23
Da ihnen keine bedeutenden Landmassen den Weg versperrten, umkreisten die Winde in den niedrigeren Breitengraden die Erde in endlosen Runden, die stetig an Heftigkeit zunahmen. Unterhalb des vierzigsten Breitengrads wurden sie die Roaring Forties genannt. Dann kamen die Furious Fifties und danach die Screaming Sixties. Ein stetiger Wind von hundertzwanzig Stundenkilometern war nicht ungewöhnlich, und Böen von bis zu hundertfünfzig Stundenkilometern waren eine alltägliche Erscheinung. Die Auswirkung auf die See war extrem. Es entstanden Wellen von fünfzehn bis zwanzig Metern Höhe, riesige rollende Wassermassen, die alles auf ihrem Weg beiseiteschoben. Sogar die großen Eisberge, die von den Festlandgletschern abbrachen, wenn sie kalbten, waren dem Ozean nicht gewachsen, sobald die Winde aufkamen. Nur die Superberge, so groß wie Städte oder manchmal sogar wie kleine Staaten, waren dagegen gefeit.
Durch diese Hölle lenkte Juan Cabrillo sein Schiff und seine Mannschaft. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatte man festgezurrt, und sämtliche Aktivitäten bis auf unbedingt notwendige Tätigkeiten waren abgebrochen worden. Obwohl das Schiff erst eine Woche zuvor Südkurs genommen hatte, war das Wetter zu jenem Zeitpunkt regelrecht ruhig gewesen – im Vergleich zu dem, was sie jetzt überfiel.
Jedes andere Schiff wäre umgekehrt oder hätte damit rechnen müssen, von den Wellen auseinandergerissen zu werden. Aber Juan hatte seine geliebte Oregon derart gründlich überarbeitet, dass sie in keiner echten Gefahr schwebte. Ihr Rumpf hielt der enormen Belastung stand, und an Deck gab es nicht eine einzige Schweißnaht, die der Wind nutzen konnte, um Stahlplatten zu lösen. Die Davits, in denen ihre beiden Rettungsboote hingen, würden auch bei einem Orkan der Stärke 5 nicht versagen. Allerdings hatten sie zurzeit nur ein Rettungsboot an Bord. Das andere war mit einem aktivierten Ping-Locator ausgesetzt worden, damit sie es später wieder bergen konnten.
Doch es gab eine reale Gefahr. Sie ging nicht vom Ozean aus, sondern von dem in dieser Region umherschleichenden chinesischen Jagd-U-Boot. Es befand sich irgendwo zwischen der Südspitze Südamerikas und der Antarktischen Halbinsel. Dies war ein Engpass ähnlich der G-I-UK-Lücke, die die NATO auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges benutzt hatte, um sowjetische U-Boote einzusperren. Sie hatten zwischen Grönland, Island und dem Vereinigten Königreich eine Postenkette von U-Booten aufgestellt – wie Fischer in ihren Booten – und darauf gewartet, dass ihnen ein Fang ins Netz ging.
Juan hatte den Kurs in die Antarktis so gelegt, dass sie anfangs dicht an der südamerikanischen Küste blieben, als wäre die Oregon zur Drake Passage um das Kap Horn unterwegs, um dann abzuschwenken und direkt in die Bellingshausen-See vorzustoßen, also in die Gegend, die die Argentinier und Chinesen für den gesamten Schiffsverkehr gesperrt hatten.
Jetzt musste er sich in den chinesischen U-Boot-Kapitän hineinversetzen. Bei einer Strecke von jeweils dreihundert Kilometern Patrouillenfahrt musste Juan raten, wo er sich möglicherweise befand. Die nächstliegende Position befände sich in der Mitte der Meerenge zwischen Südamerika und der Antarktis. Dort hätte er das Gebiet am besten unter Kontrolle. Aber jedes Schiff, das nach Süden wollte, würde auf den gleichen Gedanken kommen und daher die Mitte wie die Pest meiden. Also müsste er entweder dicht bei der Halbinsel bleiben oder auf der westlichen Seite durchstoßen. Das U-Boot konnte nicht auf beiden Positionen gleichzeitig sein. Eine falsche Entscheidung würde sie direkt ins Visier des U-Boots führen.
