4.

 

Das große Schiff lag wenige Meilen vom Festland entfernt draußen in der Ägäis vor Anker. Ein kleiner Hubschrauber stand auf dem Landeplatz bereit, ein geschmeidiger Vogel, schnittig, schwarz und sehr beweglich. Männer liefen umher und luden ruhig und beherrscht Waffen. Einige lächelten und scherzten, doch die meisten waren stumm, ihre Gesichter grimmig und mit dunklen Streifen bemalt, passend zu ihrer dunklen Kleidung.

Jonas warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Bisher läuft alles wie geschmiert. Das erste Gewitter hat mit einem gut gezielten Blitz die Stromzufuhr zur Insel abgeschnitten, und wie erwartet sind die Notstromaggregate angesprungen. Aber für fünfzehn Sekunden war Gratsos psychische Barriere zusammengebrochen. Wir haben seinen Anruf abgefangen, als er die Elektriker bestellt hat, und unsere Männer werden sich bald auf den Weg machen.« Jonas war stolz auf Hannah, die diese Glanzleistung vollbracht hatte. Sie hatte das Unwetter hervorgerufen, den Blitzstrahl präzise gelenkt und gleich beim ersten Anlauf einen Treffer erzielt. Das sah ihr wieder mal ähnlich, seiner Frau - wenn es darauf ankam, war Verlass auf sie.

»Für ihn ist das vertrautes Gebiet, sein kleines Reich, sowohl die Insel als auch ihre nähere Umgebung. Hat er euch den Vorwand abgekauft, das Unwetter sei zu gefährlich und die Elektriker würden kommen, sowie es nachlässt?«, fragte Sarah. Sie lehnte an der Reling und blickte zu der Insel hinüber, auf der ihre jüngste Schwester gefangen gehalten wurde. Ihre Hand hielt die Reling so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Jonas schlang einen Arm um sie. »Hannah hat dafür gesorgt, dass die Blitze in der Nähe seiner Villa einschlagen. Daher hat er es uns wohl abgekauft. Mach dir keine Sorgen, meine Liebe, wir werden Elle zurückholen. Wir wissen, was wir tun. Jeder dieser Männer hier ist ein guter Freund und nicht nur kampferprobt, sondern auch gründlich für Rettungseinsätze ausgebildet. Wir werden keine Spuren zurücklassen, die er - oder sonst jemand – bis zu uns zurückverfolgen könnte.«

»Ich weiß.« Aus Sarahs Stimme war Entschlossenheit herauszuhören.

»Die Elektriker sind bestellt und unser erstes Team wird sich in wenigen Minuten Zutritt verschaffen. Wenn die Männer dort ankommen, wird Gratsos Wächter bereitstehen haben, die sie zur Ostseite der Insel lotsen, wo sich das Kraftwerk befindet. Vier Taucher werden gemeinsam mit dem Boot anrücken, und somit werden wir sieben Männer auf der Insel haben. Der größere Anlegeplatz ist im Süden, und auf der Nordseite gibt es noch einen kleineren. Wenn wir Glück haben, werden sie unsere Männer zum Hauptanlegeplatz dirigieren. Das hoffen wir, denn von dort aus hätten unsere Taucher eine kürzere Entfernung durch feindliches Territorium zurückzulegen.«

»Können wir den Hubschrauber zu ihrem Schutz in der Luft haben?«

Jonas schüttelte den Kopf. »Das können wir nicht riskieren. Wenn sie uns die Wetterberichte und den eingeschlagenen Blitz abgenommen haben, kann nicht viel schiefgehen. Und ich wüsste nicht, warum sie Zweifel haben sollten.«

Sarah ließ ihn nicht aus den Augen. »Wen schickst du zum Schutz der Männer hin?«

Er fluchte innerlich. »Matt ist dabei.« Matt Granite war Kate Drakes Verlobter und ein teuflisch guter Kämpfer. »Er führt das zweite Team an.«

Sarah legte ihren Kopf auf seine Schulter, um Trost zu schöpfen, und schloss kurz die Augen. »Ich finde es grauenhaft, dass wir alle, die wir lieben, in Gefahr bringen, aber wir tun es für Elle. Hat Jackson dir irgendetwas gesagt?«

Jonas schüttelte den Kopf. »Er sagt kein Wort, aber er ist wieder der Mann, der er früher war, bevor er mit mir nach Hause gekommen ist. Kälter. Reizbarer. Jackson ist wie Ilja, Sarah, und so sehr ich Ilja respektiere – ein umgänglicher Mann ist er nicht.«

»Wenn diese Männer Menschenhandel treiben, graut mir bei dem Gedanken, was ihr im Laufe dieses letzten Monats zugestoßen sein könnte.«

Jonas wandte den Blick ab. Jackson wusste es und seine Reaktion war beängstigend gewesen. Auf irgendeiner Ebene wollte Sarah es gar nicht wissen, weil es einfach zu schmerzhaft war. Er schaute vorsätzlich zu den Kajüten. »Hannah ist es während der Reise die meiste Zeit übel gewesen. Ich hätte dafür sorgen sollen, dass sie zu Hause bleibt.«

»Sie wäre uns gefolgt.«

Jonas schnitt eine Grimasse. »Deshalb habe ich mir gar nicht erst die Mühe gemacht, es ihr zu befehlen. Sie hört ja doch nie auf andere.«

Sarah lächelte zum ersten Mal. »Das überrascht dich gewiss nicht. Libby ist bei ihr, und wir brauchen Hannah wirklich dringend. Sie kann den Wind befehligen wie niemand sonst; nicht einmal Ilja ist so geschickt darin.«

Jonas hatte versucht Hannah zurückzuhalten, wenn es nicht ausgerechnet um ihre jüngste Schwester gegangen wäre. Seine Frau wäre nicht aufzuhalten gewesen, ob sie nun schwanger war oder nicht. Nicht, wenn Elle die Gefangene war und Jackson langsam aber sicher den Verstand verlor.

»Team eins setzt sich in Bewegung.« Iljas Stimme hallte in seinem Ohr.

»Es geht los«, verkündete Jonas laut. »Sagt den anderen, sie sollen sich bereithalten.«

Hannah würde das Unwetter gewaltig entfesseln müssen, und sie würden auf Iljas Fähigkeit angewiesen sein, einen Hubschrauber bei kräftigen Sturmböen stabil zu halten, wenn sie das Rettungsmanöver durchziehen wollten. Dann nämlich würden sie den Hubschrauber zur Unterstützung des Rettungstrupps losschicken müssen. Aber erst mussten sie das Kraftfeld einreißen, das Gratsos zu seinem Schutz errichtet hatte.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, drehte sich Sarah wieder zu ihm um. »Du bist dir sicher darüber im Klaren, Jonas, dass Gratsos, wenn dieses Kraftfeld zum Einsturz gebracht wird, ebenfalls psychische Energien benutzen kann. Wir kennen ihn nicht und wir wissen nicht, wozu er fähig ist, also seht euch entsprechend vor.«

Jonas sah ihr fest in die Augen, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.

