24
Eine leichte Berührung an der Schulter weckte Jorge Espinoza. Wie jeder gute Soldat war er augenblicklich hellwach. Sein Adjutant, Korporal deRosas, beugte sich über ihn und hatte eine Tasse mit, wie er hoffte, Kaffee in der Hand.
»Tut mir leid, Sie zu wecken, Sir, aber ein großes Schiff ist an der Einfahrt zur Bucht aufgetaucht.«
»Ein Kriegsschiff?«
»Nein, Sir, ein Frachter. Er ist gestrandet.«
Espinoza warf den dicken Stapel Decken ab und bedauerte es augenblicklich. Obwohl der Aufseher, Luis Laretta, damit geprahlt hatte, dass der Treibstoff für die Einrichtung kein Problem darstelle, hatte die Luft eine Kälte, die in alles eindrang. Espinoza schlüpfte in zwei lange Unterhosen, bevor er seine Kampfhose anzog. Die Füße schützte er mit drei Paar Socken.
»Hat irgendjemand an Bord versucht, Kontakt aufzunehmen?«
Der Adjutant öffnete die metallenen Fensterläden, um hereinzulassen, was bei diesem gottverdammten Dauerfrost noch als Sonnenlicht durchging. Der Raum war kaum für das Bett und eine Kommode groß genug. Die Wände bestanden aus farbig gestrichenen Schalungsplatten. Das einzige Fenster ging auf die Rückseite eines anderen Gebäudes hinaus, das nur einen Meter entfernt stand. »Nein, Sir. Das Schiff ist offenbar verlassen. Eines der Rettungsboote fehlt, und wenn man sich ansieht, wie heruntergekommen es ist, macht es ganz den Eindruck, als wäre es schon vor längerer Zeit aufgegeben worden. Sergeant Lugones hat es mit einem Infrarotfernglas untersucht. Nichts. Das Schiff ist vollständig ausgekühlt.«
Espinoza trank einen Schluck von dem starken Kaffee, der sich allerdings schlecht mit dem Belag auf seiner Zunge vertrug. Also verzog er angeekelt das Gesicht. »Wie spät ist es?«
»Neun Uhr vormittags.«
Drei Stunden Schlaf. Er war schon mit weniger ausgekommen. Er und Jimenez und zwei von den Sergeants waren den größten Teil der Nacht auf den Beinen gewesen und hatten in den Hügeln hinter dem Lager nach potentiellen Kampfstellungen gesucht. Das zerklüftete Gelände stellte eine natürliche Befestigung mit hunderten geeigneter Stellen dar, um dort Gewehrnester zu postieren. Das einzige Problem war, sie warm zu halten. An diesem Tag wollten sie überprüfen, wie lange die Männer in Position bleiben konnten und immer noch kampfbereit waren. Die Sergeants schätzten vier Stunden. Er tippte eher auf drei.
Dann kleidete er sich zu Ende an und trank den Rest seines Kaffees. Sein Magen knurrte zwar, aber er beschloss, das geheimnisvolle Schiff noch vor dem Frühstück zu inspizieren. »Wecken Sie Leutnant Jimenez.«
Sie brauchten eine Viertelstunde, um mit einem der Arbeitsboote die Bucht zu überqueren. Die Wirkung der Warmluftrohre mit ihren winzigen Löchern war erstaunlich. Die Bucht war nicht nur eisfrei, sondern die Luft direkt darüber zehn Grad warm, während sich die Temperatur in der Basis bei eisigen dreiundzwanzig Grad minus bewegte. Außerhalb der Bucht hob und senkte sich die Eisdecke mit den Wellen, als die ersten Vorboten des Sommers sie aufzutauen versuchten. Zum freien Ozean führte eine Rinne, die von einem Eisbrecher ständig freigehalten wurde, um die lebenswichtige Verbindung zur Heimat zu erhalten.
Das Arbeitsboot passierte eine der Ölbohrinseln, die nahe genug lag, um erkennen zu können, dass ihre Tarnung aus miteinander vernieteten Metallplatten bestand, die entsprechend geformt waren, so dass die ganze Insel wie ein Eisberg aussah. Aus einer Entfernung von fünfzig Metern war die Tarnung lediglich an den massiven Stahlstützen zu erkennen, die unter dem weißen Saum hervorlugten.