Cabrillo erinnerte sich an eine alte Schulhofweisheit. Lass dich niemals mit einem Fremden auf das Hühnchenspiel ein. Was bedeutete: Wenn du deinen Gegner nicht kennst, kannst du den Ausgang des Spiels auch nicht kontrollieren.
Er saß im Kommandosessel in der Mitte des Operationszentrums, und sein Körper passte sich den Rollbewegungen des Schiffes an. Sämtliche Mitglieder des diensthabenden Personals waren mit Bauch- und Schultergurten in ihren Sesseln angeschnallt. Er hatte sich an diesem Morgen nicht rasiert – das Wasser wollte nicht im Waschbecken bleiben –, so dass die Bartstoppeln raschelten, als er mit der Hand über sein Kinn strich. Osten oder Westen, dachte er. Osten oder Westen?
»Radarkontakt«, rief Linda Ross.
»Was ist es?«
»Flugzeug auf Südkurs auf fünfundzwanzigtausend Fuß. Geschwindigkeit drei-acht-fünf. Entfernung zwanzig Meilen.«
Juan sah sie konsterniert an.
»Es muss aus den Wolken gefallen sein.«
Es musste eine große Hercules mit Nachschub für die Argentinier in der Antarktis sein, dachte Cabrillo. »Steuerstand, gib mir die Achterdeck-Kamera.«
Eric Stone tippte einen Befehl in seinen Computer, und das Bild auf dem Hauptschirm schaltete auf eine Kamera, die dicht unter dem Flaggenmast am Heck des Schiffes installiert war. Sogar bei dieser schweren See war die Kiellinie der Oregon ein breiter weißer Streifen im dunkelgrauen Wasser, der direkt zum Schiff führte. Sie hätten nicht besser auf sich aufmerksam machen können, selbst wenn sie jede Lampe eingeschaltet und auf jeder Frequenz gesendet hätten.
Juans Entscheidung, ob Osten oder Westen, erledigte sich damit. Er wusste, dass die Maschine ihre Anwesenheit den Argentiniern per Funk melden würde, und diese würden die Information an das chinesische U-Boot weiterleiten. Das Kilo-Klasse-Schiff würde sie dann wie ein Rudel Höllenhunde jagen.
»Können wir seine Funkgeräte stören?«, fragte er.
»Solange er in der Nähe ist, schon«, erwiderte Hali Kasim, der Kommunikationsexperte. »Sobald er sich weiter entfernt, kann er unsere Position durchgeben.«
»Wir können ihn abschießen«, schlug Mark Murphy von der Waffenstation neben dem Steuerstand vor. »Ich kann SAM innerhalb von fünfzehn Sekunden auf ihn ausrichten und ihn zehn Sekunden später zu den Fischen schicken.«
»Negativ.« So verlockend es war, Juan zog einen solchen Schritt nicht einmal ernsthaft in Erwägung. Er hatte sich immer an das Prinzip gehalten, den Gegner den ersten Schlag machen zu lassen. Dann schaltete er sein Mikrofon für eine schiffsweite Ansage um. »Hier spricht der Chef. Es ist gut möglich, dass wir soeben entdeckt wurden, und das bedeutet, dass das U-Boot weiß, wo wir sind. Wir sind zwar schon alle auf unseren Kampfstationen, aber ich verlange jetzt besondere Wachsamkeit.«
»Was bedeutet das, Juan?«, fragte Tamara Wright. Er hatte sie völlig vergessen. Sie saß angeschnallt auf einer der Schadenskontrollstationen hinter ihm.