»Ich habe gesehen, wie Jackson auf den Fußboden eingeschlagen hat; er war vollkommen außer sich. Was auch immer dieser Mann Elle angetan hat, er wird dafür büßen, Sarah, auf die eine oder andere Weise. Mir ist scheißegal, welche psychischen Kräfte er besitzt. Wenn du es gegen ihn aufnehmen würdest, würde ich jederzeit und ohne mit der Wimper zu zucken auf dich wetten.

Wenn du deine Fähigkeiten jetzt noch mit denen deiner anderen Schwestern multiplizierst, hat der Mann keine Chance.«

Jonas ging zu Jackson und blieb neben ihm stehen, während er dem Team, das mit dem Boot losfahren würde, letzte Anweisungen erteilte. Die drei Männer, die sich auf die Insel begeben würden, um den Schaden in der Stromversorgung zu »beheben«, machten sich in einem kleineren Boot unbewaffnet auf den Weg. Er kannte diese Männer, gute Freunde, die bereit waren, ihr Leben zu riskieren, um Jonas und Jackson dabei zu helfen, Elle zurückzuholen. Sie begaben sich mit keiner anderen Waffe als ihren gut ausgebildeten Körpern in ein Kriegsgebiet.

»Team zwei wird dicht hinter euch sein«, beteuerte ihnen Jackson und sah die vier Taucher an, die bereits ihre Scuba-Ausrüstung angelegt hatten und sich unten im Boot niederließen. »Matt, du und Tom, ihr müsst schnell sein. Unsere Männer werden in Gefahr sein, bis ihr die Wächter, die sie abholen, außer Gefecht gesetzt und deren Waffen unseren Leuten zugesteckt habt. Wir werden niemanden in der Luft haben, bevor ihr uns das Signal gebt.« Jackson vertraute Kate Drakes Verlobtem. Er war früher Ranger beim Militär gewesen und sowohl Jonas als auch Jackson hatten zahllose Male mit ihm zusammengearbeitet.

Matts Augen waren nüchtern und sachlich. »Wir geben ihnen Deckung.«

»Denkt daran, wir lassen nichts und niemanden zurück. Wir müssen schnell und sauber arbeiten. Rein und gleich wieder raus. Ich glaube nicht, dass wir es mit irgendwelchen Zivilpersonen zu tun haben werden, ausgenommen die Haushälterin und das Objekt.« Jackson achtete sorgsam darauf, nicht an Elle zu denken, da er sonst nicht einsatzfähig gewesen wäre. Er würde besser funktionieren, wenn es nicht darum ging, seine große Liebe heil dort rauszuholen; stattdessen stellte er sich vor, sie brächen zu einem Rettungseinsatz auf und würden ihn erfolgreich ausführen. »Die Haushälterin muss wissen, was los ist, das heißt, wenn sie uns in die Quere kommt, ist sie ein Feind.«

Jonas räusperte sich. »Das können wir nicht wissen.«

Jackson sah ihn scharf an. »Jeder auf dieser Insel ist ein Feind, mit Ausnahme von Elle. Wir bringen unsere Männer keinesfalls grundlos in Gefahr.« Seine Stimme war unversöhnlich. Jonas nickte, denn er wusste, dass Jackson momentan zu allem fähig war, unter anderem auch dazu, ihn bewusstlos zu schlagen und ihn bei den Drake-Frauen zurückzulassen.

Matt nahm die versiegelte Tasche mit den Waffen und dem Sprengstoff an sich und ließ sich auf dem Boden des Boots nieder. Sein Team, in Neoprenanzügen und Scuba-Ausrüstung, würde sich im Boot nicht blicken lassen, bis alle vier Taucher abgesetzt werden konnten, kurz bevor die Insel in Sicht kam. Er übernahm die weiteren Anweisungen und sorgte dafür, dass sein Team verstand, worum es ging. »Wir schwimmen alle zum Anlegeplatz und trennen uns dort«, wiederholte er erneut. »Tom und ich werden uns einen Weg über die Insel zu dem kleinen Kraftwerk bahnen und Team eins unterstützen. Wir räumen die Wächter aus dem Weg und bewaffnen unsere Jungs, bevor wir uns auf den Weg zu dem kleineren Anlegeplatz auf der Nordseite machen. Rick und Jock, ihr schlagt euch zum Hubschrauberlandeplatz durch. Team eins wird im Schutze des Unwetters die Notstromaggregate sabotieren, und dann helfen wir alle zusammen, die Boote aus dem Verkehr zu ziehen.« Jackson klopfte ihm auf die Schulter. »Ihr müsst uns so viele Informationen wie möglich zukommen lassen. Bezieht eure Posten, sobald ihr mit den Booten fertig seid, um unseren Rückzug zu decken.«

»Wird gemacht«, beteuerte ihm Matt. »Wir holen sie da raus, Jackson.«

Jackson wollte nicht an »sie« und auch nicht an das denken, was passieren könnte. Er wagte es nicht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, bevor sie nicht alle an Ort und Stelle waren. Wenn sie glaubte, sie kämen, und es ging doch noch etwas schief, dann würde sie es nicht verkraften.

Jonas klopfte Jackson auf den Rücken. »Wir haben es bisher schon schneller geschafft, als anzunehmen war, und die Mädchen stehen bereit. Sowie du ihnen das Signal gibst, werden sie das Unwetter herschicken. Ilja hat bereits mit dem Kraftfeld experimentiert. Er sagt, es ist stark, aber mit dem Unwetter als Deckung können wir es zum Einsturz bringen.«

»Wer hat das Gelände ausgekundschaftet?«

»Ilja«, sagte Jonas, der wusste, dass Jackson den Mann respektierte. »Es sieht so aus, als hätte Gratsos eine kleine private Armee. Die einzige Zivilperson, die er gesehen hat, war eine Haushälterin, aber es muss jemanden geben, der die Außenanlagen pflegt. Er hat uns das Haus in groben Zügen skizziert. Es besteht vorwiegend aus Glas, und daher konnte er das Erdgeschoss recht gut einsehen, aber aufgrund der Bauweise hatte er so gut wie keinen Einblick in den ersten Stock. Dort wirst du dich allein zurechtfinden müssen.«

Jackson schob kleine Wurfmesser in seine Gürtelschnallen. »Ich werde sie da rausholen.«

Jonas stieß den angehaltenen Atem aus. Jackson war verändert, härter, kälter; er balancierte auf einem schmalen Grat, seit er auf dem Fußboden des Drake-Hauses ausgerastet war. Als die Verbindung zu Elle abgerissen war, hatte er geflucht, um sich geschlagen und hätte am liebsten jemanden umgebracht. Er war überhaupt nicht mehr der beherrschte Mann gewesen, als den Jonas ihn im Lauf der Jahre kennengelernt hatte. Er hatte gezittert und sogar echte Tränen vergossen. Zum Glück hatte das Haus Jackson erkannt und die zerstörerischen Schläge auf den Fußboden auf irgendeine Weise abgefangen. Aber dann hatte er auf dem alten Mosaik gesessen und sich gewiegt, die Hände vor das Gesicht geschlagen und Laute von sich gegeben, die seiner Seele entrissen wurden.

