20

Das schlechte Wetter verfolgte die Oregon, während sie nach Süden stampfte. Schiff und Mannschaft ertrugen die Misshandlung klaglos, als wäre sie die ihnen auferlegte Buße für die Entführung Tamara Wrights. So empfand es zumindest Cabrillo. Einige Wellen erreichten beinahe die Höhe der Kommandobrücke, und wenn sich ihr Heck aus den Fluten hob, explodierte Wasser in Zwillingslanzen von fast vierzig Metern Länge aus den Pumpjets.

Juan hatte die Führungskräfte im Sitzungssaal der Corporation zusammengerufen. Der Raum war von einem direkten Treffer der libyschen Fregatte zerstört worden, und beim Wiederaufbau hatte sich Juan für einen modernen Glas-und-Edelstahl-Look entschieden. Die Tischplatte war mit einem Gitter mikroskopisch feiner Elektrodrähte versehen worden, das, wenn aktiviert, eine statische Ladung erzeugte, die Papiere an Ort und Stelle festhielt, ganz gleich welcher Seegang auch herrschte. Bei einem Wind der Stärke sieben war der Tisch eingeschaltet, um zu verhindern, dass die Mengen von Fotos und Notizen auf den Fußboden rutschten. An den Stirnwänden des Saals hingen große Flachbildschirme, auf denen eine Dia-Schau aus Bildern des in Frage kommenden Hauses und seiner Umgebung ablief.

Das wunderschöne Apartmenthaus sah aus, als wäre es in Frankreich Stein für Stein zerlegt und an einer breiten Avenue in Südamerika wieder aufgebaut worden. Tatsächlich entsprach die Architektur der älteren Bauten von Buenos Aires dem französischen Empire – mit Mansardendächern, dekorativem Mauerwerk und zahllosen Säulen. Auf Grund des Reichtums, der im Recoleta-Distrikt versammelt war, wurden die zahllosen Parks von Standbildern ehemaliger Staatslenker beherrscht. Viele der Hauptstraßen waren dergestalt angelegt, um dem Wendekreis von Achtspännern gerecht zu werden, als Pferdekutschen noch das Haupttransportmittel waren.

Weil ihm zugegebenermaßen sämtliche taktischen Fähigkeiten fehlten, nahm Max Hanley nicht an dem Treffen teil und hielt stattdessen im Operationszentrum Wache. Neben Cabrillo hatten sich Mark Murphy, Eric Stone, Linda Ross, Eddie Seng und Franklin Lincoln eingefunden. Während zivile Kleidung an Bord des Schiffes bevorzugt wurde, trugen Eddie, Linda und Linc schwarze Kampfanzüge. Mark hatte sich ein Flanellhemd aus der Grunge-Ära über sein St.-Pauli-Girl-T-Shirt gezogen.

Juan trank einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse auf ein versenktes Schwenktablett zurück. »Ich rekapituliere: Wir werden mit dem Schiff nicht in argentinische Gewässer eindringen, daher bleibt uns als einzige Möglichkeit eine Infiltration unter Wasser, okay?« Köpfe nickten zustimmend. »Ich schlage vor, wir benutzen das größere, zehn Personen fassende Nomad 1000. Wahrscheinlich brauchen wir den Platz zwar gar nicht, aber besser zu viel als zu wenig.«

»Wer macht den Heckschützen und muss auf das Schätzchen aufpassen?«, fragte Linc.

»Das weiß ich nicht, bis wir unsere Pläne unter Dach und Fach haben. Wir müssen davon ausgehen, dass ein Gebäude wie dieses einen Portier hat. Er könnte unser Schlüssel sein. Ich bin aber noch nicht sicher.«

Eddie hob trotz Juans mehrfacher Aufforderung, dass er ihn jederzeit unterbrechen könne, die Hand. »Wenn sie in der obersten Etage gefangen gehalten wird, wäre es da nicht sinnvoller, durchs Dach zu gehen?«

»Es ist ein Schieferdach«, sagte Eric. »Und der Unterbau dürfte ziemlich solide sein. Die Stützkonstruktion ist bei einem so niedrigen Bau dick und stabil.«

»Wahrscheinlich irgendein verdammtes exotisches Holz, das härter ist als Stahl«, fügte Murph hinzu. »Das Gebäude stammt aus der Zeit, bevor Eisenträger Verwendung fanden, daher dürfte es die eine oder andere Schwachstelle in seinem Design und seiner Bausubstanz haben. Eine Sprengladung an der richtigen Stelle würde sicherlich eine Außenmauer flachlegen.«

»Ich will das Ganze so unauffällig wie möglich durchziehen«, sagte Juan, »also nicht mit dem Vorschlaghammer. Wir dürfen nicht vergessen, dass Argentinien ein Polizeistaat ist und dass deshalb an jeder Ecke Polizisten stehen, die jederzeit jeden verhaften können. Und jeder dritte Fußgänger ist ein Spitzel. Ich möchte niemandem einen Grund liefern, uns misstrauisch zu beobachten. Wir müssen behutsam auftreten.«

»Es gibt immer noch die Kanalisation«, schlug Linda vor. »Und wenn wir es auf diese Weise machen, dann nehmt ins Protokoll mit auf, dass ich mich freiwillig melde, bei dem Mini-U-Boot zu bleiben.«

»Das nenne ich ein Opfer für die Gemeinschaft«, hänselte Eddie sie.

»Es ist wirklich ein Opfer«, sagte Linda so ernst sie es vermochte. »Aber ihr kennt mich ja. Ich tue alles, um zu helfen.«

Während der nächsten zwei Stunden wurden Ideen entwickelt, skizziert, analysiert und wieder zerpflückt. Die fünf hatten schon zahllose Missionen gemeinsam geplant und konnten am Ende nichts Besseres zustande bringen als eine leicht abgewandelte Version von Mark Murphys vorgeschlagener Vorschlaghammer-Methode. Es gab einfach zu viele Variable – wie zum Beispiel die Anzahl der Männer, die Tamara bewachten –, um etwas Raffiniertes zu versuchen.

 

In dem Bereich, wo sie eines der beiden Mini-U-Boote, die sie mitführten, zu Wasser lassen konnten, herrschte gerade hektische Aktivität, als Juan durch die wasserdichte Tür eintrat. Die massiven Kielklappen, so groß wie Scheunentore, waren zwar noch geschlossen, und der Moon Pool war leer, aber der salzige Geruch des Ozeans schwängerte die Luft.