Er drehte sich in seinem Sessel um und blickte ihr in die Augen. »Das bedeutet, dass ich auf meinen Bauch hätte hören und Sie vom Schiff bringen sollen, als dazu noch Gelegenheit war.«
Sie hob das Kinn, ihre Augen verengten sich. »Dazu hätten Sie mich dann allerdings niederschlagen und fesseln müssen.«
»Ich weiß, und das hätte ich auch tun sollen.«
»Und mich unter diesen Bedingungen allein in Ihrem kleinen Rettungsboot ausgesetzt? Nie und nimmer«, konterte sie. »Außerdem gibt es eine ganze Menge, das Sie noch nicht von mir wissen, und dazu gehört, dass ich niemals einem Kampf ausweiche.«
»Das wird möglicherweise kein Kampf, sondern das reinste Truthahnschießen. Dieses U-Boot hat alle Vorteile auf seiner Seite.«
»Wenn es mein Schicksal sein soll, mit Ihnen allen zu sterben, dann bin ich bereit, es zu akzeptieren.«
»Das klingt wie östlicher Fatalismus.«
»Vergessen Sie nicht, dass ich in Taiwan aufgewachsen bin.« Sie holte ihre Yin-und-Yang-Brosche unter einer Bluse hervor, die ihr vom Zauberladen ausgeborgt worden war. »Ich bin Taoistin. Das hat nichts mit Fatalismus zu tun, ich glaube nur an das Schicksal.«
»Dann sind Sie genauso stur wie Max. Ich kann verstehen, dass er eine Menge für Sie übrighat.« Hinter sich hörte Juan, wie Max Hanley aufstöhnte und sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug. Juan drehte sich herum und sah seinen Stellvertreter verblüfft an. »Sorry, Max, sollte das ein Geheimnis sein?«
Max’ Schamröte begann an seinem Halsansatz und stieg stetig höher, bis sein ganzer Schädel kirschrot war. Gekicher wurde im Operationszentrum laut. Juan hatte ein schlechtes Gewissen, Hanley auf diese Art und Weise zu hänseln, aber er brauchte etwas, um seine innere Anspannung abzubauen.
»Mr. Hanley, ich hatte ja keine Ahnung.« Tamaras Lächeln war echt. »Wenn ich es mir recht überlege, dann wurde meine Mississippi-Kreuzfahrt durch Sie abgebrochen. Ich denke, wenn all das hier überstanden ist, wäre es nur fair, wenn Sie irgendeinen Weg fänden, das bei mir wiedergutzumachen.«
Dreimal verheiratet und immer wieder geschieden, hatte sich Max in der Anwesenheit von Frauen eigentlich immer wohl gefühlt, vor allem bei denen, die er attraktiv fand, aber zum ersten Mal, soweit Cabrillo sich erinnern konnte, erlebte er, dass es seinem Freund die Sprache verschlug.
»Steuerstand«, sagte Juan, um sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. »Wie ist unsere augenblickliche Geschwindigkeit?«
»Einundzwanzig Knoten. Das ist das Äußerste, was wir bei diesem Wellengang schaffen.«
»Ich spendiere dir eine Sonderration Rum, wenn du noch ein paar Knoten mehr herausholen kannst. Außerdem für die nächsten zehn Minuten den Kurs auf eins-null-fünf, dann wieder zurück auf fünfundachtzig. Die alte Zickzackmethode hat schon den alliierten Konvois geholfen, darum lasst uns hoffen, dass sie auch uns nützt.«
Die beiden Torpedorohre der Oregon wurden geflutet, obgleich ihre Außenschotts noch geschlossen waren. Linda Ross überwachte ihr Sensorsystem, und sie taten alles, um das chinesische U-Boot zu verwirren. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen, dass sie sich durchgemogelt hatten.
Juan hatte keine Ahnung, wie er das geschafft hatte, aber der phlegmatische Chefsteward des Schiffes erschien plötzlich mit einer großen Thermoskanne Kaffee und Styroporbechern mit Plastikdeckeln neben ihm.
»Was, Maurice, kein Royal Doulton?«, neckte er und wusste, dass er es niemals schaffen würde, den siebzigjährigen Engländer aus der Reserve zu locken.
