16.

 

Das Blut in Elles Adern gefror. Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. Im ersten Moment konnte sie nicht atmen und rang um Luft. Ihr ganzer Körper schrak beim Klang dieses samtigen, höhnischen Schnurrens vor Entsetzen zurück. Instinktiv nahm sie Kontakt zu Jackson auf und streckte ihm ihre andere Hand entgegen, während ihre Finger den Hörer an ihr Ohr pressten.

»Der arme Dane hat nichts ausgehalten. Jetzt ist er mausetot. Vielleicht möchtest du stattdessen mit mir sprechen?«

Jackson griff ohne ein Wort um sie herum, drückte mit seinen Fingern auf die Gabel und unterbrach die Verbindung. Elle ließ den Hörer fallen und begrub ihr Gesicht in seinem Schoß. Er legte beide Hände schützend über ihren Kopf. Er war in ihrem Bewusstsein gewesen. Er wusste, was diese Worte ihr angetan hatten - sie hatten jede Spur von Zuversicht zerstört, die sie gerade erst wieder in sich selbst zu setzen begann.

Er strich ihr über das Haar und spendete ihr in ihrem Innern Trost, nicht laut, da er wusste, dass sie nicht ausgerechnet in einem ihrer schwächsten Momente von allen gesehen werden wollte. Bomber drängte sich eng an sie und presste sich an ihre Seite, als wollte er sie beschützen.

Hannah durchquerte das Zimmer und brach als Erste das Schweigen. »Trink eine Tasse Tee, Elle. Er ist weit weg, und hier kann er nicht an dich herankommen. Er will dich glauben machen, er könnte es, aber hier bist du sicher.«

Elle schluckte schwer und hatte noch nicht die Kraft, die Schauer zu unterdrücken, die sie von Kopf bis Fuß beben ließen.

»Woher weißt du das, Hannah?«

»Ich weiß es ganz einfach. Setz dich auf und trink deinen Tee. Er will, dass du Angst hast, weil er dich dann besser beherrschen kann. Aber du bist zu Hause, hier bei uns, und wir werden dich heilen und dir deine Kraft zurückgeben. Er kann nicht gewinnen. Er ist von seiner eigenen Macht überzeugt, weil sich ihm nie etwas oder jemand in den Weg gestellt hat.« Sie kauerte sich neben ihre jüngste Schwester und strich ihr zart das Haar aus dem Gesicht. »Sieh mich an, Süße.« Sie wartete, bis Elle den Kopf hob und ihre Blicke sich trafen. »Du bist nicht allein. Du hast uns alle. Du hast unsere Männer. Du hast Jackson. Du hast die ganze Ortschaft hinter dir. Aber viel entscheidender ist, dass du deine eigenen Gaben besitzt, deine eigenen Stärken. Er wird nicht gewinnen.«

Elle holte tief Atem, drehte sich um und lehnte ihren Kopf wieder an Jacksons Beine, als sie die Teetasse von ihrer Schwester entgegennahm. Sie sah sich in dem Zimmer um und betrachtete der Reihe nach die Menschen, die sie liebten – die Menschen, die für sie und mit ihr kämpfen würden. »Er hat Dane getötet. Meinen Verbindungsmann. Dane ist der Einzige gewesen, der meine Identität kannte. Ich war eine Leihgabe, und er hat gefürchtet, jemand in seiner Dienststelle könnte für Stavros arbeiten. Er hat behauptet, Stavros hätte in ganz Europa und möglicherweise sogar hier Polizisten auf seiner Gehaltsliste. Er wollte kein Risiko eingehen. Wir haben die Tarnung als Sheena MacKenzie über einen längeren Zeitraum sehr sorgfältig aufgebaut, um sie in Stavros' Welt einzuführen.«

»Tut mir leid, Kleines«, flüsterte Jackson leise. Seine Finger fanden ihr Genick und begannen eine langsame Massage gegen die Anspannung.

»Dane war ein anständiger Kerl. Er hatte es nicht verdient, meinetwegen zu sterben.«

»Er ist nicht deinetwegen gestorben, Elle«, verbesserte Sarah sie. »Er hat versucht, einem Menschenhandelsring das Handwerk zu legen. Du und ich, wir wissen beide, wie gefährlich das ist. Der Menschenhandel entwickelt sich zum einträglichsten Geschäft überhaupt und schlägt weltweit den Drogen- und Waffenhandel aus dem Rennen. Sämtliche Bereiche der Ermittlungsbehörden, egal wo, sind davon betroffen, und alle sind sich der Gefahren bewusst. Die Leute wissen schließlich auch, was sie bei dem Versuch riskieren, einen Drogenhandelsring zu sprengen.«

Elle biss sich fest auf die Unterlippe. Sie wollte nicht an Dane denken. Er war in die Fußstapfen seiner Vorfahren getreten und hatte die Tradition seiner Familie aufrechterhalten. Menschen, die schon seit Generationen im Dienste ihres Landes daran arbeiteten, dem Verbrechen Einhalt zu gebieten. Dane hatte Hilfe aus den Vereinigten Staaten angefordert und ausgerechnet sie zugeteilt bekommen. Sie hatte ihm jedoch keine allzu guten Dienste erwiesen. Stavros hatte ihn sich geschnappt, was bedeutete, dass Dane Recht gehabt hatte - jemand in seinem Büro stand auf Stavros' Gehaltsliste. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit. Selbst wenn Dane ihre Identität nicht preisgegeben hatte, wusste Stavros, dass Sheena MacKenzie eine Geheimagentin war. Er würde niemals Ruhe geben, bevor er sie gefunden hatte.

Jackson sagte kein Wort, da er die üblichen Abläufe in der Drake-Familie kannte. Er hatte sie schon oft genug alle miteinander erlebt. Er wusste, dass er ein intelligenter Mann war, aber einige der Anwesenden waren bessere Denker als er. Er war eher der stille Typ, der Tatmensch, der keinen guten Grund für viele Worte und viele gute Gründe für Taten sah.

Für ihn war das alles ganz einfach. Stavros würde niemals ins Gefängnis wandern. Selbst wenn er auf frischer Tat ertappt wurde, besaß er so viel Geld und so viel Einfluss, dass die Beweise nicht unangetastet bleiben würden. Sie würden verschwinden oder vernichtet werden. Und selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass er verurteilt wurde, würde er von dort aus, wo er war, weiterhin sein Reich regieren und alle Hebel in Bewegung setzen, um Elles Leben zu zerstören. Nein, das Gefängnis war in dem Fall keine Lösung.

Jackson blickte auf, und seine Augen begegneten Iljas wissendem Blick. Der Russe nickte ihm kaum wahrnehmbar zu und bekundete ihm damit seine Zustimmung. Zwei von ihnen waren also schon einer Meinung, und Ilja war als Rückendeckung keineswegs zu verachten.

