8.

 

Inez Nelson bog mit einer Kiste voller Lebensmittel in den Armen um die Ecke und blieb abrupt stehen. Sie wurde blass und hielt still, während sie darauf wartete, dass Jackson den Befehl »Aus!« erteilte. Als Bomber sich hinsetzte, holte sie tief Atem und sah dann erst die Waffe, die Jackson gerade wieder in sein Schulterhalfter steckte.

Inez gehörte der nahe - und einzige - Lebensmittelladen in Sea Haven. Sie hatte am Leben der Drake-Schwestern teilgehabt, so weit Elle zurückdenken konnte. Mit ihrem schlanken Körper und dem ergrauten Haar wirkte sie zerbrechlich, doch sie lächelte den Hund bereits an.

»Gut gemacht, Bomber. Du beschützt unser Mädchen. Ich habe ein paar Sachen gebracht, von denen ich mir dachte, ihr beide könntet sie gebrauchen«, sagte sie zur Begrüßung, und ihre scharfen Augen musterten Elle von Kopf bis Fuß, als sie aus ihrem Versteck im Gebüsch auftauchte. »Na, meine Süße, ich hätte nicht gedacht, dass ihr so früh schon auf seid. Ich wollte die Kiste auf der Veranda abstellen.«

Elle spürte, wie ihr gegen ihren Willen die Röte ins Gesicht stieg. Sie blickte unwillkürlich an sich hinunter, um zu sehen, ob sämtliche Wunden bedeckt waren. Jacksons Pullover war lang für ihre zierliche Statur, doch er war weiß und ließ einige Verbände durchscheinen. An manchen Stellen hatten die nässenden Wunden auch schon wieder Flecken hinterlassen. Sie hob eine Hand zu ihrem wirren, stumpfen roten Haar.

Jackson umfasste ihr Handgelenk und zog daran, klemmte sie unter seine Schulter und schob seinen Körper kaum merklich vor sie, um es Inez zu erschweren, sie genauer anzusehen. »Das ist ganz reizend von Ihnen, Inez«, sagte Jackson und brach damit das kurze Schweigen.

Er konnte Elles Unbehagen fühlen, ihre plötzliche irrationale Angst und den Kummer, den es ihr bereitete, es einer alten Freundin gegenüber derart an Herzlichkeit fehlen zu lassen. Er richtete selten mehr als einen oder zwei knappe Sätze an einen der Einwohner der Ortschaft, aber wenn Elle noch keine Besucher empfangen konnte, war es seine Sache, für sie einzuspringen. Also lächelte er freundlich und bedeutete Inez, auf den Steinfliesen des Weges zur Veranda vorauszugehen. Dabei ließ er seinen Arm fest um Elles Taille liegen und drängte sie, mit ihm zu kommen.

»Wann haben Sie denn die Steine mit Verzierungen versehen, Jackson?«, fragte Inez, als sie auf den Pfad hinabblickte. »Das ist mir in all der Zeit, in der ich Ihnen die Lebensmittel gebracht habe, noch nie aufgefallen.«

Elle blickte rasch in Jacksons Gesicht auf.

Sie bringt dir Lebensmittel?

Sowie sie Telepathie anwandte, bekam ihr Gehirn Krämpfe, und ihr Schädel fühlte sich wie in einen Schraubstock gezwängt. Sie keuchte und klammerte sich an Jackson, um nicht hinzufallen. Er legte seine Hand auf ihren Nacken und drückte ihren Kopf nach unten, damit sie in tiefen Zügen Luft holen konnte, um eine Ohnmacht zu verhindern.

Libby hat dir gesagt, du sollst keine Telepathie anwenden. Du musst dein Gehirn erst heilen lassen, Elle. Wenn du so weitermachst, wirst du deine Gabe restlos zerstören.

Die Furcht ließ seine Stimme gereizt und barscher als beabsichtigt klingen.

Elle versuchte sich seiner Hand zu entziehen und funkelte ihn finster an. »Das weiß ich doch selbst. Ich hatte es nur gerade vergessen.«

»Was hast du vergessen, meine Liebe?« Inez drehte sich mit einem Lächeln im Gesicht zu ihr um, keuchte jedoch, als sie Elles Gesicht sah. »Du blutest, Elle.«

»Ach ja?« Elle berührte ihren Mund und ihre Nase. Als sie ihre Finger zurückzog, waren sie mit Blut beschmiert. »Es tut nicht weh, Inez. Ich gehe schnell rein und wasche das Blut ab. Ich bin gleich wieder da.« Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie ins Haus eilte und das Fliegengitter hinter sich schloss. Bomber schaffte es auf Jacksons Zeichen hin gerade noch rechtzeitig hineinzuschlüpfen, bevor das Gitter zuschlug.

»Sollten Sie nicht mit ihr ins Haus gehen?«, fragte Inez. »Es macht mir nichts aus, gleich wieder umzukehren, Jackson.«

Im ersten Moment wollte Jackson sie fortschicken. Er war im Umgang mit Menschen noch nie locker gewesen, doch Inez kannte Elle von Geburt an und hatte sogar schon die Party für die werdende Mutter besucht, als Elle unterwegs gewesen war. Er konnte Sorge in ihren Augen sehen, und die Falten in ihrem Gesicht wurden tiefer, als sie die Lebensmittel abstellte und ihn fragend ansah.

»Bleiben Sie, bitte. Trinken Sie eine Tasse Tee mit uns.« Er lächelte verschmitzt. »Oder Kaffee. Sagen Sie es Elle nicht, aber ich habe Kaffee in der Küche.«

Inez erwiderte sein Lächeln. »Kaffee wäre fantastisch. Ich habe mein morgendliches Soll noch nicht erfüllt.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, während sie auf einem Schaukelstuhl Platz nahm. »Ich habe gerade noch genug Zeit für eine Tasse, bevor ich den Laden öffnen sollte.«

»Ich bringe nur schnell die Lebensmittel rein und hole Ihnen eine Tasse. Nehmen Sie Zucker und Sahne?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich trinke ihn am liebsten schwarz und stark. Und vielleicht sollten wir auch das Elle gegenüber nicht erwähnen.«

Jackson gab ihr seine Zustimmung und eilte ins Haus, um nach Elle zu sehen. Sie hatte sich bereits das Gesicht gewaschen und versuchte verzweifelt, ihr Haar zu bändigen. Tränen liefen ihr über die Wangen. Er packte ihre flatternden Hände und hielt sie still. »Sag mir, was los ist.«

»Sieh mich doch an. Ich sehe furchtbar aus.«

»Nein, das tust du nicht, Elle. Du bist die schönste Frau auf Erden. Streich dir das Haar aus dem Gesicht und tu das, was du sonst auch tust, du weißt schon - es zusammendrehen und einen Bleistift reinstecken. Dann sieht man erst so richtig die Form deines Gesichts.«

Er dachte an ihre Haut und ihren Mund und ihre Gesichtsform. Ohne jegliche sexuelle Hintergedanken. Einfach nur auf abstrakte Weise. Und er fand sie wirklich schön. Allein schon das, was er über sie dachte, gab ihr das Gefühl, sie könnte tatsächlich schön sein. Sie holte tief Atem, folgte dabei unbewusst seinen Atemzügen und tat, was er vorgeschlagen hatte – sie schlang ihr Haar zu einer Rolle und steckte einen Bleistift hinein, damit es blieb, wo es war.