»In Anbetracht der Umstände dachte ich, dass eine weniger delikate Alternative angebrachter wäre. Wenn Sie wünschen, gehe ich natürlich in die Küche zurück und hole anständiges Porzellan.«
»Das hier ist schon in Ordnung. Ich danke Ihnen. Ich weiß, dass ich eine Tasse gebrauchen kann.«
Maurice schaffte es, rundum Becher vollzuschenken, ohne einen einzigen Tropfen auf seine schneeweiße Schürze zu spritzen. Wie er es aber fertigbrachte, in seinen auf Hochglanz polierten Wingtips sicheren Stand zu haben, war ein Rätsel, das an einem anderen Tag gelöst werden musste.
»Ich entnehme Ihrer Ansage, Captain, dass die erste Wache weiterhin Dienst haben wird?« Maurice war aus der Royal Navy ausgeschieden und würde es sich niemals erlauben, Cabrillo anders als mit Captain anzusprechen. Er gehörte genauso wie jeder andere auch zu den Anteilseignern der Corporation, aber dies war ein Schiff, und sein Kommandant wurde Captain genannt. Darüber ließ er keine Diskussion zu.
»Es sieht so aus.«
»Dann bringe ich das Dinner um sechs. Und auch in diesem Fall – in Anbetracht der Umstände – denke ich, es wäre am besten, etwas zu servieren, das Sie ohne Besteck verzehren können. Vielleicht Burritos?« Er sprach das letzte Wort mit einer nur unzureichend kaschierten Abscheu aus.
Juan lächelte. »Was immer Sie für geeignet halten.«
»Sehr wohl, Sir.« Danach entfernte er sich so leise wie eine Katze.
Die Stunden schleppten sich dahin. Die Konversation war auf ein Minimum beschränkt, nur gelegentlich wurde ein Wort geflüstert, ein kurzer Befehl vielleicht, und dann herrschte wieder Stille. Die einzigen echten Laute waren das Rauschen der Luft durch die Ventilatoren sowie die Geräusche des Schiffes und des Meeres bei ihrem verbissenen Kampf gegeneinander. Der Rumpf knarrte. Wellen schlugen laut dagegen. Und die ganze Zeit über strömte Wasser mit ausreichendem Druck durch die Antriebsdüsen des Schiffes, um es auf fünfundzwanzig Knoten zu beschleunigen.
Juan hatte den Gang auf die Toilette so lange verschoben, wie er es irgendwie konnte. Die nächste Einrichtung dieser Art befand sich in der Nähe des Hinterausgangs des Operationszentrums, aber er wollte seinen Platz noch nicht einmal für die Minute verlassen, die er brauchen würde.
Er hatte seine Schultergurte aufschnappen lassen und fasste gerade nach seinem Bauchgurt, als Linda rief: »Kontakt! Sonar. Aus Richtung zwei-siebzig-eins Grad. Entfernung fünftausend Yards.«
Cabrillo konnte zwar kaum glauben, dass sie bei den Bedingungen und in dieser Distanz ein U-Boot hören konnte, aber Linda Ross verstand nun einmal ihren Job.
Juan vergaß seine Blase. »Gibt es auch eine Tiefenangabe und einen Kurs?«
Eine Hand presste sie gegen den Kopfhörer, während die andere über die Tasten tanzte. Über ihr leuchtete der elektronische grüne Schimmer des Waterfall Displays. »Daran arbeite ich noch, aber ich habe ganz deutlich Schraubengeräusche im Hörer. Okay. Moment. Das U-Boot befindet sich bei einhundertzwanzig Fuß. Immer noch auf Kurs zwei-siebzig-eins.«
Keine Kursänderung bedeutete, dass sie genau auf die Oregon zuhielten.