In Höhe der schmalen Einfahrt der Bucht überquerten sie eine Zone aufgewühlten Wassers. Das war der Vorhang aus warmer Luft, der von den Röhren auf dem Grund aufstieg und so verhinderte, dass Eisschollen in die Bucht trieben. Für die wenigen Sekunden, die es dauerte, um diese Zone zu überqueren, verspürte Espinoza seit seiner Ankunft in der Antarktis zum ersten Mal so etwas wie Wärme.
Dann aber wandte er seine Aufmerksamkeit dem Schiff zu. Es war alt, das stand fest, und vermittelte etwas Spukhaftes, selbst wenn er nicht gewusst hätte, dass es verlassen war. Der Rumpf war ein Mischmasch aller möglichen Schiffsfarben, fleckig und streifig, wie von Kinderhand aufgepinselt. Die Aufbauten waren vorwiegend weiß, und der einzige Schornstein zeigte ein verwittertes Rot. Es verfügte über fünf Kräne, drei vorn und zwei an achtern, und war damit das, was bei Seeleuten als stick ship bekannt ist. Seit der Containerverkehr den Seehandel beherrschte, wurden solche Schiffe als überholt betrachtet, und die meisten waren tatsächlich längst verschrottet worden.
»Was für ein Rosteimer«, meinte Leutnant Jimenez. »Ich wette, dass sogar die Ratten den Kahn freiwillig verlassen haben.«
Während sie sich näherten, konnten sie erkennen, dass es allerdings kein kleines Schiff war. Espinoza schätzte seine Länge auf gut über einhundertfünfzig Meter. Sein Name war schwer zu erkennen, denn die Farbe war verblasst und voller Rostflecken, aber er konnte immerhin sehen, dass das Schiff auf den Namen Norego getauft worden war.
Der Rumpf hatte sich mit dem Bug etwa sechs Meter weit auf den Kiesstrand geschoben. Ein anderes Arbeitsboot hatte unweit des massiven Bugs angelegt, und eine Gruppe von Männern stand nun dort. Einer richtete soeben eine Ausziehleiter aus Aluminium auf, die lang genug erschien, um bis zur Reling zu reichen. Aber auch nur so gerade.
Espinozas Boot manövrierte neben das erste, und ein Mannschaftsmitglied warf einem der Soldaten eine Leine zu. Er zog das Boot so nahe wie möglich zu sich heran, während ein anderer Matrose eine Gangway herunterließ, die eigentlich nicht mehr war als ein vier Meter langes, stabiles Holzbrett. Sergeant Lugones grüßte zackig, sobald die gefütterten Stiefel des Majors den steinigen Strand betraten. Der Himmel war klar, wenigstens dieses eine Mal, und die Temperatur wirkte mit milden fünfundzwanzig Grad minus beinahe angenehm.
»Ein toller Anblick, nicht wahr, Sergeant?«
»Ja, Sir. Das verdammteste Ding, das ich je gesehen habe. Wir haben es beim ersten Tageslicht entdeckt und sind sofort rausgefahren, um es uns anzuschauen. Ich entschuldige mich bei dem Herrn Major, aber ich hielt es für das Beste, dass Sie im Bett bleiben und sich noch ein wenig Schönheitsschlaf gönnen.«
Bei jedem anderen wäre das als grobe Subordination betrachtet worden, aber der knorrige Sergeant hatte sich das Recht, seinen kommandierenden Offizier von Zeit zu Zeit zu hänseln, mehr als verdient.
»Bei Ihrer Fresse würde noch nicht mal ein dreißig Jahre langes Koma helfen«, gab er zurück, und die Männer, die es hörten, kicherten belustigt.
»Alles bereit, Sarge«, rief der Soldat, der die Leiter aufgestellt hatte.
Espinoza kletterte als Erster hinauf, während zwei Männer die Leiter für den Fall einer Windbö festhielten. Er hatte seine Schutzhandschuhe dergestalt modifiziert, dass er den Zeigefinger von der dicken Hülle befreien konnte, und als er in diesem Augenblick seine Pistole aus dem Holster holte, konnte er den Finger durch den Abzugsbügel schieben. Er blickte über das Seitendeck und sah ein Durcheinander von allerlei losem Gerümpel, Ölfässern und ausgemustertem nautischen Gerät. Doch nirgendwo gewahrte er eine Bewegung, daher kletterte er über die Reling und gab dem nächsten Mann ein Zeichen, ihm zu folgen.
