25

Ein Team unter der Führung Mike Tronos war zu der Bucht unterwegs, auf deren Grund die Silent Sea lag, und zwar noch ehe Juan und die anderen zur Oregon zurückgekehrt waren. Juan hatte sie per Funk angewiesen, mit dem größeren Nomad auf Nordkurs zu gehen und mit den Vorbereitungen zu beginnen, das Wrack verschwinden zu lassen. Mike hatte fünf weitere Männer und fast eine Tonne Ausrüstung in das Tauchboot gezwängt.

Sie hatten eine kalte, elende Nacht vor sich.

Nach der wahrscheinlich längsten und heißesten Dusche seines Lebens und nachdem er erfahren hatte, dass das argentinische Suchboot nicht länger als eine Stunde am falschen Ort verbracht hatte, bevor es zur Basis zurückgekehrt war, traf sich Juan mit seinen Abteilungschefs, um die nächste Phase ihrer Operation zu besprechen. Das Treffen verlief zügig. In den untätigen Stunden ihrer Rückfahrt vom Fundort des Wracks hatte Cabrillo einen Plan entwickelt, der allerdings noch einiger Verfeinerung bedurfte. Weniger als zwei Stunden nach seiner Rückkehr befand er sich wieder im Moon Pool.

Anstatt sich die Zeit zu nehmen, die Batterien des Discovery aufzuladen, wechselten Techniker sie gegen frische aus, und sie wechselten auch die Kohlenmonoxid-Scrubber und füllten alle Lufttanks auf. Für diese Mission wählte Juan Franklin Lincoln als Begleiter. Er rechnete zwar nicht mit einem Einsatz von Schusswaffen, aber der große ehemalige SEAL bewegte sich wie ein Geist und hatte an mehr verdeckten Einsätzen teilgenommen als die gesamte restliche Mannschaft zusammengenommen.

Als sie zum Aufbruch bereit waren, erschien Kevin Nixon mit einer Kälteschutzkleidung, die seine Leute dergestalt modifiziert hatten, dass sie der Ausrüstung ähnelte, die die Argentinier trugen. Sobald sie in Jacken, Hosen, Kapuzen, Schals und Schutzbrillen eingepackt waren, würden sie vollkommen anonym sein.

Sie brauchten zehn Minuten, um die Meerenge zu überwinden. Selbst im tauchenden Zustand konnten sie den Lichtschein am fernen Ufer erkennen. Von dem Klappern und Jaulen der Maschinen auf den Ölplattformen aus klang das Wasser wie ein Schrottplatz. Der Industrielärm überdeckte das Summen ihres Motors, daher brauchten sie nicht allzu vorsichtig zu sein, als sie begannen, die Bucht zu durchqueren.

»Was für ein Geräusch ist das?«, fragte Linc, während sie in zehn Metern Tiefe dahinglitten.

»Die Ölplattformen?«

»Nein. Es klingt wie ein niederfrequentes Gluckern. Es war richtig laut, als wir in die Bucht einfuhren, und obwohl es inzwischen deutlich leiser geworden ist, kann ich es noch immer hören.«

Juan lauschte konzentriert und nahm den seltsamen Laut ebenfalls wahr. Er wagte es, einen der schwächeren Scheinwerfer einzuschalten. Von einem Ort über der Wasseroberfläche aus betrachtet, wirkte es wie die Reflexion des Mondes auf einer Welle. In seinem Schein sah er winzige Bläschen, als stiegen sie in dichten Vorhängen vom Meeresboden auf. Und nachdem sich seine Augen besser angepasst hatten, entdeckten er und Linc das Röhrensystem auf dem Grund der Bucht und sahen außerdem, dass die Röhren die Quelle dieser Bläschen waren.

Er löschte den Scheinwerfer, und die beiden sahen einander ein wenig ratlos an.

»Irgendeine Idee?«, fragte Linc schließlich.

»Ich glaube, auf diese Art und Weise halten sie die Bucht eisfrei.« Er blickte auf eines der Computerdisplays. »Jawohl. Das ist es. Die Wassertemperatur beträgt fast fünfzehn Grad. Wahrscheinlich benutzen sie das Gas von den Ölplattformen, um die Luft aufzuheizen und durch die Röhren zu pressen. Ziemlich genial, wenn man es sich genau überlegt.«

In einem Abstand von hundert Metern passierten sie Sekunden später den großen Kreuzer, der in der Bucht ankerte.

