13.

 

Der dichte Nebel blieb für den größten Teil des Abends draußen vor der Küste, wo er sich zusammengeballt hatte. Er war dunkel und hing am Himmel wie ein schweres Leichentuch, obwohl der Wind aufgefrischt hatte. Jackson sorgte dafür, dass Elle nicht vor die Tür ging. Er zwang sie, mit ihm Karten zu spielen, und triumphierte, als er haushoch gewann.

»Ich dachte, so was solltest du gut können«, zog er sie auf.

»Tja, ich bin eben kein professioneller Zocker. Meine Güte, wie machst du das? Hast du das studiert? Niemand gewinnt beim Romme jede einzelne Runde.«

»Ich schon«, sagte er mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Ich habe beim Militär mit den meisten Kartenspielen viel Geld verdient.«

»Und jetzt gehört dir ein Lebensmittelgeschäft.«

Er sah sie finster an. »Ich kann dir nur raten, das nicht weiterzusagen. Und es auch mir gegenüber nicht zu erwähnen. Das ist mir peinlich. Und Inez hört einfach nicht auf, mich mit Lebensmitteln einzudecken. Sie bringt mir alles Mögliche.« Seine Stimme klang aufgebracht. »Ich sage ihr immer wieder, sie soll es sein lassen, aber sie hört nicht auf mich. Ich kann das gar nicht alles essen.«

»Was tust du damit?«

Er zuckte die Achseln und sein Blick wurde noch finsterer. »Ich weiß es selbst nicht.«

Sie zog die Augenbrauen hoch, und in ihren Gesichtsausdruck schlich sich Belustigung ein. »Gelangen die Sachen auf irgendeine Weise zu den Dardens?«

»Elle.« Er sprach ihren Namen in einem warnenden Tonfall aus, sprang auf und beschäftigte sich damit, ihnen Tee einzuschenken. Nachdem er die Milch hineingegossen hatte, holte er einen Teller mit Plätzchen und stellte ihn vor Elle ab.

»Du backst auch Plätzchen? Gibt es irgendetwas, das du nicht kannst?«

Wieder stieg eine schwache Röte in sein Gesicht auf, als er ihr gegenüber Platz nahm. »Ich habe die verdammten Dinger nicht gebacken. Aber sie sind gut, also iss sie. Du bist immer noch zu dünn.«

»Ich bin genau richtig.« Aber sie nahm trotzdem ein Plätzchen. »Die sind prima. Wer hat sie gebacken?«

Er seufzte. »Marie.«

Elle grinste noch breiter. »Aus den Zutaten, die du ihr gebracht hast, und die stammen von den Lebensmitteln, die dir Inez bringt, stimmt's? Du führst ein sehr kompliziertes Leben.«

»Ich bin ein sehr komplizierter Mann.« Er trank vorsichtig einen Schluck Tee und versuchte sich lässig zu geben.

Elle brach in schallendes Gelächter aus. »Du hast einen großen Kreis von Menschen, für die du etwas tust. Und wir alle haben uns die ganze Zeit gedacht, du seist ein absoluter Einzelgänger. Dabei bist du in Wirklichkeit von Menschenscharen umgeben.«

Jetzt blickte er wieder finster. »Ich bin Deputy. Es ist meine Aufgabe, Leuten zu helfen, wenn sie Hilfe brauchen.«

»Ich dachte, deine Aufgabe sei es, die Bösen zu erschießen.«

»Tja, das auch. Theoretisch wird von mir erwartet, dass ich sie verhafte. Jonas sieht es nicht gern, wenn wir Leute erschießen, aber ab und zu, einfach nur, um in Übung zu bleiben ...«

Sie lachte wieder und war erstaunt darüber, dass er sie zum Lachen bringen konnte, obwohl draußen vor dem Fenster dichter Nebel hing und der Hund unruhig auf und ab lief und den Nebel wachsam im Auge behielt. Bomber konnte die psychischen Energien wittern, die nach einem Ziel suchten, und doch war es Jackson gelungen, sie abzulenken. Sie beugte sich über den Tisch. »Wie um alles in der Welt ist es dazu gekommen, dass du so viel mit diesen Leuten zu tun hast?«

Er zuckte die Achseln. »Bei schlechtem Wetter und in langen Kälteperioden sehen die Leute selten nach älteren Mitbürgern. Manchmal können sie nicht heizen oder nicht Auto fahren, um ihre Einkäufe zu erledigen, oder aber sie haben gar kein Auto und können nicht gut laufen. Dann sehe ich lieber nach ihnen, damit ich sicher sein kann, dass sie allein zurechtkommen. Das ist doch keine Mühe.«

Sie lehnte sich zurück und sah ihn mit leuchtenden Augen an.

Jackson wandte den Blick von ihr ab. »Sieh mich nicht so an.«

»Wie sehe ich dich denn an?«

»Als sei ich ein verfluchter Heiliger. Das bin ich aber nicht, Elle.«

»Mach dir keine Sorgen, solange du nicht aufhörst du fluchen, wird dich keiner irrtümlich für einen Heiligen halten.«

Er grinste sie an. »Wenn du mich ausschimpfst, schleicht sich immer dieser schulmeisterliche Tonfall in deine Stimme in.«

»Dir gefällt das«, sagte sie. »Es ist goldig.«

Sie schnitt ihm eine Grimasse. »Schon allein dafür werde ich meinen Schwestern erzählen, dass du laufend gute Taten vollbringst. Das wirst du dein Leben lang von ihnen zu hören bekommen.«

Er ächzte. »Das würdest du nicht wagen.«

Das Lächeln verblasste auf Elles Gesicht. Sie erstarrte und wandte ihren Kopf in die Richtung des Drake-Hauses. Plötzlich sprang sie auf und warf dabei fast ihre Teetasse um. Jackson, der nicht sicher war, was hier geschah, stand ebenfalls auf und griff nach der Pistole in seinem Halfter. Elles Gesicht war blass geworden, und ihre Augen waren riesig. Sie sah sich wild im Haus um und rannte dann zur Tür.

Jackson war vor ihr dort und schob seine große, unnachgiebige Gestalt zwischen sie und den Ausgang. »Sprich mit mir, Kleines. Was ist los?«

»Ich weiß es nicht.« Sie zog die Stirn in Falten und fuhr sich mit einer Hand aufgeregt durch ihr seidiges Haar. Ihr Gesichtsausdruck war weit entrückt. »Abbey. Sie ist außer sich. Sie stürzt sich geradewegs in ...« Sie blickte über ihre Schulter auf die weitläufige graue Masse, die jetzt näher an die Küste vorgedrungen war.

