10.

 

Elle fand ihre Schwestern in dem geräumigen Wohnzimmer, wo sie es sich gemütlich gemacht hatten. Sie lächelten sie matt an. Libby war noch blass und schwach, doch die anderen waren bereits sichtlich gestärkt. Ilja wirkte recht gehetzt und tat ihr fast ein bisschen leid. Ihre Familie konnte zeitweilig äußerst strapaziös sein. Bomber stand mit gespitzten Ohren regungslos an der Fensterfront und starrte aufs Meer hinaus. Sein Blick war auf den ungewöhnlichen Nebel gerichtet, der das Haus umgab. Sarah forderte Elle auf, sich zu ihnen zu setzen. »Du hast uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt, Schätzchen. Beinah hättest du deine Gabe vollständig zerstört, aber ich danke dir dafür, dass du Hannah und Jackson gerettet hast.«

»Ihr habt alle mitgeholfen«, hob Elle hervor. »Ich bin nicht sicher, ob ich es ohne euch geschafft hätte, Jonas eine genaue Ortsangabe zu übermitteln. Und ich danke euch. Ich weiß es zu schätzen, dass ihr rübergekommen seid und euch derart angestrengt habt, um mich zu heilen.«

»Es war doch klar, dass wir kommen würden«, sagte Sarah. »Trotz allem siehst du heute Morgen besser aus. Wie ich sehe, sorgt Jackson gut für dich.«

Eine zarte Röte kroch über Elles Hals in ihr Gesicht hinauf. Sie wusste selbst nicht, warum. Jackson hatte sich durch und durch wie ein Gentleman benommen. Sie merkte, dass sich ihre Fingerspitzen auf ihre prickelnden Lippen gelegt hatten; unter den wachsamen Blicken ihrer älteren Schwestern zog sie ihre Finger hastig zurück. Sie schmeckte Jackson in ihrem Mund, und in dem Moment ging ihr schlagartig auf, dass es ihm wie durch ein Wunder gelungen war, die Berührungen und den Geschmack von Stavros durch etwas Gutes zu ersetzen, durch etwas Aufregendes. Er verlangte keine Gegenleistung. Er bat noch nicht einmal um etwas.

Jackson.

Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Kopf, und in dem Moment streckte er seinen Kopf zur Tür herein, eine Mischung aus Sorge und Wut in den schwarzen Augen. »Schluss mit dem Blödsinn, Elle«, fauchte er in einem drohenden Tonfall.

Ihre Schwestern wandten sich ihm abrupt zu und starrten ihn an. Die Spannung im Raum nahm zu. Sie hatten keine Ahnung. Elle brach in schallendes Gelächter aus. Er war wirklich der große, böse Jackson, doch unter all diesen Muskeln aus Stahl und den kalten schwarzen Augen verbarg sich jemand vollkommen anderes, wovon keiner, noch nicht einmal ihre Schwestern, etwas ahnte. Er versteckte den sanftmütigen Riesen sehr gut unter diesem Teufel in Bluejeans.

»Ich habe es nicht mit Absicht getan.«

Er sah sie noch einmal finster an und verschwand wieder.

»Jackson ist also immer noch der Alte. Wie ich sehe, haben sich seine Umgangsformen nicht allzu sehr verbessert«, sagte Sarah. Sie wedelte mit der Hand in Richtung Teekanne, die daraufhin durch den Raum geschwebt kam und den Becher, den sie in der Hand hielt, nachfüllte. »Der Mann sollte langsam mal ins einundzwanzigste Jahrhundert eintreten. Ich dachte, er hätte sich vielleicht gebessert, weil du jetzt so zerbrechlich bist.«

»Jackson geht sehr behutsam mit mir um.«

»Ja, das klang ganz danach.« Sarah verdrehte die Augen. Elle sah sich im Zimmer um und stellte fest, dass sich offenbar alle ihre Schwestern Sarahs Meinung über Jackson an schlossen. Sie hätte ihn verteidigen können, aber es erschien ihr wichtiger, sein Geheimnis tief in ihrem Inneren zu wahren. Sie zuckte lediglich die Achseln. »Hat Jonas angerufen und Bescheid gesagt, wie es Hannah geht?«

»Dem Baby fehlt nichts und Hannah geht es schon wieder viel besser. Jonas hat gesagt, im Krankenwagen sei ihr schnell wieder warm geworden. Beide sind dir und Jackson sehr dankbar«, fuhr Sarah fort. Sie wedelte die Teekanne in Elles Richtung.

Elle deutete auf einen Becher, der auf dem Couchtisch stand. Sarah wedelte ein weiteres Mal mit der Hand durch die Luft. Sie hatte schon wieder vergessen, dass Elle ihre Magie nicht einsetzen durfte. »Danke, Sarah.« Es war ihr unangenehm, ihre Gaben nicht nutzen zu dürfen. Sie rieb sich die pochenden Schläfen. Sie hatte so lange Zeit durchgehend Kopfschmerzen gehabt, dass sie fast vergessen hatte, wie man sich ohne Kopfschmerzen fühlte. Jackson vergaß nie, dass ihr Gehirn verletzt war und sie sich jedes Mal, wenn sie ihre Gaben benutzte, in Gefahr brachte.

»Wir sind Jackson alle sehr dankbar. Was er getan hat, war ganz erstaunlich.«

Elle zog eine Augenbraue hoch. »Damit willst du wohl sagen, er ist zwar ein Kretin, aber immerhin ein heldenhafter.«

Sarah nickte. »Sehr heldenhaft.«

Jackson sah sexy aus, als er in einem schwarzen T-Shirt, das über seinen breiten Schultern spannte, ins Wohnzimmer kam. Die Jeans saß ihm wie angegossen, und da sie jetzt wusste, was sich darin verbarg, schaute sie unwillkürlich hin. »Elle hat Hannah und mich gerettet«, stellte er richtig und goss sich ganz normal eine Tasse Tee ein. Mit Levitation und kleinen Kunststücken hatte er wenig im Sinn. Er brauchte einfach nur ein heißes Getränk, um den letzten Rest an Kälte aus seinem Innern zu vertreiben.

Er rührte Honig in den Tee und trank die erste Tasse aus, bevor er sich eine zweite einschenkte und zu Elle ging. Er setzte sich zwischen Elles Beinen auf den Fußboden und drehte sich halb zur Seite, damit er ihren nackten Fuß auf seinen Schoß nehmen konnte. »Sie hätte es nicht tun sollen, das Risiko war zu groß für sie, aber sie hat uns warm gehalten, bis Hilfe gekommen ist. Danke, dass ihr sie gegen Ende unterstützt habt. Das hat uns gerettet.« Er trank einen Schluck von dem Tee und zog Elles Fuß an seinen Bauch.