»Irgendwelche Vorstellungen, was wir mit ihm tun sollen?«

Juan konnte seine düstere Präsenz in dem tintenschwarzen Wasser beinahe körperlich spüren: wie die eines mörderischen Hais. Eine Auseinandersetzung zwischen der Oregon und dem Kreuzer wäre kurz und brutal und würde höchstwahrscheinlich damit enden, dass beide Schiffe am Ende auf dem Meeresgrund lagen. »Ich hoffe, dass mich heute noch die Inspiration heimsucht.«

Zwanzig Meter vor den Piers fuhr Cabrillo das Restlicht-Televisionsperiskop aus. Es war nicht größer als eine Schachtel Zigaretten, und die Bilder, die es aufnahm, wurden direkt zu einem HD-Schirm im U-Boot und auf der Oregon gesendet. Ein Dutzend Augenpaare studierte die Docks, während Juan in den nächsten Minuten die Kamera hin und her schwenkte. Abgesehen von Arbeitsbooten, die am Pier vertäut waren, gab es nichts weiter zu sehen als Betonpfeiler. Es war einfach zu kalt für die Männer, um für eine längere Zeit Wache zu stehen.

Außerdem vermutete Cabrillo, dass die Argentinier auf das, was sie erreicht hatten, stolz waren und nicht glaubten, dass ihnen irgendeine Gefahr drohe. Später, vielleicht, käme es zu einer bewaffneten Reaktion, doch während der nächsten Tage würde die Welt weiterhin damit beschäftigt sein, sich über ihren dreisten Schritt aufzuregen.

Er bugsierte das U-Boot unter das Dock und ließ es nur langsam auftauchen. Weniger als zehn Zentimeter seines Rumpfs brachen durch die Wasseroberfläche, und der Süllrand um den Ausstieg war nur acht Zentimeter höher. Mit seinem dunkelblauen Rumpf blieb das Tauchboot so gut wie unsichtbar. Hinzu kam noch, dass sich ein Beobachter an Bord des Arbeitsbootes hinknien müsste, um unter den Pier zu blicken. Daher war ihr Risiko, entdeckt zu werden, praktisch gleich null.

Die beiden Männer kamen sich wie ein Paar Schlangenmenschen vor, als sie in ihre Parkas schlüpften. Ein paar Sekunden später öffnete Linc jedoch die Luke und kletterte aufs Deck. Über sich hatte er nur wenig Spielraum und musste sich gebückt halten, als er das Tauchboot vertäute, damit es sich nicht bewegte, wenn die Gezeiten wechselten. Cabrillo stieg vom Mini-U-Boot auf die Backbordseite eines der Arbeitsboote. Linc folgte ihm, und dann, als hätten sie alle Zeit der Welt, kletterten sie auf den Pier und näherten sich der argentinischen Basis.

Juan hatte zum ersten Mal Gelegenheit, sich einen Überblick über die Einrichtung zu verschaffen und war von ihrer Größe und Ausdehnung verblüfft. Er wusste von Lindas Fotos, dass es in der Bucht aber noch mehr als das Dreifache an Platz gab, das sie einnahm. Wenn man den Argentiniern also freie Hand ließe, entstünde hier über kurz oder lang eine richtige Stadt.

Der erste Punkt der Tagesordnung war, festzustellen, wo die Argies die internationalen Wissenschaftler, die sie entführt hatten und als menschliche Schutzschilde benutzten, im Augenblick festhielten. Es war acht Uhr abends, und wie sie schon vermutet hatten, waren kaum Leute unterwegs. Gelegentlich sahen sie, wie sich ein Schatten zwischen den Gebäuden bewegte, aber die meisten Leute hielten sich klugerweise im Innern auf. Als sie durch das eine oder andere Fenster blickten, konnten sie Männer sehen, die hingelümmelt auf Sofas saßen und sich DVDs anschauten oder in Gemeinschaftsräumen Karten spielten oder in ihren persönlichen Unterkünften Bücher lasen oder nach Hause schrieben. Der erste Bereich, den sie inspizierten, schien die Schlafquartiere der Ölarbeiter zu beherbergen und war damit als möglicher Fundort eher unwahrscheinlich.