»Das da.«

»Bist du sicher?«

Ihr Blick richtete sich wieder auf sein Gesicht, und diesmal wirkte sie verärgert. »Natürlich bin ich sicher. Sie ist meine Schwester. Wir stehen alle miteinander in Verbindung. Kannst du sie auch fühlen? Durch mich?«

Jackson gestattete sich, noch tiefer in Elles Bewusstsein vorzudringen. Abigail machte sich grässliche Sorgen und ihre Verfassung grenzte an Panik. Das Läuten des Telefons ließ beide aufschrecken. »Geh dran, Elle.«

»Aber Abbey könnte mich brauchen.«

»Geh ans Telefon. Ich gehe zu Abbey.« Er wusste bereits genau, was Abigail tat, und er würde unter gar keinen Umständen zulassen, dass sich Elle auch nur in die Nähe des Meeres begab. »Das wird Aleksandr sein. Sag ihm, er soll auf der Stelle herkommen und auf dich aufpassen. Er hatte geschäftlich in der Nähe von Fort Bragg zu tun.« Er gab ihr einen kleinen Schubs in Richtung Telefon und lief schleunigst in sein Schlafzimmer.

Als er wenige Minuten später zurückkam, trug er seinen Taucheranzug und hielt die Flossen in der Hand; die Ausrüstung und den Tauchgürtel hatte er sich über die Schulter geworfen. »Ich will, dass du im Haus bleibst. Hast du mich verstanden? Du bleibst hier drinnen, bei geschlossener Tür, und der Hund bleibt bei dir. Schwöre es mir, Elle, oder ich gehe nicht.«

»Aber ich sollte ...«

»Schwöre es mir, verdammt nochmal«, schnitt er ihr das Wort ab.

Abigails Sorge nahm zu, und beide konnten sie jetzt sehen. Sie flitzte am Haus vorbei und rannte auf das Meer zu.

»Ich werde das Haus nicht verlassen, ich verspreche es dir. Hilf ihr, Jackson.«

Jackson packte ihren Nacken und küsste sie fest, bevor er sich abwandte und hinausrannte. »Abbey, warte. Ich hole das Boot. Das geht schneller.«

Abbey stand am Wasserrand und schnallte ihren Sauerstofftank an. »Beeile dich, Jackson. Boscoe ist in einem Netz gefangen oder so was. Er wird ertrinken.«

Jackson sprang in seinen alten Geländewagen und ließ den Motor an. Innerhalb von Minuten hatte er das Dory in die Brandung gezogen. Abbey war in Tränen aufgelöst und sah aufs Meer hinaus. Der Motor sprang beim zweiten Ziehen an, und sie sausten los.

»Danke. Ich war nicht sicher, wie ich zurückkommen würde. Er ist ein gutes Stück weit draußen.«

Er hielt ihr keine Strafpredigt. Sie hatte ihr ganzes Leben an der Küste verbracht. Es wurde dunkel. Der Wind hatte an Stärke zugenommen, und gegen ein stürmisches Meer bei Nacht konnte sie es sogar mit Unterstützung der Drakes nicht aufnehmen. Ganz zu schweigen von den größeren Raubfischen, die um diese späte Abendzeit herkamen, um auf Nahrungssuche zu gehen; eine Vorstellung, die ihm gar nicht gefiel.

Das Dory schnitt sich durch die Brandung und holperte kräftig, als er Geschwindigkeit zulegte. Abbey sah auf das tiefere Wasser hinaus und pfiff ab und zu. Er konnte sie über den Motorenlärm kaum hören, doch sie befolgte die Anweisungen von Kiwi, dem anderen Tümmlermännchen, das eine Reihe von kreischenden und schnalzenden Lauten ausstieß, und sagte Jackson, wohin er fahren sollte. Es war ungewöhnlich, dass die männlichen Delfine und ihre Gruppe so viel Zeit in der Nähe von Sea Haven verbrachten, da sie im Allgemeinen bis zu fünfzig Meilen am Tag schwammen; und doch trieben sie sich vor dieser Küste herum, um in Abigails Nähe zu sein.

Als sie ihm ein Zeichen gab, fuhr er langsamer, schaltete den Scheinwerfer an und richtete ihn auf das schlammige Wasser unter ihnen. »Versuche, so wenig psychische Energien wie möglich zu nutzen, Abbey«, warnte er sie. »Gratsos ist dort draußen im Nebel und sucht wieder einmal nach Beute.«

»Das ist mir egal. Ich springe jetzt rein.«

»Warte!«, sagte er mit scharfer Stimme. Er packte sie an der Schulter und hielt sie trotz ihrer Anstrengungen, sich mit einem Kopfsprung ins Wasser zu stürzen, fest. »Wir gehen gemeinsam rein, und wir binden uns aneinander fest. Das Wasser wird sehr kalt und sehr dunkel und jetzt gefährlicher denn je sein. Außerdem haben wir keine Ahnung, was wir dort unten vorfinden werden.« Er drückte ihr einen Gurt aus festem Gewebe in die Hand. »Schnall dir das um.«

»Ich habe schon ein Messer.« Sie legte die Hand auf ihren Gürtel.

»Verdammt nochmal, schnall dir das um, Abbey. Wir gehen kein Risiko ein.«

Abbey lächelte ihn kurz an, als sie den Gurt an ihr Bein schnallte, damit das Messer gut saß. »Du drückst dich derartig vulgär aus, Jackson. Warte nur, bis all deine kleinen Mädchen so reden.« Sie nahm ein Ende des knapp zwei Meter langen Seils entgegen und hakte es an ihren Gürtel, damit sie lose miteinander verbunden waren.

Kiwi sprang aus dem Wasser und spritzte sie beide klatschnass. Sein Kopf bewegte sich ruckartig, als er Abbey ausschalt und sie zur Eile antrieb. Sein Körper schlug wieder auf das Wasser und er umkreiste das Boot.