»Steuerstand, sofortiger Not-Stopp, dann dreh uns mit den Manövrierjets um neunzig Grad«, befahl Cabrillo. Das würde sie direkt von dem U-Boot wegbringen und die Zeit minimieren, die ihre Flanke entblößt war. Die Chinesen würden nicht wissen, wie sie sich einen Kontakt erklären sollten, der ein solches Manöver ausführen konnte. Er fragte sich, ob das argentinische Flugzeug sie tatsächlich gut genug hatte sehen können, um zu erkennen, dass ihr Ziel ein Frachter und kein militärisches Schiff war.
Der magnetohydrodynamische Antrieb heulte, als Stone auf volle Kraft ging und die regelbaren Flügelräder in den Antriebsdüsen auf Umkehrschub schaltete. Während die Geschwindigkeit schlagartig nachließ, attackierten die Wogen die Oregon, als wären sie erbost darüber, dass ihre elementare Kraft herausgefordert wurde. Das Schiff neigte sich gefährlich, während es breitseits zu den Wellen lag. Wassermassen überspülten sein Deck vom Heck bis zum Bug.
Mit Hilfe der Bug- und Heckdüsen drehten sie sich wie ein Schraubdeckel auf der Stelle, und sobald sie den richtigen Kurs erreicht hatten, schaltete Eric die Flügelräder wieder um und ließ die Maschinen verstummen.
»Entfernung?«, rief Cabrillo.
»Viertausend Yards.«
Das U-Boot hatte fast eine Meile aufgeholt, während sie sich gedreht hatten. Juan rechnete schnell und sagte: »Eric, nur damit du es weißt, die Blechbüchse kommt mit dreiundzwanzig Knoten.«
Eric schaltete sofort alle Energiereserven auf Stand-by.
Es war ein brutaler Höllenritt wie auf einem bockenden Bronco. Das Schiff schüttelte sich so heftig, dass Juan schon befürchtete, ihm würden die Füllungen aus den Zähnen fallen, während sie fast senkrecht an den durchlaufenden Wellen hochstiegen, um danach im freien Fall ins nächste Wellental abzustürzen. Noch nie zuvor hatte Cabrillo seinem Schiff etwas Ähnliches abverlangt.
»Entfernung?«
»Viertausendeinhundert.«
Jubel brandete auf. Trotz allem entfernten sie sich von dem U-Boot. Zärtlich tätschelte Juan die Armlehne seines Sessels.
»Kontakt!«, rief Linda. »Sonar. Neue Bewegung im Wasser. Geschwindigkeit siebzig Knoten. Sie haben gefeuert! Kontakt. Sonar. Zweiter Torpedo im Wasser.«
»Gegenmaßnahmen einleiten«, befahl Cabrillo.
Mark Murphy zauberte auf seinem Keyboard, und ein Rauschgenerator wurde aus einer Kapsel unter dem Kiel freigesetzt, blieb jedoch mit dem Schiff durch ein auslaufendes Kabel verbunden. Das Gerät erzeugte Geräusche, wie die Oregon sie machte, und sollte den Torpedo von dem Schiff weglocken.
»Der erste Torpedo kommt mit vollem Tempo. Der zweite ist langsamer geworden. Er geht in Stand-by.« Der chinesische Kapitän hielt sich einen seiner Fische in Reserve – für den Fall, dass der erste sein Ziel verfehlte. Das war eine kluge Taktik. »Entfernung zweitausend Yards.«
Im Gefecht entwickelt Zeit eine Elastizität, die den Gesetzen der Physik widerspricht. Minuten und Sekunden erscheinen austauschbar. Die winzigsten Momente können ewig dauern, während die längste Zeitspanne innerhalb eines Lidschlags verstreicht. Der Torpedo brauchte knapp über zwei Minuten, um die Distanz zu halbieren, aber für die Männer und Frauen im Operationszentrum war es, als würden Stunden vergehen.
»Wenn sie auf den Köder gehen, sollte es in sechzig Sekunden geschehen«, verkündete Linda.