Sie durchsuchten mehrere Lagerhäuser – dabei der Überlegung folgend, dass die Wissenschaftler in irgendeinem Hinterzimmer eingesperrt waren. Aber sie fanden nichts als Ölbohrgerät und hunderte Fässer eines Bohrschmiermittels namens Schlamm.

Als sie eines der Gebäude verließen, wartete eine dunkle Gestalt an der Tür. »Was macht ihr hier?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme wurde durch einen Schal gedämpft, aber der anklagende Tonfall war unverwechselbar.

»Wir versuchen, uns hier zurechtzufinden«, antwortete Juan auf Spanisch. Der Fremde war wie ein Bürger gekleidet, daher ging er in die Offensive. »Wenn wir euch verteidigen sollen, muss ich jeden Quadratzentimeter dieser Anlage kennen. Wenn Sie nichts dagegenhaben, machen wir jetzt damit weiter.«

»Ja?« Der Mann war immer noch misstrauisch. »Warum schleichen Sie dann bei Nacht hier herum?«

Juan machte eine Geste zu Linc hinüber, als wollte er sagen: Ist das zu fassen? Dann erwiderte er: »Weil ich sehr bezweifle, dass die Amerikaner so fair sein werden, nur tagsüber anzugreifen. Und was bei Tag wie eine Deckung aussieht, mag bei Dunkelheit genau das Gegenteil sein.«

Damit schob Juan den Mann mit der Schulter beiseite, während er ihn passierte, und er und Linc gingen weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als sie hinter der Ecke einer Wohnbaracke außer Sicht waren, drehte sich Juan um und sah, dass ihr neugieriger Frager verschwunden war.

Linc kicherte. »Mein Spanisch mag ein wenig eingerostet sein, aber das klang wie aus dem Mund eines Kampfstiers.«

»Ich hab es Max ja erst vor kurzem erklärt: Je dreister oder verrückter eine Lüge ist, desto eher wird sie geglaubt.«

Weil die Einrichtung vor Satellitenbeobachtung getarnt sein sollte, war sie nicht in einem gleichmäßigen, auf Effizienz bedachten Muster angelegt. Erst als sie zum südlichen Ende der Basis kamen, in dessen Nähe Linc vorher eine versteckte SAM-Batterie entdeckt hatte, bemerkten sie ein separat stehendes Gebäude auf Stelzen, das in seiner äußeren Form an ein Iglu erinnerte. Licht drang aus dem vorderen Fenster, aber der Rest war dunkel.

Sie stiegen die Treppen hinauf. Juan öffnete die äußere Tür, und er und Linc betraten einen Vorraum mit Haken an der Wand für Parkas – und Gestellen für Stiefel. Keiner der beiden machte Anstalten, sich seiner Winterkleidung zu entledigen. Sie öffneten auch nur die Tür, die ins Gebäude führte. Zwei Soldaten sprangen auf, beide mit gezogenen Pistolen. Sie hatten gehört, wie die Außentür geöffnet und geschlossen wurde, und waren sogleich in Alarmbereitschaft. Als sie sahen, dass die Besucher zwei Soldaten in argentinischer Ausrüstung waren, entspannten sie sich. Der Raum hatte den Charme und die Ausstrahlung eines liegen gebliebenen Wohnanhängers.

»Was habt ihr hier zu suchen? Wir haben noch Dienst bis zweiundzwanzig Uhr.«

»Tut uns leid. Wir sind nicht hier, um euch abzulösen«, sagte Juan. »Wir wurden hergeschickt, um den Major zu suchen. Ist er hier irgendwo?«

»Espinoza war vor zwei Stunden hier, um die Gefangenen zu kontrollieren.« Der Wächter deutete auf eine geschlossene und offensichtlich verriegelte Tür hinter sich. »Seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen.«

Jetzt hatte Juan auch einen Namen zu dem Gesicht. »Okay, danke.« Sie wandten sich zum Gehen.