Jackson drückte ihr eine Taschenlampe in die Hand, sah zu, wie sie ihr Mundstück zwischen die Lippen nahm, und bedeutete ihr, ins Wasser zu springen. Er folgte direkt hinter ihr. Der Delfin glitt näher, streifte einmal und dann ein zweites Mal ihre Körper und nahm dann einen Winkel ein, in dem Abbey die Hand ausstrecken und sich an seiner Flosse festhalten konnte. Er tauchte unter und nahm sie mit sich. Jackson fühlte den Ruck an der Schnur und schwamm nach unten, um ihnen zu folgen. Der Delfin war unglaublich stark und schnell und zog sie beide durch das Meer, immer tiefer hinunter.

Es war dunkel, und der Strahl ihrer Lichter durchdrang das trübe Wasser kaum. Die Welt, in die sie eingetaucht waren, war kalt und fremdartig und nicht so, wie Jackson sie normalerweise sah, wenn er tauchte. Ein Gefühl von Grauen und Gefahr nahm zu, und zweimal sah sich Abbey nach ihm um und er wusste, dass auch sie es wahrnahm. Jackson folgte Abbey und dem Delfin und sah sich immer wieder unter und über ihnen um. Er tat sein Bestes, um seine Aufgabe als Abbeys Wächter zu erfüllen, doch er konnte nur hoffen, falls eine tödliche Gefahr auf sie zukam, würde er sie sehen, ehe sie tatsächlich da war.

Der Delfin schwamm abrupt unter Abbey heraus und umkreiste eine zappelnde Masse. Boscoe, der sich in einem Fischernetz verfangen hatte, blutete an der Nase und den Flossen, als er darum kämpfte, sich zu befreien. Jackson zog sein Messer heraus, während Abbey ihre Hände auf den Delfin legte, um ihn zu beruhigen.

Er fühlte ein kleines Aufwogen von Energie, fast wie ein Stromschlag, als sie sich mit dem Tier verständigte, und er wusste, dass sie jetzt wirklich in Schwierigkeiten steckten. Da sie psychische Energien zum Einsatz brachte, um den Delfin zu beruhigen, während Jackson das dicke Netz aufschlitzte und zerschnitt, rief sie einen weiteren energetischen Angriff auf sie und ihn hervor. Er hatte keine Ahnung, in welcher Form er sich manifestieren würde, aber hier unten im kalten Meer bei Nacht waren sie extrem angreifbar. Abbey begann ihm zu helfen, obwohl große Kraft erforderlich war, um das Netz zu zerschneiden. Sie umkreisten den Delfin so schnell wie möglich und zogen das Netz Stück für Stück von ihm.

Es schien lange zu dauern - zu lange, während sie von dem dunklen Wasser umgeben waren und der Delfin sich trotz Abbeys gutem Zureden gelegentlich verzweifelt herumwarf. Sie konnten nicht beurteilen, wie lange er schon mit dem Netz gekämpft hatte, doch es stand fest, dass er erschöpft war und dringend Luft brauchte. Sowie er frei war, schoss er an die Wasseroberfläche, und Kiwi ließ die beiden allein, um Boscoe zu helfen. Jackson behielt das Messer in der Hand und gab Abigail ein Zeichen, an die Oberfläche aufzutauchen.

Sie nickte und begann zu schwimmen, mit kräftigen Beinschlägen, weil sie sich Mühe gab, schnell nach oben zu kommen. Jackson blieb direkt hinter ihr und fühlte das erste Ziehen an seinem Körper, den starken Sog von Wassermassen, verursacht durch die Brandungsrückströmung. Er fluchte vor sich hin und setzte seine Kraft für den Versuch ein, sie beide in die gewünschte Richtung zu bringen - nach oben -, aber sie wurden von dem Sog erfasst und ähnlich herumgewirbelt wie Wäsche beim Schleudervorgang.

Jackson streckte seine Arme weit aus, weil er versuchen wollte, Abigail zu packen und sie eng an sich zu ziehen, um sie teilweise gegen den Unrat zu schützen, der gemeinsam mit ihnen umhergeschleudert wurde. Er konnte jedoch nur ihren Anzug fühlen, als sie unter ihm in Richtung Meeresboden gewirbelt wurde. Sein Körper schlug fest auf dem Meeresgrund auf. Er rollte sich mehrfach herum, sein Tank schabte auf dem Grund und die Kraft des Wassers versuchte seine gesamte Ausrüstung von seinem Körper zu reißen. Er zwang sich, Ruhe zu bewahren und ließ sich von dem Wasser mitreißen, doch dann spürte er das Ziehen der Leine, die ihn mit Abigail verband. Er wusste, dass die Wucht des aufgewühlten Wassers die Leine zerreißen konnte.

Jackson stieß sich vom Grund ab und hoffte, dass er in Richtung Küste schwamm. Es war schwierig, genau dahinterzukommen, wo er war, nachdem er so oft im Kreis herumgewirbelt worden war. Das Seil spannte sich straff, und er übte etwas Druck aus, weil er wusste, dass Abbey viel besser als die meisten Menschen mit dem Meer und seinen Gefahren vertraut war. Sie war Meeresbiologin und verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit unter Wasser. Abigail würde so schnell nicht in Panik geraten. Er fühlte, wie sich die Leine lockerte, und gleich darauf streifte sie sein Bein, um ihm zu zeigen, dass sie mit ihm schwamm. Fast hätten sie es geschafft, aus dem Sog herauszukommen, doch dann wurden sie ein weiteres Mal von einer kräftigen Brandungsrückströmung gepackt, und Jackson hatte den Eindruck, die verborgene Strömung schleuderte sie regelrecht in die Tiefe. Diesmal rollten sie sich gemeinsam herum, packten sich an den Armen und schlangen die Schenkel umeinander, um den Schaden zu begrenzen. Wieder stieß Jackson sich vom Grund ab und setzte die Kraft seiner Beine ein. An der Küste im Norden Kaliforniens gab es manchmal jede Menge Rückströmungen, aber nicht das - keine Widersee. Gratsos hatte angegriffen.

Etwas Großes und Schweres stieß gegen sie. Er wollte zurückweichen, aber Abigail griff eifrig danach. Jackson erkannte, dass der Delfin zurückgekommen war, und sie hatte die Flosse gepackt. Kiwi benutzte seinen kräftigen Körper, um sie aus dem Sog herauszuzerren und sie wieder an die Oberfläche zu bringen. Das Wasser sog einen Moment lang an ihnen und dann schwammen sie ungehindert los.