Techniker umschwärmten das schlanke Nomad 1000. Das Mini-U-Boot sah wie eine verkleinerte Version eines Atom-U-Boots aus, nur dass seine Nase aus einer transparenten Acrylglaskuppel bestand, die dem Druck in über dreihundert Metern Wassertiefe standhielt. Roboterarme hingen wie die Klauen eines riesigen Seeungeheuers unter seinem Kinn. Der Kommandoturm war nur knapp einen Meter hoch, und dahinter befand sich ein großes schwarzes Schlauchboot, das man auf dem Bootskörper festgezurrt hatte. Bei ihrer Fahrt zur Küste würden sie nicht allzu tief tauchen, daher war das Zodiac bereits mit Luft gefüllt worden. Ihre gesamte Ausrüstung befand sich im U-Boot und würde erst dann auf das Schlauchboot umgeladen werden, wenn sie sich dicht vor der Küste befanden.

Das Befreiungsteam bestand aus Cabrillo, Linc, Linda und Mark Murphy. Juan hätte nichts dagegengehabt, noch einen weiteren Schützen mitzunehmen, aber er wollte die Gruppe so klein wie möglich halten. Mike Trono würde das U-Boot lenken und zurückbleiben, wenn die anderen mit dem Schlauchboot Kurs auf die Küste nahmen.

Kevin Nixon winkte ihn zu sich herüber. Der ehemalige Spezialeffekte-Guru Hollywoods betrieb eine Werkstatt, die als Zauberladen bei der Mannschaft bekannt war. Er sorgte für die Tarnungen, die bei Landeinsätzen benötigt wurden, und über die entsprechenden Ausweispapiere. Er selbst war zwar nicht gerade ein begnadeter Fälscher, aber er hatte zwei Genies auf diesem Gebiet in seiner Abteilung.

»Damit müsstet ihr problemlos überall durchkommen«, sagte der hochgewachsene, bärtige Nixon und reichte Cabrillo eine Mappe.

Juan blätterte die Papiere durch. Da waren argentinische Personalausweise sowie Reisepapiere und Arbeitsgenehmigungen, jeweils in vierfacher Ausfertigung. Alle Dokumente sahen authentisch und benutzt aus. Der dicke Stapel Geldscheine war echt.

»Erstklassig, wie üblich«, lobte Cabrillo. »Bleibt nur zu hoffen, dass wir sie nicht benutzen müssen.«

»Die Batterien sind geladen, Navigation und Sonar sind gecheckt, und das Lebenserhaltungssystem arbeitet einwandfrei«, meldete Trono, als Juan zu ihm kam. »Ich wünschte, ich könnte mit euch kommen.«

»Wir wissen nicht, in welchem Zustand sich Dr. Wright befindet, daher brauche ich Linc, falls wir sie tragen müssen, wenn wir zum Zodiac zurückkehren.«

»Ich weiß, aber na ja … Du weißt schon, was ich meine.«

Juan legte Mike eine Hand auf die Schulter. »Ich verstehe sehr gut.«

Max Hanley erschien. »Die See wird sich auf lange Sicht wohl nicht beruhigen, daher könnt ihr jetzt auch gleich starten.«

Cabrillo hob eine Augenbraue. »Bist du gekommen, um dich von uns zu verabschieden?«

»Nein, nur um sicherzugehen, dass ihr sie auch wirklich zurückbringt. Das war kein Witz, als ich meinte, ich wolle Tamara um ein Rendezvous bitten. Sie ist wirklich eine Granate.«

»Die Zukunft deiner Liebsten liegt in den geschicktesten Händen. War das mit dem Wetter ernst gemeint?«

»Ich fürchte, ja. Es schüttet wie aus Eimern und wird bis morgen wohl auch nicht nachlassen. Willst du den Einsatz lieber verschieben?«

Eines der U-Boote zu Wasser zu lassen und wieder aufzunehmen war schon bei gutem Wetter eine heikle Angelegenheit, aber Juan ließ sich nicht abschrecken. Jede Sekunde zählte. »Nein. Diesmal nicht.«

»Dann viel Glück«, sagte Max und machte kehrt, um ins Operationszentrum zurückzugehen.

Cabrillo war weder abergläubisch noch ein Fatalist, doch irgendwie erzeugte Hanleys Wunsch ein unbehagliches Gefühl bei ihm. Jemandem Glück zu wünschen, der im Begriff war, sich in Gefahr zu begeben, schien ihm ein böses Omen zu sein. Er raffte sich auf. »Okay, Leute, schwingen wir uns in den Sattel.«

Er war der Letzte, der durch die Luke des Nomad kletterte, und er schraubte sie zu, bis sie absolut wasserdicht war und ein Kontrolllicht in dem engen Kommandoturm auf Grün umsprang. Mike sah die gleiche Anzeige oben im Hightech-Cockpit. Eine Sekunde später aktivierte der Techniker, der die Startsequenz steuerte, die schwere Apparatur, mit der das U-Boot von seinem Gestell gehievt wurde, während er gleichzeitig den Schalter betätigte, mit dem die Flutung des Moon Pools eingeleitet wurde.

Die Beleuchtung im Raum wechselte von Neonlicht zu roten Glühbirnen, damit sich die Bootsbesatzung schneller an die kommende Dunkelheit anpassen konnte. Als sich das künstliche Becken gefüllt hatte, öffneten hydraulische Widder die Kieltore. Das Wasser im Moon Pool schwappte bedrohlich, spülte über das Deck und überschüttete einen Techniker mit einem dichten Sprühnebel. Das Tauchboot lag sicher in seinem Gestell.

Langsam wurde es ins Wasser abgelassen, Wellen schwappten über seine Acrylglaskuppel. Die See war zu rau, um Taucher in den Moon Pool zu schicken, daher sprang ein Techniker auf das U-Boot und löste die Kranseile, während es sich noch innerhalb des Schiffes befand. Mike ließ sofort Luft ab, und das Mini-U-Boot sackte unter dem Schiff weg.

Das Wasser war pechschwarz. Bei dieser geringen Wassertiefe konnten sie den mächtigen Südatlantik über sich wogen sehen. Bis sie eine Tiefe von zwanzig Metern erreichten, wurde das Nomad in einem wilden Tanz hin und her geworfen, so dass sogar seine erfahrene Besatzung gegen eine aufkommende Übelkeit ankämpfen musste.

»Alles okay da hinten?«, fragte Trono über die Schulter, während er einen westlichen Kurs einprogrammierte.

»Es hätte irgendwo ein Schild geben müssen, auf dem steht, dass ich für diese Fahrt viel zu klein bin«, sagte Linda. Sie massierte ihren Ellbogen, nachdem sie damit gegen die stählerne Hülle des U-Boots geworfen worden war.