»Ich glaube, die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, warum er so stark ist«, wagte sich Damon vor. »Wenn ihr eure Gaben einsetzt, dann laugt es euch aus. Er ist auf der anderen Seite des Meeres und verfügt dennoch über diese immense Kraft. Das leuchtet mir nicht ein.«

Jacksons Aufmerksamkeit wandte sich sofort Damon zu. Das Gehirn des Mannes war eine Maschine. Er befand sich anscheinend auf einer heißen Fährte. Was auch immer es war, es musste wichtig und nützlich sein, denn sonst hätte er es nicht erwähnt. Er hatte sich Gedanken darüber gemacht, und wenn er die Frage stellte, dann machte er sich bereits eine ungefähre Vorstellung von der Antwort.

Damon warf einen schnellen Blick auf ihn, und Jackson kostete es Mühe, keine Miene zu verziehen. Damon wusste nämlich auch, dass Jackson plante, sich Gratsos vorzuknöpfen, und ihm stand deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er mit von der Partie sein wollte. Damon war kein Kämpfer, aber er konnte eine Schlacht planen - Himmel nochmal, schließlich hatte er geniale Abwehrsysteme für die Vereinigten Staaten entwickelt. »Vielleicht liegt es daran, dass er ein Mann ist«, sagte Jonas in einem bemüht sachlichen Tonfall.

Hannah versetzte ihm einen Rippenstoß, und Joley gab ihm nicht nur einen Klaps, sondern gleich zwei.

»Du bist ein verfluchter Chauvinist, Jonas«, klagte ihn Joley an.

»An dem, was er sagt, ist etwas dran«, sagte Ilja, ohne eine Miene zu verziehen. »Seht euch mich an.«

Joley schlug ihm auf den Arm. »Halte dir nicht zu viel zugute, Prakenskij. Ich sehe dich an, und ich sehe nichts weiter als eine Menge heiße Luft.«

Er packte sie an den Haaren und zog ihren Kopf zurück, fand ihren Mund mit seinem und ergriff ohne zu zögern Besitz von ihren Lippen. Als er den Kopf wieder hob, lachten seine Augen. »Offenbar habe ich in der letzten Zeit keine ganze Arbeit geleistet.«

Joley grinste ihn an. »Das reicht auch so schon.«

Sarah gab einen kleinen Laut von sich, der alle wieder zur Aufmerksamkeit rief. »Damon hat tatsächlich eine gute Frage aufgeworfen. Wie schafft er es, seine Energien nicht zu verausgaben?«

»Er benutzt nicht wirklich seine eigenen Energien«, sagte Damon.

Tyson beugte sich mit einem verwirrten Stirnrunzeln vor. Er hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet, und sein Blick und seine gesamte Konzentration waren auf Damon gerichtet. In dem Moment war für ihn kein anderer mehr im Raum anwesend. »Du glaubst, er lässt die Energien in dem Nebel auf die Suche gehen? Losgelöst von ihm?«

Damon nickte. »Das muss es sein, Ty. Wie könnte es denn sonst gehen? Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass er einen Angriff an so vielen Orten gleichzeitig durchführen könnte. Ich habe auf der Website Hidden Currents nachgesehen, und der Nebel war exakt im selben Moment weltweit an sechzehn Orten. Die meisten dieser Orte liegen noch nicht einmal in derselben Zeitzone, aber der Nebel hat trotzdem überall exakt zur selben Zeit plötzlich eingesetzt, ungeachtet der jeweiligen Ortszeit.«

Tyson schnalzte mit den Fingern. »Ich sehe, worauf du hinaus willst. Ein kluger Einfall, Mann, wirklich klug.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Jonas, und seine Stimme klang gereizt. »Klärt mich auf.«

Damon zog die Augenbrauen zusammen. »Er bringt den Nebel hervor, um übersinnliche Energien zu finden.«

»Das habe ich kapiert«, sagte Jonas genervt. »Aber wie erhält er den Nebel aufrecht? Wenn er die Energien nicht speist, dann würde sein Nebel in sich zusammensacken, sich einfach auflösen. Irgendetwas muss ihn also aufrechterhalten.« Er sah Hannah an, um sich seine Schlussfolgerung bestätigen zu lassen. Hannahs Aufmerksamkeit war jedoch auf ihre Schwestern gerichtet. Sie alle sahen einander an. »Könnte er das tun? Hat eine von euch das jemals versucht? Was ist mir dir, Ilja?« Sie sah ihren Schwager fragend an.

»Was soll das?«, brach es aus Jonas hervor. »Ihr beabsichtigt wohl, dass sich der Rest von uns wie Idioten vorkommt. Dieser ganze Voodoo-Mist geht mir tierisch auf den Geist.«

»Begreifst du es denn nicht, Jonas?« Tyson merkte offenbar nicht, dass Jonas jeden Moment der Kragen platzen würde. »Er sendet den Nebel aus und erhält ihn selbst aufrecht, bis er übersinnliche Energien findet.« Seine Augen leuchteten einen Moment lang voller Bewunderung. »Dann nährt sich der Nebel von den übernatürlichen Energien, die ihm zur Verfügung stehen, und er braucht sich nicht mehr darum zu kümmern und kann die nächste Falle im Wasser errichten. Da er nur Dinge benutzt, die in der Umgebung von Natur aus vorkommen, braucht er sie im Grunde genommen nur in Bewegung zu setzen. Er hat Riementang, Haie, Fischernetze, Quallen und Wind für seine Zwecke benutzt, und er muss sich auf den verborgenen Strömungen im Wasser voranbewegen. Wenn keine Strömung zur Verfügung steht, erzeugt er seine eigene.«

»Wenn er sich geschickt genug anstellt, könnte er genau das tun und eine Falle vorbereiten, und derjenige, der psychische Energien einsetzt, könnte ihn mit eben dieser Kraft speisen«, sagte Damon. »Das ist natürlich nichts weiter als eine Theorie, aber woher sonst sollte er die Energie bekommen? Ihr alle führt sie ihm zu, und das erklärt, warum ihr alle so ausgelaugt seid, wenn ihr auch nur eine oberflächliche Heilung an Elle vornehmt.«

Wieder herrschte betroffenes Schweigen.

Jackson schloss seine Finger fester um Elles Schulter, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Wenn er das tun kann, dann könnt ihr das auch. Und vielleicht sogar in einem viel größeren Maße.«

Elle schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie.«

»Du hast ihm eine gewischt, Kleines. Das wissen wir beide. In dem Moment, bevor du zusammengebrochen bist, als du diese Wand aus Wasser aufgehalten hast, bist du in Wut geraten.«

»Das ist ja mal ganz was Neues«, murmelte Jonas.

