15
Cabrillo wartete darauf, dass ihn die Winde hochzog, aber nichts geschah. Dann stellte er fest, dass er sich irrte – das Seil war in Bewegung, kam den Schacht herab und bildete eine ständig größer werdende Schleife direkt unter seiner Position im Wasser. Max hatte den falschen Schalter betätigt. Juan versuchte ihn über die Komm-Verbindung zu erreichen, erhielt aber keine Antwort. Hanley hatte sich allein auf den Weg gemacht, um sich der argentinischen Bedrohung anzunehmen. Und in seiner Hast hatte er Juan im Treasure Pit eingesperrt.
Es wäre in diesem Augenblick vernünftig gewesen, entsprechend der Dekompressionstabellen, die er schon vor Jahrzehnten auswendig gelernt hatte, aufzutauchen und auf Max’ Rückkehr zu warten. Aber Juan gehörte nicht zu denen, die eine günstige Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließen. Daher machte er kehrt und tauchte zur Schachtsohle zurück. Es hatte keinen Sinn, den Rückzug anzutreten, bevor er sicher sein konnte, dass ihm nichts Wichtiges entgangen war.
Zuerst untersuchte er die Nische und ging sogar so weit, sich hineinzuzwängen, um zu prüfen, ob er damit irgendeine Vorrichtung aktivierte. Das behauene Gestein um ihn herum blieb jedoch leblos. Er tauchte noch tiefer ab. Der Schlick, den er vorher aufgewirbelt hatte, war wieder zu Boden gesunken. Er säuberte eine Stelle, wo Schachtwand und Schachtsohle zusammenstießen. Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Er zog sein Tauchermesser aus der Oberschenkelscheide und fuhr damit an der Naht entlang. Die Spitze verschwand in einem winzigen Spalt zwischen Boden und Wand. Dann probierte er das Gleiche noch an einer anderen Stelle und fand auch dort einen Spalt.
Drei weitere Versuche überzeugten ihn, dass der Boden des Treasure Pit wie ein Stöpsel geformt sein musste. Irgendetwas befand sich tiefer in der Erde, etwas, das unter diesem falschen Boden verborgen lag.
Er überlegte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, dorthin zu gelangen. Die Ronish-Brüder hatten es herausgefunden. Cabrillo schwamm in einem weiten Kreis langsam über den Boden, wobei seine Tauchlampe auf den Winkel zwischen Schachtboden und Schachtwand gerichtet blieb. Was er suchte, befand sich in einer Ecke. Ein Stein war über dem Schachtboden und in eine künstliche Vertiefung in der Wand geklemmt worden, so dass er ein Stück weit herausragte.
Juan rührte ihn nicht an. Stattdessen zog er die Knie an die Brust und rammte sie nach unten auf den Boden. Der Aufprall schickte zwar eine Schmerzwoge von den Fußsohlen in den ganzen Körper, doch er bewirkte auch, dass der gesamte Boden im Schacht leicht zu wackeln begann. Juan blickte nach oben zur Nische.
Clever, dachte er. Sehr, sehr clever.
Er kehrte zu dem Felskeil zurück und machte sich bereit. Er hatte zwar keine Vorstellung, wie viel Zeit ihm blieb, aber er schätzte, dass er schnell sein müsste. Er streckte eine Hand aus und zog den Stein aus der Wand, dann paddelte er so schnell er konnte zu der Nische hinüber. Hatte er eine Sekunde zuvor nichts anderes hören können als seine eigenen Atemgeräusche, so war der Schacht jetzt plötzlich von dem Knirschen von Stein gegen Stein erfüllt.
Der Boden der Kammer bildete einen gigantischen Schwimmkörper, der an Ort und Stelle fixiert durch den Keil war. Juan warf sich in dem Augenblick in die Nische, als der mit Schlick bedeckte Boden sie erreichte. Er drückte sich so tief hinein, wie es nur eben ging. Die Schachterbauer hatten keine klobigen Atemflaschen besessen und den entsprechenden Platzbedarf nicht berücksichtigt, daher war die Nische ziemlich eng. Cabrillo verfolgte gebannt, wie der Boden höher und höher stieg. Er kletterte weiter aufwärts. Dabei hatte er zwar keinen derart starken Auftrieb, dass er geradezu in die Höhe schoss, sondern stieg in einem getragenen Tempo empor.
Juan erkannte, dass das Glasfaserkabel zwischen dem Floß und der Schachtwand eingeklemmt war, und murmelte ein stummes Gebet, dass es nicht durchtrennt werden möge. Kaum hatte er diesen Gedanken, da sank das ausgefranste Ende mit abgeriebener Plastikumhüllung von oben zu ihm herab. Einen Augenblick später trieb auch das lose Ende seiner Rettungsleine an ihm vorbei.