Jonas und die anderen Männer hatten alle Hände voll damit zu tun gehabt, die Drake-Schwestern wieder aufzupäppeln. Sie hatten sie nach oben in ihre Betten getragen und ihnen Tee eingeflößt. Ilja hatte trotz seines geschwächten Zustandes versucht, den Schaden zu beheben, der auf Libbys Hand entstanden war, als sie sich bemüht hatte, sowohl bei Jackson als auch bei Elle die Wunden zu heilen, die durch die Stromstöße verursacht worden waren. Es war ziemlich übel gewesen, aber am schlimmsten von allen war Jackson dran.

Als er endlich wieder zur Vernunft gekommen war, hatte er Jonas mit einem kalten, gehetzten Blick angesehen. »Wir holen sie sofort dort raus, und wir werden jeden Einzelnen unserer Freunde brauchen. Trommele sie zusammen, Jonas, sag ihnen, es sei eine persönliche Angelegenheit und ich würde in ihrer aller Schuld stehen. Gib keine Informationen an ihren Boss weiter.

Kein Sterbenswort. Wir können keine staatliche Einmischung gebrauchen. Wir werden sie herausholen müssen, und es wird eine blutige Angelegenheit werden, und daher wird es nötig sein, dass wir anschließend sofort das Land verlassen können.«

»Ein überfallartiger Angriff, ohne irgendwelche Spuren zurückzulassen«, stimmte Jonas ihm zu.

»Wir dürfen nicht zulassen, dass irgendeine Spur zu uns führt. Das heißt, es dürfen auch keine Leichen zurückbleiben. Nichts, was sich zurückverfolgen lässt.«

Dann hatte Jonas Jackson angesehen und begriffen, dass er es wieder mit dem Mann zu tun hatte, den er von früher kannte dem Mann, dem außer seinem eisernen Willen nichts geblieben war. In diesem Moment und durch diesen Blick war auch in Jonas eine Veränderung vor sich gegangen. Was er in Jacksons Augen gesehen hatte, hatte jedes Gefühl von Recht und Unrecht ausgelöscht. All das zählte nicht mehr, sondern nur noch ein Einsatz, der zu dem einzig denkbaren Ergebnis fuhren musste.

Davon verstand er etwas; er wusste, wie man Aufträge ausführte. Sie würden Waffen brauchen und sie würden Männer brauchen. »Unsere Jungs werden kommen, das weißt du selbst. Jeder, der uns je als Freunde bezeichnet hat, und jeder, der uns je etwas schuldig war. Keine Spur wird darauf hinweisen, dass einer von uns jemals dort gewesen ist.« Jonas hatte Jackson fest in die Augen gesehen. »Wir werden sie da rausholen, wie wir alles andere auch erledigt haben - gemeinsam.«

Den Blick, den ihm Jackson zugeworfen hatte, würde Jonas niemals vergessen. Das Wenige an Sanftmut, das Jackson innerhalb der letzten zwei Jahre, seit er in Sea Haven lebte, erlernt hatte, war von einem Moment zum anderen von ihm abgefallen. Jackson war wieder distanziert und unnahbar, sein Mund grimmig, seine Augen kalt, und er sprach kaum noch. Er reinigte häufig seine Waffen und übte sowohl das Schießen als auch das Messerwerfen. Hunderte von Malen nahm er sein Gewehr auseinander und setzte es wieder zusammen, bis seine Hände sich so flink bewegten, dass sie nur noch verschwommen zu sehen waren, und er übte immer mit verbundenen Augen.

Jackson wandte sich von Jonas und von dessen Gesichtsausdruck ab, einer Mischung aus Sorge und Bedauern. Er hatte keine Zeit, seinen Freund zu beruhigen - und es wäre ihm ohnehin nicht gelungen. Etwas in seinem Innern, das gerade erst zu tauen begonnen hatte, war wieder vereist, und jetzt war dort ein Gletscher entstanden. Elle war ihm wichtig. Sie war das Einzige - die Einzige -, die in dem Moment zählte, und das ließ sich weder abschwächen noch verleugnen. Er war bereit, alles zu tun, was nötig war, um sie zurückzuholen. Falls es notwendig werden sollte, würde er sterben - oder töten. Und er war darauf eingestellt, eine Menge Leute zu töten - jeden, der ihm in die Quere kam.

Niemals, nie in seinem ganzen Leben, würde er die Bilder aus seinem Kopf vertreiben können - Bilder von Elle, vollständig entblößt, ihre zarte Haut mit blutroten Streifen überzogen, von Schwellungen und blauen Flecken verunstaltet. Noch schlimmer war gewesen, dass ihr brillanter Verstand zerrüttet war, ihr Lebensmut beinah gebrochen. Er wollte – nein, er musste Jagd auf die Bestien machen, die ihr das angetan hatten, und sie töten. In seinem Geist und in seiner Seele gab es keinen Platz für etwas anderes. Er würde sie zurückholen und eine Möglichkeit finden, sie innerlich wieder zusammenzusetzen. Ihr war es gelungen, seine Scherben zusammenzukleben, und er würde eine Möglichkeit finden, das Gleiche für sie zu tun.

Im Headset seines Funkgeräts knisterte es. »Sagt Hannah, sie soll den Wind schicken«, vernahm er Matts Stimme. »Wir nähern uns der Insel. Team zwei begibt sich gerade ins Wasser und Team eins wird teuflisch angreifbar sein.«

Matt ließ sein Headset in einen wasserdichten Behälter gleiten und wartete, während die anderen Mitglieder seines Teams sich ins Wasser hinabließen. Er sah die drei übrigen Männer an.

»Spielt nicht die Helden. Wenn sie euch nicht auf die Insel lassen, erklärt ihr euch einverstanden, auf der Stelle umzukehren. Diese Jungs könnten schießwütig sein. Wir wissen so gut wie nichts über sie.«

»Ja, ja, schon gut«, antwortete Kent Bastion. »Wir werden brav sein.«

Die drei Männer sahen einander an und schnaubten höhnisch.

Matt schüttelte den Kopf und sprang mit einem Salto rückwärts ins Meer. Er schwamm von dem Boot fort und gab den Männern grünes Licht; daraufhin setzte das Boot seinen Weg zur Insel fort. Matt blickte zum Himmel auf. Er konnte den Unterschied bereits wahrnehmen. Das Wetter begann sich zu verschlechtern, die Windstärke nahm zu und schwere, dunkle Wolken brauten sich zornig zusammen.