Es erschien ihr wie eine intime Geste, dass er ihren nackten Fuß hielt. Elle konnte sehen, dass Ilja ein Feuer angezündet hatte, damit sich das Zimmer schneller erwärmte. Das Knistern und Knacken in Verbindung mit den flackernden Flammen ließ Jacksons gemütliches Wohnzimmer noch anheimelnder wirken. Elle blickte zu den Wänden auf und hätte im ersten Moment schwören können, dass sie in Bewegung waren, als seien sie so lebendig wie die Mauern des Drake-Hauses, die sich manchmal ausdehnten und zusammenzogen, wenn Ahninnen sich darin niederließen, um ihnen beizustehen und das Haus zu einer Festung zu machen.

Nimm dich zusammen, Kleines.

Das musste ihr als Warnung genügen. Ihre Schwestern musterten sie und versuchten in ihr Inneres zu schauen, versuchten hinter den blauen Flecken auf ihrem Gesicht und den wenigen offenen Wunden, die sie sehen konnten, das zu erkennen, was sie nicht sehen konnten. Er würde eine ihrer schlimmsten Vermutungen offenlegen.

»Elle fürchtet, sie könnte schwanger sein.«

Sarah stellte ihre Teetasse hin und sah ihre jüngste Schwester stirnrunzelnd an. Ilja schüttelte den Kopf und griff nach Joleys Hand. Libby verlor, falls das überhaupt möglich war, noch mehr Farbe. Abigail und Kate tauschten einen langen Blick miteinander aus.

Elle versuchte Jackson ihren Fuß zu entziehen. Sie senkte den Kopf und ließ ihre dichte Mähne vor ihr Gesicht fallen, um sich dahinter zu verstecken.

Wir müssen wissen, was wir tun müssen, um gut für dich zu sorgen.

Jackson war in keinster Weise schuldbewusst.

»Meines Wissens kann das siebente Kind das Vermächtnis nur mit dem richtigen Partner weitergeben«, sagte Ilja. »Und mit diesem Partner ist jede Form von Verhütung wirkungslos. Mit jedem anderen dagegen ist eine Schwangerschaft sehr schwer zu erreichen.«

Elle schnappte nach Luft. Sie setzte sich aufrechter hin und blickte zu Sarah auf. »Kann das wahr sein?«

Sarah nickte. »So steht es in den Tagebüchern.«

»Mom ist eine Schlange«, zischte Elle. »Eine ganz gemeine Schlange.«

»Wahrscheinlich wusste sie es nicht. In jenen Zeiten«, erklärte Sarah, »haben Frauen selten vor der Heirat mit einem Mann geschlafen. Wahrscheinlich kam das Thema nie zur Sprache.«

Jackson zog an ihrem Fuß. »Lass uns die Plätze tauschen, damit ich mich an dein Haar machen kann.«

Es könnte dir leichter fallen, wenn deine Schwestern hier sind.

»Ich könnte dich untersuchen«, erbot sich Libby. »Du solltest ohnehin behandelt werden, Elle.«

»Erst wenn ich wieder stärker bin. In meinem Kopf herrscht ein solches Durcheinander, dass ich fürchte, ich kann dich nicht schützen. Und ich bin nicht bereit, dich zu gefährden.«

»Die Gefahr nehme ich gern auf mich.«

Elle schüttelte den Kopf. »Mit dem, was ihr getan habt, habt ihr mir schon genug geholfen.«

Jackson machte sich an den langwierigen Prozess, ihre langen Haare in einzelne Strähnen zu unterteilen. Seine Hände waren erstaunlich sanft, als er begann, langsam die Knoten aus den Enden der dicken Strähnen zu ziehen und sich geduldig zu ihrer Kopfhaut hochzuarbeiten.

»Dann glaubt ihr also nicht, dass Elle schwanger ist?« Er achtete darauf, dass seine Stimme nüchtern und sachlich klang.

»Ich wäre schockiert, wenn es so wäre«, antwortete Sarah.

»Fühlst du dich schwanger, Elle?«

Elle zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, wie man sich dann fühlt.«

»Elend«, sagte Joley und sah Ilja finster an. »Dir ist andauernd schlecht.«

»Nicht allen wird übel«, hob Libby hervor. »Ich besorge dir einen Schwangerschaftstest.«

»Danke, Libby«, sagte Elle. Das Ziepen auf ihrer Kopfhaut gab ihr das Gefühl, geliebt und umsorgt zu werden; es erinnerte sie keinesfalls an Stavros, der ihren Kopf gepackt und sie gezwungen hatte, ihm zu Willen zu sein. Im Gegenteil, es wirkte ausgesprochen beschwichtigend auf sie, wie zielstrebig Jackson ihr verfilztes Haar kämmte und es immer zwischen ihrer Kopfhaut und der Stelle festhielt, an der er die Knoten löste.

»Bomber, was gibt es da zu sehen?«, fragte Jackson.

Der Hund drehte seinen Kopf um, bellte kurz und sah dann gleich wieder aus dem Fenster in den Nebel, der sich auflöste. Jackson trank einen Schluck von seinem Tee, während er den Hund beobachtete. Das Tier schien immer noch in Alarmbereitschaft zu sein, mit starrer Körperhaltung, konzentriertem Blick und gespitzten Ohren.

»Wir alle wissen, dass sowohl Gratsos als auch sein Bruder übersinnliche Gaben besitzen.« Jackson sah Ilja und Sarah über seinen dampfenden Becher hinweg an und hielt mit den Fingern seiner anderen Hand Elles Haar fest, als wollte er ihr damit Halt geben, während er dieses Thema anschnitt. »Ist es möglich, dass er aus weiter Ferne Kontakt aufnehmen und Elle würgen könnte, ohne zu wissen, wo sie ist?« Er wollte nicht für möglich halten, dass Gratsos mit ihr in Verbindung treten konnte, aber er wusste bereits, dass es möglich war, weil er selbst über große Entfernungen den Kontakt zu ihr hergestellt hatte. »Und der Nebel, könnte er ihn wie ein Netz auswerfen?