Joley versetzte ihm einen halbherzigen Tritt und Hannah sah ihn finster an.

»Wenn es doch wahr ist«, verteidigte er sich. »Oder ist hier jemand überrascht?«

Elle fühlte, wie sich die Knoten in ihrem Magen lösten. Im Kreise ihrer Familie, die im Angesicht von gefährlichen Bedrohungen die üblichen Scherze machte, begann sie sich wieder sicherer zu fühlen. Jonas liebte sie alle, und seine Liebe gab ihr ebenso wie die Liebe ihrer Schwestern ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit - und sie fühlte sich zu Hause. Sie sah sich dankbar im Zimmer um.

Ich kann mich sehr glücklich schätzen, Jackson.

»Verdammt noch mal, Elle.« Er streckte die Arme nach ihr aus, legte die Hände auf ihre Taille und zog sie auf seinen Schoß. Ihr Tee schoss wie eine Fontäne in die Luft und blieb einfach dort hängen, während er seine Arme eng um sie schlang und ihr ins Ohr zischte: »Wenn du das nochmal machst, bevor Kate sich mit dir beschäftigt hat, dann wirst du einen Monat lang nicht sitzen können.«

Elle brach in schallendes Gelächter aus. Die umgekippte Teetasse auf dem Fußboden richtete sich auf und die Flüssigkeit strömte wieder hinein. Elle schlang Jackson ihre Arme um den Hals und begrub ihr Gesicht an seiner Kehle. »Habe ich dir heute Morgen eigentlich gesagt, dass ich rasend verliebt in dich bin?«

Seine großen Hände legten sich auf beiden Seiten um ihr Gesicht. »Ja, das hast du tatsächlich getan.« Er bedeckte sie mit einer Spur von Küssen, die sich von einem Augenwinkel bis zum Mundwinkel zog, bevor er ihre Lippen mit seinen streifte.

»Aber damit allein kannst du dich nicht aus der Affäre ziehen. Jedes Mal, wenn du Telepathie einsetzt, kann ich fühlen, dass die Schädigungen in deinem Gehirn wieder zunehmen. Du musst es sein lassen.«

»Ich bemühe mich wirklich«, gab sie zu und schockierte damit ihre gesamte Familie.

Elle klärte nur in den seltensten Fällen jemanden darüber auf, was sie dachte oder fühlte. Der Umstand, dass sie Jackson eine Erklärung für ihr Verhalten gab, sagte ihnen allen sehr viel, und noch verräterischer war es, dass sie es vor ihnen allen tat. Falls eine von ihnen noch Zweifel an ihren Gefühlen für den Deputy gehegt hatte, waren sie jetzt allesamt überzeugt.

»Ich merke nicht, dass ich Telepathie einsetze. Die Verbindung zwischen uns ist so stark, dass es mir ganz natürlich vorkommt.«

»Ich weiß.« Seine Stimme klang so zärtlich, dass Elle sich vorbeugte, um ihn wieder zu küssen. »Dann musst du dich eben noch mehr anstrengen.« Er sah Kate an. »Wirklich, Katie, ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Kate sah ihre jüngere Schwester an und rang darum, sich ihre Gefühle nicht ansehen zu lassen. Jackson hatte sie nie Katie genannt, nicht ein einziges Mal in all der Zeit, die sie einander kannten. Und sein Gesichtsausdruck, wenn er Elle ansah, ließ ihr Tränen in die Augen treten. Er sah aus, als ginge für ihn durch sie die Sonne auf und unter, und sie alle wünschten sich mehr als alles andere, Elle glücklich zu sehen.

»Wir haben Kerzen und noch ein paar andere Dinge mitgebracht, Elle«, sagte Kate mit belegter Stimme. »Außerdem haben wir uns Gedanken darüber gemacht, wie wir es am besten anstellen, deine Privatsphäre nicht zu verletzen. Bist du bereit?« Jonas stand auf. »Vielleicht sollten wir das jetzt euch überlassen. Wir können auf die Veranda gehen und zur Abwechslung einen anständigen männlichen Kaffee trinken.«

In seinem Tonfall schwang etwas mit, das Jackson sofort erkannte. Jonas wollte reden. Jackson zuckte innerlich zusammen. Jonas war durch und durch Gesetzeshüter, aber er kannte Jackson und er kannte auch Jacksons Einstellung. Er würde Gratsos verhaften wollen, und er würde der Überzeugung sein, es gäbe eine Möglichkeit, ihn zu Fall zu bringen, ohne sich außerhalb des Gesetzes zu bewegen. Jackson war allerdings nicht danach zumute, sich darüber mit ihm zu streiten.

Jonas seufzte und wies mit seinem Daumen auf die Tür.

Jackson löste sich behutsam von Elle. »In ein paar Minuten bin ich wieder da, Kleines. Aber mach dir keine Sorgen, ich lasse dich nicht los.« Er rührte sich in ihrem Bewusstsein und rief ihr ins Gedächtnis zurück, dass er ihr dabei half, eine stärkere Barriere zwischen ihr und ihren Schwestern zu errichten, damit sie nicht fühlen würden, was sie durchgemacht hatte.

Die Intimität zwischen Elle und Jackson hatte schnell zugenommen, schon von dem Moment an, als sie sich mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, während er im Gefangenenlager war. Je öfter sie ihr Bewusstsein miteinander verbanden, desto dichter war das Geflecht der Beziehung geworden. Er war die meiste Zeit seines Lebens ein Einzelgänger gewesen, und jetzt konnte er sich ein Leben - und ein Bewusstsein - ohne Elle darin nicht mehr vorstellen. Die Wärme, die von ihr ausging, ihre vorbehaltlose, uneingeschränkte Liebe, die sie in ihn strömen ließ, waren jetzt schon feste Bestandteile seines Lebens und eigenen Wesens geworden. Er brauchte sich nur in seinem Haus umzusehen, und schon wusste er, dass dies sein Zuhause war, weil sie hier war.

Jonas gab einen verärgerten Laut von sich. Ihm war nicht entgangen, dass Joley und Hannah einander angrinsten. Die Drake-Frauen liebten Jonas. Er war mehr als nur Hannahs Ehemann. Sie alle empfanden ihn als einen echten Bruder, den Einzigen, den sie hatten. Er war ihr grimmigster Beschützer und zugleich die größte Nervensäge in ihrem Leben. Sie wussten genau, dass er mit Jackson reden wollte, obwohl Jonas sich bemüht hatte, es vor ihnen geheim zu halten.

Elle lächelte ihn matt an. Als er ihr zuzwinkerte, wurde ihr Lächeln strahlender.