»Inez wird heute Morgen vor der Arbeit eine Tasse Kaffee mit uns trinken. Dann bist du wieder im Bilde, was sich in der Zwischenzeit in Sea Haven getan hat.«

Elle griff nach seinem Ärmel. »Habe ich genug an?«

»Mehr als genug, Kleines.« Er beugte sich hinunter und gab ihr einen zarten Kuss auf die zitternden Lippen. »Wenn du mich fragst, hast du zu viel an, aber das hat wohl damit zu tun, dass ich dich so gern ansehe.«

Jackson ging wieder in die Küche und goss aus seiner geliebten Kaffeemaschine mit Zeitschaltuhr zwei Tassen Kaffee ein. Manchmal war die neumodische Technologie wunderbar, und es war eine der Freuden seines Lebens, dass der Kaffee fertig war, wenn er aufwachte.

»Ich weiß, was du da tust«, rief Elle aus dem anderen Zimmer. Der Teekessel begann zu pfeifen, obwohl Jackson das Gas noch nicht angezündet hatte. »Verdammt noch mal, Elle. Du sollst keine Magie benutzen. Begreifst du nicht, was gar nicht heißt? Oder muss ich es dir verständlich machen?«

»Droh mir nicht, Jackson«, warnte ihn Elle.

Er hörte das Wasser laufen und wusste, dass ihr wieder Blut aus der Nase und dem Mund rann. Ihr Gehirn war bei weitem noch nicht geheilt. »Das war keine Drohung, Kleines. Es war eher ein Versprechen. Lass es bleiben.« Er goss Wasser über den Tee und deckte die kleine Kanne mit einem Geschirrtuch zu, um den Tee ziehen zu lassen, während er mit dem Kaffee zu Inez ging. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«

Inez blickte mit einem Lächeln zum Haus. »Ich glaube, mit ihr haben Sie alle Hände voll zu tun, Jackson. Nur ein starker Mann kann das schaffen.«

Er grinste Inez wieder an und fühlte sich tatsächlich belustigt, was bei ihm eine Seltenheit war. Er streckte die Beine vor sich aus und sah sich lange und gründlich um. »Mir gefällt es, dass sie ein Hitzkopf ist. Ihr Äußeres täuscht, verstehen Sie, weil sie so jung aussieht. Die Leute nehmen sie nie ernst, und dabei hat sie so viel Verstand. Sie ist teuflisch gescheit, und wenn sie richtig loslegt, ist das herrlich anzusehen.«

Inez lachte. »So ist sie schon, seit sie zwei Jahre alt war.« Sie drehte ihren Kopf um und sah ihm fest ins Gesicht. »Sie wird es überstehen, und hinterher wird sie umso stärker sein. Im Moment glaubt sie selbst nicht daran, aber Elle ist eine Kämpfernatur. Und wir alle werden mithelfen. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, was wir für sie tun können, dann geben Sie uns Bescheid.«

Er hob seine Kaffeetasse und sah ihr in die Augen. »Sie tun es bereits, Inez. Sie muss wissen, dass sie von Menschen umgeben ist, die sie lieben.«

Inez wandte den Blick ab, doch er hatte die Tränen bereits in ihren Augen schimmern sehen. »Die Drake-Mädchen waren schon vom Moment ihrer Geburt an ein Segen für unsere Ortschaft. Sie haben den meisten von uns auf die eine oder andere Weise geholfen. Unsere Gemeinde ist eng zusammengewachsen, und wir stehen einander nahe. Ich weiß, dass Sie sich Sorgen um das Mädchen machen.« Ihre wachen Augen sahen ihn scharfsinnig an. »Sie glauben, sie schwebt noch in Gefahr, nicht wahr?«

Jackson achtete darauf, sich nichts ansehen zu lassen. Inez konnte unmöglich wissen, wo Elle gewesen war oder was ihr zugestoßen war, und er dachte im Traum nicht daran, ihr einen Hinweis zu geben. Elle hätte es ihm tierisch übelgenommen. »Keine Sorge, Sie brauchen mir nichts zu sagen«, kam ihm Inez zuvor, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Aber falls sie in Gefahr ist, werden wir alle sie beschützen. Sie gehört ebenso sehr zu uns wie zu Ihnen.«

»Danke, Inez«, sagte Jackson.

»Wann haben Sie all diese neuen Pflanzen eingesetzt?«, erkundigte sich Inez und wies mit dem Kinn auf seinen Vorgarten, um das Thema zu wechseln. »Als ich das letzte Mal hier war, um Ihnen Lebensmittel zu bringen, war noch keine dieser Pflanzen da.«

Jackson sah sich mit gerunzelter Stirn um. Dunkelgrüne Kletterpflanzen wanden sich an seinem Zaun hinauf. Einige grüne Schösslinge, die den Gehweg säumten und zu beiden Seiten der Steinplatten wuchsen, waren bereits kniehoch und voller Knospen. Er sah sich auch die Steinfliesen genauer an. Inez hatte eine Bemerkung zu den Symbolen gemacht, die in den Stein geritzt waren. Sie waren vorher nicht da gewesen. Das galt auch für die Pflanzen. Es war kein Frühling, und doch keimte es überall, und er sah mehr Vögel als jemals zuvor durch seinen Garten flattern.

Er sah versonnen auf das Meer hinaus, als Elle auf die Veranda trat. Zwei Delfine sprangen in die Luft, überschlugen sich und kehrten ins Wasser zurück. Er beugte sich vor und sah sich noch einmal bedächtig in seinem Garten um. Vögel flogen von Zweigen auf, die ihr Laub für den Winter abgeworfen hatten, und doch konnte er Knospen sehen, die sich auf den entlaubten Ästen bildeten. Er holte scharf Luft, als er aufstand, um Elle zu dem bequemsten Schaukelstuhl zu führen und ihre schlanke Gestalt in eine Decke zu hüllen.

»Bringen Sie Jackson oft Lebensmittel, Inez?«, fragte Elle.