Es schien ewig zu dauern, bis sie an die Oberfläche kamen. Als er den Kopf über Wasser hatte und sich umsah, war das Dory ein gutes Stück entfernt und der Wind hatte die Wellen zu einer beträchtlichen Höhe aufgepeitscht. Sie begannen durch die Wellentäler zu schwimmen. Etwas streifte seine Hand bei einem seiner Schwimmstöße. Abigail keuchte.

»Sieh dich vor, Jackson. O mein Gott. Halte einen Moment still.«

Er tat es und drehte sich sofort um, weil er erkennen wollte, was sie aus der Fassung gebracht hatte. Wie ein Wald von Riesenpilzen trieben um sie herum auf allen Seiten Quallen vom Meeresgrund nach oben. Es waren Hunderte. So große Quallen hatte er noch nie gesehen. Er war schon oft genug im Meer gewesen, um große Schwärme von Quallen zu sehen, die sich durch das Wasser bewegten, aber solche noch nie. Die rosa Pilzköpfe waren riesig, wie seltsame Monster aus der Tiefe.

Tentakel streckten sich von so vielen Quallen, die sich gemeinsam bewegten, im Wasser aus, dass die langen Fangarme einen Wald von giftigen Gliedmaßen bildeten, die nach allem griffen, was arglos ihren Weg kreuzte.

»Berühre die Tentakel nicht«, warnte Abbey.

»Und wie zum Teufel soll ich das vermeiden?«, fragte Jackson, der sich umdrehte und einen Weg durch das dichte Feld suchte. »Was sind das überhaupt für Dinger?«

»Quallen, eine ganze Armee von Quallen. Ich schwöre es dir, sie versuchen uns zu finden, und das ist sonst gar nicht ihre Art.«

»Dann sag es ihnen, verdammt noch mal, Abbey, denn sie scheinen es nicht zu wissen. Wie kommen wir hier raus?«

Sie versuchten stillzuhalten, denn jede kleinste Bewegung eines Armes oder eines Beines brachte ihnen diese Geschöpfe näher, als lenkten sie mit der Bewegung ihrer Körper die Aufmerksamkeit der Quallen auf sich.

»Fühlst du die Energie, die sie umgibt?«, fragte Abigail.

Wellen schlugen über ihn, und er wäre fast erstickt. Als es wieder möglich war, schüttelte er vorsichtig den Kopf. »Nein. Aber wenn es psychische Energien sind, dann muss es dieser Mistkerl sein, der es auf uns abgesehen hat.«

»Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als Feuer mit Feuer zu bekämpfen«, sagte sie.

»Nicht Elle, Abbey. Sie wird sich restlos kaputt machen. Sie wird ihre Gaben zerstören. Sie braucht dringend Ruhe.«

»Aber der Rest von uns nicht. Und er wird unsere Schwester nicht bekommen - und dich auch nicht.« Abigail schlug mit der flachen Hand angewidert auf das Wasser, sandte es von ihnen fort und beobachtete, wie die Quallen dahin schwärmten, wo das Wasser aufgetroffen war. »Elle könnte diesem Amateur einen gewaltigen Arschtritt geben, wenn sie bei Kräften wäre.«

Sie ließen sich von den Wellen auf und ab tragen, ohne sich selbst dabei unnötig zu bewegen. »Und wie kommen wir jetzt hier raus, Abbey? Du bist die Expertin.«

»Unter ihnen durchtauchen können wir nicht, weil sie von unten kommen. Das ist eine Art Falle, aber wie du sehen kannst, ist sie nicht spezifisch auf uns zugeschnitten. Er benutzt psychische Energie, um seine Angriffe in Gang zu setzen. Ich habe mit psychischer Energie Boscoe behandelt, nicht nur, um ihn zu beruhigen, sondern auch, um ihn zu heilen. Ich wollte nicht, dass seine Verletzungen sich entzünden.«

Das Reden war schwierig, und beide hatte der Versuch ermüdet, die Wellen kommen und gehen zu lassen, ohne von ihnen umhergeschleudert zu werden. Abbey sah sich nach ihrem Haus um. Fast sofort konnte Jackson eine subtile Veränderung fühlen, die sich an dem Wind vollzog. Er änderte seine Richtung, das Brausen schwächte sich zu einem leisen Rauschen ab, und er trug eine liebliche Frauenstimme mit sich. Joley Drake, ein Superstar mit einer Stimme wie eine Sirene, rief die Quallen zu sich und lockte sie über das Wasser an. Als Bannsängerin konnte Joley mit ihrer Stimme alles und jeden überzeugen, das zu tun, was sie wollte. Ihre Stimme kam herangeweht, friedlich und heiter, melodisch und betörend, und die Klänge raunten und flüsterten mit den Quallen und befahlen ihnen, zu ihr zu kommen.

Tentakel peitschten das Wasser auf, und Joleys Gesang ließ den Strom übersinnlicher Energien anschwellen bis zum Bersten.

Der riesige Quallenschwarm entfernte sich von Abigail und Jackson und wandte sich Joleys Stimme zu, von dem Verlangen getrieben, ihrem Ruf Folge zu leisten. Jackson und Abbey warteten, bis der Schwärm auf seiner Wanderung an ihnen vorübergezogen war, und setzten sich dann in Bewegung, um zu dem Dory zu schwimmen.

Jackson hatte mit Abigail links neben sich drei Schwimmstöße gemacht, als plötzlich ein heftiger Ruck durch ihren Körper ging und das Seil zwischen ihnen sich straff spannte. Sie ballte eine Hand zur Faust und begann auf etwas Unsichtbares unter der Wasseroberfläche einzuschlagen. Sie hieb immer wieder darauf ein, bevor sie keuchend im Wasser versank und ihn ansah.

Verzweiflung und Entsetzen standen auf ihrem Gesicht. Jackson stieß sich sein Mundstück zwischen die Lippen, tauchte mit ihr und folgte ihr unter die Wasseroberfläche.

Das Wasser war dunkel, und er konnte nur mit Mühe eine massige Flosse und den torpedoförmigen Körper erkennen, ein einziges rundes Auge und Kiefer, die Abbeys Bein gepackt hielten, ihre Faust, die auf die Nase und die Augen einschlug.

Das Wasser brodelte und trübte sich noch mehr, so dass er kaum noch etwas sah.