Er gab seinem Team ein Signal und sämtliche Männer tauchten unter und schwammen die restliche Strecke unter Wasser, um eine Entdeckung zu verhindern. Sie bewegten sich schnell, da sie wussten, dass Kent und seine Männer, James Berenger und Luke Walton, keine Waffen hatten, falls irgendetwas schiefging. Dennoch brauchten sie länger, als ihm lieb war, und Matt war sich in jedem Moment deutlich bewusst, dass seine Kameraden im anderen Team ohne Deckung waren.

Der notwendige Wind, den Hannah herbeiholte, um Team eins zu unterstützen, behinderte letzten Endes Team zwei, da die Wellen immer höher und die Rückströmungen immer stärker wurden. Er wusste, dass Team eins die Wächter davon überzeugen musste, die reguläre Wartungsmannschaft hätte aufgrund des Unwetters bereits für heute Schluss gemacht und sie seien stattdessen geschickt worden.

Jonas stand in Bereitschaft, um einen weiteren Telefonanruf abzufangen, falls irgendwelche Fragen gestellt werden sollten. Zum Glück war Kents Vater Grieche. Das war der Hauptgrund dafür, dass sie ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatten. Er sah nicht nur so aus, dass er als Grieche durchgehen würde, sondern er sprach auch fließend Griechisch und stand außerdem in dem Ruf, sich aus jeder Lage herausreden zu können.

Matt sandte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass er die Wächter in ein Gespräch verwickeln würde, bis sie dort ankamen und die drei »Elektriker« unterstützen konnten. Als sie sich den Felsen näherten, gab er Rick und Jock das Signal, sich von Tom und ihm zu trennen und sich zum Hubschrauberlandeplatz durchzuschlagen. Tom folgte ihm an Land, wo sie stumm ihre Taucherausrüstung ablegten und sie in die Tasche packten, die sie zu dem Zweck mitgebracht hatten, um sie mitzunehmen, wenn sie die Insel verließen. Als Vorsichtsmaßnahme wurde ein kleiner Sprengsatz in der Tasche zurückgelassen. Falls sie die Sachen nicht an sich bringen konnten, würden sie die Tasche bei ihrem Aufbruch in die Luft sprengen. Sie schlangen sich Gewehre über die Schultern, schnallten Pistolen an ihre Hüften und nahmen die Tasche für Team eins mit. Dann rannten Matt und Tom durch die Schatten und versuchten das andere Team einzuholen, das gut zwanzig Minuten Vorsprung und ein Fahrzeug zur Verfügung gehabt hatte.

Die Villa stand auf der Westseite, das Kraftwerk weiter hinten im Osten. Das Boot hatte an der Südseite angelegt, und daher hatten sie sich, als sie ans Ufer schwammen, in nordöstlicher Richtung gehalten, um die Strecke, die sie rennend zurücklegen mussten, so weit wie möglich zu verkürzen. Der Wind traf in vereinzelten starken Böen auf sie, und Matt musste Hannah eines lassen – sie setzte den Winkel des Windes so an, dass er ihrem Tempo eher behilflich als hinderlich war. Er war immer wieder erstaunt über Hannahs Fähigkeiten und ihre Präzision, wenn sie den Wind aussandte oder ihn zu sich rief.

Und Kate - allein schon bei dem Gedanken an seine stille Verlobte, die Abenteuer überhaupt nicht mochte, schlug sein Herz höher - war ebenfalls eine mutige und geradlinige Frau, die an seiner Seite stand und nicht etwa hinter ihm herlief. Jede der Drake-Schwestern hätte alles, was sie besaß, und alles, was ihre Person ausmachte, dafür hergegeben, ihre jüngere Schwester zurückzubekommen.

Matt steckte sich das Headset wieder ins Ohr und sagte leise, während er und Tom sich um die Wächter herumschlichen: »Von hier aus kann ich zwei Männer auf dem Dach der Villa sehen. Sie sind nicht übermäßig auf der Hut, der Wind knallt heftig auf sie, aber es könnten noch weitere dort sein. Zwei auf der Südseite, in den Felsen, aber sie verlegen ihren Standort mit zunehmender Höhe und Kraft der Wellen weiter nach oben.« Er gab die Koordinaten durch, da er wusste, dass Jackson und Jonas den Standort jedes einzelnen Wächters aufzeichneten, während die Informationen eintrafen.

»Da kommt eine Patrouille in einem Fahrzeug«, zischte Tom und ließ sich in der Dunkelheit auf den Boden fallen. Matt warf sich gemeinsam mit ihm flach auf den Bauch und hielt die Pistole in der Hand, während er beobachtete, wie die Wächter langsam vorbeifuhren und mit Scheinwerfern in die Felsspalten und die Sträucher leuchteten. Er zählte die Sekunden anhand seiner Herzschläge, und mit jedem Moment, der verging, wuchs die Gefahr für die drei Männer, die gerade zu dem Kraftwerk gefahren worden waren.

Sowie das Fahrzeug außer Sichtweite war, sprang er auf und rannte wieder los. Er hielt sich in den Schatten, legte jedoch auf dem unebenen Untergrund Tempo zu. Er mied die gepflegte Zufahrtsstrecke, da er wusste, dass die Streifen bei dem Sturm wahrscheinlich auf den Wegen bleiben würden. Die Wellen brachen sich über den Felsen, als die Stärke des Sturms langsam zunahm. Wenn Gratsos irgendwelche übersinnlichen Gaben besaß, mussten die Drakes vorsichtig sein, mit zarter Hand eingreifen und das Unwetter möglichst natürlich erscheinen lassen, damit er kein plötzliches Aufwogen von Energien wahrnahm. Matt wusste nicht allzu genau, wie das funktionierte, aber Kate sagte, sie könnten psychische Energien spüren wie etwas, das sie streifte, wenn sie eingesetzt wurden.

Das Kraftwerk ragte vor ihnen auf, ein kleines Gebäude hinter einem Maschendrahtzaun. Das Tor stand offen und seitlich neben der offenen Tür war ein Fahrzeug geparkt. Tom und Matt schlichen durch das Tor im Zaun und bahnten sich einen Weg zur Tür. Tom packte den Türgriff und wartete, bis Matt seinen Posten bezogen hatte, bevor er die Tür aufriss, damit Matt mit der Waffe in seiner ruhigen Hand hineingleiten konnte, während Tom ihm Deckung gab. Als er sich vergewissert hatte, dass niemand im Eingangsbereich war, trat er vor, um Tom Platz zu machen, damit auch er in Deckung war. Sie bewegten sich in der üblichen Durchsuchungs- und Sicherungsformation durch die Reihen von Kabeln voran, bis sie den Klang von Stimmen hörten.