Der Wind pfiff durch das nächste Krangerüst und erzeugte ein schrilles Jaulen, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Es klang wie eine Totenklage. Er sah zum Brückenfenster hinauf, bemerkte dort jedoch nichts – außer dem Spiegelbild des Himmels.
Momente später befand sich Raul an seiner Seite, gefolgt von Lugones. Der Sergeant hatte eine Maschinenpistole bei sich, unter deren kurzem Lauf eine leistungsstarke Stablampe befestigt war. Sie überquerten das Deck, bewegten sich vorsichtig, wobei immer einer das weitere Vordringen des anderen sicherte. Im vorderen Schott gab es unter der Kommandobrücke keine Luken, daher wechselten sie zur Steuerbordreling hinüber und bewegten sich nach achtern. Dort fanden sie eine Tür, nicht weit von der Reling entfernt. Über ihnen reckten sich die skelettartigen Arme des leeren Davit. Von jedem hing ein Stahlkabel herab.
Jimenez löste die Verriegelung. Er sah Espinoza an, und als dieser nickte, zog er die Tür auf. Sergeant Lugones hielt seine Waffe schussbereit.
Der Gang hinter der Tür war dunkel, daher knipste er seine Lampe an. Der Farbanstrich im Schiffsinneren wirkte genauso mangelhaft wie draußen. Der Linoleumboden war fleckig und abgewetzt und sah aus, als hätte er noch niemals einen Putzbesen gesehen.
Ihr Atem bildete weiße Wolken um ihre Köpfe herum.
»Scheint so, als sei niemand zu Hause.«
»Gut beobachtet, Leutnant. Gehen wir mal zur Kommandobrücke. Falls es eine Erklärung für dieses Rätsel gibt, dann finden wir sie sicherlich dort.«
Die Männer stiegen mehrere Decks hoch und warfen dabei prüfende Blicke in den einen oder anderen Raum. Der Art und Weise nach zu urteilen, wie die Möbel herumgeschoben worden waren, musste das Wrack ziemlich schweres Wetter gesehen haben. Betten waren umgekippt, zahlreiche Möbelstücke zu Bruch gegangen. Von der Mannschaft fanden sie keine Spur, ob lebendig oder tot.
Die Kommandobrücke war breit und – auf Grund der Salzschicht auf den Fenstern – düster. Auch dort fanden sie niemanden, doch auf dem Kartentisch hinter dem Steuerstand war ein Bogen Papier in einer transparenten Plastikhülle mit Klebeband befestigt worden.
Lugones benutzte sein Kampfmesser, um die Hülle loszuschneiden, und reichte sie seinem Vorgesetzten.
Espinoza las laut vor: »›An jeden, der dies findet. Wir waren gezwungen, die Norego aufzugeben, weil die Pumpen versagten und die See durch ein Leck im Rumpf eindrang, das von einer Monsterwelle geschlagen wurde. Chefingenieur Scott versuchte alles, was in seiner Macht stand, aber die Pumpen ließen sich nicht mehr starten. Es war keine leichte Entscheidung. Dies sind trügerische Gewässer, weit entfernt von jedem Festland. Aber ein schwimmendes Rettungsboot ist allemal besser als ein sinkendes Schiff. Ich bete für meine Männer. Wenn wir es nicht schaffen sollten, bestellen Sie meiner Ehefrau und meinen Jungen, dass ich sie über alles liebe. Ich glaube, das gilt auch für meine Männer und ihre Familien.‹
Unterschrieben ist es mit ›Kapitän John Darling von der Proxy Freight Linc‹, und – stellt euch vor, die Nachricht datiert vom Januar des vergangenen Jahres. Dieses alte Mädchen treibt seit zwanzig Monaten steuerlos durch die Welt.«
»Meinen Sie, die Mannschaft wurde gerettet?«, fragte Lugones.