Inez nickte ernst und ignorierte den leisen Spott in Elles Tonfall. »Jemand musste doch dafür sorgen, dass er etwas Ordentliches isst.«

Elle musterte betont die Muskeln, die sich auf Jacksons Armen und auf seiner Brust klar abzeichneten. »Sie haben Recht, auf mich wirkt er auch halb verhungert.« Sie lächelte die ältere Frau strahlend an und blies in ihren Tee.

Inez sah sie streng an. »Das war ganz schön sarkastisch, meine Liebe.«

Bomber schob seinen Kopf unter Jacksons Finger, um sich kraulen zu lassen. Elle unterdrückte ein weiteres Lächeln. »Ich glaube, Sie haben ihn zu sehr verwöhnt, Inez. Sie kennen doch seinen Ruf als großer, böser Bube, und der geht dann flöten, wenn das rauskommt.«

Inez sah Jackson liebevoll an. »Er hält sich nur für einen großen, bösen Buben. Wusstest du, dass er fast jeden Abend nach dem jungen Donny Ruttermyer sieht und sein Geld mit ihm durchgeht, damit er seine Rechnungen bezahlt?«

Elle wusste, dass Donny am Down-Syndrom litt und im Alter von zwanzig Jahren begonnen hatte, Gelegenheitsarbeiten für etliche Geschäftsleute zu erledigen, weil er entschlossen war, allein zurechtzukommen. Sie bemerkte die leichte Röte, die in Jacksons Gesicht aufstieg, und er hütete sich davor, sie anzusehen. »Ach ja?«

Inez nickte. »Donny verehrt ihn gewaltig.«

Jackson wand sich auf seinem Stuhl. »Eigentlich kümmert sich der alte Mars um Donny. Er bringt ihm Obst und Gemüse, und er war es auch, der Donna von dem Laden für Geschenkartikel überredet hat, dem Jungen ein Zimmer zu vermieten. Und Mars geht seine Rechnungen mit ihm durch. Ich schaue dann nur nochmal zur Kontrolle drüber.«

»Sie geben ihm Geld, wenn er knapp bei Kasse ist.« Inez hatte keinerlei Bedenken, ihn zu verpetzen.

»So oft ist er nun auch wieder nicht knapp bei Kasse«, verteidigte sich Jackson. »Der Junge kommt allein klar.«

Elle tauschte einen belustigten Blick mit Inez aus. »Ja, er kommt gut zurecht, Jackson.« Sie holte tief Atem. »Und was erzählt man sich in der letzten Zeit über mich, Inez? Ich wüsste gern, welche Gerüchte darüber im Umlauf sind, was mir zugestoßen sein könnte.«

Inez zuckte die Achseln. »So oft, wie du fort bist, hat anfangs keiner geahnt, dass etwas nicht stimmt, aber dann haben deine Schwestern aufgehört, von der Hochzeit zu reden, und angefangen, sich in eurem Haus zu versammeln. Wir konnten Hannah auf der Aussichtsplattform sehen und wussten, dass etwas nicht stimmt. Die Leute sind übereinstimmend der Meinung, du hättest dich auf einer Erkundung irgendwo verirrt.«

Elle nickte. Sie sah der älteren Frau in die Augen und hielt ihren Blick einen Moment lang fest. Diese »übereinstimmende Meinung« war von Inez ausgegangen, die den Dreh raushatte, die Menschen in ihrer Umgebung zu beeinflussen, damit sie genau das, was sie wollte, über die Drake-Schwestern dachten. »Ich bin durch Südamerika gereist und abgestürzt, als ich an einer ziemlich steilen Felswand raufgestiegen bin. Ich habe mir Verletzungen zugezogen, aber sie verheilen gut.«

Inez warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte ihre Kaffeetasse ab. »Donna wird sich schon fragen, was heute Morgen mit mir los ist. Diese Frau ist furchtbar neugierig. Sie wird Jonas anrufen und ihm berichten, ich sei heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen. Sie verbringt ihr halbes Leben damit, am Schaufenster ihres Ladens zu stehen und hinauszuschauen, damit sie sieht, was ich gerade tue.« Aus ihrer Stimme war Zuneigung herauszuhören, als sie über ihre beste Freundin klagte.

Jackson erhob sich gleichzeitig mit ihr. »Danke für die Lebensmittel, Inez. Es ist mir immer eine Freude, Sie zu sehen.« Er trat zwischen die ältere Frau und Elle und richtete es unauffällig so ein, dass er gemeinsam mit ihr die Stufen hinunterstieg. »Es hat uns viel bedeutet, dass Sie da waren.« Inez warf einen Blick zurück auf Elle. »Sie sieht sehr dünn und müde aus, Jackson. Sorgen Sie gut für sie.«

»Sie wissen doch, dass ich das tun werde.«

»Noch etwas.« Inez hielt ihn am Ärmel fest, damit er stehen blieb, und senkte ihre Stimme noch mehr. »Dieser grässliche Reverend RJ ist seit ein paar Tagen wieder in der Stadt. Er hat ein Strandhaus gemietet und versucht Anhänger zu finden. Er hat ein paar Leute mitgebracht, eine Frau und ihre Tochter aus San Francisco, glaube ich. Und er hat nach den gelben Bändern gefragt, die in der Ortschaft geweht haben. Man hat ihm gesagt, sie seien für die Jungs von hier in Übersee, aber ich hatte das Gefühl, in Wirklichkeit ist er hergekommen, weil er etwas gegen die Drakes im Schilde führt. Jonas und Sie waren beide fort. Deshalb habe ich bisher niemandem etwas davon gesagt.«

»Sind Sie sicher, dass er sich noch hier aufhält?« Der Reverend RJ hatte sowohl Hannah als auch Joley schon Ärger gemacht.

Jackson konnte sich nicht vorstellen, dass es für seine Anwesenheit in Sea Haven einen anderen Grund gab als den, sich selbst in die Schlagzeilen zu bringen, und Publicity war das Letzte, was sie gebrauchen konnten.

»Ich habe ihn schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen und auch nichts über ihn gehört, Jackson.«

»Wie alt ist die Tochter der Frau?«

Inez runzelte die Stirn. »Jung, vielleicht fünfzehn. Heutzutage ist das bei den jungen Leuten schwer zu sagen. Sie ist im Gruftilook gekleidet, ganz in Schwarz und jede Menge Piercings, das Haar hängt ihr ins Gesicht, aber sie sieht goldig aus. Sie hat kein Wort gesagt, als sie im Laden waren, und sie hat traurig gewirkt. Sie hat mir leid getan. Wollen Sie, dass ich mich nach ihr erkundige?«

Jackson schüttelte den Kopf. »Nein, halten Sie nur weiterhin die Ohren offen. Falls er noch in der Gegend ist, wird ihn bestimmt jemand Ihnen gegenüber erwähnen. Zeigen Sie sich nicht allzu interessiert, aber rufen Sie Jonas, Ilja oder mich an.«

Inez nickte ernst. »Machen Sie sich um mich bloß keine Sorgen, Jackson. Leute von seiner Sorte sehe ich nicht zum ersten Mal.« Sie winkte Elle zu und stolzierte davon. Ihre schmalen Schultern waren energisch zurückgezogen.

