immer gut für sie.« Sein Kinn senkte sich auf Elles Kopf, aber sie konnte ein schwaches Beben fühlen, das seinen Körper durchzuckte.

Sie glitt in seinem Geist umher. Er war besorgt. Er wusste, wie sehr Inez Frank liebte, aber er kannte Frank Warner nicht, überhaupt nicht, und es setzte ihm zu, dass Inez die Entscheidung so schnell traf.

Inez trifft keine vorschnellen Entscheidungen. Sie wird sich schon seit einiger Zeit Gedanken darüber gemacht haben.

Verliebte Frauen sind nicht vernünftig, Kleines. Glaube mir, meine Mutter hat meinen Vater geliebt und er war ein Mann von der übelsten Sorte.

Er zögerte kurz, bevor er das Eingeständnis machte.

Ich habe ihn auch geliebt, aber das heißt nicht, dass wir ihn hätten lieben sollen. Wir beide wären ohne ihn wesentlich besser dran gewesen. Das wünsche ich Inez nicht– das, was meine Mutter hatte.

Ohne jedes Zögern beugte sich Elle über die Theke und hielt Frank ihre Hand hin. »Ich gratuliere Ihnen, ich finde das ganz wunderbar.«

Frank legte seine Hand in ihre, und Elle schloss ihre Finger um seine. Einen Moment lang war nur die Wärme zwischenmenschlicher Kontaktaufnahme wahrzunehmen und dann flossen Franks Gefühle in Elles Bewusstsein - in Jacksons Bewusstsein.

Jackson verspürte augenblicklich Abwehr dagegen, die intimsten Gedanken eines anderen Menschen zu kennen. Frank war nicht wohl dabei zumute, inmitten der Kleinstädter zu sitzen und sich kritisch von ihnen mustern zu lassen. Er hatte Inez schon immer geliebt, aber er fühlte sich ihrer nicht würdig. Er wollte nicht, dass andere sich seinetwegen von ihr abwandten, und doch konnte er sich nicht dazu durchringen, es von sich aus zu beenden. Er fühlte sich alt und müde und ausgelaugt, und er wollte einfach wieder in Frieden leben - mit Inez.

Jackson nahm den stechenden Schmerz in Elles Kopf wahr und wusste, dass sie ihre Gabe schon wieder überstrapazierte. Sie würde all die Arbeit, die Kate geleistet hatte, zunichte machen.

Er zog an ihrem Arm, damit sie Franks Hand losließ.

»Lassen Sie mich wissen, was ihr beide braucht, Inez«, sagte Jackson.

Ihr Kinn bebte im ersten Moment, doch dann fasste sie sich wieder und reckte es in die Luft. »Wir brauchen zwei Trauzeugen.«

Jackson beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Es wäre uns eine Ehre, Inez. Nennen Sie die Zeit und den Ort und wir werden dort sein.«

Erleichterung flackerte in ihren Augen auf und dann strich Inez mit einer Hand über Jacksons Bart und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Wann kommt dieses Gestrüpp weg, damit ich Ihr Gesicht wieder sehen kann?«

Er grinste sie an, schlang seine Arme um Elles Taille und zog sie wieder an sich. »Wenn ich keinen Bart mehr habe, wird sie mich nicht mehr küssen. Und darauf will ich nicht verzichten.«

Inez sah Elle stirnrunzelnd an. Elle trat Jackson im Schutze der Theke ans Schienbein. »Es geht um mein Gesicht«, gab sie zu.

»Ich habe sehr empfindliche Haut, und selbst wenn er frisch rasiert wäre, würden seine Bartstoppeln kratzen und meine Haut aufscheuern.«

»Das ist natürlich nicht gut«, sagte Inez. Sie seufzte. »Dann werden Sie wohl den Bart behalten müssen, Jackson, aber stutzen Sie ihn wenigstens regelmäßig. Sonst werden Sie einfach grauenhaft aussehen, wie diese Motorradfahrer, die durch die Ortschaft kommen.«

Er grinste sie an. »Wie kann das denn sein, Inez?« Die Hälfte der Einheimischen trug langes Haar und Bärte.