Um zu sehen, was er darin fängt, eine übersinnliche Falle gewissermaßen.«

Ilja rückte näher und tauschte einen langen Blick mit Sarah aus. »Eine interessante Idee. Du meinst, er sendet seine Energien aus, um nach ihr zu suchen. Ich vermute, das ließe sich machen. Ich habe noch nie davon gehört. Ich selbst könnte es nicht tun. Was ist mit dir, Sarah? Du hast all die Geschichtsbücher gelesen.«

Sarah kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Ich habe nichts darüber gelesen, und ich könnte es auch nicht tun, aber das heißt nicht, dass es nicht möglich ist. Hannah kann den Wind aussenden. Warum sollte er nicht den Nebel aussenden können? Oder etwas anderes?«

Elle holte scharf Luft. »Zum Beispiel eine verborgene Strömung? Eine Brandungsrückströmung?« Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Genau das hatte Stavros getan. Plötzlich war sie sich ihrer Sache ganz sicher. Weltmeere von ihr entfernt hatte er dennoch den Nebel und die energetische Falle gesandt, die in einer Strömung verborgen war. »Hannah kann vieles in dieser Art tun. Sie kann einen Tornado entstehen lassen und ihn steuern. Sie kann alles, was mit dem Wetter zu tun hat, beeinflussen. Vielleicht ist es bei Stavros das Meer. Er besitzt eine der größten Reedereien. Ihm gehört eine Insel. Ich habe mich ausführlich mit ihm beschäftigt, bevor ich als Agentin tätig geworden bin. Er reist nur in Städte, die nah am Wasser liegen. Alle Häuser und Villen, die ihm gehören, haben Meerblick. Es ist nur ein Detail, aber Dane und ich haben tatsächlich darüber diskutiert.«

Ilja holte scharf Luft und sah Jackson an. »Deshalb hat uns das Meer während der Rettungsaktion Schwierigkeiten gemacht. Wir dachten, Hannah hätte die Kontrolle über den Sturm verloren, aber vielleicht hat sie gegen Stavros gekämpft, ohne es zu wissen. Er kann seine Energien anscheinend gut verbergen.«

Jacksons Hände zogen wieder an ihrem Haar, ein sanfter, gleichmäßiger Rhythmus, der ihr pochendes Herz beruhigte, als Elle aus dem Fenster sah. Bomber wich zurück, wandte sich ab und gesellte sich zu Jackson; er legte sich hin und legte seinen Kopf auf Elles Schoß. »Der Nebel hat sich aufgelöst«, sagte sie und presste ihre Hand in das Fell des Schäferhundes.

Es ist interessant, dass Bomber jetzt, nachdem der Nebel verschwunden ist, sehr entspannt wirkt. Glaubst du ...

»Autsch!«

Jacksons Hände packten ihre Schultern und schüttelten sie kurz, aber kräftig. »Mach nur so weiter, Elle Drake. Ehe du dich versiehst, lege ich dich übers Knie. Warum zum Teufel musst du so verflucht starrsinnig sein?«

Einen Moment lang herrschte schockiertes Schweigen. Dann räusperte sich Sarah. »Drohst du meiner Schwester tatsächlich an, sie zu schlagen? In meiner Familie halten wir nichts von körperlichen Züchtigungen. Meine Eltern haben uns nie geschlagen.«

»Wenn euer Vater es getan hätte, wäre Elle vielleicht kein solcher Satansbraten«, sagte Jackson.

Elle neigte ihren Kopf zurück. »Hör auf zu fluchen. Und damit du Bescheid weißt, Sarah, Jackson würde sich eher den Arm abhacken als mich tatsächlich zu schlagen. Ihm gefällt es bloß, dass ihn alle für einen knallharten Typen halten.«

»Ich bin knallhart, verdammt nochmal«, sagte Jackson. Er hob den Kamm auf und machte sich behutsam an die nächste dicke Haarsträhne. »Du scheinst die Einzige zu sein, der das nicht bewusst ist.«

Elle lachte. Es war kein ausgelassenes Gelächter, aber die Vorstellung, dass der große, böse Jackson ihr die Knoten aus dem Haar kämmte, ließ Belustigung in ihr aufsprudeln.

»Sie ist schon immer ein kleiner Satansbraten gewesen. Was hat sie denn diesmal angestellt?« Sarahs Stimme klang erstickt; Elles Lachen hatte Tränen in ihre Augen aufsteigen lassen.

»Sie hat schon wieder Telepathie benutzt. Ihr Gehirn muss sich ausruhen, um zu heilen.«

Elle schnitt Sarah eine Grimasse und verdrehte die Augen. Jackson beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins Ohr:

»Ich habe es gesehen.«

»Nein, hast du nicht.«

»Okay, ich habe es gefühlt. Ich habe es in deinem Innern gesehen.«

Kate rührte sich auf ihrem Sessel, nahm ihren Teebecher in die Hand und blies hinein; über den aufsteigenden Dampf sah sie ihre Schwester an. »In dem Punkt hat Jackson Recht, Elle. Du musst alles sein lassen, was auch nur im Entferntesten mit psychischen Energien zu tun hat, bis dein Gehirn geheilt ist.« Kates Stimme war sanft und freundlich, ihre Augen mitfühlend. Die Anspannung im Zimmer löste sich sofort auf, als sei sie nie dagewesen.

Jackson lächelte sie an. »Unsere Kate. Die Friedensstifterin. Du kannst seelische Verausgabung heilen, stimmt's?«

Ein kollektives Keuchen ertönte. Sämtliche Blicke richteten sich auf Kate. Ilja beugte sich auf seinem Stuhl zu ihr hinüber, und Elle wich zurück, um Abstand zu den anderen zu gewinnen. Fast wäre sie auf Jacksons Schoß geklettert.

»Nur dieses eine Mal bei dir, Jackson«, gestand Kate. »Es ist ja schließlich nicht so, als hätte man damit ständig zu tun, verstehst du?« Sie lächelte ihn matt an und errötete schwach. Kate hatte es noch nie gemocht, wenn sich die Aufmerksamkeit ihr zuwandte, und im Moment konnte sie sich vor forschenden Blicken kaum retten. »Libby heilt Krankheiten und hat eine Menge Menschen, an denen sie üben kann. Ich habe an dem Tag einfach nur improvisiert.«

»Du hast mir geholfen, obwohl du es gar nicht versucht hast«, hob Jackson hervor.

»Nein«, sagte Elle mit fester Stimme. »Das kommt überhaupt nicht infrage.«

Jackson zog sie auf seinen Schoß und schlang seine Arme um sie, damit sie sich an ihn schmiegen konnte. Sein Kinn schmiegte sich an ihren Kopf, aber sein Blick war weiterhin auf Kate gerichtet. »Wenn Gratsos psychische Energien auf die Reise schicken kann und im Moment gerade seine Netze auswirft, dann wird er Elle schneller finden, als wir erwartet haben. Sie wird bei Kräften sein müssen, um gegen ihn zu kämpfen. Wir alle werden bei Kräften sein müssen. Hier hat er ein großes Meer, das er gegen uns einsetzen kann.«

»Das sind doch alles nur Spekulationen«, protestierte Elle. »Wir haben keine Ahnung, ob wirklich mehr dahintergesteckt hat als ein Naturphänomen. Solche Phänomene sind weltweit zu beobachten. Hier an dieser Küste gibt es mehrere Orte, an denen es zu solchen Rückströmungen kommt.«

»Aber nicht hier«, sagte Sarah. »Wir haben unser ganzes Leben hier verbracht, Elle, und an diesem speziellen Küstenabschnitt hat es nie auch nur ein einziges Mal eine verborgene Strömung gegeben. Die topographischen Voraussetzungen sind dafür nicht gegeben.«