Er hatte keine Ahnung, wie der Schwimmkörper stoppte, aber er dachte sich, dass das irgendwann geschehen müsste, denn sonst wären die Ronish-Brüder vor siebzig Jahren hier unten umgekommen.
Eines der Rätsel wurde gelöst, als er den riesigen Schwimmer das erste Mal von der Seite sah. Die Auflage war eine dünne Schieferplatte, während der Rest aus Metall bestand. Als er dagegen schlug, klang es hohl. Das Metall hatte dem jahrhundertelangen Einfluss von Salzwasser standgehalten, weil die Erbauer es mit einer dünnen Schicht Blattgold bedeckt hatten. Gold korrodiert nicht und konnte den metallenen Schwimmkörper darum eine Ewigkeit lang schützen.
In der Goldbeschichtung waren Spuren zu erkennen, dünne Linien, als hätte jemand mit einem Messer daran gekratzt. Er vermutete, dass es einer der Ronish-Jungen gewesen war, wohl weil er angenommen hatte, dass der gesamte Hohlkörper aus Gold bestand. Allerdings nur, um dann feststellen zu müssen, dass die Schicht nicht einmal einen Millimeter dick war. Dort, wo das Messer die Goldschicht entfernt hatte, konnte Juan erkennen, dass der Schwimmkörper aus Bronze bestand. Dieses Metall widerstand der Korrosion zwar besser als Stahl, aber er vermutete, dass sich das Meer in einigen Jahrzehnten durch den Kratzer hindurchfressen würde. Der Hohlkörper würde sich mit Wasser füllen – und die Falle funktionierte nicht mehr.
Juan schätzte den Hohlkörper auf etwa drei Meter Höhe, und als der Boden schließlich bis über seinen Kopf aufgestiegen war, stoppte er in Höhe der oberen Nischenkante. Offenbar war er gegen einen kleinen Vorsprung in der Schachtwand gestoßen, den er bei seinem Abstieg übersehen hatte. Er konnte das technische Wissen, das diese Vorrichtung geschaffen hatte, nur bewundern.
Dann verließ er die Nische und blickte hoch. An der Unterseite des Schwimmkörpers befand sich ein Griff. Er packte ihn und zog daran. Der Auftrieb war derart perfekt berechnet worden, dass er den riesigen Körper ein wenig nach unten ziehen konnte. Er wusste, dass er aus diesem Gefängnis wieder herauskäme, indem er seinen Bleigürtel am Griff befestigte und den Schwimmer bis auf den Schachtgrund sinken ließ, während er in der Nische wartete. Er vermutete, dass die Ronish-Brüder das Gleiche getan hatten, nur hatte sich ihr Gewicht wahrscheinlich vom Griff gelöst und war herabgefallen. Er schwamm abwärts und passierte den Punkt, wo sich vorher der Boden des Schachts befunden hatte, und ließ sich weiter sinken.
Genau in der Mitte der eigentlichen Sohle des Treasure Pit fand er einen Haufen Steine, die vom Inselufer stammen mochten. Das Gegengewicht der Ronish-Brüder. Der Sack, in den sie seinerzeit eingefüllt worden waren, hatte sich längst im Salzwasser des Pazifiks aufgelöst. Die andere Entdeckung, die Juan machte, war weitaus interessanter. Es gab nämlich einen kleinen Tunnel, der vom Hauptschacht abzweigte.
Cabrillo drang in ihn ein, wobei seine Luftflaschen gegen die Decke stießen, weil er so eng war. Der Tunnel führte steil aufwärts, so dass er gezwungen war, mehrmals anzuhalten, damit sich der überschüssige Stickstoff in seinem Körper auflösen konnte. Er überprüfte seinen Luftvorrat. Wenn er nicht herumtrödelte, würde er wohl damit auskommen.
Sein Licht wurde plötzlich von etwas reflektiert, das sich über ihm befand. Er näherte sich der Wasseroberfläche, obwohl er sich noch zig Meter unter der Erde befand. Außerdem schätzte er, dass ein Mensch mit einem einzigen Atemzug von der Nische bis zu diesem Punkt schwimmen konnte, sofern die Ebbe tief genug stand.
Juan stieg langsam auf und streckte die Arme dabei nach oben, um irgendwelche unsichtbaren Hindernisse zu ertasten. Sein Kopf tauchte in einer zimmergroßen Grotte auf, deren Decke gut über zwei Meter hoch war. Er erkannte, dass er sich in einer natürlichen Felshöhle befand, die künstlich zu schaffen sicherlich mehrere Jahre gedauert hätte.