Espinoza schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich frage mich nur, warum das Schiff nicht gesunken ist. Wenn ein Kapitän sein Schiff aufgibt, dann sollte er sich wegen der Gründe doch verdammt sicher sein. Ich will mir mal die Maschinenräume ansehen.«
Sie brauchten mehrere Minuten und liefen des Öfteren in die Irre, bevor sie die Treppe fanden, die in den Bauch des Schiffes führte. Sobald Jimenez die Tür öffnete, ergossen sich zehn Zentimeter Wasser über ihre Stiefel. Lugones leuchtete mit seiner Lampe in den Treppenabgang. Er war vollkommen überflutet. Das Wasser hatte eine dicke Ölschicht, die in allen Regenbogenfarben schillerte.
»Das wäre wohl die Antwort«, sagte der Sergeant. »Das Schiff ist tatsächlich abgesoffen.«
»Ich frage mich, was es wohl geladen hatte«, meinte Jimenez. »Wenn ich mich recht erinnere, bekommt der, der ein Wrack findet, nicht nur die Ladung, sondern auch gleich das ganze Schiff.«
»Seit wann kennen Sie sich im Bergerecht aus?«, fragte Espinoza sarkastisch.
»Okay. Ich habe mal im Fernsehen etwas darüber gesehen.«
»Stecken Sie Ihre gierigen Hände lieber wieder in die Taschen. Wir sind Soldaten und keine Schrotthändler. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass dieser Müllhaufen bei der nächsten Hochflut oder dem nächsten Sturm wieder flott wird und weitertreibt.«
»Finden Sie nicht, wir sollten noch ein paar zusätzliche Löcher in den Kasten bohren, damit wir sicher gehen können, dass er ganz versinkt?«
Espinoza ließ sich Lugones Frage durch den Kopf gehen. »Wissen Sie was? Nein. Soll der Kahn doch weiterwandern. Wenn er bis jetzt überlebt hat, wird er’s auch noch länger schaffen.«
Eine Etage unter dem Deck, wo die drei Männer standen, lehnte sich Juan Cabrillo entspannt in seinem Sessel zurück. Er hatte gar nicht damit gerechnet, dass der argentinische Major eine romantische Ader hatte. Das war seine Hauptsorge gewesen – dass sie die Oregon für Schießübungen benutzten. Diese Soldaten hatten als Jungen sicherlich mit besonderer Vorliebe irgendwelche Dinge in die Luft gesprengt. Der einzige Unterschied war, dass ihnen jetzt Plastiksprengstoff anstelle von Knallkörpern zur Verfügung stand. Die Mannschaft hatte das Thermo-Bild dergestalt verändert, dass sie die Wärmezufuhr nur auf den bevölkerten Teil des Schiffes beschränkte und in allen übrigen Bereichen die Temperatur gesenkt hatte. Außerdem hatten sie die Ballasttanks als zusätzliche Abschirmung vor einer Überprüfung geflutet. Die Illusion von der überfluteten Treppe war geschaffen worden, indem die untere Tür geschlossen und Bilgenwasser in den Abgang gepumpt wurde.
Cabrillo blickte zu Max Hanley hinüber, der den Kopf schüttelte. »Was denn?«, sagte er. »Ich hab dir doch erklärt, dass ich das Schiff direkt vor ihrer Nase verstecken könne.«
»Das zählt nicht«, knurrte Max.
»Je dreister die Lüge, desto leichter wird sie geglaubt. Eigentlich müssten sie ja verdammt misstrauisch sein, und sieh sie dir an. Sie haben die Suche nach zehn Minuten abgebrochen, und unser guter Major weint regelrecht.«
»Das muss ich dir lassen, Juan, du bist ein raffinierter Hurensohn. Und was jetzt? Du hast uns hierhergebracht. Was ist dein Plan?«
»Um ehrlich zu sein, ich hatte mir noch nicht allzu viel in dieser Richtung überlegt. Hast du die Fracht unter der Plane auf dem zweiten Boot gesehen?« Die Außenkameras hatten die Soldaten im Visier, seit die erste Gruppe bei Sonnenaufgang erschienen war.
»Der Größe und Form nach konnte es eine Side-Scan-Sonar-Sonde sein.«
»Das heißt, sie suchen nach dem chinesischen Wrack.«
»Ich nehme an, wir kommen ihnen dabei zuvor?«
»Siehst du, der Plan entwickelt sich sozusagen von selbst«, sagte Cabrillo mit dem selbstzufriedenen Grinsen eines Kindes, das seine Eltern ausgetrickst hat. Er hatte sich wirklich nicht viel mehr überlegt, als erst einmal die Oregon in Position zu bringen.