Jackson sah ihr mit einem kleinen Lächeln nach und schüttelte den Kopf, als er sich wieder zu Elle umdrehte. »Sie ist eine sehr nette Frau.«

Elle nickte. »Sie kümmert sich um viele Leute hier in der Ortschaft.« Sie beobachtete ihn, als er auf sie zukam, seine fließenden, nahezu geräuschlosen Bewegungsabläufe und die wachsamen Augen, die unruhig vom Himmel zum Boden und sogar auf das Meer hinaus glitten. Bei ihm fühlte sie sich sicher.

»Das ist nett von dir - was du für Donny tust.«

Jackson zuckte die Achseln. »Er ist ein prima Junge, und ich habe die Zeit, es zu tun. Er redet gern über die Polizeiarbeit. Der Junge hat keinen Funken Gemeinheit im Leib. Er behält für mich Donna und Inez im Auge. Ich habe ihm gesagt, sie seien nicht mehr die Jüngsten, obwohl keine von beiden es sich eingestehen wollte. Daher trägt er die schweren Kisten für sie.«

Er grinste sie verlegen an. »Und den beiden Frauen habe ich gesagt, ich wollte Donny Manieren beibringen. Wenn er sie also fragt, ob er ihnen beim Tragen helfen kann, täten sie ihm einen Gefallen, wenn sie sich von ihm helfen lassen.«

»Das hast du raffiniert eingefädelt, Deveau. Ich werde mich vorsehen müssen. Worüber hat sie so lange mit dir geflüstert? Was geht hier vor?«

»Sie hat mir nur geraten, gut auf dich aufzupassen. Und sie hat gesagt, RJ sei vor ein paar Tagen hier in der Ortschaft gewesen.« Seine Stimme klang betont beiläufig, doch Elle zuckte zusammen und spannte sich in einem Maß an, das den Hund wachsam werden ließ; er hob den Kopf, spitzte die Ohren und lauschte auf Anzeichen von Arger. Sein Blick blieb fest auf sie gerichtet.

»Das ist keine große Sache, Elle. Es ist nicht ungewöhnlich, dass RJ herkommt. Joley und Hannah und sogar Kate machen Schlagzeilen. Und er will das auch. Wir werden uns unauffällig im Hintergrund halten.«

Sie nickte und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. »Ich weiß selbst nicht, warum ich so nervös bin. Ich möchte einfach noch nicht, dass mein Name in irgendeiner Form an die Öffentlichkeit gelangt. Wahrscheinlich muss ich erst noch Dane kontaktieren und meinen Bericht einreichen, und selbst davor fürchte ich mich. Als Stavros mich in seinem Haus gefangen gehalten hat, ist mir mit jedem Tag klarer geworden, wie viel Macht er tatsächlich besitzt. Es ist nicht nur sein Geld - und, glaube mir, er könnte sich aus jeder Lage freikaufen –, es sind seine übernatürlichen Fähigkeiten. Er übt einen ganz subtilen Einfluss auf andere Menschen aus. Ich habe diese Energieströme noch nicht einmal als solche erkannt, bevor wir auf der Insel waren.«

»Wie beeinflusst er denn die Menschen? Worin genau bestehen seine übernatürlichen Fähigkeiten?«

Sie rieb sich die Schläfe. Ihre Hand zitterte, und sie verschlang ihre Finger in ihrem Schoß miteinander. »Ich weiß es nicht, Jackson. Er wusste offenbar, dass ich übersinnliche Fähigkeiten besitze, aber ich hätte bei ihm niemals auch nur den Verdacht geschöpft. Ich konnte nicht in sein Inneres blicken und dachte einfach nur, er besäße natürliche Barrieren. Auch seinen Leibwächter konnte ich nicht durchschauen und auch keinen der anderen Männer, die gemeinsam mit uns in einem Raum waren. Ich hätte Verdacht schöpfen müssen, aber ich habe in seiner Gegenwart nie irgendwelche Energien wahrgenommen.«

»Könnte das seine einzige Fähigkeit sein?«

»Er hatte Angst vor seinem Bruder, und aufgrund dieser psychischen Barriere auf der Insel vermute ich, dass sein Bruder gefährlichere Gaben als er besitzen könnte, aber ich weiß es nicht.« Sie rieb sich wieder die Schläfe.

Jackson stellte sich hinter sie, ließ seine Hände auf ihre Schultern sinken, massierte sie und fühlte, wie zart ihre Knochen waren. Er konnte nicht verstehen, wie Stavros ihr solches Leid hatte zufügen können. Elle brauchte jemanden, der sie liebte, sie verstand, sie bewunderte und sie respektierte. Weshalb sollte jemand versuchen sie zu brechen?

Sie hob ihre Hand und legte sie auf seine Finger. »Er ist nicht wie du, Jackson, und er wird auch nie so sein. Er will keine starke Frau. Er will keine Partnerin. Ich weiß es selbst nicht, vielleicht geht ihm ja alles nur um Macht und Unterwerfung, und ich habe es einfach nicht richtig verstanden.«

»Das bezweifle ich, Kleines. Nach allem, was ich gehört habe, liebt jemand, dem es um Dominanz geht, seine Frau wirklich und weiß sie zu würdigen. Er will, dass sie glücklich und zufrieden ist. Eine devote Person liefert sich seiner Partnerin oder ihrem Partner aus freiem Willen restlos aus. Nein, er hat dich gebrochen und deine Abhängigkeit von ihm erzwungen. Erzähl mir, was du über seinen Bruder weißt.«

Eine Möwe schrie und eine andere antwortete ihr. Jackson blickte zum Himmel auf. Der Nebel, der vom Meer her kam, wurde dichter, ließ Finger aus Dunst über die Küste gleiten und bewegte sich auf sie zu.