Juan schlängelte sich durch die spartanisch eingerichtete Kabine und ließ sich neben Mike in den Sitz des Kopiloten fallen. »Wann sind wir denn schätzungsweise am Ziel?«

»Eine Sekunde.« Mike beendete die Eingabe des Kurses in den Navigationscomputer, der die Antwort dann sofort ausspuckte. »Wir haben fünf Stunden in dieser Konservendose vor uns, vorausgesetzt, uns kommen die Küstenwache oder irgendwelche Schiffe der Marine nicht in die Quere.«

»Die können uns bei diesem Seegang niemals hören.« Juan lehnte sich zurück, um die anderen sehen zu können. »Fünf Stunden. Die könnten wir eigentlich nutzen, um ein wenig zu schlafen.«

»Mark, du kannst mit auf meine Bank«, sagte Linc. »Wir spielen Löffelchen.«

»Vergiss es, Colossus. Bei dir darf ich doch nie der kleine Löffel sein.«

Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Es herrschte keinerlei Schiffsverkehr, weder von noch nach Buenos Aires, und sie trafen auch auf keine militärische Küstenpatrouille. Etwa anderthalb Kilometer vor der Küste tauchten sie auf. Die Nähe der Landmasse hatte das Wasser zwar ein wenig beruhigt, doch es regnete weiterhin in Strömen. Durch den Dunst konnten sie die Lichter der Hochhäuser in der Innenstadt als gespenstische Aura erkennen, die auf die City aufmerksam machte. Was auch gerne als das Paris Lateinamerikas bezeichnet wurde, erschien im Unwetter geradezu bedrohlich. Nur anderthalb Kilometer von ihnen entfernt befand sich ein Ort des Bösen und der Angst, wo der Staat jede Sekunde des Lebens seiner Bürger überwachte. Erwischt und gefangen genommen zu werden würde ihren sicheren Tod bedeuten.

Juan organisierte das Umladen der Ausrüstung in wasserdichte Säcke. Er schnallte jeden Sack, der zu ihm heraufgereicht wurde, auf das Zodiac. Zwar vermutete er, dass sie zu viel Ausrüstung mitnahmen, aber es gab einfach zu viele Unwägbarkeiten, und sie mussten schließlich auf alles vorbereitet sein.

Er setzte sich ein Headset auf. »Comm Check, Comm Check, wie komme ich?«

»Fünf von fünf«, antwortete Mike aus dem Cockpit des Tauchboots.

»Halte die Stellung, während wir weg sind.«

»Alles klar, großer Meister.«

Juan wartete, bis die anderen drei durch das Schott geklettert waren und sich ihre Plätze im Zodiac gesucht hatten, bevor er die Leinen losmachte, die es am U-Boot sicherten. Während sie frei schwammen, entdeckte er ein weiteres Packstück mit Ausrüstung, das sie auf dem U-Boot zurückließen, und hoffte entgegen aller Wahrscheinlichkeit, dass sie es nicht bräuchten.

Der Elektromotor des Zodiac gab ein Summen von sich, das sich im Sturm verlor. Mit seinem flachen Profil war es so gut wie unsichtbar. Juan musste wegen der Strömung des mächtigen Rio Plata, also desjenigen Flusses, der die ersten spanischen Siedler zur Gründung von Buenos Aires veranlasst hatte, ein paar Grad gegensteuern.

Ihr Ziel war der Industriehafen, wo große Frachter untätig vor Anker lagen, weil nur noch wenige Nationen Handelsverbindungen mit dem Schurkenstaat unterhielten. Cabrillo stellte fest, dass die Schiffe, die hier vor sich hin brüteten, unter den Flaggen von solchen Nationen wie Kuba, Libyen, China und Venezuela fuhren. Das überraschte ihn gar nicht.

Wegen des Wetters herrschte auf den Docks praktisch keinerlei Tätigkeit, die sie von ihrer niedrigen Position des Schlauchboots aus hätten beobachten können. Die riesigen Portalkräne standen reglos da, und die Lichtmasten waren dunkel. Er lenkte sie unter einen unbenutzten Pier, dessen Betonpfeiler mit Muscheln und Seepflanzen bedeckt waren, die durchdringend nach Jod stanken. Das Wasser war dank des Flusses bemerkenswert frei von Abfällen.

Linc machte das Zodiac fest, während Juan die Zündung des Motors unterbrach.

»Hi, Schätzchen, ich bin zu Hause«, witzelte Mark. Zwar trugen sie alle Regenkleidung, aber vor allem Murph sah wie eine ertrinkende Ratte darin aus.

Cabrillo reagierte nicht auf den Scherz. Er zeigte sein neutrales Pokergesicht. »Okay. Wir kennen ja alle den Plan. Haltet euch daran. Wir melden uns, sobald wir das Gebäude eingehend inspiziert haben.«

»Wir halten uns bereit«, erwiderte Linc.

Linda und Juan zogen ihre Nylonregenhosen und -jacken aus. Darunter kam bei Cabrillo ein Tausenddollaranzug zum Vorschein, den er schnell unter einem Burberry-Mantel versteckte. Seine Schuhe wirkten wie Wingtips, waren in Wirklichkeit jedoch Kampfschuhe mit rutschsicheren Gummisohlen. Linda trug ein rotes Cocktailkleid mit hohem Seitenschlitz und tiefem Ausschnitt. Ihr Trenchcoat war schwarz, die Stiefel reichten fast bis zu den Oberschenkeln. Ebenso wie Juans Schuhe waren sie für schnelle Aktionen und sicheren Stand entworfen worden. Nur eine andere Frau hätte bemerkt, dass sie nicht ganz der aktuellen Mode entsprachen. Sie hatten nämlich keine Absätze.

Juan erstieg als Erster die Leiter, die an einem Pfeiler des Piers befestigt war, und Linda schickte ihren beiden Teamgefährten einen Blick, der sagen sollte: Schaut mir nur einmal unter den Rock, und ihr werdet es bereuen! Dann folgte sie ihm, zog einen kleinen Damenschirm aus der Manteltasche und spannte ihn auf. Weil er fast dreißig Zentimeter größer war, hatte Juan neben ihr keinen Platz unter dem Schirm, und als sie den Kai hinuntergingen, musste er sich mehrmals zur Seite neigen, um keine der Schirmspeichen ins Auge zu bekommen.

Sie brauchten eine Viertelstunde, um das Hafengelände zu durchqueren und zum Haupttor zu gelangen. Flackernder Lichtschein im Wachhaus verriet ihnen, dass die Torwächter das Fernsehprogramm verfolgten. Juan und Linda schlenderten lässig an dem kleinen Gebäude vorbei und fanden Minuten später ein Taxi, das durch die verlassenen Straßen rollte. Als Ziel nannte Cabrillo eine Adresse, ein paar Häuser von General Espinozas Apartmenthaus entfernt. Eine der Vorschriften der Junta verlangte, dass der Taxifahrer ihre Namen und Adressen von den Reisepapieren notierte. Dies war eine weitere Möglichkeit für die Regierung, ihre Untertanen zu überwachen. Ein solcher Mangel an persönlicher Freiheit verursachte bei Cabrillo eine Gänsehaut.