»Ja, Mr. Gratsos«, sagte eine männliche Stimme, »er sagt mir, dass sie ohnehin zurückfahren wollen. Das Wetter verschlechtert sich, und sie befürchten, sie könnten hier nicht mehr wegkommen. Unsere üblichen Elektriker waren nicht erreichbar, sie waren wegen des bevorstehenden Unwetters bereits nach Hause gegangen.«

Einen Moment lang herrschte Stille, und dann stieß der Wächter einen tiefen Seufzer aus. »Selbstverständlich haben wir sie durchsucht, Mr. Gratsos. Sie waren unbewaffnet.«

Wieder trat Stille ein, diesmal kürzer als vorher. »Sie sind zu dritt, weil einer von ihnen ein Lehrling ist.« Der Wächter strengte sich an, keine Gereiztheit in seine Stimme einfließen zu lassen. »Ja, Sir. Sie werden rasch arbeiten müssen, wenn sie es vor dem Unwetter noch schaffen wollen.« Er senkte die Stimme. »Es könnte passieren, dass wir sie über Nacht unterbringen müssen.«

Matt kroch um die Leitungen herum, die vom Boden bis zur Decke reichten, und verließ sich darauf, dass Tom den Wächter ausschaltete, sowie er sein Gespräch mit Gratsos beendet hatte. Seine gesamte Konzentration galt jetzt der Sicherheit von Team eins. Die drei Männer standen ihm gegenüber, die Hände hinter den Köpfen gefaltet, und alle wirkten empört. Kent wirkte besonders verärgert; seine Augenbrauen waren zusammengezogen, als er den Wächter, der mit dem Rücken zu Matt stand, finster ansah.

»Wir gehen«, fauchte er. »Das lassen wir uns nicht bieten.«

»Haben Sie noch etwas Geduld.« Die Stimme des Wächters klang gelangweilt. »Er überprüft gerade Ihre Personalien.«

Kent sah die beiden anderen an. »Was glaubt er denn, was wir vorhaben? Zeug zu stehlen, während ihr Wächter alle zuguckt?« Etwas Schweres fiel nicht weit von dem Wächter, der mit Gratsos sprach, auf den Boden. »Hier ist alles klar«, bestätigte Toms Stimme in Matts Ohr.

Matt räusperte sich. Der Wächter, der seine Waffe auf Team eins gerichtet hielt, wirbelte herum, und sein Finger spannte sich instinktiv auf dem Abzug. Matt erschoss ihn. »Lasst uns gehen. Wir müssen die Notstromaggregate untauglich machen.«

Elle stemmte mühsam ihre Augenlider auf und zwang sich, kurz und flach zu atmen, um den Schmerz in ihrem Körper zu lindern. Sie hatte versucht den Arzt zu warnen, den sie auf die Insel geholt hatten, und das hatte ihr eine weitere Tracht Prügel eingetragen. Gerettet hatte sie ihn nicht. Sie hatte niemanden gerettet, am allerwenigsten sich selbst. Wenn Sid nicht gewesen wäre, hätte Stavros sie vielleicht totgeschlagen, denn ihr Widerstand hatte ihn in rasende Wut versetzt. Der Leibwächter war wieder einmal eingeschritten und hatte ihr geholfen, wenn sie auch nicht sicher war, warum. Sie hatte seinen Gesichtsausdruck gesehen und einen Moment lang geglaubt, er könnte seinen Boss tatsächlich töten, als er ihre Schreie gehört hatte, in das Zimmer gestürmt war und damit sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte.

Stavros war mit dem Töten schnell bei der Hand, doch mit Sid ließ er sich nicht einmal auf eine Auseinandersetzung ein, selbst dann nicht, wenn Sid einschritt. Stavros war rausgegangen, bebend vor Wut, das schon, aber trotzdem hatte er Sid alles Weitere überlassen und sie seinem Leibwächter anvertraut, obwohl er nicht einmal zuließ, dass sein eigener Bruder in ihre Nähe kam. Sid war sanft mit ihr umgegangen; er hatte sie gewaschen und ihre Rippen abgetastet, auf Russisch mit ihr geflüstert und ihr gesagt, sie solle aufhören, sich zu wehren, sie solle einfach nur durchhalten und warten. Worauf? Mittlerweile hatte sie jedes Zeitgefühl verloren.

Elle fragte sich zum millionsten Mal, ob sie Jacksons Stimme nur geträumt hatte. Ob überhaupt irgendetwas real war. Alles um sie herum erschien ihr verschwommen und weit weg. Was hatte sie aus ihrer tiefen Benommenheit aufgeschreckt? War es nicht ein Gefühl von Dringlichkeit gewesen, das sie einfach nicht in Ruhe lassen wollte? Sie wollte nicht wirklich fühlen oder denken, ganz gleich was; sie wollte an diesen Ort zurückgleiten, an dem nichts und niemand an sie herankam. Aber ... Sie wandte ihr Gesicht der breiten Glaswand zu und blickte auf das Meer hinaus.

Der Wind warf sich gegen das Gebäude, stimmte ein lautes Geheul an und zog sich dann zurück, kehrte jedoch gleich darauf mit voller Kraft zurück und schlug immer wieder gegen die Scheiben. Der Atem stockte in ihrer Kehle. Der Wind.

Halte Ausschau nach dem Wind.

Sie wollte sich aufsetzen und stellte fest, dass sie sich nicht rühren konnte. Sie zog probeweise an den Handschellen, die sich um ihre Handgelenke spannten. Er hatte sie an das Bett gefesselt. Stavros brauchte für nichts einen Grund; er wollte ihr begreiflich machen, dass ihr Dasein von seinen Launen abhing – und dass sie dagegen machtlos war. Er hatte es satt, dass sie sich ihm widersetzte, und sie hatte es in Wahrheit auch satt.

Sie blickte wieder zu der Glaswand und feuchtete sich die trockenen Lippen an. War Jackson gekommen, um sie zu holen?

Hatten ihre Schwestern den Wind gesandt, um ihr zu sagen, dass sie zu ihr kommen würden? Sie wagte es nicht zu hoffen. Ein unangenehmes Kribbeln lief ihr über den Rücken, und sie brauchte sich gar nicht erst umzudrehen, um zu wissen, dass Stavros das Zimmer betreten hatte. Sie ließ ihren Kopf auf das Kissen zurückfallen und machte sich auf seine Berührungen gefasst.

»Ich dachte, die stürmische Nacht könnte dich vielleicht nervös machen«, sagte er. »Die gläsernen Wände erwecken immer den Anschein, als sei man draußen im Unwetter, obwohl man in Wirklichkeit sicher davor ist.« Seine Stimme klang sehr besorgt, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er sich tatsächlich einbildete, er sei in sie verliebt. Falls das der Fall sein sollte, handelte es sich um eine perverse Form von Liebe - um Besitzansprüche, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. »Nervenaufreibend ist es schon«, gab sie zu und erstaunte ihn damit. So sehr, dass er die Augen weit aufriss. Sie reagierte so gut wie nie auf das, was er sagte oder tat, denn nur das erlaubte es ihr, sich ihm nicht vollständig auszuliefern.