Juan ertappte sich dabei, wie sich seine Muskeln verkrampften und er seinem Körper den Befehl gab, sich zu entspannen. »Okay, Eric, schalt den Antrieb aus und leg alles still.«
Die Maschinen liefen gleichmäßig herunter, und das Schiff wurde langsamer. Es würde mindestens eine Meile dauern, bis es völlig zum Stillstand kam. Aber das war nicht das Ziel. Sie wollten, dass der Torpedo sich ausschließlich auf den Rauschgenerator, den sie hinter sich her schleppten, konzentrierte.
»Dreißig Sekunden.«
»Nimm den Köder, Baby, schnapp ihn dir«, drängte Murph.
Juan beugte sich vor. Auf dem großen Monitor sah die See hinter der Oregon so dunkel und Unheil bringend wie eh und je aus. Und dann schoss ein Geysir, eine mächtige Wassersäule, von der Oberfläche hoch und stieg auf fast zwanzig Meter, bis die Schwerkraft die Explosionswirkung überwand und die Fontäne in sich zusammensank.
»Einen Fisch können wir streichen«, krähte Mark.
»Eric«, sagte Juan völlig ruhig, »mach eine Wende mit zehn Prozent Leistung auf den Düsen. Für eine Weile dürften die akustischen Signale ziemlich verzerrt sein, aber bleib so leise wie möglich. Waffenstation, Außenschotts öffnen.«
Mark Murphy ließ die beiden Torpedoklappen des Schiffes aufgleiten, während die Oregon langsam herumkam und den Bug auf das näher kommende U-Boot ausrichtete.
»Linda, was tut er gerade?«
»Er ist langsamer geworden, damit er lauschen kann, bleibt aber auf seiner Tiefe. Und der zweite Torpedo geistert noch da draußen herum.«
»Er will hören, ob wir sinken«, sagte Juan, »anstatt aufzutauchen. Mark, tu ihm den Gefallen.«
»Roger.« Er tippte Befehle in seinen Computer – eine elektronische Audiodatei wurde geöffnet. Die Lautsprecher waren am Schiffsrumpf befestigt und pumpten die Laute eines Schiffes im Todeskampf in den Ozean.
»Mir ist gerade etwas eingefallen«, sagte Cabrillo. »Wir sollten die Lautsprecher an eine Leine hängen, die wir unter dem Rumpf hinablassen können. Das wäre um einiges realistischer.« Er blickte zu Hanley hinüber. »Max, daran hättest du denken können.«
»Warum hast du nicht daran gedacht?«
»Hab ich doch gerade.«
»Ein bisschen spät für uns.«
»Du kennst doch das Sprichwort …«
»Besser spät als nie.«
»Nein. Es heißt, Waffenstation, beide Rohre abfeuern.«
Mark hatte sich durch das Wortgeplänkel nicht von seiner eigentlichen Aufgabe ablenken lassen und startete nun die Torpedos, kaum dass der Befehl erfolgt war.
Komprimierte Luft blies die beiden zwei Tonnen schweren Marschwaffen aus ihren Rohren, während ihre Elektromotoren anliefen. Innerhalb weniger Sekunden rasten sie mit mehr als sechzig Knoten Geschwindigkeit ihrem Ziel entgegen. Cabrillo schaltete mittels des Keypad an seinem Sessel die vordere Kamera auf den Hauptschirm. Die Torpedos hinterließen eine Zwillingsspur aus weiß sprudelndem Wasser, während sie sich vom Schiff entfernten.
»Dieser zweite Fisch dürfte in etwa drei Sekunden hinter uns her sein«, sagte er zu Mark. »Öffne die vordere Kammer für die Gatlin-Kanone, und fahr sie hoch.«
Ein raffiniert getarntes Schott am Bug sprang auf, und die mehrläufige Mündung der Gatlin erschien. Das Laufbündel begann zu rotieren, bis es nur noch ein verwischter Fleck war. Fähig, viertausend 20-mm-Tungstenstahlgeschosse pro Minute zu verfeuern, konnte die Waffe genügend Wasser verdrängen, um den Torpedo zu erreichen, während er auf das Schiff zukam. Sie hatten einmal einen ähnlichen Angriff im Persischen Golf vereitelt, als ein iranisches U-Boot einen Torpedo in Marsch gesetzt hatte – um sie zu treffen.