Er nahm eine Zeitung, die jemand auf dem Rücksitz vergessen hatte, und hielt sie sich schützend über den Kopf, als er und Linda ausstiegen.

Sie gingen die letzten Schritte zu ihrem eigentlichen Ziel, sobald das Taxi um die nächste Straßenecke verschwunden war. Das Parterre der meisten Gebäude war an Geschäftsbetriebe vermietet – vorwiegend Boutiquen, um die Bedürfnisse der reichen Frauen in der Nachbarschaft zu befriedigen, aber auch einige Restaurants, die um diese späte Stunde allmählich im Begriff waren, Feierabend zu machen. Außer ihnen waren auf den Bürgersteigen keine Fußgänger zu sehen. Die Fahrzeuge, die am Bordstein parkten, boten einen kompletten Überblick über die deutsche Luxusautomobilproduktion.

Im Licht der Apartmentfenster erzeugte der Regen silberne und goldene Reflexe.

Die Drehtür zu Espinozas Eckhaus war aus Glas und Messing. Durch sie betraten Juan und Linda eilig das Gebäude und unterhielten sich lachend darüber, wie nass sie geworden waren und dass sie froh seien, endlich zu Hause angekommen zu sein.

Cabrillo blieb sofort abrupt stehen und lachte. »Au. Falsches Haus«, sagte er und grinste betrunken. Er geleitete Linda zurück nach draußen. Der Portier hatte kaum Zeit genug, seinen Platz hinter dem Empfangspult zu verlassen, ehe das elegant gekleidet Paar wieder hinausgegangen war. Insgesamt hatten sie sich nicht viel länger als sieben Sekunden in der Halle aufgehalten.

Mehr als genug.

»Erzähl mir was«, sagte Juan, sobald sie wieder auf der Straße standen.

»Der Portier trägt eine Pistole in einem Schulterhalfter«, sagte Linda. »Dann war da eine Kamera, die den Hauseingang im Visier hat.«

Juan blieb stehen und achtete nicht auf den Regen. »Ist das alles, was du gesehen hast?« Sein Tonfall klang ein wenig spöttisch und enttäuscht.

»Was? Was hast du denn gesehen?«

»Okay, erstens, die Pistole im Schulterhalfter war natürlich ganz offensichtlich. Schon sein Anzug war entsprechend geschnitten, damit sie deutlich zu sehen war. Wer immer an ihm vorbeigeht, soll sie sehen. So etwas schreckt ab. Was du nicht sehen solltest – und was du folglich auch nicht gesehen hast – war die Pistole im Halfter an seinem Fußknöchel. Seine Hosenbeine waren ausgestellt, um sie zu verbergen, aber nicht weit genug. Jemand, der zwei Waffen am Körper trägt, hat sicherlich auch noch eine Maschinenpistole unter seinem Pult. Er gehört ganz sicher zur Neunten Brigade und ist kein regulärer Portier. Erzähl mir von den Kameras.«

»Kameras?«, fragte Linda. »Wir waren doch nur zwei Sekunden da drin. Wie ich schon sagte, ich hab nur eine Kamera gesehen, und die war auf den Eingang gerichtet.«

Juan atmete tief durch. Er hatte wenig Lust, ihr bei diesem Wetter eine Lektion zu erteilen, aber er hatte das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, wenn er ihre Mission mit Linda erfolgreich fortsetzen wollte. »Okay. Wir waren knapp über sieben Sekunden in der Lobby. Von jetzt an musst du ganz präzise sein. Du hast einen Wächter und eine Kamera gesehen. Richtig?«

Linda wollte eigentlich gar nicht darauf antworten, murmelte jedoch ein verlegenes »Ja«.

»Es gab in der Halle eine zweite Kamera, genau über der Drehtür, die den Fahrstuhl und das Pult, wo der Portier sitzt, überwacht. Es sah so aus, als sei sie erst vor kurzem installiert worden. Die Leitungsdrähte sind deutlich zu sehen und wurden nachlässig gebündelt. Ich wette, die Kamera wurde montiert, als sie Professor Wright in das Gebäude brachten. Wahrscheinlich wird sie vom Penthouse kontrolliert.«

»Wie konntest du das sehen?«

»Im Spiegel neben der Fahrstuhltür.«

Linda schüttelte den Kopf. »Als ich den Spiegel entdeckt habe, sah ich darin nur uns beide. Na ja, genau genommen nur mich.«

»Menschliche Natur«, erwiderte Juan. »Das Erste, worauf die Leute achten, wenn sie in einen Spiegel schauen oder ein Foto betrachten, sind sie selbst. Es ist einfach Eitelkeit.«

»Und was tun wir jetzt? Den Hintereingang überprüfen?«

»Nein, der wird sicherlich auch mit Kameras überwacht. Wir können das beschwipste verirrte Pärchen ja auch nur einmal spielen. Wenn sie uns wiedersähen, würden sie die Polizei rufen oder uns selbst in Gewahrsam nehmen.«

»Versuchen wir es demnach mit Marks Idee?«

»Es wird wohl der Vorschlaghammer werden, ja.« Sie fanden ein paar Türen weiter einen überdachten Hauseingang, in dem sie vor dem Regen geschützt waren. Die Straße wirkte so still, dass sie jeden sich nähernden Streifenwagen bemerken würden, lange bevor man sie sah. Juan rief Linc über den taktischen Kurzwellenfunk. »Wir sind bereit. Wie sieht es bei euch aus?«

»Mark ist draußen und hat bereits einen Wagen kurzgeschlossen«, meldete Lincoln. »Ich habe gefunden, was wir brauchen, und warte auf deine Nachricht.«

»Fahrt los. Wie lange braucht ihr bis hierher?«

»Solange die Hafencops keinen Ärger machen und wir nicht angehalten werden, sollten wir in einer Stunde dort sein.«

»Dann bis nachher.« Juan wechselte die Frequenz. »Mike, wie ist es da draußen?«

»Ich unterhalte mich mit den Fischen.«

»Wechsle zu Wegpunkt Beta.« Sämtliche Positionen waren lange im Voraus festgelegt worden.

»Schon unterwegs.« Mike Tronos Stimme stockte ein wenig. Er wusste, dass der Chef ein ungutes Gefühl hatte.