»Kommen Sie mir bloß nicht frech«, schalt sie ihn aus, obwohl sie genau wusste, dass er sich einen Scherz mit ihr erlaubte. »Fies sehen die aus. Sie wollen Elle doch nicht schon vor der Hochzeit abschrecken.«

Das Läuten der Ladenglocke wies darauf hin, dass jemand gekommen oder gegangen war. Elle drehte sich so, dass sie alle Anwesenden im Laden besser im Auge behalten konnte. Irene und Drew hatten sich hereingeschlichen und standen bei der Tiefkühlkost. Die Dardens standen drüben am Brotregal und sprachen mit Jeff Dockins, einem anderen Ortsansässigen. Elle ließ die vertraute Atmosphäre auf sich wirken und sog sie wie Nektar in sich auf.

Sie hatte Sea Haven schon immer geliebt und dieses Geschäft ganz besonders, denn hierher kamen sämtliche Einheimischen, um in Ruhe miteinander zu plaudern. Manche nannten das Klatsch, aber sie wusste, dass sie nur Neuigkeiten miteinander austauschten, weil sich jeder für das Leben aller anderen interessierte. Sie halfen einander oft aus und ihre Anteilnahme war echt. Elle lehnte ihren Kopf zurück und schmiegte ihn entspannt an Jackson.

Bomber presste sich dicht an ihr Bein, nahm eine wachsame Haltung ein und stellte Fell und Ohren auf. Er sah nicht sie an, sondern er blickte sich im Laden um. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf und sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Der Atem stockte in ihrer Kehle und sie trat auf den anderen Fuß und ließ ihre Blicke durch das Geschäft wandern. An der Fleischtheke trieb sich der Reverend RJ herum, und sie wusste, dass auch Jackson ihn bereits entdeckt hatte, denn jetzt merkte sie, wie schützend seine Körperhaltung war.

Ein junges Mädchen stand neben dem Reverend, mit Piercings in der Lippe, in der Nase und in der Augenbraue. Sie trug dunklen Lippenstift und dunklen Eyeliner. Das lange Haar hing ihr glatt bis auf die Schultern, ein schimmernder blauschwarzer Rabenflügel. Sie war sehr hübsch, obwohl sie nur Schwarz trug und ihr Gesicht keinerlei Regung verriet. Sie sah niemanden an, sondern hielt ihren Blick starr auf den Boden gerichtet.

Elle ließ eine Hand auf Bombers Kopf fallen und ihren Blick über die beiden gleiten. Die Vorahnung von Gefahr war stark, eine düstere, eindringliche Warnung. Kälte sickerte in ihren Körper, erst in ihre Haut und dann in ihr Blut und in die Knochen. Jackson begann ihre Arme zu reiben, als wollte er sie wärmen. Sie ließ ihren Blick durch das Geschäft gleiten. Etliche Menschen zogen Pullover über oder rieben sich die Hände, als sei ihnen kalt.

Jackson.

Sie flüsterte seinen Namen und versuchte seinen Körper mit ihrem abzuschirmen.

»Was ist, Kleines? Ich sehe RJ. Ich lasse es gar nicht erst dazu kommen, dass er die Konfrontation sucht.« Sein Mund war dicht an ihrem Ohr, sein Atem warm, und seine Lippen streiften ihr Ohrläppchen zu einem heimlichen Kuss.

Aber es war nicht RJ. Die Luft strömte vor Schreck aus ihrer Lunge, als sie einen dunklen Schatten entdeckte, der durch das Geschäft glitt, sich erst dicht neben einer Person und dann neben einer anderen hinkauerte, schnupperte, die Finger ausstreckte und sie anzulocken versuchte. Erst sah sich Frank nach dem Schatten um, dann Mrs. Darden. Elle stieß sich von Jackson ab und brachte ihren Körper zwischen Franks Gesichtsfeld und die langsam dahinkriechende Anomalie.

Während sie zusah, kroch der Schatten in dem Laden herum und wurde an der Wand länger, bis er eine Gestalt annahm, mit der sie vertraut war. Der Tod. Ein gesichtsloser Ghul, lang und dünn, mit ausgestreckten Armen und einem breiten Maul, das gefräßig aufgesperrt war, um der endlosen Sucht Nahrung zu geben.

Sie skizzierte schnell ein Zeichen in die Luft, als er sich über Mrs. Darden zusammenkauerte, und der Ghul wirbelte herum; seine Augen glühten einen Moment lang und er erkannte den Feind.

RJ, direkt hinter dem Schatten, musste geglaubt haben, Elle starrte ihn an. Sein Gesicht verhärtete sich und er schloss die Finger um das Handgelenk des jungen Mädchens und zerrte es in Richtung Theke. Sowohl RJ als auch das Mädchen flossen durch die Erscheinung hindurch, als sei der Tod überhaupt nicht da.