»Sein Bruder ist einmal ins Zimmer gekommen, und er hat mir wirklich Angst eingejagt. In seinen Augen und in seiner Aura war das Böse zu erkennen. Stavros fürchtet sich zu Recht vor ihm. Dem Bruder macht es Spaß, Menschen wehzutun, nicht nur Frauen, sondern jedem. Und er hat Stavros mit genau demselben Blick angeschaut, mit dem er mich betrachtet hat. Kalt. Berechnend. Er hat Stavros gesagt, wie er mich brechen und mich seinem Willen unterwerfen kann. Als er mit ihm geredet hat, hat er dafür gesorgt, dass ich jedes Wort hörte. Er hat mir die Peitschen und Rohrstöcke gezeigt und jeden dieser Gegenstände und die Schmerzen, die sie verursachen, detailliert beschrieben. Er hat die blauen Flecken und die Wunden geschildert, die zurückbleiben, und wie er mir beibringen kann, ihm sexuell zu dienen. Er hat gesagt, es macht ihm Spaß, die Frauen für ihre Kunden abzurichten.«

Jackson zerrte an ihrer Hand. »Du zitterst. Lass uns ins Haus gehen.«

Elle schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich bin gern im Freien, wo ich sehen kann, ob etwas auf mich zukommt.«

Ihm gefiel nicht, wie der Nebel aussah, dunkel und feucht und viel dichter als gewöhnlich. Er warf einen Blick auf Bomber und stellte fest, dass der Hund in Alarmbereitschaft war, auf das wogende Meer starrte und seinen Körper zwischen Elle, Jackson und den heranziehenden Nebel gebracht hatte. Der Schäferhund stand mit gespitzten Ohren und konzentriertem Blick da; sein Fell war gesträubt, der Schwanz hing herab, und die Haltung des Tieres war sprungbereit und einem unsichtbaren Feind entgegen gereckt.

Elles Finger schlichen sich auf ihre Kehle. Jackson nahm ihre Hand. »Was ist los?«

Sie schluckte. »Ich weiß es nicht. Einen Moment lang war meine Kehle zugeschnürt. Ich glaube, ich gerate schon in Panik, wenn wir bloß über Stavros reden. Es tut mir leid, Jackson. Ich will mich nicht so albern benehmen, aber anscheinend kann ich nicht anders.«

»Du benimmst dich nicht albern, Elle.« Er beugte sich zu ihr hinunter und ließ seine Lippen über ihr Haar gleiten. Ihn beschlich ein ganz ungutes Gefühl, und jedes Mal in seinem Leben, wenn er dieses Gefühl gehabt hatte, das seine Eingeweide aufwühlte, war etwas Schlimmes passiert. »Dein Haus ist sicherer als meines. Der sicherste Platz hier ist der Raum, in dem meine Waffen eingelagert sind, aber euer Haus verleibt sich Menschen ein. Es trägt aktiv zu eurem Schutz bei. Und dort sind mehr Menschen, die auf dich aufpassen können.«

»Ich muss im Moment bei dir sein, Jackson. Ich weiß, dass kein anderer es versteht, aber ich weiß, dass ich ohne dich nicht in Sicherheit sein werde.«

Er konnte sich nicht aus ihrem Inneren zurückziehen, und er wollte sich keine allzu großen Gedanken darüber machen, warum Elle der Überzeugung war, nirgends so sicher zu sein wie bei ihm. Darüber wollte er erst nachdenken, wenn er mit seinen Gedanken allein sein konnte. Hier stimmte etwas nicht, und Elle besaß mehr übersinnliche Gaben als die meisten anderen Menschen. Wenn sie nicht glaubte, dass sie ohne ihn im Drake Haus sicher war, auch dann nicht, wenn Ilja und Jonas und Matt sie beschützten, dann musste das, was sie bedrohte, eine nicht nur physische Bedrohung darstellen - und was das anging, hatte er ein ganz ungutes Gefühl.

»Jackson?« Elles Stimme bebte.

»Wir kriegen das schon hin, Kleines. Wenn du bei mir bleiben willst, dann bleibst du bei mir. Ich habe ein paar Freunde – die Frau, von der ich dir erzählt habe, die Bomber abgerichtet hat, und ihr Mann -, die mir ein paar Tipps geben können, wie ich noch besser für deine Sicherheit sorgen kann. Sie schickt mir die beiden Hunde, von denen ich dir erzählt habe, sowie sie fertig ausgebildet sind. Ich habe bereits alles arrangiert. Einer der Hunde ist speziell für dich gedacht.«

Elle ließ ihre Handfläche über Bombers Kopf gleiten. »Es ist wohltuend, ihn um mich zu haben.«

Bomber stieß ein kurzes Bellen aus. Jacksons Hand glitt geschmeidig in seine Jacke. »Zeig es mir.«

Bomber bog auf den Pfad ein, der zum Strand unter dem Haus führte.

»Das sind meine Schwestern«, sagte Elle. »Sie sind unten am Strand.«

Jackson rief den Hund zurück, und Bomber reagierte augenblicklich, kam zurück und blieb direkt neben Jackson stehen.

Mann und Hund standen schützend vor Elle, während Jackson durch den zunehmend dichteren Nebel lugte und die Personen zu erkennen versuchte, die auf dem Sand Gestalt annahmen. Er konnte die sechs Frauen nur mit Mühe erkennen. Sie wirkten ätherisch in ihren langen, weiten Röcken, barfuß und mit gelöstem Haar. Er konnte weibliche Stimmen hören, die der Wind zu ihnen hinauftrieb, und das Knistern eines Feuers, als sie Holzscheite anzündeten und sie in eine Feuerstelle warfen. Sie hatten die Arme zu dem nahezu grauen Himmel erhoben und sangen, und ihre tanzenden Füße beschrieben ein präzises Muster auf dem kühlen Sand.

Elle kam die Stufen von der Veranda herunter und blieb neben ihm stehen. Sie zwängte sich unter seine Schulter, und ihr kleinerer Körper schmiegte sich eng an seinen. Jackson legte einen Arm um sie und zog sie näher, um ihr Schutz zu geben, während sie die Flammen beobachteten, die den drückenden Nebel mit leuchtenden Orange- und Rottönen durchdrangen. Sie schlang ihm einen Arm um die Taille, und ihre Finger gruben sich wie eine Faust in sein Hemd.

»Du willst bei ihnen sein.« Es war keine Frage.