»Du wirst jetzt also mit deinen Schwestern arbeiten, Elle.« Aus Jacksons Mund klang das eher nach einer Feststellung als nach einer Frage. »Dann werden wir bald wieder ins Drake-Haus ziehen. Es ist das Kraftzentrum, und dort werden wir mehr Munition gegen diesen Dreckskerl haben. Das Haus kann dich besser beschützen, als ich es kann.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht wahr. Wenn du ihn nicht zurückhieltest, hätte ich keinen Moment Ruhe vor ihm, Jackson.« In ihrer Stimme schwang tiefe Überzeugung mit. »An dir kommt er nicht vorbei.«

Damon stand auf und stützte sich schwer auf seinen Gehstock.

»Bist du sicher?«

»Vollkommen sicher. Ich kann ihn nicht aus meinem Innern aussperren. Ich weiß nicht, ob es an den Verletzungen in meinem Gehirn liegt und ich deshalb keine natürliche Barriere gegen ihn aufrechterhalten kann, oder ob es daran liegt, dass er jede schwache Stelle genau kennt. Aber sowie sich Jackson von mir zurückzieht, kann ich Stavros flüstern hören. Er sagt mir, er käme, um mich zu holen. Und wenn ich nicht zu ihm zurückkäme, würde er jeden einzelnen Menschen, den ich liebe, töten, und früher oder später käme er an die eine Person heran, die mir mehr als alle anderen am Herzen liegt.« Sie sah Jackson an und er konnte den Schmerz in ihren Augen sehen. »Er meint dich.«

Jackson schlang seine Handfläche um ihren Nacken, zog sie an sich und bog mit dem Daumen ihr Kinn nach oben, um seine Stirn an ihre zu pressen. »Da kann er sich auf eine große Enttäuschung gefasst machen, Kleines. Wir wissen beide, dass ich nicht so leicht umzubringen bin.«

»Es wäre mir unerträglich, wenn noch jemand meinetwegen verletzt oder getötet würde«, flüsterte sie und presste ihre Stirn noch fester an seine. »Ich weiß nicht mehr, wie ich ohne dich leben könnte.«

»Sieh dich um, Elle«, sagte Jackson. »Sieh dir deine Familie ganz genau an. Keinem von uns wird etwas zustoßen. In diesem einen Punkt solltest du mir vertrauen. Er wird nicht gewinnen.«

Jackson wandte sich abrupt ab und verließ das Wohnzimmer mit Bomber an seiner Seite. Er stieß die Tür zur Veranda auf und ging hinaus. Wut wogte in ihm auf. Für einen kurzen Moment überließ er sich ihr, bis er fühlte, dass sich die Bodendielen unter seinen Füßen verschoben.

Damon und Ilja folgten ihm zur Tür hinaus, und Damon ließ sich auf einen der Stühle fallen. »Du hast vor, Jagd auf ihn zu machen.«

»Das wird nicht nötig sein. Das Dreckschwein wird von sich aus zu mir kommen«, sagte Jackson. »Der Kerl ist derart von sich selbst eingenommen, dass er glaubt, er könnte in mein Revier eindringen und mir meine Frau wegnehmen.« Seine Stimme war schneidend kalt.

»Du hast einen Plan.«

Ilja und Jackson tauschten einen langen, vielsagenden Blick miteinander aus. Jackson zuckte die Achseln. Er brauchte nichts weiter als seine Waffe und den Mann im Visier, und Ilja war mit dieser Strategie hundertprozentig einverstanden.

Damon lächelte ihn an. »Ich glaube, wir sollten deinen Plan nochmal in Ruhe durchdenken.« Er klopfte auf das Polster des Stuhls, der neben ihm stand.

»Der Mistkerl wird nicht mit dem Leben davonkommen.« Die grimmige Unumstößlichkeit seiner Aussage ließ keinen Raum für Auseinandersetzungen. Jackson sah Jonas an, der ihnen aus dem Haus gefolgt war. Tyson, Aleksandr und Matt standen dicht hinter ihm.

»Jackson«, warnte ihn Jonas. »Du kannst nicht einfach einen kaltblütigen Mord begehen. Du bist Deputy und du bist darauf vereidigt, dich als Gesetzeshüter für Recht und Ordnung einzusetzen.«

»Du kannst mein Abzeichen haben, Jonas«, sagte Jackson mit ruhiger Stimme. »Ich setze mein Rücktrittsgesuch auf, und in fünf Minuten hältst du es in der Hand.« Er wollte wieder ins Haus gehen.

Jonas vertrat ihm den Weg. »Sei kein Arschloch. Was hast du vor? Willst du ihn erschießen und dafür ins Gefängnis gehen?«

»Das habe ich in etwa vor.«

»Es könnte sein, dass ich einen besseren Plan habe«, sagte Damon. »Warum setzt du dich nicht und hörst mich an? Ich habe mir eine Menge Gedanken darüber gemacht, und ich habe zwar noch nicht alle Einzelheiten ausgearbeitet, aber ich glaube, wir können ihn uns so vom Hals schaffen, dass niemand dafür ins Gefängnis kommt. Einerseits muss ich Jackson zustimmen, dass der Mann nicht mit dem Leben davonkommen darf, andererseits bin ich aber nicht scharf darauf, einen Schwager zu verlieren. Jonas, wenn du es für das Beste hältst, uns nicht zuzuhören, solltest du vielleicht ins Haus gehen und nachsehen, ob Hannah etwas braucht.« Er warf einen Blick in die Runde. »Falls einer von euch nicht hören will, was ich zu sagen habe, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, den Rest von uns alleinzulassen.«

Jonas zuckte die Achseln. »Ich will nur nicht, dass Jackson sich in Schwierigkeiten bringt. Ich hatte doch selbst vor, den Mann zu töten, der Hannah bedroht hat. Und wenn ich an Gratsos rankäme, würde ich ihn töten. Ich mag zwar ein Dickschädel sein, Damon, aber ich weiß, dass Gratsos durch eine Verhaftung nicht aufzuhalten ist.«

»Also, ich habe einen Plan.« Damons Stimme klang selbstgefällig. »Oder zumindest Ansätze zu einem Plan.«

»Lass ihn uns hören«, sagte Jackson. Er setzte sich aufs Geländer und zog schleunigst eine Barriere hoch, damit Elle seine Gedanken nicht lesen konnte. Er musste in ihrem Bewusstsein bleiben, aber er durfte nicht zulassen, dass sie erfuhr, worüber sie redeten.