»Das wissen wir nicht«, leugnete Elle. »Der Meeresboden verändert sich laufend.«

»Du klammerst dich an Strohhalme«, sagte Jackson. »Die Sache ist die: Es besteht eine, wenn auch noch so geringe, Möglichkeit, dass es ein Versuch war, dich zu finden, und diese Möglichkeit dürfen wir nicht außer Acht lassen.«

»Woher sollte er denn wissen, dass sie hier ist?«, fragte Joley. »Er kann es nicht gewusst haben«, sagte Sarah. »Er setzt den Nebel so ein wie Hannah den Wind. Er sendet ihn aus, und wenn er auf psychische Energien trifft, wächst sich der Nebel zu dem aus, was ihr gerade gesehen habt. Er sucht nach der betreffenden Person, und dann schnappt die Falle zu. Dazu brauchte er noch nicht einmal das Meer. Ein See oder ein Fluss könnten ebenso heimtückisch sein.«

Joley zog die Stirn in Falten. »Aber er geht das Risiko ein, Elle zu töten. Was wäre gewesen, wenn Elle anstelle von Hannah so dicht am Wasser zusammengebrochen wäre?«

»Ich bezweifle, dass die Falle dann zugeschnappt wäre«, sagte Ilja. »Er muss Elles psychische Fingerabdrücke haben. Er wird ihre Energien erkennen, wenn er sie fühlt.«

Jackson blickte finster. Ihm passte es nicht, dass Stavros überhaupt irgendetwas mit Elle zu tun hatte, und schon gar nicht, dass er ihre psychischen Fingerabdrücke haben könnte.

»Ist es möglich, dass er ihr die Kehle zudrückt, Ilja?«

»Das frage ich dich«, sagte Ilja. »Was kannst du eigentlich?«

Sämtliche Blicke richteten sich auf Jackson, und wieder einmal breitete sich eine unbehagliche Stille aus. Er konnte Elle in ihrem Innern intim berühren, sie zum Orgasmus bringen, seine Seele ganz in sie verströmen und sie an jeder seiner Empfindungen teilhaben lassen, aber die Kehrseite der Medaille war natürlich, dass er ihr auch Schmerzen bereiten, ihr die Kehle zuschnüren, sie leiden lassen und sie möglicherweise sogar töten konnte.

Er wollte nicht, dass sie es erfuhren. Nicht ihre Schwestern.

Nicht Ilja. Sein Blick wanderte zu Kate. Sie blickte auf ihre Hände hinunter, die Einzige, die ihn nicht ansah. Sie wusste, dass er vor einigen Monaten versucht hatte, seine Gabe zu zerstören. Er fürchtete, wenn seine Damonen ihm zu übel mitspielten und er die Welt um sich herum verabscheute, könnte er jemandem etwas antun.

Tut mir leid, Kleines. Ich wollte nicht, dass du dich vor mir fürchtest.

Ich werde mich niemals vor dir fürchten.

Zum ersten Mal schalt er sie nicht dafür aus, dass sie Telepathie benutzt hatte, selbst dann nicht, als ein kleiner Tropfen Blut aus ihrem Mundwinkel rann. Er wischte ihn mit seinem Daumenballen fort.

Elles Finger verschlangen sich mit seinen. »Wir sprechen über Stavros und darüber, wozu er in der Lage ist; es geht hier nicht um Jackson. Wenn Stavros mir aus der Ferne die Kehle zudrücken kann, mich aber gar nicht töten will, weshalb sollte er es dann immer wieder tun?«

»Um dich zu beherrschen«, sagten Jackson und Ilja gleichzeitig.

Ilja wedelte mit einer Hand in Richtung Küche, und der Kessel schwebte zum Spülbecken, um sich wieder mit Wasser zu füllen. »Wenn er dir genügend Angst einjagen kann, wird er dich damit von deinen Freunden und von deiner Familie fernhalten. Und insbesondere von jedem Mann, den es in deinem Leben geben könnte. Gratsos wollte dich von Anfang an beherrschen. Er muss deine übersinnlichen Fähigkeiten wahrgenommen und geplant haben, dich für seine eigenen Zwecke zu behalten. Er hatte bereits Vorkehrungen getroffen und um die Insel herum einen psychischen Schutzschild errichtet, damit du deine Gabe nicht einsetzen kannst.«

»Aber er konnte seine Gabe ebenso wenig einsetzen«, hob Elle hervor. »Und sein Bruder auch nicht.«

»Wie alt ist diese Villa?«, fragte Sarah. »Hat er sie selbst gekauft?«

»Sie war schon früher im Besitz seiner Familie und sein Vater hat sie verkauft, um Schulden abzuzahlen. Stavros hat sie zurückgekauft, als er selbst zu Reichtum gekommen ist«, antwortete Elle.

»Wo ist seine Mutter?«, fragte Sarah weiter.

»Angeblich ist sie gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder bei einem Unfall ums Leben gekommen, als Stavros noch im Säuglingsalter war, aber es hat sich herausgestellt, dass sie ihren Mann verlassen, ihren Tod vorgetäuscht und den Zwillingsbruder mitgenommen hat«, sagte Elle. »Sie ist erst vor ein paar Jahren in einem See ertrunken. Als Evan, das ist der Zwillingsbruder, an meinem ersten Tag dort in meinem Zimmer war, haben die beiden ziemlich viel über ihre Vergangenheit geredet. Beide schienen verbittert zu sein.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen, während sie alle dasselbe dachten. Konnte es sein, dass Stavros etwas mit dem Tod seiner Mutter zu tun gehabt hatte?

Der Kessel pfiff, und Ilja goss mit einem weiteren Wedeln das Wasser über den heilenden Tee in der Kanne, der ihnen allen ihre Energien zurückgeben sollte. Jackson lehnte sich auf seinem Sessel zurück und sah zu, wie sich der Teewärmer über die Kanne stülpte, ohne von einer einzigen Hand berührt worden zu sein. Tassen und Becher reihten sich auf der Anrichte in der Küche neben der Teekanne auf. Er sah sich in seinem geräumigen Wohnzimmer um, auf dessen Sitzgelegenheiten sich die Drake-Schwestern räkelten. Ilja saß neben Joley, die sich lässig und behaglich ausgestreckt hatte. Was war passiert? Es wirkte wie eine Szene aus dem Drake-Haus, nicht wie seine eigene häusliche Umgebung.

Er atmete langsam aus und zog Elle enger an sich, während er ihre Schwestern betrachtete – seine Familie. Familie. Er drehte und wendete das Wort und kostete es probeweise. Er hatte nicht gewusst, was eine Familie sein konnte, bis er den Drakes begegnet war. Sie alle hatten ihre eigenen Meinungen, sie alle mischten sich in die Angelegenheiten aller anderen ein, und sie alle hätten einander um jeden Preis beschützt.