»Warum soll das U-Boot die Position ändern?«, fragte Linda.

»Mir kam in den Sinn, dass bei diesem Wetter eine Menge Polizei unterwegs sein wird, für die es kaum etwas zu tun gibt. Sobald der Alarm ausgelöst wird, dürfte jeder Cop in BA hinter uns her sein.«

Plötzlich übertrug sich Juans ungutes Gefühl auch auf Linda.

Sie umrundeten den Block und wagten sich nur dann aus ihrer jeweiligen Deckung, wenn sie ganz sicher sein konnten, dass niemand sie beobachtete. Einmal mussten sie sich hinter Müllcontainern in der Nähe einer Baustelle verstecken, als ein Streifenwagen vorbeirollte. Der Fahrer schenkte den Bürgersteigen keinerlei Beachtung, sondern konzentrierte sich ausschließlich darauf, den Wagen sicher durch den Wolkenbruch zu lenken. Ein bemitleidenswerter Mann, der einen kleinen Hund an der Leine führte, war der einzige Mensch, der ihnen begegnete. Aber dann gingen sie grußlos aneinander vorbei. Das Wetter war einfach zu miserabel, um Höflichkeiten auszutauschen.

Juan aktivierte das Bluetooth-Set in seinem Ohr. »Lass hören, Linc.«

»Ich kann dir sagen, dass hier alles glattläuft. Hab mich problemlos an den Wachen vorbeigeschwindelt, auch wenn mein Spanisch ein wenig eingerostet ist und ich so argentinisch aussehe wie ein Rhinozeros. Man braucht den Leuten nur zu sagen, dass man etwas für die Neunte Brigade abholt, und schon werden keine Fragen mehr gestellt.«

»Das ist das Schöne an einem Polizeistaat. Niemand wagt es, den Kopf zu erheben. Sie haben nämlich gelernt, dass er einem ganz schnell abgeschlagen werden kann.«

»Mark ist knapp vor mir, und wir sind in eurer Nähe.«

»Wir warten auf euch.«

Eine Viertelstunde später bog ein seltsamer Konvoi um eine ferne Straßenecke und näherte sich. Mark bildete die Vorhut und lenkte eine unauffällige kleinere Limousine. Orangefarbene Warnblinker auf dem Dach pulsierten rhythmisch, als wollten sie auf das nachfolgende Fahrzeug aufmerksam machen. Was ja auch ihr Sinn war. Linc saß am Lenkrad eines Fahrkrans, der das Emblem der Hafenverwaltung von Buenos Aires trug. Das Vehikel hatte keine Karosserie, sondern einen panzerähnlichen Turm auf einem für Schwerlasten konstruierten Chassis. Die Räder waren doppelt so groß wie gewöhnliche Autoräder. Der Ausleger war auf kürzeste Länge zusammengeklappt, ragte aber dennoch wie ein Rammbock über das Fahrwerk des Krans hinaus.

Sie müssten sich beeilen, denn ein großer Kran in einer eleganten Wohngegend würde ganz sicher auffallen. Juan zog den Mantel und die Anzugjacke aus und riss sich das weiße Oxford-Hemd vom Leibe. Die Krawatte flog in den Rinnstein. Es war ja lediglich eine Verkleidung. Darunter trug er ein schwarzes langärmeliges T-Shirt und zwei leere Schulterhalfter. Dann streifte er sich enge schwarze Handschuhe über.

Linda war schon an der Tür der Limousine, ehe Mark ganz zum Stehen gekommen war. Sie schaltete die beiden batteriegespeisten Warnlichter aus und pflückte sie vom Wagendach. Die Saugnäpfe, die sie dort fixiert hatten, lösten sich mit einem obszönen Schmatzen. Murph rannte zusammen mit dem Chef zum Kran. Während Mark aufs Führerhaus zusteuerte, sprang Juan zu dem Kranhaken hoch, der am Ausleger hin und her schwang, und kletterte daran hinauf.

Linc erwartete ihn bereits. Er reichte ihm sowohl eine MP-5 als auch ein paar Fabrique Nationale Five-SeveN Automatiks, Cabrillos Lieblingswaffe, weil die kleinen 5,7-Millimeter-Projektile auf kurze Distanz nahezu jeden Körperpanzer durchschlugen. Der extralange Schalldämpfer am Lauf der Maschinenpistole machte sie ein wenig unhandlich.

Das Team agierte, als folgte es einer einstudierten Choreographie. Juan rammte die Pistolen in die Schulterhalfter, während Mark im Führerhaus des Krans Platz nahm und Linda sich mit den Beinen voraus in die Limousine schwang. Rittlings auf dem Ausleger sitzend spannte Franklin Lincoln die Oberschenkel an und sicherte seinen Halt, eine Sekunde bevor Murph die Hydraulik aktivierte, um den Ausleger anzuheben und auszufahren.

Alles geschah schnell und gleichzeitig.

Das war der Plan.

Der Ausleger schob sich zum fünften Stock hinauf. Mark reduzierte den Motorenlärm auf ein Minimum, indem er das Tempo der Hydraulik drosselte. In Juans Ohren aber klang der Kran wie ein zornig fauchendes Raubtier. Er und Linc richteten sich auf dem Ausleger auf, während er auf das dunkle Apartmentfenster zielte. In einem Stockwerk unter ihrem Zielobjekt flammte, als ein Hausbewohner durch den Lärm vor seinem Schlafzimmer geweckt wurde, ein Licht auf. Glücklicherweise blieben Espinozas Fenster schwarz.

Mark rammte die Auslegerspitze durch die Fensterscheibe, und Linc und Cabrillo katapultierten sich in den Raum dahinter. Sie landeten geschmeidig wie Raubkatzen und hatten ihre Waffen schussbereit, als ein Mann in Tarnkleidung die Tür öffnete, um nachzusehen, was da los war. Beide Pistolen spuckten, der Mann brach zusammen.

Linc schlang ein Paar Plastikfesseln um die Handgelenke des Wächters. Die Geschosse, die sie benutzten, bestanden aus gehärtetem Gummi – nicht tödlich, aber mit ausreichend Aufschlagskraft, um einen erwachsenen Mann kampfunfähig zu machen. Ein Treffer war im Grunde gleichbedeutend mit dem Schlag eines Baseballschlägers. Sie hatten in Erwägung gezogen, stattdessen Betäubungspfeile zu verschießen, doch selbst die wirksamste Droge brauchte wertvolle Sekunden, um jemanden auszuschalten.