»Kontakt. Sonar. Ihr Fisch ist wieder aktiv. Oh, nein!«
»Was ist?«
»Er ist bei dreihundert Fuß.«
Juan begriff sofort, was das bedeutete. Im Gegensatz zu ihrer letzten Auseinandersetzung mit einem Kilo-Klasse-U-Boot, die bei geringer Wassertiefe stattgefunden hatte, stand dem chinesischen Kapitän im Ozean genügend Raum zur Verfügung, um den Torpedo in die Tiefe zu dirigieren und ihn von unten angreifen zu lassen, also dort, wo ein Schiff am verwundbarsten ist – nämlich am Kiel. Ein modernes Schiff kann zwar auch mit einer schweren Explosion in seiner Flanke noch halbwegs manövrierfähig bleiben – man braucht sich nur die USS Cole anzusehen –, aber ein Treffer an der Unterseite seines Rumpfs zerstört das Rückgrat des Schiffes und hat zur Folge, dass es in zwei Hälften zerbricht und innerhalb weniger Minuten sinkt.
»Wer gewinnt das Rennen?«, fragte Cabrillo.
»Deren Fisch hat vor unserem einen Vorsprung von einhundertfünfzig Yards und ist vier Knoten schneller. Er trifft uns eine ganze Minute früher, als unser Fisch beim Gegner einschlägt.«
Cabrillo überlegte und verwarf eine Option nach der anderen. Es blieb ganz einfach keine Zeit, sich durch ein Manöver in Sicherheit zu bringen, und die See war zu rau, als dass die Oregon ihre hohe Geschwindigkeit als Vorteil hätte nutzen können.
»Waffenstation, Kollisionsalarm auslösen. Eric, ich übernehme die Steuerung.«
Über dem elektronischen Jaulen des Alarms war noch ein anderes mechanisches Geräusch zu hören.
Max, der das Schiff besser kannte als jeder andere, begriff als Erster, dass Juan die großen Moon-Pool-Tore geöffnet hatte. Er begriff schnell, was der Chef beabsichtigte. »Hast du den Verstand verloren?«
»Hast du eine bessere Idee? Wenn dieser Torpedo einen Aufschlagzünder hat und nicht auf ein Annäherungssignal reagiert, besteht eine reelle Chance, dass wir die Sache durchziehen können.«
»Und wenn er direkt unterm Kiel explodiert?«
»Ob die Tore offen oder geschlossen sind, das würde nichts ändern.« Cabrillo wandte sich an Linda. »Du bist jetzt mein Navi. Bring mich in Position.«
»Was soll ich tun?« Sie hatte noch immer nicht verstanden, um was es ging.
»Fädle diesen Torpedo in die Nadel. Er soll direkt unter dem Moon Pool hochkommen. Mit ein wenig, nein, eher mit einer ganzen Menge Glück wird das Ding fliegen, wenn es eindringt. Dabei müssten seine Lenkdrähte reißen. Danach ist es nicht mehr als ein totes Papiergewicht.«
»Du bist verrückt«, sagte sie und sah Max an. »Das ist er wirklich.«
»Ja schon, aber es könnte tatsächlich funktionieren.«
Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Display. »Tiefe immer noch dreihundert. Abstand tausend Yards.«
Der Torpedo behielt seinen Kurs bei und blieb in der Tiefe, während er die Oregon verfolgte. Wegen der Lenkdrähte, die bis zum U-Boot reichten, konnte der Chinese keine Ausweichmanöver gegen die beiden Torpedos, die auf ihn zuhielten, durchführen. Juan musste es dem chinesischen Kapitän lassen: Er hatte Nerven. Wären die Rollen vertauscht gewesen, er hätte sich schnellstens verzogen, sobald er festgestellt hätte, dass er angegriffen wurde.