Elle neigte ihren Kopf zurück, um zu ihm aufzublicken, denn sie war sich seiner Gefühle bewusst und teilte jedes einzelne mit ihm – eine Familie war etwas Fantastisches, das reinste Wunder. Sie tauschten ein kleines Lächeln miteinander aus und fühlten sich als ein vollständiges Ganzes.

Sarah seufzte. »Elle, kannst du mal auf dieser Website nachschauen, auf der du dich so gern rumtreibst? Die, auf der sämtliche sonderbaren Vorfälle weltweit festgehalten werden? Ich wüsste gern, ob dieser Nebel an mehr als einem Ort zu sehen war, und wenn ja, ob gleichzeitig auch weitere heimtückische Strömungen an diesen Orten beobachtet wurden.«

»Was ist das für eine Website?«, fragte Ilja.

»Ich bin vor ein paar Jahren bei meinen Nachforschungen zufällig darauf gestoßen. Du findest sie unter HiddenCurrents.com. Eine Journalistin hat dort die verschiedensten Informationen von diversen Internetseiten und aus Onlinemagazinen und Zeitungen zusammengetragen. Sie schreibt auch eigene Artikel. Ihre Website befasst sich mit allem Möglichen, vom Wetter über Erdbeben und Fernwahrnehmung bis hin zu Experimenten und anderen Anomalien – wenn sich irgendwo auf der Welt etwas Sonderbares tut, dann kannst du es dort finden. Sie hat die Website Hidden Currents genannt, Verborgene Strömungen, weil sie der Meinung ist, dass es oft Verbindungen einzelner Geschehnisse untereinander gibt, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind, weil wir gar nicht auf die Idee kommen, danach zu suchen. Und genau das versucht sie zu tun – die Verbindungen herzustellen.«

»Macht sie das im Auftrag der Regierung?«, fragte Ilja.

Elle schüttelte den Kopf. »Sie ist nichts weiter als eine wissbegierige Reporterin, eine scharfsinnige Frau, der immer öfter ungewöhnliche Wetterverhältnisse aufgefallen sind. Anfangs war sie auf der Suche nach Anzeichen für die Erderwärmung, aber dann hat sie angefangen, Spekulationen zu übersinnlichen Ereignissen anzustellen. Das hat mich zunehmend fasziniert, und daher habe ich begonnen, mich selbst mit den verschiedenen Vorfällen zu befassen. Wie wir alle dachte auch ich früher, wir seien die Einzigen unserer Art auf Erden, aber Ilja und Jackson sind der Beweis dafür, dass wir es nicht sind. Und jetzt auch noch Stavros. Es gibt außer den Drakes noch andere Familien, die übersinnliche Fähigkeiten besitzen.«

Jackson zog sich, ohne sich etwas dabei zu denken, innerlich von Elle zurück. Er wollte nicht, dass sie seine Reaktion fühlte, aber jedes Mal, wenn sie Gratsos' Vornamen benutzte und damit in seinen Augen eine gewisse Vertraulichkeit herstellte, verkrampften sich seine Eingeweide und er wollte auf jemanden einschlagen. Er schämte sich dafür, eine so primitive Reaktion nicht unterdrücken zu können, und daher verbarg er sie vor ihr. Seine Arme hielten sie weiterhin sanft an ihn gepresst, obwohl er tief in seinem Innern, wo es niemand sehen konnte, gegen seinen eigenen Tatendrang wütete.

»Es ist einleuchtend, dass es noch mehr von unserer Sorte gibt«, stimmte Sarah ihr zu. Sie sah Ilja an. »Du warst überall auf der ganzen Welt. Sind dir andere begegnet?«

»Nein, aber ich glaube nicht, dass echte übersinnliche Gaben allzu verbreitet sind«, sagte Ilja versonnen. »Es gibt Menschen, die haben plötzliche Eingebungen, eine gute Intuition, und manche handeln danach und sind vielleicht etwas einfühlsamer, aber das ist nicht dasselbe wie echte übersinnliche Gaben. Die Fähigkeiten der Drakes dagegen sind schon etwas ganz Besonderes.« Er sah Jackson an. »Hat deine Mutter oder dein Vater übersinnliche Gaben besessen?«

Jacksons Hände spannten sich unwillkürlich an. Elle unternahm gar nicht erst den Versuch, in sein Inneres zu schlüpfen, nicht ausgerechnet dann, wenn ihm das Gespräch ohnehin schon so unangenehm war und er eindeutig nicht über seine Familie reden wollte. Doch dabei stellte sie wieder einmal fest, dass ihr ohne seine inneren Berührungen unbehaglich zumute war. Sie war jetzt schon abhängig davon, dass er ihr innerlich ständig gut zuredete. Ohne ihn fühlte sie sich vollständig allein in dem Zimmer, in dem sich ihre Familie drängte.

Elle presste ihre Hand fest auf seine, bis sich Jacksons Finger um ihre schlangen. Sie hätte ihn gern innerlich in Wärme gehüllt, wie er es bei ihr tat, aber sie zwang sich, nicht in sein Inneres vorzudringen und sich von seinen Kindheitserinnerungen fernzuhalten.

Jackson zog seine breiten Schultern hoch und rieb sein Kinn an Elles Haar. Elle erkannte darin sowohl ein Zeichen von Nervosität als auch das schlichte Bedürfnis, sie zu berühren. Sie sah, dass Kate einen Blick auf Jackson warf und sich dann schnell wieder abwandte, als teilten die beiden ein Geheimnis miteinander, von dem sie nichts wusste.

»Wenn Gratsos seine Netze auswirft, um herauszufinden, wo sich Menschen mit übersinnlichen Anlagen aufhalten, dann hätte er seine Energien ausgesandt, und der Nebel hätte sich überall dort gebildet, wo er psychische Energien vorfindet«, sagte Elle in die Stille hinein und lenkte damit die Aufmerksamkeit von Jackson ab. »Ich bin sicher, das würde auf dieser Website auftauchen. Heute Abend sehe ich nach, ob es Meldungen aus anderen Gegenden gibt.«

Jackson wollte sich für diese Ablenkung erkenntlich zeigen; er beugte sich vor, um eine Spur von federleichten Küssen über ihre Wange bis zu ihrem Mundwinkel zu hauchen. Elle fühlte, wie das vertraute Prickeln in ihrem Bauch begann. Trotz allem, was ihr zugestoßen war, konnte er erreichen, dass sie sich schön und begehrt und sogar sexy fühlte, obwohl sie nicht sicher war, ob diese Dinge überhaupt noch zutrafen.