Dies dürfte wohl der diensthabende Wächter gewesen sein, der die Videoübertragung aus der Lobby kontrollierte, dachte Juan, während er die Pistole des Mannes unter das Pfostenbett schleuderte, dessen Größe ihn auf den Gedanken brachte, dass sie sich wahrscheinlich im Schlafzimmer des Apartments befanden. Und der General ist heute Nacht außer Haus, was bedeutete, dass ihn die chinesischen Verhörspezialisten wahrscheinlich begleiteten. Er vermutete, dass demnach nicht mehr als drei weitere Männer Tamara Wright bewachten. Offenbar gönnte sich die Gegenseite zurzeit eine Pause.

Außerhalb des Zimmers erstreckte sich ein Flur mit Mahagonifußboden und einem Teppichläufer. Licht drang aus einer offenen Tür ein paar Schritte entfernt, und aus seinem grauen Schimmer konnte Juan schließen, dass sich in dem Raum die Monitorstation der Überwachungskameras befinden musste. Die Decke des Korridors war mindestens dreieinhalb Meter hoch, und die Deckenabschlussleisten waren die kunstvollsten, die Juan je gesehen hatte.

Eine andere Tür öffnete sich. Der Mann war lediglich mit einer Boxershorts bekleidet und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Juan versetzte ihm einen Doppelschlag vor die Stirn, der ihn wahrscheinlich für Stunden wegtreten ließ. Während Linc seine Rücksicherung übernahm, warf Juan einen vorsichtigen Blick in dieses neue Zimmer. Zwei Betten standen dort, aber nur eins war benutzt worden. Ihm schoss plötzlich der Gedanke durch den Kopf, dass die Hausherrin sicher nicht allzu glücklich darüber wäre, dass Soldaten auf ihrem edlen Bettzeug schliefen.

Er öffnete die nächste Tür einen Spaltbreit und sah ein gekacheltes Badezimmer mit einer Wanne, die groß genug war, um größere Runden darin zu schwimmen. Er öffnete die Tür ein wenig weiter, damit das Licht vom Flur in den Raum fiel, und entdeckte auf dem Waschtisch drei Rasierapparate und daneben drei Zahnbürsten, die aufrecht in einem kristallenen Wasserglas standen.

Fehlte also noch ein Wächter. Die nächste Tür gehörte zu einem Wandschrank, der mit Handtüchern und Bettwäsche gefüllt war, und der Raum danach beherbergte das Arbeitszimmer des Generals. Der Schreibtisch war riesengroß, und dahinter, auf einer Anrichte, kauerte ein ausgestopfter Jaguar. Der Größe nach musste es ein junges Weibchen sein. Espinoza wurde Cabrillo zunehmend unsympathischer.

Hinter ihm wurde eine Pistole abgefeuert, ein lauter Knall hallte von der hohen Decke wider. Linc schlängelte sich um den Türpfosten, während ein zweites Geschoss kunstvollen Verputz in teure Trümmer verwandelte. Juan hängte sich die MP-5 auf den Rücken und zog stattdessen eine der FN-Pistolen. Im Gegensatz zu der Maschinenpistole waren deren Patronen mit Bleigeschossen versehen. Seine nassen Schuhe quietschten zwar, doch er vermutete, dass das Gehör des Schützen im Augenblick beeinträchtigt war.

Er schob den Kopf um die Ecke, so dicht wie möglich über dem Fußboden, und lockte einen weiteren Schuss hervor, der wahrscheinlich viel zu hoch einschlug, jedoch die Position des Argentiniers verriet. Er versteckte sich hinter der Tür am Ende des Flurs. Licht brannte in dem Raum dahinter, und Juan konnte die Umrisse des Fußes in dem Spalt zwischen Fußboden und unterer Türkante erkennen. Er legte seine Automatik auf den Teppichläufer und gab zwei schnelle Schüsse ab. Die leeren Patronenhülsen wirbelten dicht an seinem Gesicht vorbei.

Der Schrei hallte fast genauso laut wie die Pistolenschüsse. Die Kugel traf den Fuß des Schützen und zertrümmerte die empfindlichen Knochen. Während er auf einem Fuß herumhüpfte, feuerte Cabrillo abermals. Diese Kugel streifte die Unterkante der Tür, hatte aber noch genügend kinetische Energie, um in Fleisch einzudringen. Der Argentinier stürzte zu Boden und stöhnte laut vor Schmerzen, die von den zerschossenen Füßen ausgehend durch seinen Körper rasten. Linc reagierte schnell, wobei er den unsichtbaren Schützen mit schussbereiter Pistole in Schach hielt.

Er glitt in den Raum, überprüfte mit einem automatischen Rundblick sämtliche Ecken und beförderte die Waffe des gefällten Argentiniers mit einem Fußtritt in sichere Distanz. »Wir holen Sie in einer Sekunde hier raus, Ma’am«, sagte er zu Tamara Wright, die mit Handschellen an das Bett gefesselt und geknebelt war. Sie trug immer noch dasselbe Kleid, das sie auch schon an Bord der Natchez Belle getragen hatte.

Juan kam gleich hinter ihm herein, und als sie den Chef erkannte, verflüchtigte sich die panische Angst in ihren Augen. Er nahm ihr den Knebel ab und warf ihn zu Linc hinüber, der ihn sofort dem verwundeten Schützen in den Mund stopfte, um seine Schmerzlaute zu ersticken.

»Wie konnten Sie …? Wie haben Sie …?« Tamara war derart überwältigt, dass sie keine vollständige Frage über die Lippen brachte.

»Später«, war alles, was Juan antwortete.

Linc trug einen schweren Bolzenschneider in einer Scheide auf dem Rücken. Er zückte ihn wie ein Samurai, der sein Katana zieht. Er brauchte nur ein Zehntel seiner Kraft, um die Kette zu durchtrennen, die Tamara an das Bett fesselte. Die Handschellen würden sie ihr auf der Oregon abnehmen.

»Wurden Sie misshandelt oder verletzt?«, fragte Juan.

»Hm, nein. Das nicht. Sie haben mir nur ständig Fragen gestellt über …«

»Später«, wiederholte er. An sie heranzukommen war der leichtere Teil der Operation. Sie alle wieder nach draußen und zurück zum Schiff zu bringen wäre der schwierige. »Können Sie schwimmen?«

Sie konnte ihn wegen dieser völlig zusammenhanglosen Fragen nur stumm anstarren.

»Können Sie?«

»Ja, warum? Ach, vergessen Sie’s. Ich weiß schon: später.«

Juan bewunderte ihren Kampfgeist und konnte in jeder Hinsicht verstehen, dass Max von ihr fasziniert war und sie um ein Rendezvous bitten wollte. Tamara Wright verfügte über eine innere Kraft, die nicht einmal die letzten Schreckenstage hatten mindern können.