RJ stellte den Einkaufskorb auf die Theke. »Wir haben es eilig.« Elle beobachtete, wie der Schatten eine steife Haltung einnahm. Die Zunge glitt aus seinem Maul, als kostete er etwas. Er schnupperte und zog abrupt die Arme eng an sich, als hielte er etwas dicht an seinem Körper, schloss das Maul, verschwand dann und nahm die eisige Kälte des Todes mit.

Jackson wartete darauf, dass der Reverend Elle ansprechen würde, doch er tat es nicht. Der Mann war dafür berüchtigt, dass er die Drake-Schwestern verhöhnte, damit die Medien über ihn schrieben, und er hatte sich schon mehrfach erbötig gemacht, ihre ›Dämonen‹ durch Exorzismus auszutreiben. Es war eigentümlich, ihn ohne seine Leibwächter zu sehen. Die Mutter des Mädchens war auch nirgends in Sicht. Jackson hatte, was dieses Mädchen anging, ein ganz schlechtes Gefühl. Und Bomber knurrte leise eine Warnung und fletschte die Zähne.

Jackson drängte sich absichtlich zu nah neben RJ an die Verkaufstheke. »Es überrascht mich, dass Sie noch in der Stadt sind.«

Der Reverend warf ihm einen Blick zu, der von glühendem Hass erfüllt war. »Das sollte Sie aber nicht überraschen. Wo doch jede halbe Stunde ein Bulle an meinem Haus vorbeifährt. In einer Ortschaft, in der es keine Polizei gibt, erscheint mir das etwas übertrieben.«

Das Mädchen hielt den Kopf weiterhin gesenkt, die Augen niedergeschlagen.

»Wir haben den Verdacht, dass sich in dieser Gegend ein Pädophiler rumtreibt. Reverend. Ihnen liegt doch gewiss daran, dass wir für die Sicherheit sämtlicher Kinder sorgen, oder nicht?«

»Das ist ein abscheuliches Wort«, stieß RJ hervor.

»Es ist ein abscheuliches Verbrechen.«

»Und dieser Hund ist gefährlich. Sie sollten mit ihm nicht unter die Leute gehen.«

»Er wird nur Verbrechern gefährlich. Ganz besonders hasst er Männer, die Frauen missbrauchen, Vergewaltiger und Pädophile. Den Tick hat er nun mal.« Jackson gab ihm ein Handzeichen, und Bomber knurrte und fletschte die Zähne. Ein weiteres Signal von Jackson ließ ihn wieder Ruhe geben, doch sein Blick löste sich keinen Moment lang von RJ.

Der Reverend sah Inez finster an. »Können Sie sich nicht beeilen? Wenn Sie nicht so viel reden würden, ginge das alles viel zügiger voran.«

Jackson sah das Mädchen an. »Wie alt bist du?«

RJ riss das Mädchen eng an sich; sein Gesicht war eine verzerrte Maske der Wut. »Sie braucht Ihre Fragen nicht zu beantworten. Ihre Mutter hat sie meiner Obhut unterstellt.«

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Jackson das Mädchen.

Die Kleine weigerte sich, ihn anzusehen. Sie schüttelte den Kopf.

»Mach keinen Ärger, Venita«, warnte RJ. Seine Stimme schien sanft und beschwichtigend, sogar belehrend zu sein, aber Jackson nahm unterschwellige Energien im Raum wahr, die etwas vollkommen anderes signalisierten. »Deine Mutter wird sehr enttäuscht von dir sein.«

Das Mädchen zuckte zusammen und wandte das Gesicht noch weiter ab.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Jackson. »Ich bin Deputy. Wenn dieser Mann dir wehgetan oder dich in irgendeiner Form bedroht hat, kann ich dir helfen.«

»Ich bin ein Mann Gottes«, verkündete der Reverend lautstark und packte das Mädchen am Arm, zerrte sie von Jackson fort und ließ seine Waren auf der Theke liegen.

Jackson sah ihnen hinter seiner Sonnenbrille mit einem grüblerischen Blick nach, als sie das Geschäft verließen. »Können Sie ihn nicht verhaften?«, sagte Inez. »Er ist ein Ungeheuer.«

Sie sah Frank an. Sie war ganz offensichtlich der Meinung, Frank hätte nicht ins Gefängnis wandern sollen, der Reverend dagegen schon. Ihrer Ansicht nach war Frank übertölpelt worden.