Elle fühlte im selben Moment, dass Jackson eine Abschirmung zwischen ihnen errichtet hatte. Er hatte keinerlei Wert darauf gelegt, dass sie es nicht merkte. Sie warf einen Blick auf die Veranda, wo sich die Männer um Damon drängten. Mit einem Stirnrunzeln sah sie Sarah an und erhoffte sich eine Erklärung von ihr. »Sie hecken etwas aus.«

»Damon macht keine unüberlegten Aktionen«, rief ihr Sarah in Erinnerung. »Er ließe sich niemals auf etwas Verrücktes ein. Er ist immer die Stimme der Vernunft und der Inbegriff von Logik. Wahrscheinlich beruhigt er alle anderen. Wir haben nun mal ein paar Hitzköpfe in der Familie.«

Hannah grinste sie an. »Du denkst dabei nicht zufällig an meinen Mann, oder doch?«

Sie lachten alle und begannen die Kerzen im ganzen Zimmer aufzustellen, während sie miteinander redeten.

»Jonas wird sich niemals ändern«, sagte Joley, »aber wir lieben ihn so wie er ist, Hannah.«

»Seit wir verheiratet sind, ist er so tyrannisch.«

Die Schwestern brachen in Gelächter aus und Hannah stemmte einen Arm in ihre Hüfte. »Ist was?«

»Er war schon immer ein Tyrann, du Dummerchen. Du hast nur aufgehört, den Wind auf seinen Hut anzusetzen, damit er ihn durch die Straßen fegt«, hob Abbey hervor. »Jonas hatte schon immer ein Schild mit der Aufschrift umhängen: ›Aufgeblasenes Männchen mit starken Dominanzbestrebungen‹.«

»Also, mir gefällt das, und er ist nicht halb so schlimm wie Ilja.«

Joley lief dunkelrot an. »Ich weiß schon, wie ich ihn rumkriege.«

»Darauf würde ich wetten«, sagte Elle und stieß ihre Schwester mit dem Fuß an.

»Und was ist mit Jackson?«, fragte Libby. »Sarah sagt, ihr heiratet in ein paar Tagen. Wirst du das wirklich tun, Elle? Bist du sicher, dass du das willst? Jackson hat dich immer auf die Palme gebracht. Bist du wirklich darauf vorbereitet, wie sich ein Zusammenleben mit ihm im Alltag gestalten wird?«

Abigail warf einen Blick auf die Veranda, um Jackson anzusehen. Mit seinem zottigen Bart sah er eher nach einem grimmigen Fallensteller aus. Sie wusste, dass er oft als Geheimagent für andere Länder arbeitete. Er fühlte sich wohl in der Rolle, die er spielte, aber manchmal wirkte er einschüchternd auf sie. »Du hast ein schreckliches Trauma erlitten. Vielleicht solltest du Entscheidungen, die dein ganzes Leben verändern, besser erst dann treffen, wenn du etwas Zeit hattest, um dich zu erholen.«

Elle wurde bewusst, dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, umgeben von ihren Schwestern, die sie alle ganz genau beobachteten. Sie zog ihren Pullover enger um sich und wünschte plötzlich, sie hätte mehr an. Sie konnten die Peitschenstriemen nicht sehen, die sich über ihren ganzen Körper zogen, aber sie war sich dieser Male extrem deutlich bewusst, der Spuren um ihre Brüste herum und sogar in ihrem Intimbereich. Die Innenseiten ihrer Schenkel brannten, und einen Moment lang bekam sie keine Luft.

Brauchst du mich, Kleines? Soll ich reinkommen und dich retten?

Sie vernahm Jacksons Stimme als ein samtiges Schaben in ihrem Kopf. Sie fühlte die Wärme, die sie augenblicklich durchströmte, und merkte jetzt erst, wie kühl ihr geworden war. Sie zitterte und zwang sich dazu, tief Atem zu holen.

Sie schaute aus dem Fenster und er sah sie an. Er hielt seine Hand in die Luft, die Handfläche nach vorn und die Finger weit gespreizt. Sie hob ihre Hand mit der Handfläche zu ihm und fühlte die Berührung, erst Haut auf Haut, dann seine Lippen, als drückte er sie mitten auf ihre Handfläche. Sie schloss ihre Finger über der Stelle, um das Gefühl festzuhalten. Sofort fühlte sie sich ruhiger.

Ich komme allein zurecht. Danke. Und schimpf mich bloß nicht, du hast damit angefangen.

Sie schenkte dem stechenden Schmerz in ihrem Kopf keinerlei Beachtung, denn sie hatte diese kurze Kontaktaufnahme gebraucht.

Warte nur, bis wir allein sind.

Seine Stimme verhieß ihr alles andere als eine Strafe.

Elle wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Schwestern zu. »Jackson heilt mich langsam, aber stetig. Er gibt mir alles zurück, was Stavros mir genommen hat. Ich bin noch nicht geheilt, vor allem innerlich nicht, das weiß ich selbst, aber Jackson sorgt dafür, dass es mir von Tag zu Tag besser geht.«

Sarah lächelte sie an. »Ich möchte, dass es dir wieder möglich ist, dich von uns in die Arme nehmen zu lassen – das wünschen wir uns alle. Es ist schwierig für uns.«

»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich hoffe, ihr versteht die Gründe. Ihr wisst zwar, was mir angetan worden ist, aber es zu erleben ist etwas ganz anderes. Solange ich nicht stark genug bin, um das zu verhindern, möchte ich bei keiner von euch das geringste Risiko eingehen, und Joley und Hannah sind obendrein schwanger. Wir wissen nicht, wie sich mein Zustand auf die Babys auswirken könnte.« Sie reckte ihr Kinn in die Luft und versuchte neben sich selbst zu stehen und diese Bilder und Erinnerungen nicht über ihr Bewusstsein hereinbrechen zu lassen. Jacksons Bewusstsein rieb sich an ihrem, und sie fühlte sich gleich stärker; als stünde er neben ihr und sie hielten einander an den Händen. Als seien ihre Seelen eng miteinander verknüpft. Sie hätte es ihren Schwestern beim besten Willen nicht erklären können, doch sie konnte sehen, dass sie sich Mühe gaben, sie zu verstehen.

»Niemand wird ohne deine Einwilligung diese Grenze überschreiten«, versprach Sarah.

»Kate darf sich nicht gefährden. Versprich mir, dass du nicht zu viel auf dich nimmst, Katie. Du darfst dich nicht restlos verausgaben, um mir zu helfen«, sagte Elle.