Bomber hob den Kopf, sah sich im Zimmer um und richtete seinen Blick dann plötzlich auf sie. Er sprang auf und bellte, ein kurzer drohender Laut, den er mit gespitzten Ohren und stechenden Augen von sich gab. Er bellte ein zweites Mal. Elle fühlte Finger, die über ihre Kehle glitten, ganz leicht, fast so zart wie Jacksons Lippen, als sie über ihr Gesicht zu ihrem Ohr glitten. Gar nicht bedrohlich. Kaum vorhanden. Sie hustete, und ihre Kehle schnürte sich zu.

Jacksons Zunge berührte ihr Ohr und ließ Hitze in ihrem Körper aufwallen. Ihr war nie bewusst gewesen, dass sie so empfänglich war, ihr Körper so lebendig, dass ihre Nervenenden vor Verlangen aufschrien, und sie kostete es aus, zu solchen Gefühlen fähig zu sein. Jackson hatte sich ganz eng um ihre Seele geschlungen und war so sehr zu einem Teil von ihr geworden, dass sie zum ersten Mal seit ihrem Entkommen glaubte, sie könnte vielleicht doch noch eine Chance auf eine halbwegs normale Beziehung zu ihm haben.

Bomber bellte wieder.

Die Finger, die ihre Kehle streiften, drückten fester zu.

»Jackson.«

Elle hob eine Hand, um seine Hände von ihrer Kehle zu ziehen, denn sie fühlte sich urplötzlich zu angreifbar.

Jackson setzte sich aufrecht hin, sah Bomber an und hätte ihm fast den Befehl »Aus!« gegeben, doch der Hund umkreiste den Sessel und ließ Elle nicht aus den Augen. Seine gesamte Konzentration galt ausschließlich ihr. Sie hustete wieder, griff nach ihrem Hals und sagte noch einmal seinen Namen, doch diesmal kam er als ein heiseres Flüstern heraus, als könnte sie kaum noch sprechen.

Sie keuchte. Schnaufte. Riss sich von ihm los und ging auf dem Boden in die Knie, und hustete wieder. Ohne jede Vorwarnung wurde ihr Körper hochgehoben, als wöge sie nicht mehr als eine Feder, und nach hinten geworfen. Sie landete mehr oder weniger zu Füßen von Ilja und Joley auf dem Hartholzboden. Joley stieß einen Schrei aus und ließ sich auf den Boden gleiten, um sich schützend über ihre Schwester zu kauern, doch gleichzeitig packte Ilja Joley, stieß sie hinter sich und benutzte seinen eigenen Körper als Schutzschild.

Bomber stimmte ein wüstes Gebell an und sprang auf einen unsichtbaren Feind zu. Sarah, Kate und Abigail streckten die Hände nach Elles Körper aus, der sich wand. Elle wehrte ihren unsichtbaren Angreifer ab, schlug auf nicht vorhandene Hände ein, auf ihre Brüste und auf ihre Oberschenkel. Mittlerweile schrie sie und trat um sich, um den verborgenen Angreifer abzuschütteln. Sie wälzte sich im Zimmer herum und rammte dabei tatsächlich den Hund, der mit den Zähnen nach leerer Luft dicht an ihrer Kehle schnappte.

Ein heilloses Chaos brach aus. Die fünf Drake-Schwestern sprangen auf, um Elle zu helfen. Ilja hatte sie noch vor den Frauen erreicht. Er kniete sich neben Elle, ohne sie zu berühren. Als Joley ein weiteres Mal versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, um zu ihrer Schwester zu gelangen, stieß er sie unsanft wieder hinter sich. Joley gab keine Ruhe, sondern mühte sich ab, hinter Ilja hervorzukommen, der Hund bellte ununterbrochen, und Elle wehrte alles ab, das ihr nahekam. Sie schrie und weinte, schlug mir den Fäusten um sich und trommelte mit ihren nackten Fersen auf den Boden. Ihre Faust traf Sarahs Arm, glitt daran ab und hätte Kate fast im Gesicht erwischt. Elles Körper wurde ein zweites Mal hochgehoben, diesmal am Kopf, als hielte die unsichtbare Hand ihr langes Haar gepackt und risse sie daran hoch. Sie taumelte rückwärts, hustete und trat um sich, während ihr Tränen über das Gesicht strömten. Jackson konnte jetzt Male auf ihrer Haut sehen. Finger, die in ihrem Fleisch versanken. Bomber bellte weiterhin, wollte angreifen und benahm sich, als könnte er die Wesenheit wittern. Elle fiel wieder hin und versuchte durch das Zimmer zu kriechen, fort von ihrer Familie, fort von dem Hund und hin zur Tür. Der Boden des Hauses geriet in Bewegung, ein langes Schlingern, das zu dem Chaos beitrug. Tee schwappte über. Elle wälzte sich auf den Rücken, trat um sich und kämpfte; auf ihrem blassen Gesicht mischte sich enorme Konzentration mit Entsetzen.

»Schließ dich mit uns zusammen, Elle«, forderte Sarah. »Du sperrst uns aus. Wir können ihn gemeinsam mit dir abwehren.« Sie näherte sich ihrer Schwester wieder, diesmal jedoch vorsichtiger. Kate, Libby und Abigail folgten dicht hinter ihr, während Ilja Joley auf der anderen Seite des Zimmers festhielt.

Die vier Schwestern nahmen einander an den Händen, und Sarah legte ihre Handfläche auf Elles Stirn. Elle wälzte sich schleunigst von ihr fort und prallte gegen einen Beistelltisch. Eine Lampe zerschmetterte auf dem Fußboden. Kate brach in Tränen aus und begann zu schluchzen. Joley begrub ihr Gesicht an Iljas Brust.

»Elle, bitte«, flehte Sarah. »Mach schon, Liebes, du musst uns einlassen. Wir können dir helfen.«

Elle schüttelte den Kopf. Ihr Körper bebte, als sie ein Stück weit hochgezogen und so fest wieder auf den Boden geworfen wurde, dass der Aufprall den Atem aus ihrer Lunge presste. Der Angriff war brutal und tückisch, eine Bestrafung, ein Geltendmachen von Besitzansprüchen, für jeden im Zimmer klar ersichtlich.

Erst jetzt stand Jackson auf. All das hatte sich innerhalb von wenigen Momenten abgespielt, und in der Zeit hatte er sich ein Bild von seinem Gegner gemacht. Jetzt war er sicher, dass er wusste, was er zu tun hatte. Er bog seine Finger, öffnete und schloss die Hände. Das Herz schlug heftig in seiner Brust, zu heftig, und in seinen eigenen Ohren klang es wie Donner. Seine Eingeweide schmerzten, weil sie sich so fest zusammengezogen hatten. Er konnte sehen, dass sich blaue Flecken auf Elles empfindlicher Haut bildeten, um ihre Kehle herum, und die Finger gruben sich fest in die Rundungen ihrer Brüste unter dem dünnen Stoff ihres Hemdes. Er wusste jetzt schon, dass sie auch dort blaue Flecken haben würde. Er bahnte sich einen Weg durch den Kreis von Frauen und bedeutete dem Hund, mit dem Bellen aufzuhören.