»Ja.« Sie rieb ihr Gesicht an seinen Rippen. »Sie sind entschlossen, mich auf die eine oder andere Weise zu heilen. Bitte, Jackson, bleib in meinem Bewusstsein, nur für alle Fälle.« Es gefiel ihm nicht, dass sie so heftig zitterte, als fühlte sie die durchdringende Kälte bis in die Knochen. »Ich lasse dich nicht allein, Elle.« Er war schockiert darüber, wie sanft seine Stimme klang. Er war kein sanftmütiger Mann. Seine Damonen setzten ihm gewaltig zu, und oft war er so schroff, dass es schon an Grobheit grenzte, und doch holte Elle das Beste aus ihm heraus – Dinge, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie in sich hatte. Wenn es um sie ging, empfand er sowohl Beschützerinstinkte als auch zärtliche Gefühle. »Deine Schwestern versuchen nicht, in dich zu dringen, Schätzchen, sie versuchen nur, dir Kraft einzuflößen.«

»Ich weiß.« Sie hielt den Kopf weiterhin gesenkt. »Sobald ich weiß, dass wir eine Abschirmung gegen Libby errichten können, werde ich sie bitten, mir zu helfen und meine Heilung zu beschleunigen. Aber ich will sie nicht in meinem Gehirn haben, noch nicht einmal, um mir von ihr bei der psychischen Heilung helfen zu lassen.«

»Ist dafür nicht eher Kate zuständig?«

Elle sah ihn an. Es schockierte sie, dass er das wusste. Libbys Heilkräfte waren in der Kleinstadt berühmt, aber die wenigsten wussten von Kates Fähigkeit. »Woher weißt du das?«

»Letztes Jahr an Weihnachten, als die Stadt von der Wesenheit im Nebel angegriffen wurde, hat Kate allen Frieden gebracht. Matt und Jonas haben sie zu mir nach Hause gebracht, weil sie glaubten, ich brauchte ebenfalls Hilfe, aber ich habe gerade eine schwere Zeit durchgemacht und war besorgt um Jonas. Ich habe befürchtet, ich könnte etwas Verrücktes tun.« Seine Stimme war gesenkt, als er ihr dieses Geständnis ablegte.

Sie hob den Kopf und schnappte nach Luft. Ihre Finger in seinem Hemd schlossen sich noch fester. »Jackson. Wo war ich da? Woher kommt es, dass ich nichts davon gewusst habe?«

»Du warst weit weg, irgendwo, vielleicht in Südamerika. Wer weiß. Kate und die Ortschaft haben in Schwierigkeiten gesteckt, und das hat deine gesamte Aufmerksamkeit beansprucht.«

Elle stieß den Atem aus. Es war ihr ein Gräuel. Sie fand es ganz furchtbar, dass es ihm so schlecht gegangen war, und sie nichts davon gewusst hatte. »Jede Berührung war dir unerträglich«, sagte Elle.

»Durch Berührungen teilen sich mir nicht nur Gefühle mit. Ich bin anders, Elle, und ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Mit dir stehe ich in telepathischer Verbindung, wir sind auf derselben Wellenlänge, aber bei allen anderen weiß ich manchmal Dinge, und meistens sind es Dinge, die ich nicht wissen will. Das kann sehr verstörend sein, vor allem dann, wenn ich in der Arbeit einen schlechten Tag hatte.« Er blickte auf sie hinunter und sah ihr fest in die Augen. »Aber das kennst du ja selbst. Du hast dieselbe Form von Überbelastung schon viele, viele Male selbst erlebt. Deshalb versuchst du, andere nie zu berühren, aber das hilft nicht immer, noch nicht einmal bei deiner Familie.«

Sie presste ihre Stirn an seine Brust. »Nein«, gestand sie. »Es ist eine Strapaze, Tag und Nacht von so vielen Empfindungen bombardiert zu werden. Wie hat Kate dir geholfen?«

»Sie hat mit mir gesprochen, und das war zugegebenermaßen beruhigend, aber dann, direkt bevor sie fortgegangen ist, hat sie mir die Hand geschüttelt und mir Frieden gewünscht. Dabei hat sie einen Teil der Schatten, mit denen ich rang, und auch einen Teil der Dunkelheit mitgenommen. Anschließend ist mir dann klar geworden, dass mein Gehirn überstrapaziert war und sie es lindern ...« Er unterbrach sich abrupt, nahm Elles Kinn und zog ihren Kopf zu sich hoch, um ihr in die Augen zu sehen. »Du glaubst, sie kann dich psychisch heilen.«

»Es ist nicht ausgeschlossen.«

Jackson verschlug es vor Aufregung beinah den Atem. Stavros mochte zwar mächtig sein, aber mit den Drake-Schwestern würde er es nicht aufnehmen können. Nicht, wenn Elle wahrhaftig geheilt war. Er hatte sich schon Sorgen um ihrer beider Zukunft gemacht. Und um die Zukunft ihrer Kinder.

»Ich weiß nur nicht, ob ich möchte, dass sie es versucht«, gestand Elle kleinlaut und mit dünner Stimme. »Wenn sie die Last oder die Krankheit in derselben Form auf sich nimmt, wie Libby es tut, was würde dann mit Kate passieren?«

Sie blickten beide auf die sechs Frauen hinunter, die um das Feuer herumtanzten. Der Wind kam vom Meer her und wehte den Nebel von der Küste, trieb ihn zusammen und scheuchte ihn wieder aufs Meer hinaus. Leise melodische Stimmen erhoben sich zu Klängen von absoluter Reinheit und großer Schönheit, die sowohl Elle als auch Jackson ein Gefühl von Frieden vermittelten. Bomber reagierte ebenfalls darauf. Er hatte die Ohren gespitzt, und seine leuchtenden Augen folgten konzentriert jeder Bewegung der Tänzerinnen.

Die nackten Füße, die bei jedem Schritt auf den Sand stampften, erzeugten einen pulsierenden Rhythmus, den sie zunehmend deutlicher in ihrem Blut fühlen konnten. Hannah, die durch ihre Körpergröße und ihre platinblonden Locken leicht zu erkennen war, hob ihre Arme zum Meer, während die anderen sich weiterhin im Kreis bewegten. Jackson nahm wahr, dass sich an dem Wind eine subtile Veränderung vollzog. Er fühlte das Meer, schmeckte Salz und spürte den feinen Dunst des Meeres auf seinem Gesicht. Elle hob ihre Arme, rückte von seinem Körper ab und stellte sich direkt in den Luftstrom, der vom Strand heraufkam.

Es dauerte einen Moment, bis Jackson begriff, was in dem Dunst war. Hastig zog er Elle den Pullover, den sie trug, über den Kopf, ignorierte ihre Proteste und ließ ihn auf den Sand fallen.

»Zieh die Trainingshose aus«, ordnete Jackson an und trat bereits hinter sie, um nach dem dehnbaren Bund zu greifen und ihr die Hose über die Hüften zu ziehen.

»Ich habe nichts darunter«, protestierte Elle.

»Wen interessiert das schon?«, schnauzte er sie grob an. »Es ist ja schließlich nicht so, als hätte ich dich noch nicht nackt gesehen, und deine Schwestern halten Abstand. Ich schicke Bomber zur Haustür. Er wird uns warnen, wenn jemand kommt. Raus aus der Hose.«

Er gab dem Hund ein Zeichen, zerrte gleichzeitig an der Trainingshose und ließ Elle keine Wahl. Wenn ihre Schwestern den Versuch unternehmen wollten, ihren Körper aus der Ferne zu heilen, dann würde er dieses Angebot nicht ausschlagen, sondern sie alles tun lassen, was in ihrer Macht stand. Es war quälend, ihren Körper voller Quetschungen, offener Wunden und Striemen zu sehen. Und sie schämte sich dafür, als hätte sie Stavros irgendwie davon abhalten können, sie zu foltern.