Stavros wirkte erfreut. Er kam sofort auf sie zu und beugte sich hinunter, um einen Kuss auf ihre Lippen zu drücken, als wollte er sie damit belohnen. Elle zwang sich, den Kopf nicht abzuwenden. Sie reagierte nicht, aber sie entzog ihm ihren Mund auch nicht, und das war ein großer Sieg für ihn. »Hast du mich vermisst?«

Sie schluckte die Galle, die in ihr aufstieg. »Ich war einsam.« Sie wandte ihren Kopf der Glasscheibe zu. »Und der Wind ...«

»Mach dir keine Sorgen, meine Süße. Dieses Haus ist eine Festung. Nichts wird sie zerstören.«

Sie konnte ihm nur raten zu hoffen, dass die psychische Barriere seiner Insel niemals einstürzen würde, denn wenn sie es doch tat, würde sie persönlich dieses Haus und alles, was sich darin befand, demolieren.

»Ich muss auf die Toilette.« Es ärgerte sie, dass diese Bitte sie erröten ließ. Er liebte die Erniedrigung, dass sie darum bitten musste. Manchmal zwang er sie, »bitte« zu sagen und sich selbst dann, wenn er bei ihr blieb, anschließend bei ihm zu bedanken. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen anderen Menschen derart verabscheut. Wenigstens war sie nicht so apathisch, dass sie ihren Hass auf diesen Mann nicht mehr spürte.

»Selbstverständlich, Sheena.« Seine Hände waren sanft, als er ihr die Handschellen abnahm. »Braves Mädchen.« Er lächelte und rieb die blauen Flecken auf ihrer Haut. »Diesmal hast du dich nicht gewehrt und dir die Haut abgeschürft.«

Nur weil sie bewusstlos gewesen war oder geschlafen hatte -sie konnte den Unterschied nicht mehr eindeutig erkennen. Elle schaute wieder zum Fenster, versuchte gegen ihre Hoffnung anzukämpfen und zwang sich, keinen Kontakt aufzunehmen, um zu sehen, ob Jackson oder ihre Schwestern in der Nähe waren.

»Fürchtest du dich vor Unwettern?« Stavros löste die Fesseln an ihren Füßen, streifte mit seinen Fingern die Wunden auf ihren Knöcheln und rieb ihre Beine.

Elle holte Luft und atmete aus, um ihn sehen zu lassen, wie zerbrechlich und verletzbar sie sich fühlte. Wenn es ihn in Sicherheit wiegte, würde sie ihm fast alles eingestehen. Sie nickte. »Ich versuche dagegen anzukämpfen. Ich weiß, dass diese Furcht albern ist.«

So viel hatte sie wahrscheinlich seit ihrer Gefangennahme nicht mehr mit ihm geredet. Wie lange war das jetzt her? Sie wusste es nicht, doch es schien ihr, als bestünde ihr Leben nur noch aus ihm.

Stavros half ihr dabei, sich aufzusetzen, und als sie ein wenig schwankte und immer noch das Laken vor ihrem Körper festhielt, stützte er sie: »Ich habe dir doch gesagt, dass du mir gegenüber nicht schamhaft sein sollst«, rief er ihr ins Gedächtnis zurück. »Ich sehe deinen Körper gern an.«

Gegen ihren Willen hielt sie das Laken noch fester. Als sie ihm die Verärgerung ansah, unternahm sie einen weiteren Anlauf, seinem Selbstbewusstsein zu schmeicheln. »Ich fühle mich im Moment nicht besonders attraktiv. Mein Haar ist zerzaust und meine spitzen Knochen schauen heraus.« Sie war immer dünn gewesen, aber jetzt sah sie wie eine Vogelscheuche aus. »Der Arzt hat gesagt ...« Sie ließ den Satz abreißen und wandte den Blick von ihm ab. »Ich möchte nicht, dass du mich so siehst.«

»Du bist wunderschön, Sheena. Du warst krank, das ist alles.« Stavros zog an dem Laken, bis sie es widerstrebend sinken ließ, und dann half er ihr, ihre Beine über die Bettkante zu schwingen.

Im ersten Moment drehte sich das Zimmer vor ihren Augen. Sie war noch schwächer, als ihr klar gewesen war. Sie wartete, bis die Welt wieder stillstand, bevor sie sich aufrecht hinstellte und sich etwas fester, als sie wollte, auf Stavros stützte. Er schlang seinen Arm um ihre Taille und half ihr zum Badezimmer. Der Wind schlug so fest gegen die gläserne Wand, dass Elle zusammenzuckte und den Kopf umdrehte, um über ihre Schulter auf den dunklen Himmel zu blicken. Die Wolken waren ständig in Bewegung, brodelten und formten langsam Bilder, die ihr den Atem verschlugen. Langes Haar wehte wüst im Wind umher, sechs ferne Gesichter, die sich suchend nach links und nach rechts drehten ... und weitersuchten.

Elle stockte der Atem in der Kehle. Sie wollte auf die breite Glaswand zugehen, nicht fort von ihr. Sie konnte fühlen, wie sich ihr ganzen Wesen diesen Gesichtern entgegenreckte.

Seht mich.

Ich bin hier. Aber sie wagte es nicht, Telepathie einzusetzen. Nicht, wenn die Barriere noch bestand und Stavros im selben Raum war wie sie. Sie konnte nur den Atem anhalten und beten, sie mögen sie sehen - sie fühlen. Die Gesichter drehten sich nahezu gleichzeitig um, durchdrangen mit weit aufgerissenen Augen und scharfen Blicken den Schleier des Sturms, und Haar wirbelte in den Wolken umher, als ihre Schwestern sie ansahen. Und sie ihre Schwestern ansah.

Elle fühlte den Herzschlag jeder Einzelnen in ihrem Körper wie eine Trommel, die in ihrem Kopf angeschlagen wurde. Sie fühlte die Schläge wie Donner am Himmel. Es waren unverkennbar ihre Schwestern. Sie sackte gegen Stavros, weil die Erleichterung ihre Knie weich werden ließ. Tränen brannten hinter ihren Lidern. Sie waren gekommen, um sie zu holen. Es war keine Einbildung. Sie wollte gleichzeitig lachen und weinen.

Stattdessen zwang sie sich, die Demütigung über sich ergehen zu lassen, dass Stavros sie nicht aus dem Auge ließ, während sie auf der Toilette saß. Es machte sie krank, dass er es brauchte, sie vollständig unter seiner Herrschaft zu haben, und dass er seine kleinen Machtspiele so sehr auskostete. Sie wusch sich sorgfältig und ließ sich von ihm zurück ins Zimmer helfen.

»Darf ich mich ein paar Minuten hinsetzen?« Sie erschauerte vor Aufregung und tat so, als fröre sie. »Es fällt mir schwer, im Bett zu liegen, wenn es so stürmisch ist.«

Sie bat nie um Zugeständnisse und Stavros strahlte fast. Seine dunklen Augen glitten mit sichtlichem Vergnügen über sie, als er sie galant zu den üppig gepolsterten Sesseln führte und eine Decke holte, um sie warm einzupacken, nachdem er sie hingesetzt hatte.