Elle sah ihn an, schüttelte den Kopf und stieß sich mit ihren Fersen weiter nach hinten, um ihn von sich fernzuhalten.

»Du jagst ihr nur noch größere Angst ein, Jackson«, sagte Sarah. »Siehst du denn nicht, dass ihr graut?«

Er ignorierte die Hand, mit der Sarah ihn zurückhalten wollte, und setzte sich mit gespreizten Beinen auf Elles zierlichen Körper, packte ihre Fäuste, die durch die Luft sausten und hielt sie über ihrem Kopf fest. Dann ließ er sein volles Gewicht auf sie sinken, um sie am Boden festzuhalten. Sie bäumte sich rasend auf und versuchte ihn abzuschütteln.

»Jackson!« Sogar die stille Libby, die keinen Funken von Böswilligkeit besaß, versuchte ihn von Elle herunterzuziehen.

Er konnte wie aus weiter Ferne Hände fühlen, die an ihm zogen, Fäuste, die auf seinen Rücken einschlugen, aber er konzentrierte sich mit jeder Faser seines Wesens auf Elle.

»Elle.« Jackson sagte ganz ruhig ihren Namen, mit zarter Stimme und sehr leise. Er blieb mit gespreizten Beinen auf ihr sitzen, hielt ihre Handgelenke auf dem Boden fest und ignorierte ihre Schwestern, die weiterhin versuchten, ihn von ihr zu stoßen. »Elle, mach die Augen auf und sieh mich an.« Er wartete einen Herzschlag lang. Zwei Herzschläge. Er war sicher, dass sie ihn hörte. Sie schlug unter ihm um sich, wehrte sich, weinte, bettelte und zerfetzte sein Herz, doch er weigerte sich, seinen eigenen Ängsten nachzugeben.

Er war ihre einzige Zuflucht. Darauf konzentrierte er sich, nicht auf das, was ihr zustieß. »Elle. Sieh mich an.« Diesmal ließ er einen Befehlston in seine Stimme einfließen, obwohl er immer noch sanft und leise mit ihr sprach.

Ihre Wimpern flatterten. Lange, nasse Wimpern. Herzzerreißende Wimpern. Ihre smaragdgrünen Augen sahen ihn an. Erkannten ihn mit aufwallendem Entsetzen.

»Überlasse dich mir.«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

Er beugte sich dichter zu ihr. Sarah versuchte ihn von ihr zu lösen, indem sie ihn am Haar packte. Ilja schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie mit körperlicher Kraft von ihm, als Bomber gerade warnend knurrte.

»Überlasse dich mir, Elle.« Er sagte es wieder. Ruhig, aber unnachgiebig. Eine unbarmherzige Forderung. Dem, was sich um sie herum abspielte, schenkte er keinerlei Beachtung. Es gab nur noch sie zwei. Elle und Jackson. Sonst niemanden. Nichts anderes.

Ihre Augen flehten ihn an. Er wusste, wovor sie sich fürchtete. Sie glaubte, wenn er sich ihr in ihrem Innern anschlösse, wäre Gratsos fähig, ihm etwas anzutun. Dieselbe Angst stand sie um ihre Schwestern aus. Elle, seine Elle, so mutig wie immer, beschützte alle, die sie liebte.

Er schüttelte bedächtig den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Überlasse dich mir vollständig, Elle. Er kann mir nichts tun. Ich bin stärker als er. Gemeinsam sind wir viel stärker. Überlasse mir dein Herz und deine Seele und überlasse mir deinen Körper.«

Jetzt war es um ihn herum so still geworden, dass er sie alle atmen hören konnte. Er konnte den Atem jeder Schwester voneinander unterscheiden, den Atem des Hundes, Iljas Atem und insbesondere Elles Rhythmus des Entsetzens. Er zwang sich dazu, selbst langsam und gleichmäßig durchzuatmen, sein Herz und ihres, seine Lunge und ihre. Ein und dasselbe. »Komm mit mir, Kleines. Überlasse dich mir.«

Er beugte sich mit unendlicher Geduld und unendlicher Langsamkeit zu ihrem Gesicht hinunter. Die Zeit schien stillzustehen. Er bekam den Tunnelblick. Sein Gehör zog sich weiter zurück und konzentrierte sich nur noch auf Elle. Für ihn war außer ihr niemand mehr im Raum. Nur sie beide. Elle und Jackson. »Dein Körper, Elle, vertrau mir. Überlasse dich mir ganz, Kleines.«

Sie holte Atem, stieß ihn aus und strengte sich sichtlich an, sich unter ihm zu entspannen. Sie hörte auf, sich rasend zur Wehr zu setzen, und sah ihm fest in die Augen. Er konnte ihre Furcht sehen, doch er sah auch Vertrauen. Ihre Muskeln entspannten sich. Was auch immer Stavros ihr antat, sie nahm es schlicht und einfach hin. Sie gestattete es ihrem Herzen, langsamer zu schlagen, um sich dem gleichmäßigen Rhythmus seiner Herzschläge anzupassen. Sie zwang ihre Lunge nachzuahmen, was seine Lunge vorgab. Ihr Blick blieb unbeirrt auf seine Augen gerichtet, und ihr Körper wurde zu seinem, verschmolz mit seiner kräftigen Gestalt, weich und anschmiegsam, während er sich auf ihr ausstreckte, sein Gewicht auf sie sinken ließ und sie mit seinen stärkeren Muskeln zudeckte.

»So ist es gut. Und jetzt deine Seele. Ein Herz und eine Seele, Kleines, genau das sind wir, und das müssen wir auch sein. Öffne mir deinen Geist und lass mich ein.«

Die Stille um sie herum war so absolut, als hielten alle den Atem an und warteten. Jackson wandte seinen Blick nicht von Elle ab. Nur sie beide waren da. Sie beide ganz allein und kein anderer Mensch auf Erden. Er wartete darauf, dass sie sich von ihren Ängsten freimachte und sich ihm vollständig überließ. Das war für sie ein gewaltiger Schritt. Solange sie kämpfte, hatte sie zumindest das Gefühl, einen Anschein von Kontrolle zu haben. Sie schluckte schwer und blinzelte mehrfach schnell hintereinander, und dann stürzten ihre Barrieren so abrupt ein, als hätte sie sie schleunigst entfernt, damit sie nicht die Nerven verlor.

Er verströmte sich in ihr Inneres, füllte jeden Raum aus, forderte sie für sich, ließ Kraft und Entschlossenheit in sie fließen und baute ihren Widerstand gegen Gratsos auf. Jackson nahm ihren Kopf zwischen seine Handflächen, rahmte das kleine herzförmige Gesicht mit seinen großen Händen ein und senkte seinen Kopf auf ihren.