Elle schnappte hörbar nach Luft, doch sie gestattete Jackson, ihre Arme von ihrem Körper abzuspreizen und sie langsam im Kreis zu drehen, damit der stetige Strom des Dunstes ihren ganzen Körper von allen Seiten bedecken konnte. Sie fühlte, wie das Salz in ihren Wunden brannte, doch gleich darauf folgte eine lindernde Wärme. Und tief in ihrem Innern, wo es niemand außer Jackson sehen konnte, vergoss sie Freudentränen, weil sie wieder mit ihren Schwestern verbunden war, und sei es auch nur durch den Wind.

Jackson konnte fühlen, dass gemeinsam mit dem heilenden Dunst auch Liebe und Wärme herbeiströmten, doch er blickte auf das schäumende Meer hinter den Schwestern hinaus. Er rechnete damit, Delfine und vielleicht sogar einen auftauchenden Wal zu sehen, aber stattdessen war dort eine dichte graue Nebelbank, die zwar nicht ans Ufer zog, aber dennoch bedrohlich wirkte. Er hätte schwören können, dass sich etwas in dem Nebel bewegte und eisige Finger nach dem Strand ausstreckte, doch Hannahs Wind hielt die Schwaden, die sich nähern wollten, in Schach, während ihre Schwestern tanzten.

Worin genau bestand Stavros' übernatürliche Begabung? Konnte er sich über das Meer projizieren und vor der Küste schweben? Hatte er auf ähnliche Weise wie Jackson eine Verbindung zu Elle hergestellt? Diese Vorstellung beunruhigte ihn auf mehr als nur einer Ebene. Er wollte nicht, dass ein anderer Mann eine übersinnliche Verbindung mit Elle hatte.

Das Feuer knisterte und zischte, glühte leuchtend orange und sandte Flammen zum Himmel. Die weiblichen Stimmen verklangen allmählich und die Tänzerinnen sanken erschöpft auf den Sand. Hannah blieb als Letzte auf den Beinen und ließ den heilenden Dunst so lange wie möglich weiterströmen, bevor auch sie auf dem Strand zusammenbrach. Hinter ihr war das Meer rau und von den hohen Winden aufgepeitscht, die sich gewaltsam an ihr vorbeidrängen wollten, um ans Ufer zu gelangen.

Jackson warf Elle eine Decke über. »Geh ins Haus, Kleines, und zieh dich an«, sagte er. »Ich setze das Teewasser auf und hole deine Schwestern.«

»Ich kann den Tee kochen«, erbot sie sich. »Ich bin zwar noch müde, aber ich fühle mich jetzt schon besser.« Sie erschauerte ein wenig, als der Nebel wieder näher zum Strand kroch. »Mir gefällt es nicht, dass sie hilflos im Sand liegen, wenn der Nebel kommt. Vor allem Hannah, sie liegt zu dicht am Wasser.«

»Ich hole sie.« Ihm gefiel es nicht, dass die Nebelbank so dunkel war, und ihm behagte auch nicht, wie sich die Finger streckten und immer länger wurden, bis der gespenstische Eindruck entstand, eine Hand griffe nach ihnen. »Geh ins Haus, Elle. Zieh dich an und bleib im Warmen. Bomber ist ein ausgebildeter Schutzhund und wird vor allem dich und nicht irgendwelches Eigentum beschützen. Ich habe Lisset gebeten, ihn auf russische Befehle abzurichten, weil die ganze Familie auch Russisch spricht und ich mir dachte, es sei einfacher für jeden von uns, ihm Anweisungen zu geben, wenn es nötig ist.« Er nannte ihr eine Reihe von Befehlen und forderte sie auf, sie zu wiederholen. »Zieh dich warm an, Kleines. Heute ist es kalt draußen und der Nebel zieht schnell näher.« Er gab dem Hund ein Zeichen. »Geh mit ihr, such.«

Bombers Ohren stellten sich auf und seine Augen richteten sich auf die dichte Nebelbank, die zum Ufer zog. Er winselte, um seine Besorgnis mitzuteilen, doch er lief gehorsam vor Elle die Stufen zum Haus hinauf und verschwand im Hausinneren. »Warte auf ihn, Elle. Lass ihn erst das Haus durchsuchen. Er wird dir ein Zeichen geben, wenn du bedenkenlos reinkommen kannst. Warte ab jetzt immer darauf. Du wirst in Zukunft Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssen.«

»Das bin ich nicht gewohnt.« Sie zitterte trotz der Decke. »Ich weiß, aber es wird dir in Fleisch und Blut übergehen. Es ist besser, wenn wir lernen, wie wir auf uns selbst und auf unsere Kinder aufpassen. Wir beide sind mit gefährlichen Drohungen konfrontiert, die sich auf unser weiteres Leben auswirken könnten.« Er sprach mit sachlicher Stimme, als sei nichts weiter dabei, mit einer Morddrohung zu leben. Eines hatte ihn Elles Entführung auf jeden Fall gelehrt: Er musste mit beiden Händen nach dem Leben greifen, statt zuzusehen, wie es an ihm vorüberzog, weil er Angst um Elle oder um seine Kinder hatte. Es passierten laufend schlimme Dinge, aber durch sein Abwarten verpasste er all die schönen Dinge, und er war wild entschlossen, Elle zu zeigen, dass sie unter allen Umständen eine Zukunft hatten.

Bomber streckte den Kopf zur offenen Tür heraus und bellte kurz. »Lobe ihn und geh mit ihm ins Haus.«

»Ich werde den Kessel aufsetzen und mich anziehen«, sagte Elle, die froh war, etwas Nützliches tun zu können.

Jackson wartete, bis Elle und der Deutsche Schäferhund im Haus in Sicherheit waren, bevor er den ausgetretenen Pfad hinunterlief. Der schmale Dünenstreifen, der sein Anwesen vom Meer trennte, war leicht gewölbt, und kleine Pflanzen, die aus dem Sand hervorkamen, sprenkelten die Landschaft mit leuchtendem Grün.

Sowie er am Strand angelangt war, kauerte er sich neben Sarah. »Alles in Ordnung mit euch?«

»Wir sind nur etwas ausgelaugt. Hat es geholfen?« Sarah warf einen Blick auf das Meer und runzelte die Stirn. »Mir gefällt gar nicht, wie das aussieht.« Ihre Stimme war dünn, und sie rührte sich nicht, drehte nicht einmal den Kopf, richtete aber ihren Blick auf den finsteren Nebel.