»Ich habe mir überlegt, dass es das Beste sein könnte, es mit drei Sitzungen zu versuchen«, sagte Sarah. »Libby und ich haben uns darüber unterhalten, und sie hat gesagt, sie hat für sich herausgefunden, dass sie in besonders schwierigen Fällen den Heilungsprozess am besten in drei Schritte aufteilt. Auf diese Weise bewahrt sie sich ihre Kraft und verhindert gleichzeitig, dass sie zu viel auf sich nimmt. Ihr Körper kann dann die Krankheit oder die Wunde besser verarbeiten.«

Hannah blies auf die Kerzen, um sie anzuzünden. Augenblicklich erfüllte der beschwichtigende Duft von Lavendel den Raum. Sarah, Hannah, Libby, Abigail und Joley bildeten einen Kreis um Kate und Elle und nahmen einander an den Händen. Sie wiegten sich im Takt des anschwellenden Sprechgesangs, den Sarah anstimmte. Kate rückte näher zu Elle, bis sie nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt stand. Sie hatte die Augen geschlossen und ihre Lippen bewegten sich zu einem stummen Gebet, mit dem sie Kraft erflehte, um ihrer Schwester zu helfen. Joleys Stimme begann anzuschwellen. Abigail fiel ein, und ihre Stimmen verbanden sich zu einem starken und reinen Klang, einem Kontrapunkt zu dem Sprechgesang, den Sarah, Hannah und Libby angestimmt hatten. Die Energie im Zimmer nahm zu. Kate lächelte heiter und unbefangen, streckte ihre Hand nach Elle aus und kam ihrer Schwester so nahe wie möglich, ohne sie zu berühren. »Bist du so weit?«

Elle konnte nichts dafür, dass sie Jacksons Zuspruch brauchte. Sie nahm den Kontakt zu ihm auf.

Ich bin da, Kleines. Ich habe die Abschirmung errichtet und sie ist robust. Kate wird nichts anderes fühlen als die Liebe, die von dir ausgeht.

Seine Stimme war ruhig, kräftig und fürsorglich. Ihr Herz zog sich zusammen. Ein Teil von ihr hätte gern Freudentränen vergossen, weil er sie so zärtlich liebte. Sie nickte Kate zu. Kate legte ihre Hand auf Elles Kopf, eine ganz leichte Berührung, beinah ein Streicheln, die Liebkosung einer Schwester. Sofort konnte sie fühlen, wie Wärme aus Kates Hand in ihren Kopf floss. Der pochende Schmerz, der allgegenwärtig zu sein schien, ließ nach. Sie konnte es fast bildlich sehen, wie ihre Verletzungen heilten. Winzige Funken knisterten, sprangen über und flackerten, als reparierte Kate eine Stromleitung in ihrem Kopf.

Aus der Wärme wurde Hitze, aus dem Knistern Entladungen. Draußen auf der Veranda sprang Bomber plötzlich am Fliegengitter hoch und fing an zu bellen. Sein Körper war den Frauen zugewandt, die Ohren aufgestellt, die Zähne gefletscht, sein Gebell enorm aggressiv. Hannah und Joley sprangen beide zurück und der geschlossene Kreis brach auf.

Kates Gesicht wurde blass, und sie zog ihre Hand so schnell zurück, als hätte sie sich verbrannt. Sie wankte, und Elle schlang ihr einen Arm um die Taille und half ihr dabei, sich auf den Boden zu setzen. Libby streckte augenblicklich die Hand nach ihr aus.

Kate wich hastig zurück und entzog sich Libbys Berührung.

»Warte, Libby. Nur einen Moment, aber warte noch.«

»Was zum Teufel geht hier vor?«, fragte Jackson barsch, als er das Fliegengitter aufriss. Bomber sprang herein und eilte mit großen Sätzen zu Elle. »Aus!«, fauchte er Bomber an, und der Hund stellte sofort sein Gebell ein.

Elle wurde blass. »Ist etwas zu dir durchgedrungen, Kate? Habe ich dich nicht gut genug abgeschirmt?«

Kate schlang ihre Finger um Elles schmales Handgelenk. »Du hast mich bestens abgeschirmt. Ich habe nichts von dem gefühlt, was du durchgemacht hast. Die Barrikade, die du gemeinsam mit Jackson errichtet hast, ist ganz erstaunlich.« Sie ließ ihren Kopf zwischen ihre Knie hängen und holte mehrfach tief Luft, um nicht ohnmächtig zu werden.

»Kate?«, fragte Sarah.

Hannah ließ einen Teller Plätzchen in das Zimmer schweben, fing ihn auf und stand besorgt dabei, als Joley eine Teetasse durch die Luft manövrierte.

Als Kate aufblickte, war ihr Gesicht sehr weiß. »Ich habe ihn gehört.«

»Jackson?«, fragte Sarah.

Kate schüttelte den Kopf. »Ihn. Gratsos. Er wollte mit ihr in Kontakt treten, aber er kann Jacksons Barrikade nicht durchdringen. Er war unglaublich wütend. Außer sich vor Wut. Und er hat regelrecht gegen diese Barriere gehämmert. Ich habe ihn gefühlt.« Sie unterbrach sich. »Und dann hat er mich gefühlt.«

Elle schnappte nach Luft. »Ist er in deinem Kopf? Sag die Wahrheit, Kate. Abbey. Bring sie dazu, die Wahrheit zu sagen.« Sie war von Panik ergriffen. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie tatsächlich eine Hand auf ihre Brust presste.

»Ich habe mich zurückgezogen, sowie er mich gefühlt hat. Ich glaube nicht, dass er mich wiederfinden kann, aber er weiß, dass wir miteinander verwandt sind. Wenn er weder deinen richtigen Namen noch deine Adresse hat, dann hat er einen anderen Anhaltspunkt. Ich habe nicht versucht mich zu verstecken oder mich gegen ihn zu schützen, weil ich gar nicht auf den Gedanken gekommen bin, er könnte mich ›sehen‹ oder fühlen, während ich mich mit deiner Heilung befasse.« Sie nahm sich ein Plätzchen und biss hinein. Joley drückte ihr die Teetasse in die Hände, als sie erschauerte. »Der Mann ist beängstigend.«

Elle ließ sich auf den Boden sinken. Erst Hannah. Dann Abigail. Und jetzt hatte Stavros Kate Angst eingejagt. Der reizenden, ausgeglichenen Kate. Das erschien ihr beinah wie eine Gotteslästerung. Gab es denn niemanden, der vor diesem Mann sicher war? Und Dane. Sie wusste nicht einmal, ob Danes Familie über seinen Tod informiert war oder ob er, ebenso wie sie, einfach verschwunden war.