Mit kräftigen Beinschlägen versuchte Jackson in klareres Wasser zu kommen. Da sah er, dass der Hai Abbey losgelassen hatte und aus seiner Sicht verschwunden war. Als er sich umdrehte, blickte er in ein riesiges aufgerissenes Maul mit einer Doppelreihe von Zähnen, die wie eine Kreissäge aussahen, heimtückisch und viel zu massiv, um ihm zu entgehen. Es stürmte an Jackson vorbei und rammte wieder Abbey, so fest, dass ihr Körper mit einem Ruck nach vorn geschleudert wurde. Er sah ihre Hand aufblitzen, als das Wasser in einer brodelnden Masse von Blasen und Unrat aufstob und ihm wieder einmal die Sicht nahm.

Sein Körper wurde schnell durch das Wasser gezogen, an dem Seil, das ihn mit Abbey verband. Er schwamm schneller und versuchte sie einzuholen, mit dem Messer in der Faust, als er sich dem riesigen Hai näherte und zu seinem Kopf zu gelangen versuchte. Die Kiefer waren um Abbeys Rücken und Bauch geschlossen, der Metalltank in dem großen Maul zerquetscht, während Abbey sich zu wehren versuchte, als er auf die linke Seite des Kopfes gelangte. Er versenkte sein Messer tief im Auge des Tieres, das daraufhin den Kopf zurückwarf und das Maul weit genug aufriss, um Abigail freizulassen.

Ein weiterer großer Körper schoss an ihm vorbei und rammte den Hai von unten in den Bauch. Jackson packte Abbey um die Taille und stieß ihr sein Mundstück zwischen die Lippen, während er sich mit kräftigen Beinschlägen von dem Hai entfernte. Ein zweiter Delfin ging zum Angriff über und rammte sich fest in den Bauch des Hais. Sowie er davonflitzte, nahm erst ein dritter und dann ein vierter Delfin den Kampf auf. Die Delfine waren herbeigeeilt, um Abbey zu beschützen, und spielten ein reichlich gefährliches Spiel, um Abigail und Jackson Zeit für ihre Flucht zu geben.

Jackson vergeudete die kostbaren Momente nicht, die ihnen die Delfine beschafften. Er schwamm mit kräftigen Stößen, zog Abigail mit sich und machte nur Pause, um Atem zu holen, während er ihre Flucht in Richtung Dory lenkte. Er versuchte in den Rinnen zwischen den Wellen zu bleiben und Gratsos' verborgene Fallen aus psychischen Energien nach Möglichkeit zu meiden.

Als sie das Dory erreicht hatten, brauchten sie mit vereinten Kräften mehrere Anläufe, um Abbey aus dem Wasser zu hieven. Als Jackson dann seinen Körper vollständig aus dem Wasser ziehen wollte, behinderte ihn die Taucherausrüstung, und da er nahezu am Ende seiner Kräfte angelangt war, stellte es einen regelrechten Kampf dar, sich in das Boot zu hieven. Schließlich musste er erst seinen mit Gewichten beschwerten Gürtel und dann auch noch seinen Sauerstofftank abnehmen. Selbst dann brauchte er noch mehrere Anläufe, ehe es ihm gelang, sich ganz in das Boot zu ziehen.

»Bist du einigermaßen in Ordnung?«, fragte er, als er den Motor anließ. »Wie schlimm ist es?« Er wollte ihr den Taucheranzug nicht ausziehen, um es sich anzusehen. Die Kompression würde dabei helfen, Blutungen einzudämmen.

Abigail, die halb dasaß und zur anderen Hälfte flach hingestreckt war, stieß einen hohen Pfiff aus, um den Delfinen zu signalisieren, sie sollten die Gegend verlassen, bevor sie Jackson antwortete. »Ich habe Glück gehabt. Es war zwar ein Weißer Hai, aber es war ein Jungtier, und Angriffe durch Jungtiere sind, nebenbei bemerkt, sehr selten. Ich habe nur zweimal davon gehört. Jetzt frage ich mich, ob ihn etwas aufgeschreckt hat, oder ob Gratsos oder jemand wie er das Meer dazu benutzt hat, uns übersinnliche Fallen zu stellen.«

»Sag mir, wie schlimm es ist, Abbey«, beharrte Jackson, als er das Dory in Gang setzte.

Abigail holte Atem und zwang sich, an ihrem Körper herunterzuschauen. Auf einem Arm hatte sie eine klaffende Wunde, die genäht werden musste. Am Oberschenkel hatte sie einen ausgefransten Riss, der wesentlich größer war als die Wunde auf ihrem Arm, aber auch diese Verletzung war nicht lebensgefährlich. Sie blickte zu ihm auf. »Ich glaube, sein Maul hat sich um den Tank herum geschlossen, als er nach mir geschnappt hat, und ich fühle ein Brennen, einen Druck im Unterleib, und mein Taucheranzug hat Risse, aus denen Blut sickert, und daher weiß ich ganz ehrlich nicht, wie schlimm die Verletzung im Bauchbereich ist, aber die anderen Wunden sind nicht allzu schlimm.«

»Aleksandr wird stinksauer sein.«

Sie seufzte. »Ich weiß. Er wird mich zwingen, ins Krankenhaus zu gehen, obwohl Libby wahrscheinlich alles zu Hause in Ordnung bringen könnte.«

Das Dory flog über die Wellen zurück ans Ufer. Um sie herum verdichtete sich der Nebel zu Schwaden, die sich voranwälzten, eine dunklere Färbung annahmen und jedes Licht aufsogen, bis sogar die Küste selbst verschwunden war. Jackson fluchte tonlos. Um sie herum erhoben sich auf allen Seiten große Felsen aus dem Meer, und die Sicht war zurückgegangen, bis sie um null lag. Er konnte hören, dass Abigails Atem abgehackt und keuchend ging, und obwohl sie ihm beteuert hatte, ihre Verletzungen seien nicht allzu schlimm, war er sich da nicht so sicher und wollte sie möglichst schnell in ein Krankenhaus bringen.

Er verlangsamte das Dory, und im selben Moment, als Abbey ein leises Zischen ausstieß, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Ihre Blicke trafen sich, und dann versuchten beide, den Schleier der Dunkelheit zu durchdringen, der sich um sie herum enger zusammenzog und die nächste Bedrohung für sie bereithielt. Beide fühlten es, etwas Böswilliges, das sich an sie heranschlich, von der verborgenen Strömung direkt auf der Wasseroberfläche herangetragen. Der Wind nahm zu und stockte die Wellen höher auf, so dass das Meer um sie herum heftig zu brodeln begann.