Max deutete mit einem Kopfnicken auf das Bild der Soldaten, die sich am Bug drängten. »Wir müssen warten, bis sich dieser Verein verzogen hat, bevor wir genug Ballast ablassen können, um die Moon-Pool-Tore zu öffnen.«
Juan nickte. »Ich vermute, dass sie schon heute mit der Suche beginnen, daher werden wir aktiv, sobald sie in ihrem Arbeitsboot an uns vorbei sind. Wenn Tamara wach ist, dann frag sie doch, ob sie uns dabei Gesellschaft leisten will. Das Mindeste, was wir tun können, ist, ihr das legendäre Schatzschiff zu zeigen, bevor wir es zerstören.«
Das war das erste Mal, dass Hanley davon erfuhr, und er starrte den Chef für einen Moment an, ehe er die Logik in der Bemerkung erkannte. »Es ist zwar eine Schande, aber du hast natürlich recht. Es geht nicht anders.«
»Ich weiß. Wir können es uns nicht leisten, den Chinesen auch nur die geringste Chance zu geben, hier irgendwelche Ansprüche anzumelden.«
Eine Stunde später löste Juan die Klammern, die das zweiunddreißig Fuß lange Discovery 1000 sicherten. Das Drei-Personen-U-Boot hatte zwar keine Fluchtschleuse wie sein großes Geschwister, aber niemand hatte auch nur den Anflug eines Wunsches, in Wasser zu schwimmen, dessen Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt lag.
Cabrillo saß in dem Pilotenliegesessel – und Tamara rechts neben ihm. Linda Ross hatte das Glückslos gezogen, sie begleiten zu dürfen, obgleich sie bei einer Temperatur, die so niedrig war, dass sie im Cockpit ihren eigenen Atem sehen konnten, nicht sicher war, ob sie sich darüber freuen sollte.
»Können wir die Heizung nicht ein wenig höher drehen?«, fragte sie und behauchte ihre eisigen Fingerspitzen.
»Tut mir leid, aber die Bucht, die wir auf den Satellitenbildern identifiziert haben, liegt in maximaler Reichweite des Bootes. Wir brauchen seine Fahrleistung dringender als irgendwelchen Komfort.«
»Sind denn die Chinesen nicht längst schon dort?«, fragte Tamara. Sie war in einen dicken Parka gehüllt und hatte einen zweiten über ihre langen Beine gebreitet.
»Nein. Sie haben den falschen Weg eingeschlagen. Es gibt hier zwei ähnlich geformte Buchten. Eine im Norden und eine im Süden. Auf Grund der Leiche, die Linda und ihr Team auf Wilson/George gefunden haben, wissen wir, dass das Wrack in dieser Richtung liegen muss. Diese Typen werden die nächste Woche damit verbringen, in einer Gegend zu suchen, die gut achtzig Kilometer von dem Punkt entfernt liegt, an dem sie eigentlich suchen sollten.«
Während der nächsten drei Stunden hielten sie sich in fünf Metern Tiefe. Wegen der schwachen Polarsonne war es sogar in dieser geringen Tiefe fast schwarz. Juan verließ sich bei der Navigation auf das Sonar und das Lidar-System des Tauchboots. Wenigstens war die See ruhig. Wäre das Wetter schlechter gewesen, hätte eine Fahrt so dicht unter der Wasseroberfläche einer Runde in einem Wäschetrockner Konkurrenz gemacht.
Linda und Juan unterhielten Tamara mit Erzählungen von einigen besonders verrückten Missionen der Corporation und achteten darauf, Max immer im besten Licht erscheinen zu lassen. Und falls sie den Verdacht hatte, dass sie sich für ihren Freund mächtig ins Zeug legten, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie tranken gesüßten Tee und verzehrten Gourmet-Sandwiches, die in der erstklassigen Küche der Oregon vorbereitet worden waren.