Sie presste sich die Finger auf die Augen, um gegen die brennenden Tränen anzukämpfen. Ein Teil von ihr wollte sich in ein Flugzeug setzen und Stavros gegenübertreten. Einen Raum betreten und gegen ihn kämpfen - übernatürliche Kräfte an übernatürlichen Kräften messen -, aber sie war dafür nicht annähernd gesund genug. Er würde sie finden ... er hatte sie bereits gefunden und griff systematisch jeden an, den sie liebte. Wer würde der Nächste sein? Für wessen Tod würde sie das nächste Mal die Verantwortung tragen? Hannah hätte so leicht sterben und ihr ungeborenes Kind mit sich nehmen können, und Abigail hatte jetzt noch blaue Flecken und Wunden, die noch nicht verheilt waren. Warum? Weil alle ihre Schwestern ihre Energien einsetzten, um sie zu heilen. Dabei achteten sie zu wenig auf sich selbst.

Durch ihre Anwesenheit zerstörte sie ihre Familie. Sie schloss die Augen, schlang die Arme um sich und versuchte sich auszumalen, wie es sein würde, sich Stavros wieder auszuliefern. Ein Schauer durchzuckte ihren Körper. Jede Berührung, jeder sexuelle Akt, den er ihr aufgezwungen hatte, war in ihren Augen so schäbig, ein solcher Verstoß gegen alles, was sie war und wofür sie stand. Und jetzt, nachdem sie mit Jackson zusammengewesen war und die Liebe kannte, Berührungen aus Liebe, konnte sie sich dem nicht noch einmal aussetzen. Sie würde es niemals durchstehen. Ein einziger Laut entrang sich ihr, ein Laut tiefster Verzweiflung.

»Komm her, Kleines.« Jackson kauerte sich neben sie, mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen.

Fast sofort verstummten alle und Elles Schwestern rückten von ihr ab, um ihm Platz zu machen. In dem Moment war nicht zu übersehen, dass Elle, ihre starke, leidenschaftliche Schwester, die sie alle als Beschützerin und Kämpferin kannten, zerbrechlich war und dringend jemanden brauchte, auf den sie sich stützen konnte.

Elle wiegte sich und nahm die anderen kaum noch wahr. Jackson berührte sie nicht, sondern hielt ein paar Zentimeter Abstand und wärmte sie dennoch mit seinem Körper.

Elle. Sieh mich an. Du ziehst dich zurück, und wohin du auch gehst, ich werde dir folgen, das weißt du doch. Sieh mich an, Liebes. Wir sind hier, zu Hause, und du bist von allen umgeben, die du liebst.

Ihre Lider flatterten. Er konnte sie fühlen, klein und leicht und in der Fötushaltung zusammengerollt, in einem der hintersten Winkel ihres Geistes verborgen.

So ist es brav, Kleines. Ich bin bei dir, direkt neben dir. Sieh mich an. Kannst du mich sehen?

Der Klang seiner Stimme war sanft, betörend und kräftig und er durchdrang die Mauer, die sie errichtet hatte, um sich gegen eine Bedrohung zu schützen, der sie nicht gewachsen war. Elle zwang sich, in ihren Körper zurückzukehren, damit sie die Augen öffnen und ihm ins Gesicht sehen konnte. Ein Gesicht mit ausgeprägten Zügen. Ein ach so geliebtes Gesicht. Jede Falte liebte sie und jede Narbe. Sie kannte sein Gesicht, als sei es ihr eigenes. Sie konnte die markanten Linien nachfahren, das kräftige Kinn, die sinnlichen Lippen und die gerade Nase mit dem kleinen Haken.

Jacksons Augen waren so dunkel und so unwiderstehlich, dass sie den Blick nicht mehr abwenden konnte. Dort fühlte sie sich sicher, von diesen Augen festgehalten, nicht gefangen, sondern beschützt. Tränen verschleierten ihre Sicht und sie blinzelte mehrfach schnell hintereinander, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

Jackson, der sich ihres Publikums nur zu deutlich bewusst war, zog sie an seine Brust und seine Arme schlangen sich so um sie, dass keiner ihr Gesicht sehen konnte. Er wusste, dass Elles Familie sie liebte, aber ihr würde es trotzdem sehr peinlich sein, in einem schwachen Moment gesehen zu werden. Stolz war für Elle von größter Wichtigkeit, und im Gegensatz zu ihm, der die ersten Stadien des Traumas bereits durchlebt hatte und wusste, was zu erwarten stand, hatte sie noch keine Ahnung, dass die schwierigen Momente dann kommen würden, wenn man am wenigsten damit rechnete.

Elle schmiegte sich eng an ihn und presste ihr Gesicht fest an seine Schulter. Er stand auf, nahm sie mit und setzte sich mit ihr auf seinem Schoß in einen Sessel. Seine Arme schirmten ihr Gesicht weiterhin vor den Blicken aller Anwesenden ab.

»Katie«, fragte er leise, »ist alles in Ordnung mit dir?«

Sie nickte. »Er ist nicht in meinen Kopf gelangt. Ich habe mich zurückgezogen, sowie ich ihn gefühlt habe.«

»Danke, dass du Elle behandelt hast. Ich kann jetzt schon einen Unterschied in ihrem Gehirn wahrnehmen, schon nach dieser einen Heilung. Konntest du dir, während du dich mit ihr beschäftigt hast, eine Vorstellung vom Ausmaß der Schäden machen?« Jackson wollte wirklich eine Antwort auf seine Frage, aber im Moment ging es ihm noch mehr darum, die Aufmerksamkeit von Elle abzulenken, bis sie sich wieder so weit erholt hatte, dass sie den anderen ins Gesicht sehen konnte.

Sowie er diese Frage gestellt hatte, beugte Libby sich eifrig vor, weil sie die Antwort ebenfalls hören wollte. Kate nippte nachdenklich an ihrem Tee, ließ sich Zeit und schätzte die Situation ein, bevor sie etwas sagte. Wie immer verströmte sie ein Gefühl von Ruhe und Frieden im Raum. Sie blickte heiter auf und lächelte Matt an, als er sich neben sie setzte und ihre Hand in seine nahm. Sie sah blass aus, aber sie wirkte wie sonst auch - Kate, die sogar in ihrer weißen Bluse und der ausgewaschenen Jeans elegant wirkte. Sie trug kein Make-up, und niemand hätte je erraten, dass sie spannende Krimis schrieb, die auf den Bestsellerlisten standen und weltweit verkauft wurden.