»Entfernung vierhundert Yards. Tiefe unverändert. Zeit bis zum Kontakt etwa vierzig Sekunden.«
Der chinesische Kommandant würde die Tiefe des Torpedos erst ändern, wenn er sich direkt unter dem Schiff befand, und dann würde er ihn zum tödlichen Treffer senkrecht nach oben lenken.
»Entfernung einhundert Yards. Tiefe unverändert. Juan, er befindet sich etwa zwanzig Fuß an Steuerbord von unserer Mittelachse.«
Cabrillo aktivierte die Manövrierdüsen, um die Oregon quer durchs Wasser zu schieben. Bei der wogenden See wäre mehr als eine Menge von dem Glück nötig, das er beschworen hatte. Es war, als würde ein Faden in eine Nadel eingefädelt werden, nur dass die Hand, die die Nadel hielt, heftig zitterte.
»Das ist gut. Okay, er kommt hoch. Tiefe zwei-fünfzig. Entfernung zwanzig Yards.«
Die Sonarkuppel an der Unterseite des Rumpfs befand sich dreißig Fuß hinter dem Bug. Cabrillo musste das berücksichtigen. Der Torpedo war zwanzig Yards vom Sonar entfernt, aber nur zehn von seinem Schiff. Der Moon Pool befand sich genau in der Mitte des fünfhundertsechzig Fuß langen Frachters.
»Tiefe eins-achtzig Fuß. Horizontale Entfernung vom Bug fünf Yards.« Eine Sekunde später berichtigte sie und sagte: »Tiefe eins-fünfzig. Entfernung drei Yards.«
Juan jonglierte im Kopf mit den Vektoren, berechnete die Gleitbahn des Torpedos, während er auf sie zuschoss, die Geschwindigkeit und Position des Schiffes und wie die Wellen es beeinflussten. Er hatte nur einen Schuss – oder sie würden alle sterben. Es gab keinen Spielraum für einen Fehler. Und er durfte nicht zögern. Er ging für weniger als zwei Sekunden auf volle Kraft und schaltete dann die Flügelräder auf Gegenrotation. Das Schiff machte einen Satz vorwärts, schob einen schweren Brecher zur Seite und stoppte wieder.
»Tiefe fünfzig Fuß. Entfernung null.«
Wie ein Leviathan, der aus der Tiefe emporstieg, schoss die zwiebelförmige Nase des Torpedos aus dem Moon Pool. Da er auf keinen Widerstand traf, schob der Motor die Waffe vollends aus dem Wasser. Die letzte ruckartige Beschleunigung reichte aus, um die beiden Lenkdrähte, die sie mit dem meilenweit entfernten U-Boot verbanden, zu zerreißen. Der Torpedo fiel ins Wasser zurück und dröhnte wie eine mächtige Glock, als er auf den Rand des Moon Pools aufschlug. Und dann versank er. Ohne Steuersignale vom Mutterschiff hatte der Zielcomputer die Waffe neutralisiert.
Siegesgebrüll erfüllte das Operationszentrum und hallte durch das gesamte Schiff, wo andere Mannschaftsangehörige das Geschehen auf Videomonitoren verfolgt hatten. Max schlug Cabrillo derart heftig auf den Rücken, dass er einen roten Handabdruck hinterließ. Tamara umarmte Juan einmal ganz kurz und danach Max um einiges länger.
Cabrillo machte Anstalten, den Raum zu verlassen. »Chef«, rief Linda, um ihn aufzuhalten. »Was ist mit dem U-Boot? Unsere Torpedos schlagen in fünfundvierzig Sekunden ein.«
»Ich bin mal kurz für Herren, falls ihr mich braucht.«
Er war in der Toilette und seufzte erleichtert, als erneuter Jubel aufbrandete. Die Fische hatten ihren Job erledigt, und der Weg in die Antarktis und zum Ende dieser Affäre war frei.