Sein Licht wanderte über das nasskalte Gestein hin und her, bis es ein Objekt aus der Dunkelheit riss, das an der Wand hing.
»Was zur Hölle ist das denn?«, fragte Cabrillo laut, wobei seine Stimme von Erstaunen und den soliden Felswänden gedämpft wurde.
Dicht über der Wasserlinie befand sich eine Tafel aus Metall. Bronze, vermutete er. Darauf zu erkennen waren die Linien von Schriftzeichen, die in seinen Augen wie chinesische aussahen, sowie die Umrisse einer Küste mit einer tiefen Bucht. Da die Argentinier zu James Ronishs Haus gekommen waren, hatte er schon irgendwie geahnt, dass der Treasure Pit nichts mit einem Kaperer aus dem achtzehnten Jahrhundert zu tun haben mochte. Aber dies hier hatte er doch nicht erwartet. Was hatten chinesische Schriftzeichen an diesem Ort zu suchen?
Noch wichtiger war jedoch: Weshalb interessierte sich jemand dafür?
Cabrillo hatte sich immer auf seinen Instinkt verlassen können. Er hatte ihm bei der CIA gute Dienste geleistet und sogar noch bessere, als er später die Corporation aufgebaut hatte. Aus bislang unbekannten Gründen hatte sich jemand große Mühe gegeben, die Tafel zu verstecken, gleichzeitig aber die Möglichkeit geschaffen, dass sie gefunden wurde. Die Logik, die dahintersteckte, entzog sich ihm, und er konnte nur hoffen, dass die Inschrift Aufschluss über die Motivation des oder der Initiatoren lieferte. Juan wusste, dass er auf etwas Bedeutsames gestoßen war, und während ihm noch nicht ganz klar war, auf was genau, war er doch schon sicher, dass es weit über verschollene Zeppeline und abgeschossene Satelliten hinausging.
Da das Glasfaserkabel gekappt war, konnte er die Bronzetafel nicht per Video aufnehmen, daher holte er eine kleine Digitalkamera aus einem Beutel, den er sich um die Taille gebunden hatte, und nahm sie aus ihrem wasserdichten Behälter. Er schoss Dutzende von Bildern, wobei das Blitzlicht nach dem langen Aufenthalt im dunklen Schacht schmerzhaft in seinen Augen brannte.
Dann tauchte er wieder ab und folgte seinem Licht, während er zum Hauptschacht zurückkehrte. Er musste sich zwingen, nicht über das Rätsel nachzudenken und sich stattdessen auf den Tauchgang zu konzentrieren.
Sobald er den riesigen schwimmenden Stöpsel erreichte, schnallte Juan seinen Bleigürtel ab und befestigte ihn am Griff, den – die Chinesen? – eigens zu diesem Zweck angebracht hatten. Das Rätsel des Treasure Pit reichte gewiss mehr als einhundert Jahre zurück, dachte er. Wann waren die Chinesen lange genug in Washington State gewesen, um das Höhlensystem umzuformen, damit es ihren Anforderungen gerecht wurde?
Konzentrier dich, Juan.
Mit dem Gürtel als Ballast begann der sorgfältig ausbalancierte hohle Zylinder langsam zu sinken. Juan drückte sich in die Nische und ließ die Vorrichtung an sich vorbeigleiten. Er half dabei nach, indem er sie mit den Händen an den Seiten nach unten drückte. Nach wenigen Sekunden konnte er die Nische verlassen und seinen Aufstieg fortsetzen. Allerdings war es ziemlich unbequem ohne den Gewichtsgürtel, und er musste ständig gegen seinen Auftrieb ankämpfen, vor allem während der Dekompressionspausen. Als sein Kopf schließlich durch die Wasseroberfläche brach, waren die Luftflaschen leer.
Also nahm er den Helm ab und atmete gierig die salzige Luft ein. Der Sonnenstand hatte sich verändert, und die winzige Lichtmenge, die von der Erdoberfläche bis zu ihm drang, war ein willkommener Anblick. Er leuchtete mit der Lampe herum und suchte vergeblich nach dem Zugseil. Sich die Folgen auszumalen – für den Fall, dass Max etwas zugestoßen sein sollte –, war einfach zu schrecklich. Eine Kletterpartie von siebzig Metern ohne geeignete Ausrüstung überstieg sogar seine Fähigkeiten. Schlimmer aber wäre es, dass er seinen besten Freund verloren hätte.