»Der Navigationscomputer meldet, dass wir uns der Bucht nähern«, informierte Cabrillo seine Passagiere. »Hier beträgt die Tiefe fünftausend Fuß, aber der Boden steigt ziemlich abrupt an.«
Juan hatte überlegt, wo das chinesische Schiff in der fjordähnlichen Bucht gesunken sein könnte. Er vermutete, dass sie sich so nahe wie möglich am Ufer gehalten hatten, und auf den Satellitenbildern hatte er eine Stelle entdeckt, die ihm am wahrscheinlichsten erschien. Dort befand sich eine Art Strand oder zumindest eine Region, wo die aufragenden Berge und Gletscher deutlich kleiner und flacher waren.
Also lenkte er das Tauchboot in die Einfahrt der Bucht und berechnete einen Kurs bis zu der Stelle hin. Dabei behielt er ihr Side-Scan-Sonar im Auge. Wie er schon prophezeit hatte, stieg der Boden mit einer Neigung von mehr als sechzig Grad plötzlich an. Es war im Wesentlichen völlig einheitlicher Fels ohne irgendeine nennenswerte Unebenheit. Hätte sich der Steilhang über Wasser befunden, hätte man ihn so gut wie unmöglich ersteigen können.
»Ich kann eigentlich nicht glauben, was wir hier tun«, sagte Tamara zum dritten oder vierten Mal. »Erst vor ein paar Tagen war ich fast sicher, dass Admiral Tsai und die Silent Sea nichts als Legenden waren, und jetzt bin ich im Begriff, sie mit eigenen Augen zu sehen.«
»Nur wenn wir Glück haben«, warnte Juan. »In den letzten fünfhundert Jahren kann eine Menge passiert sein. Das Schiff könnte vom Eis zu einer Ansammlung von Zahnstochern zermalmt worden sein.«
»Oh, daran hatte ich gar nicht gedacht. Meinen Sie, das ist geschehen?«
»Eher nicht, nein. Eric und Mark – Sie haben sie auf der Kommandobrücke kennengelernt …«
»Die beiden, die aussehen, als seien sie noch nicht alt genug, um sich zu rasieren?«
»Das sind sie. Sie sind hervorragende Rechercheure. Sie haben die Archive des Internationalen Geophysikalischen Jahres 1957-1958 durchforstet. Damals wurden das letzte Mal in diesem Gebiet Messungen durchgeführt. Die Berge rund um die Bucht wurden nie mit Namen versehen, aber ein Forschungsteam hat die Gletscher untersucht und festgestellt, dass sie in etwa die langsamsten auf dem Kontinent sind. Wenn das Schiff in ausreichend tiefem Wasser liegt, wurde es gewiss nicht in Mitleidenschaft gezogen, selbst wenn die Bucht zugefroren wäre.«
Cabrillo massierte die Hände, um den Blutkreislauf in Gang zu bringen. Er überprüfte die Batterieladung und entschied, dass noch mehr als genug Leistung übrig war, ließ die Heizung jedoch ausgeschaltet. Viel lieber würde er noch einige Zeit darauf verwenden, den Meeresgrund bereits bei diesem Ausflug zu inspizieren, als die lange Fahrt am nächsten Tag zu wiederholen.
Sie sahen das erste Anzeichen von Leben, als eine Leopardenrobbe dicht vor dem Sichtfenster aus Acrylglas auftauchte. Sie vollführte eine Pirouette, erzeugte einen dichten Bläschenwirbel und verschwand dann so schnell, wie sie erschienen war.
»Reizender kleiner Bursche«, bemerkte Linda.
»Nicht wenn du ein Pinguin bist.«
Juan warf einen Blick auf den Bodenscanner. Der Steilhang, über den sie schon seit einiger Zeit hinwegglitten, wurde zum Ufer hin, das immer noch gut vier Kilometer entfernt lag, flacher.
»Hey«, rief Linda.
»Was hast du?«
»Einen starken Treffer auf dem Magnetometer an Steuerbord.«
Cabrillo drückte den Steuerknüppel zur Seite, und das Tauchboot schwang nach rechts, zwar nicht so elegant wie die Robbe, aber es reagierte sehr viel besser als ihr großes Nomad. »Achte auf das Sonar«, sagte er.
Unmittelbar vor ihnen befand sich etwas, das für die Elektronik aussah wie eine solide Mauer, die einhundertdreißig Meter lang und fünfzehn Meter hoch war. Sie musste dreihundert Meter weit entfernt sein – bei dem schlechten Licht immer noch zu weit. Die Motoren schnurrten gleichmäßig und brachten sie näher. Als die Entfernung nur noch zwanzig Meter betrug, schaltete Juan die Scheinwerfer auf dem Druckkörper ein.