Der Atem stockte in ihrer Kehle. Ihre Lippen teilten sich. Sie beobachtete, wie er ihr immer näher kam. Jackson. Ihre andere Hälfte. Ihre Kraft. Ihre einzige Liebe. Er füllte ihren Geist aus, füllte ihr Herz aus, füllte ihre Seele aus. Ließ Verlangen und Glut in ihren Körper strömen. In ihrem Geist und in ihrem Herzen war kein Raum für etwas anderes oder jemand anderen. In ihrem Körper und in ihrer Seele auch nicht. Es gab nur Jackson. Er näherte sich ihr mit erlesener Behutsamkeit, mit entwaffnender Zärtlichkeit.

Seine Lippen berührten ihre, fest und kühl und so weich wie Samt, doch sie erwärmten sich schnell. Seine Zunge streichelte den Spalt zwischen ihren Lippen, neckte und verführte sie, vertrieb jede brutale Schandtat, die Stavros begangen hatte, und ersetzte sie durch etwas vollkommen anderes. Sie brannte innerlich. In ihrem Geist. In ihrem Herzen. Und tief in ihrem Körper, wo sie nur nach Jackson lechzte. Sie öffnete den Mund und nahm ihn in sich auf.

Jackson fühlte erstmals den anderen Mann. Schmierig. Böse. Zäher Schleim in Menschengestalt, ein Wesen, das von innen nach außen verfaulte. Die attraktive Hülle bedeckte eine jämmerliche Kreatur, die sich in einer Form, wie Jackson es nie zuvor erlebt hatte, zu allem, was sie tat, berechtigt fühlte.

Versuch dich an mir, du Dreckschwein.

Er erteilte ihm die Kampfansage, obwohl er wusste, dass Gratsos bereits den Rückzug angetreten hatte und aus Elles Geist floh. Sie blieb zitternd zurück, wand sich fast vor Krämpfen auf dem Boden, schluchzte vor Erleichterung und klammerte sich an Jackson. Sie schlang ihm die Arme um den Hals, presste ihr Gesicht an seine Kehle und weinte unbeherrscht und hemmungslos, etwas, das keine ihrer Schwestern sie je zuvor hatte tun sehen.

»Es ist alles wieder gut, Kleines«, sagte er behutsam. »Jetzt ist er fort. Er ist fortgelaufen wie der Feigling, der er in Wirklichkeit ist.« Er glitt von ihrem Körper herunter und legte sich neben sie auf den Fußboden, obwohl sie sich weiterhin an ihn klammerte. Er legte einen Arm unter ihre Knie, hob sie hoch und trug sie zu dem hochlehnigen Sessel mit verstellbarer Rückenlehne, der am anderen Ende des Zimmers stand. »Du bist stärker als er, Elle, du bist nur im Moment kaputt, weil du dich restlos verausgabt hast. Ich sage es dir, wenn du wieder bei Kräften bist, wird er es nicht schaffen, in dich hineinzukommen.«

Sie hielt ihn noch fester, und ihre Finger gruben sich in seine Muskeln; sie versuchte, unter seine Haut zu schlüpfen und sich dort zu verlieren. Jackson war es ein Gräuel, dass sie ein Publikum hatten, auch wenn es ihre Familie war. Sie wirkte so empfindlich, viel zu zerbrechlich, und der Gedanke, so gesehen zu werden, würde Elle verhasst sein. Er sah sie alle an, mit grimmigen, glühenden Blicken, aber daran konnte er nichts ändern. Er wusste, dass er furchteinflößend aussah, aber das war Elle seine Elle - und er wollte sie nur beschützen.

Sarah ließ den Kopf hängen. »Es tut mir leid, Jackson. Ich hätte wissen müssen, dass du ihr helfen würdest. Sie wollte dich. Dir hat sie vertraut, nicht uns.«

Ihre Stimme klang so traurig, dass es ihm in der Seele wehtat. Elle lag immer noch zu einer Kugel zusammengerollt und an ihn geschmiegt, und sie weinte immer noch, aber inzwischen lautlos, während sie versuchte, sich mit der Tatsache abzufinden, dass es Gratsos gelungen war, sie von der anderen Seite des Meeres aus anzugreifen.

»Du irrst dich, Sarah«, sagte Jackson. »Elle würde euch jederzeit ihr Leben und ihre Seele anvertrauen. Sie wollte euch nur vor ihm beschützen. Sie hat euch die ganze Zeit vor ihm beschützt.«

»Er kann uns nichts tun.« Sarah biss sich auf die Lippen, um den Rest des Satzes nicht herauszulassen. Jackson sah sie finster an, denn er wusste, dass sie dicht davor gestanden hatte, vorschnell zu sagen, sie seien zu stark für Gratsos, doch Elle war unter ihnen allen die Stärkste gewesen, und er hatte sie dennoch gefangen genommen und wiederholt gefoltert.

Elle war diejenige, die Sarah antwortete. Sie hob den Kopf und reckte das Kinn in die Luft, und in ihre Augen trat eine Spur von Trotz. »Doch, das kann er, Sarah. Er kann euch allen etwas antun. So viel Geld oder Macht könnt ihr euch nicht vorstellen. Niemand schlägt ihm jemals etwas ab. Was er will, bekommt er. Er hat sich die Polizei gekauft, er hat sich die Politiker gekauft, und jetzt wissen wir ganz sicher, dass er übersinnliche Fähigkeiten besitzt. Er hat keine Angst davor, jemandem wehzutun, und er wird immer wieder Jagd auf mich machen. Es ist schon schlimm genug, dass ich Jackson in Gefahr bringe, aber ich denke gar nicht daran, eine von euch zu gefährden.«

»Er ist in unser Haus hereingekommen«, sagte Jackson. »Wenn wir in eurem Haus gewesen wären, wärt ihr dann sicher vor ihm gewesen?«

Elle zuckte die Achseln. »Ich kann dort nicht hingehen, bevor ich psychisch nicht geheilt bin.«

Sarah blickte finster. »Warum, Elle? Das verstehe ich nicht. Unser Haus kann dich viel besser beschützen als dieses Haus hier, das weißt du selbst. Und warum lässt du nicht zu, dass Libby ...«

»Nicht Libby«, mischte sich Jackson ein. »Libby kann Gehirnverletzungen heilen und sie kann den Körper heilen, aber Kate heilt deine seelischen Wunden, stimmt's, Kate?«

»Beantworte das nicht, Kate«, setzte sich Elle heftig zur Wehr. »Die Frage erübrigt sich ohnehin, da ich niemanden auch nur in die Nähe meiner Seele lassen werde. Es ist zu gefährlich. Fragt mich nicht, warum, aber ihr alle habt es gerade mit euren eigenen Augen gesehen.«