»Moment, wer ist das da? Ramón?«

Tolldreist antwortete er: »Nein – Juan Cabrillo.«

»Wer?«

»Juan Rodriguez Cabrillo. Ich bin gerade vom MI zur Neunten Brigade gewechselt.« Hieß militärischer Geheimdienst, hieß weiter, ich bin wahrscheinlich Offizier, also fasse dich kurz, wenn du Fragen hast.

»Ja, Sir«, sagte der Soldat und schluckte krampfhaft. »Wenn ich Major Espinoza sehe, bestelle ich ihm, dass Sie ihn suchen.«

Es war schwierig, seiner Stimme einen drohenden Unterton zu verleihen, weil er so dick eingepackt war, aber Juan schaffte es, als er erwiderte: »Das Beste für dich wäre, wenn diese Unterhaltung nie stattgefunden hat, Soldat. Verstanden?«

»Sir. Ja, Sir.«

Linc und Cabrillo kehrten in die klirrend kalte Nacht zurück, wo die Sterne so hell leuchteten, dass das Eis ringsum unwirklich schimmerte. »Bingo«, sagte Linc.

»In der Tat, Bingo. Jetzt brauchen wir nur noch die Geiseln zu befreien, den Laden zuzumachen und einen Achttausend-Tonnen-Kreuzer außer Gefecht zu setzen, ohne dass die Argentinier merken, dass wir überhaupt jemals hier gewesen sind.«

Die beiden Männer setzten ihre Erkundungstour für weitere drei Stunden fort und bewegten sich dabei ungehindert in der gesamten Basis. Anscheinend war der Zutritt nirgendwo verboten – mit Ausnahme des behelfsmäßigen Gefängnisses. Juan interessierte sich vor allem für die Öl- und Gasraffinerien. Sie befanden sich in hangargroßen Gebäuden, die mit Isolationsmaterial sowie Eis und Schnee bedeckt waren. In jedem fanden sie ein Gewirr von Leitungen und Rohren, die nach einem System zusammenhingen und sich verzweigten, das nur ein Ingenieur entschlüsseln konnte. Eine der Raffinerien war in einiger Entfernung zum Strand errichtet worden. Die andere ragte teilweise über das Wasser hinaus und ruhte zur Hälfte auf Stützpfeilern, die in den Meeresboden getrieben worden waren. In dieser wurde nicht nur das Erdgas gereinigt, dort fanden sie auch den mächtigen Heizofen, von dem aus hocherhitzte Luft in die Röhren auf dem Grund der Bucht gepumpt wurde. Alles erschien vollständig automatisiert, aber diesem lebenswichtigen System wurde so viel Bedeutung beigemessen, dass ein Arbeiter als Aufsicht in einem Büro nicht weit davon postiert war. Als er Linc und Cabrillo entdeckte, grüßte er die beiden Soldaten mit einem Kopfnicken. Sie erwiderten den Gruß mit einem Winken, und der Arbeiter widmete sich wieder der Lektüre seines Fachmagazins für weibliche Anatomie.

Als sie zum Hafen zurückkehrten, war es bereits nach elf Uhr. Beide Männer waren erschöpft und bis auf die Knochen durchgefroren. Sie sprangen auf das Arbeitsboot, und Juan duckte sich gerade unter den Pier, um auf das Tauchboot zu steigen, als ein Wächter rief: »Stopp! Was treibt ihr hier draußen nach dem Zapfenstreich?«

Juan richtete sich auf. »Ich habe heute Nachmittag, als ich mit den Chinesen draußen in der Bucht war, meinen iPod vergessen.«

»Mir ist egal, was du vergessen hast. Niemand darf sich nach dem Zapfenstreich mehr draußen zeigen. Kommt sofort rauf. Ich nehme euch mit.« Er brachte seine Maschinenpistole in Anschlag.

»Immer langsam, Kumpel«, sagte Juan ganz ruhig und verfluchte im Stillen ihr Pech, ausgerechnet auf den diensteifrigsten Soldaten der gesamten argentinischen Armee gestoßen zu sein. »Wir wollen keinen Ärger.«

»Dann hättet ihr in eurer Koje bleiben sollen. Bewegt euch!«

Linc kletterte als Erster auf den Pier. Der Wächter wich instinktiv einen Schritt zurück, als er die Größe eines seiner Gefangenen gewahrte. Linc war fast einen ganzen Kopf größer als er und sah in seiner dicken Kältekombination wie ein leibhaftiger Eisbär aus.