»Ich werde nicht versuchen, die entstandenen Schäden herunterzuspielen, vor allem weil ich weiß, dass wir Elle im Vollbesitz ihrer Kräfte brauchen werden. Die Wunden im Gehirn sind tief. Sie braucht Ruhe und sie braucht Entspannung und sie darf keinerlei Gebrauch von ihren Gaben machen. Ich habe die erste Schicht geheilt, aber es sind etliche. Ich werde mich morgen wieder mit ihr beschäftigen.« Ehe Matt Einspruch erheben konnte, schlossen sich ihre Finger enger um seine, und als sie ihn ansah, flehten ihre Augen um Verständnis. »Beim nächsten Mal werde ich vorsichtiger sein.«

»Ich dachte, beim nächsten Mal könnten wir eine kleine Botschaft senden«, sagte Jackson. »Ich weiß allerdings selbst nicht, ob das möglich ist. Offenbar versucht er, Elle zu schikanieren. Abbey, du kannst doch mit Tieren arbeiten, nicht wahr?«

Sie runzelte verwundert die Stirn, aber sie nickte. »Im Allgemeinen ohne Mühe.«

Er deutete auf den Hund. »Was ist mit Bomber?«

Abigail hielt dem Deutschen Schäferhund ihre Hand hin, damit er zu ihr kam und ihre offene Handfläche beschnupperte. Der Hund blickte voller Bewunderung zu ihr auf und wedelte mit dem Schwanz. Sie sah ihm fest in die Augen, und Bomber legte sich ihr sofort zu Füßen, blickte aber immer noch eifrig zu ihr auf.

»Er ist sehr sensibel. Er besitzt tatsächlich besondere psychische Energien.«

»Er reagiert auf Gratsos' psychische Gegenwart«, erklärte Jackson. »Er spitzt die Ohren, sein Fell sträubt sich, er nimmt eine Körperhaltung ein, die auf seinen genauen Standort hinweist, und er stimmt das Gebell an, mit dem er auf Eindringlinge aufmerksam macht. Er weiß es schon vor uns, wenn Gratsos seine Energien in unsere Richtung schickt.«

»Du glaubst, wir können Bombers Energien dazu verwenden, Gratsos anzugreifen, wenn er sich an Elle heranmacht«, sagte Abigail versonnen und mit nachdenklicher Miene. Sie warf einen Blick auf Sarah.

Jackson fiel auf, dass sämtliche Frauen Sarah ansahen. Sogar Elle rührte sich, setzte sich ein klein wenig aufrechter hin und drehte ihren Kopf in Sarahs Richtung, als erwartete sie den endgültigen Urteilsspruch.

Tyson beugte sich vor. Sein Blick war auf Damon gerichtet. »Es geht doch hier um Energieströme, richtig? Klappen würde es schon. Es wäre schon irgendwie komisch, wenn der Mistkerl Verbindung mit Elles Bewusstsein aufnimmt und ihm ein wütend kläffender Schutzhund mit gefletschten Zähnen ins Gesicht springt.« Sein Grinsen ging in Zweifel über. »Aber ist es das wert? Oder wird er es einfach nur mit einem Achselzucken abtun und fragen, ob das alles ist, was wir zu bieten haben?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Gratsos war in der Lage, Elle das Gefühl zu geben, er drückte ihr die Kehle zu. Sie fühlt, wie sich seine Finger um ihren Hals schließen.«

»Ilja kann solche Dinge ebenfalls tun«, gestand Joley. Sie drehte sich um und blickte lächelnd zu ihrem Verlobten auf. »Nur sind sie bei ihm natürlich viel netter.«

»Heißt das, der Hund kann ihn angreifen?«, fragte Jackson.

»Ich glaube, das ließe sich machen«, sagte Sarah. »Abbey könnte Bomber über Elle mit Gratsos in Verbindung bringen und den Befehl zum Angriff geben. Ich weiß nicht, wie viel Schaden er anrichten würde oder wie lange wir den Angriff aufrechterhalten könnten. Oder ob es die Mühe wirklich wert ist, aber ich wette, das ließe sich machen.«

»Und wenn er sich fragt, ob das alles ist, was wir haben, umso besser«, sagte Damon. »Lasst ihn in dem Glauben, wir hätten nicht viel aufzubieten.«

Sarah warf einen scharfen Blick auf ihn, doch Tyson stand auf und sah auf seine Armbanduhr. »Ich habe heute eine Nachtschicht in der Feuerwache runterzureißen. Einer der Männer ist krank geworden und sie wollen zwei von uns dahaben. In der letzten Zeit sind einige Taucher ums Leben gekommen. Das Meer war unberechenbar und es kommen immer wieder Leute aus dem Süden Kaliforniens, die glauben, sie wüssten besser Bescheid als die Ortsansässigen.« Er beugte sich hinunter, um Libby auf den Mund zu küssen. »Unternehmt nichts ohne mich.«

»Wir fahren morgen früh los, um unsere Heiratserlaubnis einzuholen«, sagte Jackson. »Am Abend werden wir versuchen, eine weitere Heilsitzung vorzunehmen. Falls wir Bomber auf Gratsos loslassen, ist das der früheste Zeitpunkt, zu dem wir es ausprobieren werden. Bis dahin bist du längst zurück.«

Libby warf ihm Kusshände zu und streckte ihre Hände dann nach Elle aus. »Bevor wir gehen, werden wir noch eine kurze Heilsitzung an deinem Körper vornehmen. Wir alle werden uns daran beteiligen und wir werden nicht viel Energie darauf verwenden. Du hast also keinen Grund zur Panik. Und ich habe jede Menge Zeug, das Kate helfen wird.« Sie warf einen Blick auf ihre Schwester, die gar nicht erst versucht hatte, sich aus Matts Armen zu lösen.

Als Elle immer noch zögerte, beugte Sarah sich vor. »Hör mir zu, Elle«, sagte sie im Tonfall der großen Schwester, die einen Vortrag hält. »Wenn wir zusammen sind, sind wir sehr stark, stark genug, um ihn aufzuhalten. Du musst Vertrauen in uns setzen. Du bist so sehr damit beschäftigt, uns zu beschützen, dass du vergessen hast, wie es ist, ein Teil unseres Kreises zu sein. Er greift an und er kommt immer näher. Wir sind jetzt alle in Gefahr, ob es dir passt oder nicht. Wir brauchen dich in Höchstform. Daher ist es an der Zeit, dich zu heilen. Verstehst du mich, Elle? Es ist höchste Zeit.«

Elle sah ihre Schwester lange an und nickte dann. Sie würde alles willkommen heißen, was sie für sie taten, vorausgesetzt, sie hielten ihren Abstand zu ihr ein. Sie konnte erkennen, dass Libby sie von innen nach außen heilte. Die Peitschenstriemen waren zwar noch immer deutlich zu sehen, aber sie schmerzten nicht mehr und fühlten sich auch nicht mehr wund an. Bei dieser Sitzung würden die Wunden verblassen. Sie freute sich darauf, sich selbst im Spiegel zu sehen, ohne bei dem Anblick zusammenzuzucken.

Elles Schwestern reihten sich hinter Elle auf, diesmal ohne Kate, und hoben ihre Hände in die Luft; der zarte, melodische Sprechgesang wurde angestimmt, während liebevolle Energien sie umgaben.