Jackson glaubte, eine Spur von Habgier sei wohl doch im Spiel gewesen, denn sonst hätte Frank sich nicht so leicht übertölpeln lassen, aber er dachte gar nicht daran, seine Meinung laut zu äußern.

»Man konnte ihm bisher kein Verbrechen nachweisen, Inez.«

Jackson warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er wollte einen Freund im Büro anrufen und so viel wie möglich über das junge Mädchen und seine Mutter herausfinden, und sie mussten sich bald wieder auf den Heimweg machen. Elles Schwestern würden rüberkommen, um eine weitere Heilsitzung mit ihr durchzuführen.

»Er ist eklig«, behauptete Inez. »Jedes Mal, wenn er in meine Nähe kommt, läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Und Bomber hatte auch etwas gegen ihn.« Sie lächelte den Hund an. »Braver Junge. Du bist ein ganz braver Hund.«

Elle tätschelte Bomber. »Ja, er ist ein guter Junge. Wir sehen uns dann später, Inez. Und Sie auch, Frank. Wir machen uns jetzt auf den Heimweg.«

»Elle könnte etwas mehr Ruhe gebrauchen, Jackson«, riet ihm Inez. »Sie ist immer noch blass und hat dunkle Ringe unter den Augen.«

Elle konnte nicht verhindern, dass sich ihre Finger auf ihr Gesicht schlichen. Inez hatte ihr verfärbtes und geschwollenes Gesicht gesehen, aber ihre Schwestern hatten ihr doch mittlerweile ihr normales Aussehen zurückgegeben, oder etwa nicht?

Einen Moment lang zweifelte sie daran. Sie konnte immer noch die Schläge fühlen, jede schallende Ohrfeige und jeden gemeinen Fausthieb und dann das sanfte Streicheln. Stavros' Stimme, die ihr ins Ohr flüsterte, flehentlich und einschmeichelnd, sie brauchte sich doch nur gut zu benehmen, denn es täte ihm weh, sie in dieser Form bestrafen zu müssen. Sie erschauerte und drehte sich um, damit sie ihr Gesicht an Jacksons Brust schmiegen konnte, ohne sich an den Menschen zu stören, die um sie herumstanden.

Dir kann nichts passieren, Kleines. Ich bin da. Ich bin immer bei dir.

Inez wirkte betroffen. Elle war immer unabhängig und selbstsicher gewesen. Sogar schon als kleines Kind hatte sie enormes Selbstvertrauen besessen. Aber jetzt hatte sie sich an Jackson geschmiegt und wirkte plötzlich sehr zerbrechlich.

»Habe ich etwas Falsches gesagt, Jackson?«, flüsterte sie, als sie den beiden zur Tür folgte.

»Nein, Inez«, sagte er. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«

Elle gelang es mit Mühe, sie über ihre Schulter hinweg anzulächeln, als Jackson sie aus dem Geschäft führte. »Es tut mir leid. Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist.«

»Das ist schon in Ordnung, Elle, es wird schon wieder.« Er schlang seinen Arm um ihre Schultern und hielt sie dicht an seiner Seite. »Du wirst feststellen, dass es manchmal irgendwelche auslösenden Momente gibt, und dann musst du in irgendeiner Form damit umgehen. Wir werden lernen, damit umzugehen.«

Sie beschleunigte ihre Schritte auf den hölzernen Planken und eilte zu Jacksons Pickup. Der Wind wehte vom Meer her, nur eine leichte Brise, die ihr das Haar zerzauste und ihr Gesicht streifte. Beide konnten die weiblichen Stimmen hören, die eine zarte Melodie sangen, beschwichtigender Balsam für ihre strapazierten Nerven. Draußen auf dem Meer tauchten etliche Wale an der Oberfläche auf und sprühten dabei Wasser aus ihren Blaslöchern, als wollten sie »Hallo« sagen; dann schwammen sie stumm an den Landspitzen vorbei, ehe sie wieder unter die Wasseroberfläche glitten. Gleich darauf konnte Elle hören, wie sie den weiblichen Stimmen antworteten, denn die Brise hüpfte über das Wasser, um die heilenden Klänge zu ihr zu tragen, das melodische Klagen und Stöhnen, begleitet von dem Zirpen und Pfeifen.