Juan folgte ihm, aber ehe der Wächter weitere Befehle erteilen konnte, machte der Chef einen Satz vorwärts und stieß die Heckler & Koch nach unten, um zu verhindern, dass der Argentinier abdrückte. Gleichzeitig rammte er dem Mann die Faust ins Gesicht. Er traf die Schutzbrille des Wachtpostens, so dass sie auf seiner Nase zerbrach und einen Strom aus Blut und Tränen auslöste.

Linc kam heran, entwand dem Mann die Waffe und trat mit einem schweren Stiefel gegen sein Knie. Der Mann brach zusammen, wobei Cabrillo bei ihm blieb, um seine Hilferufe zu ersticken. Juan zögerte nicht. Das Risiko war einfach zu hoch. Er legte eine Hand auf die Nase und den Mund des Wachtpostens und hielt ihn auf diese Weise fest, während sich der Mann verzweifelt wehrte. Es dauerte weniger als eine Minute.

»Verdammt, mir wäre lieber gewesen, ich hätte das nicht tun müssen«, keuchte er atemlos und erhob sich. Seine Hände waren blutbesudelt.

»Was tun wir mit ihm? Wenn wir ihn mitnehmen, könnte das Verdacht erregen. Das ist ja nicht gerade ein Ort, von dem man desertiert.«

Juan zog dem Wächter die Kapuze seines Parkas vom Kopf und befreite ihn auch von seiner Wollmütze. Dann schmierte er das Blut des Mannes auf einen Poller in der Nähe und arrangierte seinen Körper derart, dass es aussah, als sei er gestürzt und hätte dabei sowohl das Bewusstsein als auch seine Kopfbedeckung verloren. Zehn Minuten in diesem ungeschützten Zustand reichten durchaus aus, um auf Grund der extremen Kälte zu sterben.

»Problem gelöst. Jetzt nichts wie nach Hause.«

 

Am darauffolgenden Morgen wurde Cabrillo vom Klingeln eines Telefons geweckt. Der Berg Decken auf seinem Bett wog eine gefühlte Tonne, und er hatte im Schlaf heftig geschwitzt. Trotzdem war ihm kalt. Es erinnerte ihn an die kasachischen Morgenstunden, als er damals während seiner Tätigkeit für die CIA in das Balkonur Kosmodrom eingedrungen war. Er schlängelte eine Hand unter den Decken hervor und ergriff das Headset auf seinem Nachttisch.

»Hallo.« Die Uhr zeigte Viertel nach acht. Er hatte verschlafen.

»Wo bist du?« Es war Overholt in Langley.

»Auf halbem Weg nach Kapstadt. Der Emir von Kuwait kommt zu Besuch.«

»Bist du sicher?«

»Lang, ich habe Navigationsgerät im Wert von ein paar Millionen Dollar in die Oregon gestopft. Ich denke also, ich weiß, wo wir sind. Was dagegen, mir zu verraten, was dir solche Angst macht?«

»Du weißt doch von diesem U-Boot, das die Chinesen nach Süden geschickt haben, um die Argentinier zu schützen, oder?«

»Ich erinnere mich, dass du etwas in dieser Richtung erwähnt hast, ja.«

»Die Marine der Volksbefreiungsarmee hat den Kontakt mit ihm verloren, nachdem es den Befehl erhielt, ein Schiff zu überprüfen, das in ihre Sperrzone eindrang. Das war vor sechsunddreißig Stunden.«

»Ich versichere dir, zu diesem Zeitpunkt waren wir östlich der Falklands auf halbem Weg nach St. Helena Island.«

»Gott sei Dank.«

Juan hatte seinen Freund noch nie so niedergeschlagen erlebt. »Was ist denn los?«

»Seit sie das Boot verloren haben, veranstalten die Chinesen ein Riesentheater. Sie behaupten, wir hätten es versenkt, aber sie können es nicht beweisen. Sie sagen, dass jeder offene Angriffsakt gegen die Argentinier, egal wer ihn ausführt, als Angriff durch die Vereinigten Staaten betrachtet wird. Wenn da unten etwas passiert, werden sie sämtliche ausstehenden amerikanischen Schulden sofort fällig stellen. Das wären drei Viertel Billionen Dollar. Wir wären vollkommen ruiniert, denn jeder andere, der Schatzbriefe und Schuldverschreibungen besitzt, wird sie ebenfalls einlösen wollen. Das wäre dann mit dem Sturm auf die Banken zu Beginn der Depression zu vergleichen.