»Ich glaube, ihr habt ihr wirklich geholfen, Sarah. Zumindest hat sie sich besser gefühlt, sowie sie von euch allen umgeben war. Sie macht Tee. Ich werde euch ins Haus helfen, aber lass keine deiner Schwestern versuchen, in ihren Kopf zu gelangen. Sie will es nicht.«

»Das ist uns schon klar«, sagte Sarah.

Jacksons Magen schnürte sich zusammen, und ein Schauer der Sorge lief ihm über den Rücken. Er wandte sich von Sarah ab, um auf das Meer hinauszublicken. Die Wellen zogen sich zurück und wurden in die dichte Nebelbank gesogen, die sich in gespenstischer Stille draußen auf dem Meer zusammenballte.

Eine dunkle Wasserrinne floss vom Strand ins Meer und durchdrang das Blau mit einem schlammigen Grün. Draußen auf dem Meer gewann eine Welle an Schwung und stürmte zum Strand hin.

Jackson sprang auf, rief Hannah im Laufen eine laute Warnung zu und rannte zu der Stelle, an der sie auf dem nassen Sand lag und einen Arm und ein Bein von sich gestreckt hatte. Jackson wusste, dass Hannah schwanger war, obwohl ihre schmale Gestalt nur durch den leicht gerundeten Bauch einen Hinweis darauf gab. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Körper schlaff, vom Einsatz ihrer Energien ausgelaugt. Dort, wo es Hannah am nächsten war, wirkte das Wasser viel seichter, als es hätte sein sollen, und das erschuf die Illusion vollkommener Ruhe. Jackson hatte sie fast erreicht, als das Wasser sie traf und sich die langen, dicken Arme des Riementangs aus der schnell nahenden Welle reckten und sich um Hannahs Handgelenk und um ihren Knöchel schlangen.

Da der Wind die Welle mit solcher Kraft ans Ufer trieb, wurde die Rückströmung, weil nirgends sonst Platz war, zur Seite gelenkt und umgab Hannah vollständig, als das Wasser zum Meer zurückkehren wollte. Die Strömung gewann an Kraft, und unter dem schlammigen Wasser riss der Riementang fest an ihr, als er zurückgezerrt wurde, und Hannahs schlanke Gestalt glitt zum offenen Meer hin. Wasser schäumte um ihren Körper herum und spritzte ihr ins Gesicht, und sie riss in panischem Entsetzen die Augen auf. Sie begann sich zur Wehr zu setzen, doch ihre Bewegungen waren schwach und konnten es gegen die Kraft der Brandungsrückströmung, die sie auf offene Meer zerrte, nicht aufnehmen.

Jackson sprang hinter Hannah her, packte ihren Arm und hielt ihn fest, als die Welle sie beide nach unten drückte, sie heftig drehte und sie gleichzeitig in tieferes Wasser hinauszog. Jackson hielt Hannahs Arm weiterhin umklammert und dachte gar nicht daran, sie dem Meer zu überlassen.

Wehr dich nicht. Bleib ganz ruhig. Hannah.

Er hatte sich noch nie mit einem anderen Menschen als Elle telepathisch verständigt, doch Elle war bei ihm und steuerte die Verständigung in seinem Bewusstsein. Er konnte sie fühlen, ihre Furcht und ihr Wissen, dass sie in furchtbaren Schwierigkeiten steckten.

Brandungsrückströmungen, die unter der Wasseroberfläche verborgen waren, forderten immer wieder Todesopfer und waren nicht weniger gefürchtet als Überschwemmungen und extreme Hitze.

Lass zu, dass die Strömung uns aufs Meer hinauszieht. Wir schwimmen parallel zum Ufer. So breit ist die Strömung nicht.

Seine Finger hielten Hannahs Arm wie ein Schraubstock umschlossen. Die Kälte drang jetzt schon in seinen Körper vor und seine Jeans war schwer und versuchte ihn nach unten zu ziehen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es für Hannah sein musste, die so unglaublich dünn war. Das Meer war kalt und die Unterkühlung würde schnell einsetzen.

Sie ist ohnehin schon erschöpft und durch die Heilung, die sie vorgenommen hat, jeglicher Energie beraubt. Es ist ihr vollkommen unmöglich, ihre Arme und Beine zu bewegen, teilte ihm Elles Stimme ganz ruhig mit.

Sag ihr, sie soll sich umdrehen und sich auf dem Rücken treiben lassen.

Jackson kämpfte gegen die starke Strömung an, die ihm Hannah unablässig entreißen wollte. Er hätte schwören können, dass das Wasser um sie herum lebendig war und an ihnen beiden riss und zerrte. Er wusste, dass jede Gegenwehr zwecklos war und sie sich von der Strömung so weit, wie sie reichte, hinaustragen lassen mussten.

Der Riementang hat sie umschlungen. Du musst sie daraus befreien, Jackson.

Im ersten Moment erschien ihm das in dem dunklen Meer und der eisigen Kälte, während starke Strömungen an ihm rissen, unmöglich, doch er hielt ihren Arm weiterhin mit aller Kraft fest, hörte auf zu schwimmen und gab den Versuch auf, Hannah im Sog der Brandungsrückströmung mit sich zu ziehen.

Stattdessen riss er jetzt das Messer aus seinem Gürtel. Augenblicklich fühlte er, wie das Wasser sie beide weiter aufs Meer hinauszog, doch er verschloss sein Bewusstsein vor allem anderen und konzentrierte sich nur noch darauf, Hannah aus dem Riementang zu befreien.

Irgendwie hatten sich die dicken Tangröhren mehrfach um Hannahs Arm und um ihr Bein geschlungen, als sie in dem brodelnden Wasser umhergewirbelt worden waren, und der Sand scheuerte entblößte Haut auf, als sie durch die Sandbänke aufs offene Meer hinausgerissen wurden. Jackson zerschnitt die gummiartigen Riemen auf ihrem Arm, bis Hannah ihn frei bewegen konnte. Er hielt sie an ihren Kleidungsstücken fest, als er zu ihrem Bein tauchte und sich zu dem Seetang vorkämpfte, der sie dort umschlungen hatte. Der Riementang behinderte sie beim Schwimmen, und daher durchschnitt er auch ihn, nahm ihre Hand und zog daran, um Hannah in die richtige Richtung zu lenken.

Jackson bekam kaum noch Luft und wusste, dass Hannah sich entsetzlich fürchten musste.

Sag ihr, wir schaffen das schon, sie soll parallel zur Küste schwimmen.

Er machte kräftige Beinschläge, zog Hannah mit sich und konnte nur hoffen, dass sie sich nicht wehren würde. Sie durchbrachen die Wasseroberfläche und schnappten beide keuchend nach Luft.

Sag ihr, sie soll nicht zum Strand schauen, sondern einfach nur schwimmen.