Die Wale sangen für Elle und führten ein Meisterwerk auf, eine Sonate, höchstwahrscheinlich von Abigail dirigiert. Die ungewöhnliche Musik stärkte sie auf dem Heimweg. Die Schnellstraße wand sich an den Klippen über dem Meer entlang und die Wale hielten mit ihnen Schritt, glitten träge durch das Wasser und sangen für sie. Zwischendurch tauchten sie auf, damit Elle sie weiterhin sehen konnte.

Als sie die Auffahrt zu seinem Haus hinauffuhren, fiel Jackson der ungeheure Reichtum an Vögeln und Pflanzen und Blumen auf. Die Blüten wirkten dichter und farbiger als am Morgen. Als er den Wagen parkte, konnte er sehen, dass in einem bestimmten Bereich am Zaun hinter dem Haus entlang plötzlich Kräuter wuchsen. Die Drake-Frauen saßen auf seiner Veranda, lauschten den Walen und antworteten ihnen mit ihrem eigenen leisen Gesang. Abigail und Joley sangen zweistimmig, während die Stimmen der anderen Frauen sich kontrapunktisch wie Wellen hoben und senkten.

Jackson und Elle stiegen die Stufen hinauf und blieben stehen. Elle war an ihn gelehnt, und sie lauschten dem Gesang, bei dem sich die Wale und die Mädchen ständig abwechselten, als reichten sie die Melodie aneinander weiter. Als der letzte Ton verklungen war, schüttelte er den Kopf. »Unglaublich«, sagte er. »In meinen kühnsten Träumen hätte ich nie geglaubt, dass ich so etwas einmal hören würde. Ich werde euch nicht fragen, wie ihr das getan habt.«

Abigail lächelte ihn an, während sie auf die Knie sank, um Bomber zu begrüßen. Sie kraulte ihm die Ohren und die Brust. »Ich habe beschlossen, es heute Abend zu versuchen, Jackson. Du weißt schon, Gratsos durch Bomber anzulocken. Kate wird eine weitere Sitzung mit Elle vornehmen, und kurz bevor sie sich zurückzieht, komme ich dazu. Wir glauben, dann ist Elle besonders verletzbar, und er fühlt, dass die Barriere für einen Moment verrutscht. Du hältst sie zwar ständig aufrecht, aber als Kate sich zurückgezogen hat, hat sie gespürt, dass du dich zurückhältst, um ihr nicht zu nahezukommen. Und das hat Elles Abwehr gerade so weit geschwächt, dass er beinah durchgeschlüpft wäre.« Sie sah Kate an. »Wir werden ihm also eine weitere Gelegenheit geben, aber diesmal werden wir auf ihn vorbereitet sein.«

»Ich verstehe nicht, was du mit ihm vorhast. Wie könnte Bomber an ihn herankommen?« Elle rieb sich die Kehle, als fühlte sie, wie Stavros sie erwürgen wollte.

Abigail warf einen Blick auf Hannah und die beiden tauschten ein durchtriebenes Lächeln miteinander aus. Jackson runzelte die Stirn; ihm war plötzlich unbehaglich zumute. »Was heckt ihr zwei aus?«, fragte er.

»Nur ein kleines Experiment, nichts weiter.« Sarah begann mitten auf seiner Veranda Kerzen im Kreis aufzustellen.

»Wo steckt Ilja? Und Jonas? Und Ty? Damon wollte hier sein. Wir haben Dinge miteinander zu besprechen. Was geht hier vor? Wo sind Aleksandr und Matt?«

Die Schwestern brachen in Gelächter aus. »Du wirkst ein wenig verängstigt«, sagte Elle. »Fürchtest du dich vor meinen Schwestern?«

»Ein bisschen schon«, gab Jackson zu. »Wenn ihr alle zusammen seid, seid ihr nicht zu bändigen.«

»Ty hat wieder Dienst bei der Freiwilligen Feuerwehr«, erklärte Libby. »Sie haben Personalmangel, seit diese Grippe umgeht. Und Damon ist bei ihm. Er ist zur Feuerwache von Willit mitgefahren, damit sie weiterreden können. Es hatte irgendetwas mit Energie und dem Bermuda-Dreieck zu tun. Ich habe nicht wirklich zugehört. Wenn die beiden zu technisch werden, klinke ich mich einfach aus.«