Tamara legte die Hände auf den Mund, um einen Seufzer zu unterdrücken. Innerhalb von Sekunden rannen Tränen über ihre Wangen.
Obgleich er sein Leben nicht dem Studium dieses Themas gewidmet hatte, war auch er tief gerührt, als er über die Zeit und Entfernung hinweg die mächtige chinesische Dschunke betrachtete, die auf dem Grund der Bellingshausen-See lag.
Die Masten waren längst verschwunden, wahrscheinlich von einem vorbeitreibenden Eisberg abgerissen, und im Rumpf, dort, wo die Kupferverkleidung begann, klaffte ein großes Loch. Ansonsten sah sie vollkommen seetüchtig aus. Der niedrige Salzgehalt und die tiefen Temperaturen hatten zur Folge, dass in diesen Gewässern nur wenig Leben existierte, das das Holz hätte angreifen können. Das Schiff hätte nicht besser erhalten sein können, wenn es in einer windlosen Wüste gelegen hätte.
Dicht über der Wasserlinie befanden sich Dutzende von Öffnungen. Juan erkundigte sich nach ihrer Funktion, da er bezweifelte, dass es sich um Fenster handelte.
»Sie sind für Ruder gedacht«, erwiderte Tamara. »Ein Schiff von dieser Größe dürfte bis zu zwanzig auf jeder Seite gehabt haben, und jedes Ruder wurde von zwei, manchmal sogar von drei Ruderern bedient. Wahrscheinlich hatte dieses Schiff sechs oder sieben Masten mit Rahbesegelung, so wie alle Dschunken.«
Als sie noch näher gekommen waren, konnten sie erkennen, dass der Decksaufbau, der sich fast über die gesamte Länge des Schiffes erstreckte, in Buttergelb mit roten Verzierungen gehalten war und über pagodenähnliche Details verfügte.
»Der Kaiser hatte darauf bestanden, dass seine Schiffe so prachtvoll waren wie irgend möglich«, fuhr Tamara fort, »um seinen Reichtum zu zeigen und die Bedeutung seiner Regentschaft zu demonstrieren. Nur die besten Künstler und Handwerker durften daran arbeiten.«
»Und sie war mit einem Schatz beladen?«, fragte Linda.
»Sie haben mir doch diesen Goldklumpen gezeigt, den Sie geborgen haben. Und die Jadescherben.«
»Der Matrose, der die Versenkung des Schiffes überlebt hat und in der Nähe von Wilson/George starb, muss beides aus dem Frachtraum geholt haben«, sagte Juan, ließ das U-Boot steigen und lenkte es über das Schiff. »Durchaus möglich, dass sich die Prionen noch nicht so weit entwickelt hatten und er immer noch bei Verstand war.« Dr. Huxley hatte bestätigt, dass die chinesische Mumie und Andy Gangle mit ihnen verseucht waren.
Am Bug standen zwei Kanonen, die wie Drachen geformt waren. Es waren vergrößerte Versionen der Pistole, die sie neben Gangles Leiche gefunden hatten. So wenig Schlick hatte sich angesammelt, dass Juan Zähne erkennen konnte, die ihre Mündungen umgaben, und Drachenflügel an ihren Flanken.
Das Achterdeck war drei Stockwerke höher als das Hauptdeck, und in seiner Mitte stand ein quadratisches Haus mit einem elegant geschwungenen Dach. Tamara deutete darauf. »Das wurde vom Kapitän benutzt.«
»Seine Kabine?«
»Eher so etwas wie ein Verwaltungsbüro.«
Juan brachte sie wieder nach unten und lenkte das Tauchboot dann dorthin, wo Admiral Tsai die Sprengladung platziert hatte, die das Schiff versenkt und seine unglückselige Mannschaft getötet hatte. Die Xenonlampen ließen das Wenige, das sie von dem Inneren sehen konnten, in scharfen Konturen hervortreten. Die Decks waren aus Holz gezimmert, desgleichen die Wände. Der Raum, in den sie hineinblickten, war zu weitläufig, um das Ende erkennen zu können, und enthielt einen veritablen Wald von Stützpfeilern. Tatsächlich schienen es aber zu viele zu sein, und dann war es Tamara, die erkannte, was sich vor ihnen befand.