Sie lächelte matt. »Danke.«

Ein Blitz zuckte durch den Himmel, und das Gelände zeichnete sich als scharfes Relief ab. Regen begann in dicken Tropfen gegen das Glas zu plätschern. Tränen. Ihre Schwestern weinten um ihre geschundene Seele. Dieser Gedanke hatte sich ungebeten eingestellt, doch sowie er da war, wusste sie, dass es die Wahrheit war. Es war fast nichts mehr übrig von der Elle, die vor so vielen Wochen aufgebrochen war. Sie war verschwunden, und wer auch immer in der Hülle ihres Körpers zurückgeblieben war, war verloren.

»War das so schwierig, Sheena? Mich um Hilfe zu bitten?«

Sie schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf. Innerlich wand sie sich vor Abscheu, weil sie gezwungen war, sein widerliches Spiel zu spielen. Sie hätte es gern so gesehen wie früher - die Rolle, in die sie als Agentin schlüpfte, trickste ihre Beute aus -, aber sie fühlte sich nicht mehr stark und als Herrin der Lage. Sie war nicht stark. Vielleicht würde sie es nie wieder sein. Sie schaute weiterhin aus dem Fenster, denn sie wollte Stavros' gut geschnittenes Gesicht nicht sehen. Er war der Teufel in Person, und schon sein Anblick erfüllte sie mit Furcht. Sie hielt ihn für unbesiegbar, und der Gedanke, ihre Schwestern könnten ihm in die Hände fallen, jagte ihr Angst ein.

»Sheena.« Seine Stimme war ein liebenswürdiges Schnurren, das sie mit Grauen erfüllte. »Sieh mich an.«

Sie zwang sich, ihren Blick von der Hoffnung abzuwenden, die ihr der Sturm gab, um in seine dunklen Augen unter den schweren Lidern zu schauen.

»Siehst du, meine Süße, das Leben braucht nicht schwierig zu sein. Du brauchst nur zu tun, was dir gesagt wird.« Stavros breitete die Arme aus und beschrieb mit einer umfassenden Bewegung das Zimmer. »Du kannst hier ein wunderschönes privilegiertes Leben mit mir führen, unsere Kinder bekommen und alles haben, was du willst.«

»Warum ich, Stavros? Ich bin nicht wie die Frauen, mit denen du dich sonst abgibst.« Nicht groß und schön, nur faszinierend genug, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und zu seinen Partys eingeladen zu werden. Sie war keine der stattlichen Blondinen, die er zu bevorzugen schien.

Er fasste ihre Bemerkung als eine Bitte um Bestätigung auf. »Ist es das, was dir Sorgen bereitet, meine Liebe? Dass du meine Aufmerksamkeit auf Dauer nicht fesseln kannst?«

Ihr Magen drehte sich um. Das Letzte, was sie sich wünschte, war, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie zwang sich zur Konzentration. Das Denken fiel ihr so schwer, aber solange er einen gewissen Abstand einhielt und sie nicht berührte, konnte sie mit ihm umgehen und auf ein Zeichen warten. O Gott. Sie konnte warten, bis das Kraftfeld zum Einsturz gebracht wurde. Das musste es sein, was sie taten - das Kraftfeld unwirksam machen. Ihr Herz machte einen Freudensprung. Stavros würde es sehr leid tun, dass er sie jemals angerührt hatte, wenn diese Barriere einstürzte.

Elle sah den Mann an und hoffte, er könnte ihr nicht ansehen, wie sehr sie ihn hasste. Sie zwang sich zu einem lässigen Achselzucken und suchte nach den richtigen Worten, um seinem gewaltigen Ego zu schmeicheln. »Du bist wie ein Märchenprinz, und tu bloß nicht so, als wüsstest du das nicht. Jeder Bericht stellt dich als einen solchen hin, und du brauchst bloß in den Spiegel zu schauen. Ich aber bin keine Prinzessin.«

Stavros beugte sich zu ihr vor und wirkte erfreuter denn je. »Du bist exotisch, Sheena, ein äußerst seltenes Juwel. Und mit Juwelen kenne ich mich aus. Ich habe auf der ganzen Welt eine Frau wie dich gesucht.«

Seine Stimme hatte jetzt wieder diesen schnurrenden Tonfall, der dazu gedacht war, sie zu hypnotisieren. Er erinnerte sie an eine Kobra, die ihre Beute anstarrt. Sie unterdrückte einen Schauer und zog die Decke enger um sich. Elle war ihren Schwestern dankbar, als der Wind fest gegen die Villa schlug und ihren Blick ganz natürlich anzog, denn nur das erlaubte es ihr, sich von diesen wachsamen Augen abzuwenden.

»Das bin ich nicht, Stavros«, flüsterte sie, und diesmal war die Scham in ihrer Stimme echt. »Ich bin schwach. Ich hätte in der Lage sein sollen, mich dir gewachsen zu zeigen und meinen Stolz zu haben. Ich fühle mich, als sei ich durch eine Prüfung gefallen, der du mich unterzogen hast.«

Sie rieb mit einem Zipfel der Decke ihren zitternden Mund. Sie wollte nach Hause, aber dort würde es nie wieder so sein wie früher, weil sie nicht mehr dieselbe war. Sie war nicht mehr Sheena MacKenzie und sie war auch nicht mehr Elle Drake. Sie wusste nicht mehr, wer sie war. Ihre Schläfen pochten, und die beharrlichen Kopfschmerzen erinnerten sie daran, dass sie bei ihrem Kampf gegen das Kraftfeld beinah ihre Gabe zerstört hatte. Was war ihr noch geblieben? All dessen, was sie war, und all dessen, was sie über sich selbst wusste, beraubt, kam sie sich vor wie eine leere Hülle, in der sich nichts verbarg.

»Meine Liebe, ich wollte dich nie auf die Probe stellen. Es bestand nie die Notwendigkeit, mir zu beweisen, dass du stark genug oder meiner würdig bist.«

Nein, nicht ihm hätte sie es beweisen müssen. Ihm ganz bestimmt nicht. Sie musste sich würdig erweisen, eine Drake zu sein und das Erbe der Drakes an sieben Frauen weiterzugeben. Sie musste beweisen, dass sie stark genug war, diese Frauen in den bevorstehenden Jahren in die Dinge einzuweisen, die sie lernen mussten, um mit so viel Macht umgehen zu können. Sie hatte ihr Leben lang Macht besessen. Und Selbstachtung. Sie war bestens ausgebildet, sie war körperlich und geistig fit, doch jetzt, als sie das erste Mal wirklich auf die Probe gestellt wurde, hatte sie ihre sieben Töchter, ihre sechs Schwestern und jede einzelne Drake-Frau, die ihr vorangegangen war, im Stich gelassen.