»Halt dich fest, Abbey«, sagte Jackson grimmig. »Der Mistkerl greift uns schon wieder an.«

»Mir fehlt nichts«, beteuerte ihm Abbey. »Mach dir um mich keine Sorgen.«

In erster Linie machte er sich Sorgen, Elle würde versuchen, ihnen zu helfen, und Gratsos würde ihre psychischen Energien erkennen. Ihn versetzte in Unruhe, dass erst Hannah und jetzt Abigail angegriffen worden waren, nachdem sie psychische Energien eingesetzt hatten. Das musste der Auslöser für die Angriffe sein, und die Art und Weise, wie sie ihre Gaben nutzten, musste einige Merkmale aufweisen, die eine klare Beziehung zu Elle herstellten. War Gratsos sich dessen bewusst, dass er tatsächlich Elles Familienmitglieder angriff? Er hatte ihr gesagt, er würde jeden töten, den sie liebte, wenn sie nicht zu ihm zurückkäme, und Jackson zweifelte nicht daran, dass der Mann bösartig genug für den Versuch war, seine Drohung in die Tat umzusetzen, wenn er sie fand und keiner ihn aufhielt.

»Sind deine Schwestern im Moment mit dir in Verbindung?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Dann wissen sie also von dem Angriff des Hais?«

»Ja. Und sie wissen auch, dass sich gerade etwas an uns heranpirscht.«

»Dann antworte ihnen nicht. Setz keine Form von psychischen Energien ein, bevor wir sicher am Ufer angelangt sind.«

Abigail drehte den Kopf zu einem Brausen um, das links neben ihr einsetzte, und sah gerade noch, wie eine Wasserfontäne in die Höhe schoss und heftig herumwirbelte. Die lange Röhre drehte sich und gewann an Kraft, als sie immer mehr Wasser um sich herum in die Höhe sog und zu einer hohen Säule anwuchs.

Jackson riss das Dory scharf herum, weil er vermeiden wollte, in den Wirbelwind aus Wasser hineinzusteuern, und in dem Moment erhob sich eine zweite Säule aus dem Wasser. Das kleine Boot wurde von einer Seite auf die andere geworfen, als die Fontäne um sie herum herunterkrachte, als machte sie Jagd auf Beute.

Aus der Richtung des Familiensitzes der Drakes kam ein heftiger Windstoß, der über ihre Köpfe sauste und sich frontal auf die gefährlichen Zyklone stürzte: Er stieß die Wassersäulen zurück, fort von dem Dory, und schlug um das Boot herum eine Bresche in den Nebel. Jackson zögerte nicht, sondern verließ sich voll und ganz auf die Drake-Frauen, als er das Boot in die Lücke steuerte. Der Wind wehte weiterhin, blies alles, was sich ihm in den Weg stellte, fort, zwang die Tornados zurückzuweichen und lichtete den Nebel genug, um Jackson freie Fahrt zur Küste zu geben.

Am Ufer gingen Lichter an, etliche starke Scheinwerfer, die aufs Meer gerichtet waren, um Jackson den Weg zu weisen. Elle und Aleksandr hatten die Scheinwerfer aufgestellt, um den dichten Nebelschleier zu durchdringen. Jackson benutzte die hellen Lichter als Leitstrahl für die Rückfahrt und verlangsamte nicht, als erst eine und dann eine weitere Wasserfontäne in ihrer Nähe aufsprühte. Der grimmige Wind traf direkt vor dem Boot auf das Wasser, drängte die Zyklone gewaltsam von ihnen fort und hielt ihnen weiterhin den Weg frei.

Jackson steuerte das Dory auf den Strand, und Aleksandr kam auf sie zugeeilt. Der Russe hob Abigail in seine Arme und schmiegte sie eng an seine Brust; sein Gesicht war eine Maske des Zorns, als er schleunigst umkehrte und mit ihr zu dem bereitstehenden Krankenwagen lief, wobei er Abigails lautstarke Proteste restlos ignorierte.

Jackson zog das Dory höher auf den Strand hinauf. Ihm war durchaus klar, dass die Zyklone von den Drakes in Schach gehalten wurden, aber er merkte auch, dass ihre Kräfte nachließen und der Wind sich legte. Er hörte Bombers grimmiges Gebell, und sein Herz überschlug sich.

»Bleib zurück, Elle. Sieh zu, dass du dem Meer nicht zu nahe kommst. Geh ins Haus, ich bin gleich da.« Er bemühte sich um einen ernsten, sachlichen Tonfall und betete, sie möge auf ihn hören. Bei Elle konnte man nie wissen, woran man war, und Befehle kamen bei ihr nicht besonders gut an.

»Hinter dir, Jackson«, kreischte Elle.

Er wusste selbst, dass er dem Meer nicht seinen Rücken zukehren durfte, aber er hatte sich auf Elle konzentriert, und die Monsterwelle kam dröhnend auf ihn zu und sah aus wie eine sechs Meter hohe Wand aus Wasser. Die Zyklone hatten sich miteinander verbunden, und Gratsos unternahm einen letzten brutalen Angriff.

Jacksons Mut sank. Er hatte keine Chance. Die Welle würde ihn aufs Meer hinaustreiben, und er war jetzt schon zu erschöpft, um sich erfolgreich dagegen zu wehren. Er blieb einfach stehen und wartete darauf, dass sie sich auf ihn stürzte.

Elle rannte vor, die Arme hoch in die Luft erhoben, das Gesicht zum Himmel gewandt, die Handflächen nach vorn. Sie summte etwas, doch er konnte es nicht hören, weil der Wind die Klänge mitriss. Aber sie waren miteinander verbunden, und er fühlte die Kraft, die sich in ihr regte, sie durchströmte und in einem so enormen Schwall von Energie aus ihr herausbrach, dass er erwartete, die Nacht würde taghell werden. Er fühlte die Wucht ihrer Wut, eine sprudelnde Quelle, eine Explosion angestauter brutaler Energien, die mit der Kraft eines Vulkans in die Wasserwand schmetterte.