Er aktivierte seine Kommunikationsverbindung. »Lagebericht.«

Lindas elfenhafte Stimme füllte sein Ohr. »Der Portier hat telefoniert, nachdem er die Schüsse hörte. Ich vermute, wir haben höchstens eine Minute, bis die Cops eintreffen.«

Cabrillo schätzte sogar weniger. »Wir sind unterwegs.«

»Mark ist bereit.«

Die drei Amerikaner zogen sich auf die gleiche Weise zurück, wie Juan und Linc in das Apartment eingedrungen waren. Der Kranhaken baumelte direkt vor dem geborstenen Fenster. Linc hob Tamara über die messerscharfen Glasreste im Fensterrahmen und setzte sie auf eine stählerne Platte, die das Kranseil dicht über dem Haken umgab. Während es für die Menschen ein idealer Sitzplatz war, bestand ihr eigentlicher Zweck aber in einem Jahrhunderte andauernden Krieg zwischen Ungeziefer und Seeleuten, die Ratten daran zu hindern, am Kranseil emporzuklettern.

Lincoln kletterte direkt nach ihr auf die Platte, schirmte ihren Körper ab und hielt sie fest. »Keine Sorge, Onkel Franklin ist bei Ihnen.«

»So einen Onkel hab ich mir immer gewünscht«, sagte sie.

Sobald Juan seine durch einen Handschuh geschützte Faust um das Seil gelegt hatte, ließ Mark sie genauso sanft wie ein Otis-Lift auf den Bürgersteig hinunter. Linda hatte den Wagen an den Bordstein gelenkt und die Türen bereits geöffnet. Die Scheibenwischer kämpften hektisch gegen den Regen.

Mark sprang aus dem Führerhaus des Krans, und er und Linc nahmen Tamara Wright auf dem Rücksitz in die Mitte. Der Fußraum war mit Ausrüstungsgegenständen so vollgepackt, dass Linc die Knie fast bis in Kopfhöhe hochziehen musste. Linda war auf den Beifahrersitz gerutscht und überließ Juan den Platz hinter dem Lenkrad. In der Ferne ertönten Polizeisirenen. Er legte den Gang ein und lenkte die Limousine auf die Fahrbahn, als hätten sie alle Zeit der Welt.

Vielleicht ist damit der schwierige Teil überstanden, dachte Juan, wagte jedoch nicht, es auch laut auszusprechen.

Aber die Schicksalsgöttinnen hörten ihn trotzdem.

Ein großer schwarzer Straßenkreuzer jagte über die Kreuzung, kam dicht vor ihrer Stoßstange schlingernd zum Stehen und zwang Cabrillo, den Fuß aufs Bremspedal zu rammen. Türen flogen auf, und ein großer kahlköpfiger Mann in einer Paradeuniform schoss aus dem Fond des Cadillac heraus. Er hatte eine Pistole in der Hand und eröffnete sofort das Feuer.

Die Insassen der Limousine duckten sich, als Kugeln die Windschutzscheibe durchschlugen. Juan schaltete in den Rückwärtsgang und griff nach oben, um den Rückspiegel auszurichten. Ein Projektil sirrte so dicht an seinem Handgelenk vorbei, dass er seine Hitze spüren konnte. Aber jetzt war es wenigstens möglich, nach hinten zu schauen, ohne den Kopf aus der Deckung heben zu müssen.

Sie fuhren zwanzig Meter rückwärts, wo nur noch ein absoluter Meisterschütze sie mit einer Pistole treffen konnte, bevor Juan die Handbremse anzog und am Lenkrad kurbelte. Der nasse Asphalt half ihm, mit dem hoffnungslos untermotorisierten Wagen eine hollywoodreife Pirouette zu drehen.

Er löste die Bremse, legte den ersten Gang ein und beschleunigte vom Ort des Geschehens weg. Eine weitere Kugel traf den Wagen – ein ungezielter Schuss, der einen der Außenspiegel zertrümmerte.

»Sind alle okay?«, rief er, ohne den Blick von der Straße zu lösen. Es war, als rasten sie durch einen Wasserfall.

»Ja, hier ist alles bestens«, erwiderte Mark. »Wer war das?«

»General Philippe Espinoza, dessen Haus wir soeben überfallen haben. Er muss auf dem Rückweg von seinem Dinner gewesen sein, als ihn der Portier anrief.«

»Das war der Mann, der mir die Fragen gestellt hat«, berichtete Tamara, »er und dieser widerwärtige Chinese namens Sun. Ich konnte feststellen, dass er aus Peking kam, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er zur Staatssicherheit gehörte.«

»Zweifellos mit einem Diplomatenpass hier in Argentinien.« Die Sirenen kamen näher. Juan fuhr langsamer. Die einzige Möglichkeit, sich aus dieser Situation zu befreien, bestand darin, keine Aufmerksamkeit zu erregen und zu hoffen, dass sie Espinoza abschütteln konnten, denn der General würde sie mit Sicherheit verfolgen. »Mark, hast du deine Trickkiste bereit?«

»Ein Wort von dir genügt, großer Meister.«

Juan dachte über Befehlsketten nach. Zweifellos kannte Espinoza jemanden bei der Polizei – einen Chief oder einen Commissioner höchstwahrscheinlich. Fünfzehn Minuten wären verstrichen, wenn der General seinen Freund anrief, der seinerseits einen Rangniederen in der Polizeihierarchie anriefe und so weiter, bis eine Beschreibung ihres Fahrzeugs zu den Streifenwagen auf den Straßen gelangte. Wenn sie Espinoza jetzt entschlüpfen könnten und nicht weiter auffielen, hätten sie die Stadt schon halb durchquert, bevor die Fahndung nach ihnen überhaupt ausgerufen wurde.

Er blickte in den Spiegel, als der Straßenkreuzer einen Block hinter ihnen um die Ecke bog. Juan lenkte einen überladenen Mitsubishi und machte sich keine Illusionen, dass er dem amerikanischen Achtzylinder entkommen konnte, selbst wenn er eine Panzerung hatte, was wahrscheinlich der Fall war.

Juan bog zweimal schnell ab und bremste, als ein Polizeiwagen mit rotierenden Warnlichtern vorbeiraste, gefolgt von einem weiteren Zivilfahrzeug.

Seine Zuversicht schwand, als er beide Fahrzeuge im Rückspiegel scharf bremsen sah. Sie brauchten einige Zeit, um in dieser schmalen Straße zu wenden, und zwangen Espinoza anzuhalten. Offensichtlich kannte dieser jemanden, der in der Nahrungskette wesentlich weiter unten rangierte, als Cabrillo geschätzt hatte. Mit anderen Worten: Er hätte sich eigentlich denken müssen, dass jemand wie Espinoza den Kommandanten des örtlichen Polizeireviers kannte.