Über diplomatische Kanäle haben wir ihnen mitgeteilt, dass, wenn sie die Schulden einfordern, wir im Gegenzug die Einfuhrzölle derart erhöhen, dass niemand mehr ihre Waren kaufen will. Genau genommen haben sie uns herausgefordert. Ihnen ist es gleich, ob ihr Volk arbeitslos wird und verhungert. Wenn es um wirtschaftliche Zermürbung geht, können sie uns jederzeit fertigmachen. Wir haben uns selbst in eine ausweglose Situation outgesourct und gepumpt, und jetzt müssen wir den Preis dafür bezahlen.«

»Sie haben von einem offenen Angriffsakt gesprochen?«

»Offen. Verdeckt. Es tut nichts zur Sache. Sie haben uns an der Gurgel. Ende der Geschichte. Der Präsident hat befohlen, dass sämtliche amerikanischen Kriegsschiffe im Atlantik oberhalb des Äquators bleiben, und er ruft jedes unserer Jagd-U-Boote zurück, um den Chinesen zu zeigen, dass wir uns nicht in das einmischen, was sie und die Argentinier in Gang gesetzt haben. Ab heute haben die Vereinigten Staaten den Status als Supermacht an die Chinesen abgetreten.«

Aus dem Mund eines Mannes, der eine bedeutende Rolle dabei gespielt hatte, als die Bemühungen der Sowjetunion um die Weltherrschaft zu Ende gingen, klangen diese letzten Worte besonders schmerzlich. Juan wusste nicht, was er dazu sagen sollte, und hatte in diesem Moment nicht einmal die geringste Vorstellung, was er tun konnte.

Richtig wäre es, bei seinem Plan zu bleiben und die Dinge laufen zu lassen. Er musste jedoch auch in Erwägung ziehen, was mit den Menschen in seiner Heimat geschähe. Was Overholt beschrieb, ließ die Große Depression wie eine Zeit des Wirtschaftsaufschwungs erscheinen – sechzig oder siebzig Prozent Arbeitslosigkeit, Hunger und die Gewalt, die diese Verhältnisse unweigerlich nach sich zogen, der Zusammenbruch jeglicher gesetzlichen Ordnung. Im Grunde wäre es das Ende der Vereinigten Staaten.

Schließlich überwand er seine Sprachlosigkeit. »Also, du brauchst dir wegen uns keine Sorgen zu machen. Wie ich schon sagte, wir sind unterwegs nach Südafrika.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Langston müde. »Weißt du, Juan, wir kommen aus dieser Geschichte vielleicht doch nicht so glatt heraus.«

»Was meinst du?«

»Die Chinesen können wir vielleicht noch beschwichtigen, aber Nordkorea verlangt, dass wir, wenn wir keine militärische Konfrontation riskieren wollen, einen Teil unserer Soldaten abziehen, die wir in Südkorea stationiert haben. Und gestern Nacht ging eine kleine Bombe in der Nähe des Präsidentenpalastes in Caracas hoch. Die Venezueler behaupten, es sei ein Attentat der kolumbianischen Special Forces gewesen. Sie haben Rache geschworen, und auf Satellitenbildern ist zu erkennen, dass sie Truppen an die Grenze verlegen. Interessanterweise haben sie damit aber schon vor zwei Tagen begonnen.«

»Was den Verdacht nahelegt, dass sie die Bombe selbst gelegt haben, um einen Vorwand zu schaffen.«

»Das denke ich auch, aber es ist eigentlich egal. China hat in Venezuela großzügig investiert, daher kannst du dir sicherlich vorstellen, wie wir reagieren werden, wenn sie in Kolumbien einmarschieren.«

»Ihr dreht die Daumen?«

»Sogar das könnte als Provokation verstanden werden«, sagte Overholt mit einem Anflug von Galgenhumor. »Wahrscheinlich stecken wir stattdessen die Hände in die Taschen. Hör mal, ich habe heute Morgen eine ganze Latte von Besprechungen. Wir reden später über die neuen Entwicklungen, ja? Bestell dem Emir von Kuwait meine besten Grüße, falls wir uns nicht mehr sprechen, ehe du dort ankommst.«

»Das tu ich gern«, versprach Juan.