Ihre Energie war glühend heiß und rot, und am ganzen Strand zischte und brutzelte die Luft. Blitze spalteten den Himmel. Die Welle schoss wie eine Rakete in die Höhe, eine undurchdringliche überhitzte Wassermasse, die in den Nebel schoss, sich wie ein Lauffeuer ausbreitete und alles, was sich ihr in den Weg stellte, in Flammen aufgehen ließ, so dass darüber große pilzförmige Wolken nach oben strömten. Rote und orange Flammen leckten an ihren Rändern, rollten wie Feuerbälle in der brodelnden Masse umher und gingen über dem Meer als Regen hinab, der flüssiges Feuer in die Tiefen fallen ließ, um die verborgene Strömung unter dem Wasser zu finden und die grausame Energie, die Vergeltung suchte, zu kanalisieren.

Der Nebel war fort, als sei er nie dagewesen, der klare Himmel überall mit Sternen besät. Stille senkte sich gemeinsam mit den Flammen herab und es blieb nur das Geräusch der Wellen, die stetig anrollten und sich wieder zurückzogen. Laute, die ein Gefühl von Frieden mit sich brachten. Elles Knie gaben nach und sie fiel bäuchlings in den Sand. Bomber rannte Jackson entgegen und kehrte dann wieder zu Elle um, besorgt und unsicher, zu welchem von beiden er laufen sollte. Jackson stand wankend neben dem Dory und stützte sich mit einer Hand auf den Bootsrand, um Halt zu finden. Er sah sich um, benommen und erschöpft, und er versuchte die Kraft zu finden, sich in Bewegung zu setzen und zu Elle zu gehen. Das Wasser war ruhig, der Strand friedlich, und abgesehen von den Bissspuren auf Abbeys stählernem Sauerstofftank und auf ihrem Tauchgürtel wies kaum etwas daraufhin, dass sie gerade um ihr Leben gekämpft hatten.

»Elle?« Er schwankte zu ihr und ließ sich neben ihr auf den Sand sinken.

Elle rollte sich herum und blickte zu ihm auf. Blut rann aus ihrem Ohr und aus ihrem Mundwinkel. »Du hast mir schon wieder einen Schrecken eingejagt, Jackson«, flüsterte sie.

»Du hast schon wieder meine Befehle missachtet.« Er streckte sich neben ihr aus und zog mit einem Arm ihren Kopf auf seine Brust und ihren Körper eng an seinen. »Ein sehr unangemessenes Benehmen für die Frau eines üblen Raufbolds.«

»Ich habe dir gerade den Arsch gerettet, Kumpel«, hob sie hervor.

»Ja, das hast du getan. Erinnere mich daran, dass ich mich später in geziemender Form dafür bedanke.«

»Diesmal hat mich Stavros wirklich in Wut versetzt.«

Er drehte seinen Kopf um und sah in ihr blasses Gesicht. »Ich muss schon sagen, Süße, wenn du stinksauer bist, bist du höllisch scharf. Dieses Feuer am Himmel hat mich ungeheuer angemacht. Wenn ich nicht so verflucht müde wäre, würde ich dir zeigen, wie sehr es mich angemacht hat.« Äußerst behutsam wischte er ihr mit seiner Hand das Blut aus dem Gesicht. »Hast du eine Ahnung, wie es Abbey wirklich geht? Sie hat gesagt, es sei nicht weiter schlimm, aber sie hat geblutet, und obwohl sie behauptet hat, es sei ein Jungtier gewesen, kam mir das Mistvieh verdammt groß vor.«

Elle schmiegte ihr Gesicht enger an seine Brust. »Danke, dass du sie gerettet hast.«

»Ich wünschte, ich könnte das für mich in Anspruch nehmen. Aber es waren ihre Delfine. Sie sind genau zum richtigen Zeitpunkt zurückgekommen, um uns zu helfen.«

»Abbeys Arm muss genäht werden, aber nicht mit allzu vielen Stichen. Die Wunde in ihrem Bein erfordert eine längere Naht, sicher um die zwanzig Stiche.« Elle zog die Stirn in Falten, konzentrierte sich einen Moment lang und lauschte dem Informationsfluss, der von ihren Schwestern kam. »Am Unterleib hat sie fürchterliche Prellungen und auch ein paar kleine Wunden, aber etwas hat sie gerettet. Wahrscheinlich war es ihr Tauchgürtel.«

»Er weist ebenfalls Bissspuren auf.«

Elle erschauerte und schmiegte sich enger an ihn.

»Du bist ganz nass.«

»Und zu müde, um etwas dagegen zu tun.« Er drückte zarte Küsse auf ihr Gesicht. »Wir könnten versuchen, zum Haus zurückzukriechen.« Er schwieg einen Moment lang. »Erinnerst du dich noch an deine Überlegung, fort vom Wasser und weiter ins Inland zu ziehen? Allmählich glaube ich, das könnte doch eine gute Idee sein.« Er bog ihr Kinn zu sich hoch, bis sie ihm in die Augen sah und der kurze Anflug von Belustigung verflog.

»Er wird nämlich nicht aufhören.«

Sie blinzelte, und ihre Augenfarbe ging von Meergrün in ein geheimnisvolles Smaragdgrün über. »Ich weiß.« Sie seufzte leise, und ihre Finger glitten über seinen Taucheranzug, um sich zu vergewissern, dass er am Leben war und ihm nichts fehlte. »Ich werde morgen Dane anrufen und ihm Bericht erstatten.

Vielleicht können wir uns eine verdeckte Operation einfallen lassen, mit der wir ihn endgültig drankriegen. Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihn zu schnappen. Indem wir zum Beispiel genug Beweise zusammentragen, die er nicht einfach verschwinden lassen kann. Etwas mit großer Öffentlichkeitswirkung.«

Er schwieg lange und zögerte, bevor er ihr das sagte, wovon er wusste, dass es die Wahrheit war. »Er wird nicht aufhören, Jagd auf dich zu machen, Elle, noch nicht einmal vom Gefängnis aus.« Er versuchte ihr zu sagen, ohne die Worte laut auszusprechen, dass er wusste, was getan werden musste.

»Jackson, er ist es nicht wert.«

»Du bist es mir wert, Kleines, du bist es mir mehr als nur wert. Ich kann nicht zulassen, dass dieses Dreckschwein dich für den Rest deines Lebens terrorisiert.«

»Du kannst dich aber auch nicht von ihm dazu zwingen lassen, etwas zu tun, wovon du weißt, dass es falsch ist. Mord ist immer falsch.«

»Wir müssen uns ja nicht über die Bezeichnung seiner Todesart einig sein, oder?«

Elle schloss die Augen. »Das war ein wirklich schlimmer Tag.«

»Abend«, verbesserte er sie.

Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. »Was?«

»Es war ein guter Tag, meine Süße. Ich habe jede Minute mit dir genossen. Die Zeit mit deiner Schwester war mir allerdings weniger angenehm. Ich glaube, das Schwimmen mit Abbey lasse ich ausfallen, wenn sie das nächste Mal tauchen gehen möchte.«

Elle lachte leise und kuschelte sich enger an ihn. »Ich glaube, wir werden Teleportation lernen müssen. Wäre das nicht cool?«

Seine Hand hob sich auf ihr Haar, um ihre Kopfhaut zu massieren. »Du bist mir so schon reichlich unheimlich, Elle. Du brauchst nicht auch noch auf dem Wasser zu wandeln oder durch Wände zu gehen.«

»Weißt du nicht, dass Sarah diejenige von uns ist, die auf dem Wasser wandelt?«

Seine Augen wurden groß. »Erzähl mir nicht solche Sachen.«

»Als Damon neu in der Stadt war, hat er alle möglichen Gerüchte über Sarah gehört. Er war damals schlecht gelaunt und hat sich über all diese Gerüchte derart geärgert, dass er sich selbst eines ausgedacht und es in Umlauf gesetzt hat. Das hat sich dann wie ein Lauffeuer in der Ortschaft ausgebreitet.«

Jackson lachte. »Das kann ich mir bei Damon lebhaft vorstellen.« Er rollte sich herum. »Schaffst du es bis ins Haus?«

»Es fühlt sich so an, als sei es ziemlich weit weg.«

»Morgen wird Kate versuchen, deine Gaben zu heilen.«

Sie schüttelte den Kopf und zwang ihren erschöpften Körper, eine sitzende Haltung einzunehmen. Sowie sie sich bewegte, kam es ihr vor, als würde ihr Kopf explodieren. Sie waren so eng miteinander verbunden, dass Jackson mit beiden Händen seinen eigenen Kopf packte und sich bei dem Versuch krümmte, gegen die Schmerzen und die Schwindelgefühle anzukämpfen. Ihre Blicke trafen sich.

»Sei nicht so schrecklich stur, Elle. Wir dürfen nicht noch öfter riskieren, dass du dich restlos verausgabst. Wenn du so weitermachst, könntest du dir dauerhafte Schäden zuziehen. Bis wir uns von Gratsos und seinen Angriffen befreit haben, wirst du deine Gaben weiterhin nutzen, und dein Kopf ist eine tickende Zeitbombe. Das weißt du selbst.«

»Ich will aber nicht, dass er eine tickende Zeitbombe für Kate wird. Keine von uns hat jemals versucht, psychische Wunden zu heilen. Es ist mein Problem, nicht ihres.«

»Sie hat mich geheilt. Daher weiß ich, dass sie es kann.«

»Wenn Libby andere Menschen heilt, nimmt sie einen Teil der jeweiligen Krankheit oder Verletzung in sich selbst auf, und ihr Körper muss sehen, wie er damit fertig wird. Für Kate ist es wahrscheinlich dasselbe. Ich will mich nicht stur stellen, Jackson, es wäre mir nur einfach unerträglich, wenn einer von ihnen meinetwegen etwas zustieße.«

Er kauerte sich neben sie in den Sand und nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Wenn du ihr nicht erlaubst, es zu versuchen, noch nicht einmal in kleinen Portionen, jeden Tag ein bisschen, um den Prozess zu beschleunigen, dann sind wir alle in Gefahr. Jedes Mal, wenn er auf uns losgeht und auch nur den geringsten Erfolg hat, dann stärkt ihn das, und uns schwächt es. Diesmal hast du ihm eine verdammt beeindruckende Nachricht gesandt. Wo auch immer er war, er hat den Gegenschlag zu spüren bekommen. Es ist ganz ausgeschlossen, dass er nichts davon mitgekriegt hat, und deine Fähigkeiten sind noch nicht einmal annähernd wiederhergestellt. Wir brauchen dich in diesem Kampf, Elle. Du wirst Kate erlauben müssen, es zu versuchen.«

»Ich werde es mir überlegen.« Als er sie weiterhin unvermittelt ansah, seufzte sie. »Ich verspreche es dir, Jackson. Ich werde mit Libby und Sarah darüber reden und mir anhören, was sie davon halten, bevor ich Katie bitte. Matts Beschützerinstinkte sind sehr ausgeprägt, und er könnte Einwände erheben.«

»Wir alle haben etwas an den Dingen auszusetzen, die ihr Mädels tut, aber ihr tut sie trotzdem. Wenn Kate entscheidet, dass sie dich heilen kann, ohne sich selbst damit zu schaden, dann wird sie ihre Meinung nicht ändern, und nichts, was Matt sagt, wird sie davon abbringen.«

Elle stand vorsichtig auf, während ihr Kopf lautstarke Proteste erhob. »Ich werde mich hinlegen müssen.«

»Ich mich auch. Lass uns nur erst sehen, wie wir am sichersten ins Haus zurückkommen, für den Fall, dass Gratsos doch noch einen Versuch unternimmt.«

»Ich glaube nicht, dass Stavros allzu schnell wieder in der Verfassung sein wird, etwas gegen uns zu unternehmen. Er wird sich erst ärztlich behandeln lassen müssen.« Elle lächelte hämisch.

Jackson schlang seinen Arm enger um ihre Taille und begann Elle zum Haus zu führen. Bomber lief in einer entspannten Körperhaltung neben ihnen her, und das half Jackson dabei, leichter zu atmen. Wenn Elle sagte, Gratsos sei jetzt erst mal erledigt, dann wollte er das gerne glauben, aber riskieren würde er trotzdem nichts. Der Mann stürzte sich immer wieder von neuem auf sie.

»Du willst deinem Verbindungsmann mitteilen, dass du in Sicherheit bist? Bist du sicher, dass das ratsam ist?«

»Ich muss es tun, Jackson. Es ist nicht fair ihm gegenüber, und vielleicht fällt ihm etwas ein, wie er uns in Bezug auf Stavros helfen kann.«

Jackson sagte nichts dazu. Er hatte seine eigenen Pläne bezüglich Gratsos, und darin war nicht vorgesehen, diese elende Kreatur am Leben zulassen.