»Matt hat heute Abend diese Sache mit seinem Bruder zu regeln«, fuhr Abbey fort. »Und Aleksandr, Ilja und Jonas stellen Nachforschungen für Damon an. Er wollte, dass sie mit den Fischern und den Tauchern in der näheren Umgebung reden, um ein paar Daten für ein Großprojekt zusammenzutragen, an dem er arbeitet.«

»Na toll«, murrte Jackson und verschränkte die Arme vor der Brust. »Die haben alle ihren Spaß und mich lassen sie schutzlos mit euch allein.«

Sarah deutete auf die Küche. »Mach dich nützlich. Wir brauchen nach der Sitzung Tee und Plätzchen.«

»Plätzchen?« Er zog die Augenbrauen hoch. Als sie ihn finster ansah, seufzte er. »Na schön. Ich glaube, irgendwer hat uns Plätzchen geschickt, entweder Inez oder Mrs. Darden.« Er drückte einen Kuss auf Elles Haar und stolzierte ins Haus, wobei er eine Spur von Schuldbewusstsein verspürte, weil er Bomber inmitten von Frauen zurückließ, von denen er genau wusste, dass sie etwas ausheckten.

Elle ließ sich auf die Matte inmitten des Kreises sinken, Kate zu ihrer Rechten und Abigail zu ihrer Linken. Bomber legte sich mit dem Kopf auf Abbeys Schoß und wachsam gespitzten Ohren hin, während sie seinen Kopf kraulte. Libby setzte sich Elle gegenüber, und Hannah, Joley und Sarah bildeten einen Halbkreis hinter ihr. Der Duft von Lavendel durchdrang die Luft.

Elle hielt ihre Hand hoch, bevor ihre Schwestern einen heilenden Gesang anstimmen konnten.

Jackson.

Ich bin bei dir, Kleines. Kannst du mich nicht fühlen?

Sie hüllte sich in ihn ein, in seine Wärme und in seine Kraft. Dann atmete sie aus, und sowie sie nickte, stimmte Joley die leise Melodie an, um Energien zur Heilung von Elles stark lädierten Gaben aus ihrer Umgebung heranzuziehen. Elle fühlte Kates vertraute Berührung, als sie in ihren Geist eindrang, so zart und so beschwichtigend, und neben den aufbauenden Energien brachte sie ihr auch Ruhe und Gelassenheit. Diesmal fühlte sie sofort den Unterschied, als sich ihre Schwester an die Arbeit machte, auf ihrer vorherigen Sitzung aufbaute und schneller und immer schneller schadhafte Stellen reparierte und ausbesserte. Als sie gerade dachte, sie müsse Kate vielleicht davon abhalten, zu viel zu tun und sich zu übernehmen, fühlte sie Abigails Berührung. Wahrheit. Reinheit. Dann Hannah. Schelmisch und voller Entschlossenheit. Sarah. Eine Kraft, die man nicht unterschätzen durfte, ein Schwert, das seinesgleichen so schnell nicht fand. Joley. Voller Rachegelüste, aber auch von dem Wunsch beseelt, ihre jüngere Schwester zu beschützen. Libby kam als Letzte. Elle spürte ihre wohltuende, heilende Kraft in ihrem ganzen Körper, und dann verband sie alle miteinander, bis sie zu einer undurchdringlichen Einheit verschmolzen waren.

Okay. Zieh dich etwas weiter zurück, Jackson, wies Sarah ihn an.

Jackson schwächte die Barriere in Elles Bewusstsein, so dass ihr Schild nahezu transparent schimmerte und es ihren Schwestern möglich gewesen wäre, flüchtige Blicke auf ihre Erinnerungen zu werfen, wenn sie beschlossen hätten hinzuschauen.

Sie konzentrierten sich jedoch nur auf eines, warteten schweigend und hielten sich im Hintergrund von Elles Geist, weil sie hofften, ihr Feind würde nach dem Köder schnappen.

Abigail zog das Bewusstsein des Hundes in ihrer aller Mitte. Er war in Alarmbereitschaft, denn er fühlte bereits, dass Stavros nahte. Bevor der Mann sich dort breitmachen konnte, zogen sie eine einzige Erinnerung aus Elles Geist heraus. Stavros, splitternackt, sein Körper ungeschützt. Abigail zischte einen Befehl. Der Hund setzte zum Sprung an, knurrend und zähnefletschend, grimmig und wild. Stavros schrie, schrill und gequält. Und dann war er fort.