Er legte das Headset zurück und stieß die Decken von sich. Der Fußboden war so kalt wie ein Eishockeyfeld und unter Juans Wollsocken mindestens genauso glatt. Er war sich nicht sicher, wer der bessere Spieler war. Er, indem er Overholt belog, oder Overholt, indem er ihn zu manipulieren versuchte. Der CIA-Veteran glaubte vielleicht, dass die Oregon Kapstadt anlief, aber er hatte Juan von Nordkorea und Venezuela erzählt, um ihn zum Umkehren zu bewegen.

»Tu das Richtige«, hatte Juans Vater immer gesagt. »Dann kommst du mit den Konsequenzen besser klar, ganz gleich was du denkst.«

Er zog sich schnell an und begab sich ins Operationszentrum, wo schon eine Tasse Kaffee aus einem silbernen Kaffeespender, der auf einem der hinteren Tische stand, auf ihn wartete. Da das Schiff fest und sicher auf Grund lag, hatte Maurice ihren besten Royal Doulton aufgebrüht. Das war die subtile Art des Chefstewards, sich für seine frühere spöttische Bemerkung zu revanchieren. Wenn sich Juan recht erinnerte, hatte die Tasse in seiner Hand fünfundsiebzig Dollar gekostet.

»Wie sind Mike und sein Team zurechtgekommen?«, fragte er. Murph und Stoney saßen in ihren angestammten Sesseln im vorderen Teil des Raums.

»Sie kamen heute Morgen um vier Uhr zurück«, erwiderte Eric Stone. »Er meinte, dass alles gut gegangen sei, aber sie brauchen mindestens noch eine Nacht. Und es gibt ein Problem.«

»Gibt es das nicht immer?«

»Das Arbeitsboot mit dem Sonar ist heute Morgen nach Süden ausgelaufen.«

Juan stieß einen Fluch aus. Wenn er das Wrack in einem Tauchboot so schnell hatte finden können, konnte er mit einiger Sicherheit auch davon ausgehen, dass die Chinesen es ebenfalls finden würden. »Ich wette, die andere Bucht ist mit Eis bedeckt, daher sind sie wohl in der richtigen.«

»Was willst du deswegen unternehmen?«, fragte Mark.

»Weiß ich noch nicht«, antwortete Juan. »Wir können sie mit keinem der Tauchboote einholen, und wenn wir sie mit dem RHIB verfolgen, könnten sie der Basis per Funk melden, dass sie ein unbekanntes Boot gesichtet haben.«

Hali Kasim, der wie üblich an seiner Station den Dienst versah, ergriff das Wort. »Und wenn sie das Wrack heute finden? Das Einzige, was sie tun können, wäre, ein paar undeutliche Unterwasserfotos zu schießen. Die beweisen nichts, und morgen um diese Zeit gibt es das Wrack nicht mehr.«

»Ich spiele nur ungern des Teufels Advokat«, sagte Eric, »aber wenn sie das Wrack finden, woher wissen wir dann, dass sie nicht über Nacht an Ort und Stelle bleiben? Das würde unseren Zeitplan über den Haufen werfen.«

Juan spürte die ersten Anzeichen beginnender Kopfschmerzen und massierte geistesabwesend seine Schläfen. Natürlich war da noch das andere Problem, für dessen Lösung er nicht die leiseste Idee hatte. Er hatte sich mit Kevin Nixon darüber unterhalten, was er sich hatte einfallen lassen. Aber der Spezialeffekte-Guru meinte, dass sämtliche Attrappen, die er anfertigen könne, auf Anhieb als solche erkannt werden würden. Entweder man hatte etwas Echtes, oder man hatte gar nichts. Damit ihr Plan funktionierte und die Argentinier keinen Verdacht schöpften, musste Cabrillo irgendwo achtzehn menschliche Skelette finden.

Die Kopfschmerzen steigerten sich allmählich zu einer ausgewachsenen Migräne.