»Das ist eins der Mannschaftsquartiere. Sie haben Hängematten an den Pfählen befestigt.«
Juan fügte hinzu: »So wurde es auch noch im zwanzigsten Jahrhundert gemacht, zumindest auf Kriegsschiffen.«
»Das ist einfach verblüffend«, sagte Tamara leise. Ihre Augen waren groß vor Staunen.
»Und jetzt die schlechte Nachricht«, sagte Juan. Sie sah ihn konsterniert an. »Wir müssen es zerstören. Wir haben Sie mitgenommen, damit Sie es sich mit eigenen Augen ansehen können, aber ich darf nicht zulassen, dass die Chinesen es finden.«
»Aber …«
»Kein Aber. Leider. Es tut mir leid. Wenn wir den Argentiniern erst einmal klargemacht haben, dass es in ihrem besten Interesse ist, ihre Pläne hier aufzugeben, dürfen wir kein Vakuum zurücklassen, das Peking füllen könnte. Sie haben sich an die Argentinier angehängt, weil sie hier keine Ansprüche anmelden können. Dieses Schiff gäbe ihnen aber eine solche Möglichkeit. Und zwar eine verdammt große. Sie haben die Antarktis dreihundertachtzig Jahre vor den Europäern entdeckt.«
»Ich …« Tamaras Stirn legte sich in ärgerliche Falten. »Ich hasse die Politik. Dies ist einer der bedeutendsten archäologischen Funde der Geschichte, und der muss geopfert werden, nur damit ein paar machthungrige Männer ihre Hände nicht auf einen Ölvorrat legen können.«
»Das ist es wohl in aller Kürze, fürchte ich«, sagte Juan so freundlich er konnte. »Das Risiko wäre zu groß für alles andere. Unsere Regierung hat entschieden, dass sie nicht gewillt ist, die Rolle der Weltpolizei zu spielen, aber wir müssen den Menschen trotzdem zeigen, dass man immer noch mit Konsequenzen rechnen muss, wenn internationale Gesetze gebrochen werden. Und eine dieser Möglichkeiten, es ihnen zu demonstrieren, besteht eben darin, dieses Wrack zu zerstören.«
Sie sah ihn nicht an und sagte auch nichts, aber nach einer Sekunde nickte sie widerstrebend.
Er legte für einen Moment eine Hand auf ihre Schulter und konzentrierte sich dann wieder auf die Kontrollen des U-Boots. Er ließ Wasser aus den Ballasttanks ab, und während das Tauchboot langsam aufstieg, wurde es allmählich heller.
Als sie durch die Wasseroberfläche brachen, verließ Juan seinen Platz und kletterte über Linda hinweg zur Einstiegsluke. »Ich bin in einer Sekunde zurück.«
Er trat zur Seite, während er das Verschlussrad drehte, um zu vermeiden, von dem Schwall eisigen Wassers getroffen zu werden, das aufs Deck rann. Er stieg die Leiter hinauf, wobei seine Hände auf dem nassen Stahl von der Kälte ganz taub wurden. Dann schob er den Kopf aus der Luke. Die Kälte raubte ihm den Atem. Stechender Schmerz peinigte seine Nasenschleimhäute, und seine Augen fühlten sich an, als würden sie versengt werden. Eine Eiszunge erhob sich in der Lücke zwischen zwei Bergen, die mindestens zweitausend Fuß hoch in den Himmel ragten. Das Eis bildete eine vertikale Mauer zwischen ihnen, die sich bis zum Wasser erstreckte. Die untere Kante war teilweise von den Wellen und den Gezeiten ausgehöhlt worden, doch der Rest sah massiv und solide aus.
»Du bist genau richtig«, sagte Juan laut, doch die Worte riss ihm der Wind von den Lippen, und dann tauchte er wieder in die relative Wärme des Unterseeboots hinab.
Seine erste Handlung, nachdem er seinen Sitz wieder eingenommen hatte, bestand darin, die Heizung auf volle Leistung zu stellen und auf die Vorschriften zur Energieeinsparung zu pfeifen.