Sie war zerbrochen und der Schaden war nicht zu beheben.

Selbst wenn sie es schafften, sie von der Insel zu holen und sie dem Einfluss von Stavros zu entziehen, würde sie ihn nie aus ihrem Innern vertreiben und nie seine Berührungen ihres Körpers vergessen können. Er hatte getan, was er sich vorgenommen hatte, und sie war für alle Zeiten verändert.

Elle schüttelte den Kopf und strich sich ihr dichtes, leuchtend rotes Haar aus dem Gesicht. Sie hasste ihr Haar, weil er es ständig anfasste, darüberstrich, seine Faust hineingrub, ihren Kopf daran zurückriss und sie immer wieder zwang, seinen Wünschen Folge zu leisten. Nichts an ihr selbst erschien ihr sauber, nichts an ihr kam ihr vor, als gehörte es ihr. Das hatte er getan. Stavros. Selbst jetzt, als der Wind sich gegen seine Villa schleuderte und ihre Schwestern in der Nähe waren, graute ihr vor ihm. Er erschien ihr unbesiegbar. Elle hielt den Kopf gesenkt, weil sie nicht wollte, dass er ihre Niederlage sah. Dass sie sich ihm hilflos ausgeliefert fühlte.

»Sheena.« Seine Stimme war täuschend sanft und zwang sie, ihn anzusehen, obwohl ihr das Herz in der Kehle schlug. »Ich will deinen Gehorsam. Du wirst natürlich hier leben müssen, aber ich werde deine Welt zu etwas Unglaublichem machen. Wir werden unsere Kinder und unser Zuhause fern von allen anderen haben. Du wirst stets Schutz haben, und das gilt auch für unsere Kinder. Hier, wo ich dafür sorgen kann, dass sich keine äußeren Einflüsse nachteilig auf unser aller Leben auswirken.«

Es klang so vernünftig. Sie fragte sich unwillkürlich, während sie nackt dasaß, nur in eine Decke gehüllt, ihr Körper von blauen Flecken und Peitschenstriemen überzogen, wie das, was er sagte, so vernünftig und einleuchtend klingen konnte.

»Du hast mich geschlagen.«

Seine Lider zuckten, und ihr Herzschlag setzte aus, denn sie fürchtete, sie hätte ihn zu weit getrieben. Der Versuch, einen Anschein von Kontrolle zu wahren, wenn sie in Wirklichkeit überhaupt keine hatte, war eine Gratwanderung, ein Balanceakt. Kontrolle war eine Illusion.

»Ich habe dich bestraft, das stimmt, weil du falsch verstanden hast, was ich von dir wollte. Ich will Gehorsam, Sheena. Ich will für jedes deiner Bedürfnisse sorgen, jeden deiner Wünsche erfüllen und deine Gelüste befriedigen, sogar die, von denen du noch gar nicht weißt, dass du sie hast. Aber als Gegenleistung ist es erforderlich, dass du dich mir vollständig überlässt. Dass du dich mir mit Leib und Seele gänzlich anvertraust. Meine Wünsche und Gelüste sollten für dich immer an erster Stelle stehen.«

Wie eine Sklavin. Wie die Frauen, die sein Bruder geraubt und in seine Frachtschiffe gezwängt hatte, um sich daran zu bereichern, dass die Lebensumstände dieser Frauen die Hölle auf Erden sein würden. Sie fühlte, wie Widerspruchsgeist in ihr aufkam und es sie Anstrengung kostete, sich zusammenzureißen und nicht auf ihre natürlichen Gaben zurückzugreifen. Sie konnte es nicht gebrauchen, dass er sie wieder schlug. Deshalb ließ sie den Atem betont langsam aus ihrer Lunge strömen und nickte. »Ich dachte, du hättest mich auf die Probe gestellt, um meine Stärke zu testen.«

Sie erschauerte unter der Decke und blickte wieder zum Himmel auf - zu den Wolken. Bildete sie sich das nur ein? Spielte ihr Verstand ihr Streiche? Die Wolken sahen aus wie riesige, brodelnde Hexenkessel mit einem Gebräu aus uralter Zeit, und während die Wolken weiterhin aufgebracht umherwirbelten, wurden sie immer dunkler. Der Regen peitschte gegen das Glas, und es wurde noch finsterer im Zimmer. Sie hoffte, das Dunkel könne ihren Gesichtsausdruck und das Grauen verbergen, das in ihrem Innern wuchs.

Stavros hatte gewusst, dass sie übernatürliche Gaben besaß, und genau deshalb wollte er sie – nicht, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte, sondern weil er Kinder von ihr wollte. Das war der Grund, weshalb er seinen Bruder nicht zu nah an sie heranlassen wollte. Sie schloss die Augen und presste sich die Decke ans Gesicht. Sie könnte bereits schwanger sein. Es war nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass bereits ein Kind in ihr lebte.

»Sheena?« Stavros stand von seinem Sessel auf, kam auf sie zu und strich mit einer Hand durch ihr zerzaustes Haar. Sie hasste ihn, wenn er ihr Haar berührte. Und sie hasste es, dasitzen und zitternd erwarten zu müssen, dass er beschloss, was sie tun durfte und was nicht. Ob sie Schmerzen oder Lust von ihm empfangen würde, was ihr beides verhasst war.

Die Lichter wurden dunkler, und sie hörte, wie er nach Luft schnappte. Elle riss den Kopf hoch und fühlte sich von Triumph durchströmt, als Adrenalin durch ihre Adern floss, sie erfüllte und ihr Kraft gab. Sie konnte fühlen, wie das Kraftfeld flackerte, das Geräusch in ihrem Kopf nachließ und Kraft in sie hineinsickerte.

Elle warf die Decke zurück und begann sich zu erheben. Stavros hatte seine Hand noch in ihrem Haar. Jetzt riss er sie zurück und auf den Boden. Mit irrem Blick kauerte er über ihr, kramte mit der anderen Hand in seiner Tasche, holte eine Spritze heraus und zog mit den Zähnen die Schutzkappe von der Nadel. Elle wehrte sich gegen ihn, doch er kniete auf ihr und rammte ein Knie fest in ihren Bauch, während er ihr die Nadel in den Hals stach und den Kolben runterdrückte. Fast augenblicklich begann die Welt zu verblassen und an den Rändern zunehmend dunkler zu werden.

Stavros beugte sich über sie. »Ich werde dich finden, Sheena, und ich werde jeden und alles, was du liebst, töten und zerstören. Es gibt keinen Ort, an dem du dich vor mir verbergen kannst.« Sein Mund zermalmte ihren, spaltete ihre Lippe, biss fest zu und riss absichtlich an dem empfindlichen Fleisch.

Gnädigerweise breitete sich das Dunkel rasch aus, bis sie überhaupt nichts mehr hören, fühlen oder sehen konnte und sich der Schwärze willig überließ.