In wenigen Sekunden würden alle drei Wagen die Verfolgung aufnehmen, und die Beschreibung des kleinen Mitsubishi wäre über den Polizeifunk in ganz Buenos Aires zu hören. In einem Punkt hatte er absolut recht gehabt. Tamara aus dem Apartment herauszuholen war der leichtere Teil ihres nächtlichen Jobs.

Sie bogen in eine enge Gasse ab, und da sagte Juan »Jetzt« zu Mark Murphy.

Murph hatte die Fenster auf seiner Seite bereits herunterfahren lassen, und nun zog er so schnell er konnte Stifte aus Rauchgranaten heraus. Sie waren Eigenkonstruktionen der Corporation und erzeugten einen schneller aufsteigenden und dichteren Rauch als sogar die Granaten, die beim US-Militär in Gebrauch waren. Nachdem die dritte auf die Straße geflogen war, konnte Juan hinter ihnen nichts mehr sehen – außer einem dichten Nebel, der sogar die Straßenlampen und die Lichter in den Fenstern im zweiten und dritten Stock verhüllte.

»Das reicht«, sagte Juan und wechselte mehrmals die Fahrtrichtung, indem er wahllos in Seitenstraßen abbog. Seine Kehle war staubtrocken. Doch seine Hände lagen locker auf dem Lenkrad, und seine Konzentration ließ keinen Deut nach.

»Nur so aus Neugier«, meldete sich Linc vom Rücksitz. »Weiß jemand, wo wir sind?«

»Linda?«, sagte Cabrillo.

Sie hatte ein Hand-GPS und studierte aufmerksam das Display. »Ja, ich habe sogar eine ziemlich genaue Vorstellung: Wir fahren in Richtung Hafen, aber vor uns befindet sich ein regelrechtes Straßenlabyrinth. Wir müssen uns links halten, denn dort verläuft eine ziemlich breite Avenida.«

Der Straßenkreuzer tauchte ohne Vorwarnung aus einer Querstraße auf. Er setzte sich hinter die Limousine und übte bei dem Manöver so viel Druck auf Federung und Räder aus, dass sich eine Radkappe löste und wie eine Frisbeescheibe davonwirbelte. Der Fahrer kannte diese Gegend sogar besser als die Polizei, die dort Streife fuhr, und hatte Cabrillo ausgetrickst.

Schüsse spuckten aus dem Beifahrerfenster, aus dem sich ein Leibwächter mit einer großkalibrigen Pistole in der Hand lehnte. Linc drehte seinen massigen Körper und jagte ein ganzes Magazin aus seiner Maschinenpistole heraus. Die Gummigeschosse waren gegen den Cadillac zwar praktisch wirkungslos, aber der psychologische Schock einer Maschinenpistolenattacke zwang den Fahrer, scharf zu bremsen und das Lenkrad herumzureißen. Der Straßenkreuzer schrammte an einer langen Reihe geparkter Automobile entlang und entfesselte eine Kettenreaktion kreischender Alarmsirenen und hektisch blinkender Scheinwerfer.

Linc ließ die H&K fallen und zog seine Beretta aus dem Holster. Wenn der Cadillac gepanzert war, würde die Pistole zwar auch nicht mehr Schaden anrichten als die Gummigeschosse, aber es war immerhin besser als nichts.

»Wie wäre es mit mehr Rauch?«, fragte Mark.

Diese Straße war zu breit, um sie mit den Granaten zu blockieren, daher sagte Juan nichts, sondern achtete weiter auf die Rückspiegel.

Als der Cadillac die Verfolgung erneut aufnahm, wurde er von einem Streifenwagen begleitet. Dutzende waren jetzt sicherlich schon in den eleganten Straßen des Recoleta-Distrikts unterwegs. Also mussten sie den Wagen unbedingt loswerden und sich einen neuen suchen.

Links von ihnen befand sich eine Baustelle. Die Straße war von großen gelben Baggern aufgerissen worden, und ein Gerüst verhüllte die Fassade eines Säulenbaus wie ein Spinnennetz. Juan schaute genauer hin und erkannte, dass es eine große, reich geschmückte Toreinfahrt war. Er vermutete, dass sich hinter den geschlossenen Torflügeln ein ausgedehnter Park erstreckte, und steuerte darauf zu, wobei er aus dem kleinen Vierzylindermotor alles herausholte, was in ihm steckte.

Dank seines hohen Gesamtgewichts blieb der Wagen sogar auf dem schlammigen Untergrund in der Spur, und Juan richtete die Nase auf sein neues Ziel aus.

»Haltet euch fest!«

Sie rauschten durch das Holzgerüst, federten auf einer niedrigen Stufe hoch und krachten gegen das Tor. Cabrillo hatte mit einem verheerenden Aufprall gerechnet, aber die Torflügel wurden offenbar gerade repariert und waren am Ende der Arbeitsschicht nur an Ort und Stelle angelehnt worden. Die Kette, die sie zusammenhielt, brach zwar nicht, aber die reich verzierten schmiedeeisernen Tore kippten krachend um, und der Mitsubishi röhrte über sie hinweg. Die Kollision löste noch nicht einmal die Airbags aus.

Juan erkannte seinen Fehler auf Anhieb. Dies war kein Park, und es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, um was es sich in Wirklichkeit handelte. Akkurat im Schachbrettmuster angelegt wie bei einer Lilliput-Stadt standen dort tausende von wunderschönen Gebäuden im Maßstab eins zu fünf. Sie waren so kunstvoll verschnörkelt wie nichts, was sie in dieser Nacht sonst gesehen hatten, mit Marmorsäulen, Bronzestaturen, kleinen Türmchen auf den Dächern und vielfältiger religiöser Ikonographie.

Dies war gar kein Park. Es war ein Friedhof, und das waren keine Miniaturbauten, sondern prachtvolle Mausoleen.

Nach dem Arlington National Cemetery in Washington und Père Lachaise in Paris war der Cementerio de la Recoleta wahrscheinlich der berühmteste Friedhof der Welt. Alle reichen und prominenten Persönlichkeiten der Stadt – inklusive Evita Perón – waren hier in einigen der dekorativsten und atemberaubendsten oberirdischen Grabmälern, die je gebaut worden waren, zur ewigen Ruhe gebettet worden. Er war zu einem Touristenziel geworden, kaum dass er geöffnet worden war.

Außerdem stellte er ein Labyrinth dar, das für ein Automobil zu eng war, und besaß auf allen vier Seiten hohe Mauern.

Juan hatte sie in eine Sackgasse manövriert.