Juan rief in den Schacht hinauf. Es klang nicht gerade so, als hätte er die Lungenkapazität, um sich mit seiner Stimme so weit oben bemerkbar zu machen. Er befreite sich von seiner Tauchausrüstung und ließ die Flaschen im Schacht versinken. Der Tauchanzug drehte ihn um und ließ ihn auf dem Rücken im Wasser treiben. Er rief wieder und wieder. Dabei kam ihm der Gedanke, dass er, wenn Hanley keinen Erfolg gehabt hatte, die Argentinier damit auf sich aufmerksam machte und herbeirief. Aber darauf waren sie sicherlich längst schon von selbst gekommen. Die Tatsache immerhin, dass man ihn nicht von oben mit Gewehrfeuer überschüttet hatte, war ein gutes Indiz dafür, dass Max sie aus dem Weg geschafft haben mochte.
»Hallo«, antwortete eine Stimme aus der Ferne.
»Max?«
»Nein. Ich bin der argentinische Major.«
Es war Max. »Hol mich hier raus!«, verlangte Juan.
»Eine Sekunde.«
Es dauerte noch einige Minuten, um das Seil herabzulassen, und ein paar weitere, um Cabrillo ganz aus dem Treasure Pit herauszuhieven. Als er das Tageslicht erreichte, wartete Max schon, um ihm beim Herausklettern aus dem Schacht zu helfen. Schnell schaltete er die Winde aus, damit sie Cabrillo nicht über den steinigen Untergrund schleifte.
»Also, das war ganz sicher ein interessanter Nachmittag«, sagte Hanley lässig.
»Was ist passiert?«
»Sie wollten in Ufernähe landen, aber der Pilot bekam kalte Füße, als ich ihm ein paar Kugeln um die Ohren pfeifen ließ. Außerdem hab ich einen von ihnen erwischt. Aber würdest du mir vielleicht mal verraten, wo du verdammt noch mal gewesen bist?«
»Du würdest es nicht glauben, wenn ich es täte.«
»Versuch’s.«
Cabrillo berichtete, was er gefunden hatte, während sie ihre Geräte zusammenpackten und zum Strand zurückfuhren. Das letzte große Objekt im Frachtabteil des Fords war ein aufblasbares Boot mitsamt Außenbordmotor. Während Hanley es für die Fahrt zum Festland startbereit machte, durchlöcherte Juan mit seinem Tauchermesser den Treibstofftank des SUV. Das Fahrzeug war zwar unter einer falschen Identität – die sich nicht zurückverfolgen ließ – gemietet worden, aber es gab doch jede Menge forensisch verwertbare Spuren an und in dem Truck. Daher musste er in Flammen aufgehen.
Sie warteten am Strand, um ganz sicher zu sein, dass von dem Explorer nichts übrig blieb als eine ausgebrannte Karosserie. Dann brauchten sie weniger Zeit, um mit dem Boot zur Küste und weiter bis ins Dorf La Push zu gelangen, als sie benötigten, um eine Mitfahrgelegenheit in die nächste größere Stadt zu finden. Am Ende schnorrten sie die Mitfahrt im Führerhaus eines Sattelschleppers mit einer Ladung Bauholz, wodurch Juan an sein kürzlich überstandenes Abenteuer im argentinischen Dschungel erinnert wurde wo ein ganz ähnlicher Laster eine Rolle gespielt hatte.
Das Aufheulen eines schweren Dieselmotors draußen signalisierte, dass die Argentinier ihre Schneekatze gestartet hatten und Wilson/George wieder verließen. Eine Viertelstunde war verstrichen, seit sich Linda in der Zwischendecke versteckt hatte. Nun, da sie sicher sein konnte, dass die Besucher abgezogen waren, holte sie ein chemisches Wärmekissen heraus und legte es auf ihr Gesicht. Sie hatte es geschafft, die Zehen und Finger vor völliger Taubheit zu bewahren, indem sie sie in ihren Stiefeln und Handschuhen ständig krümmte und streckte. Ihre Wangen und ihre Nase waren jedoch kurz davor zu erfrieren. Die Schmerzen, als das Gefühl zurückkehrte, wurden zwar nahezu unerträglich, waren jedoch durchaus willkommen, weil sie anzeigten, dass sie keine dauernden Schäden davongetragen hatte.
Und da sie keine weiteren Schüsse gehört hatte, wusste sie, dass der Rest ihres Teams ebenfalls in einem sicheren Versteck saß.
Linda kletterte schwerfällig von ihrem Hochsitz herab und verhielt sich still, bis sie zum Haupteingang der Station ging, um sich zu vergewissern, dass die Schneekatze wirklich verschwunden war. Als sie dann zum Gemeinschaftsraum zurückkehrte, tauchten auch Linc und Mark aus der Versenkung auf.
»Ich habe Schüsse gehört«, sagte Linc mit sorgenvoll gefurchter Stirn. »Bist du okay?«
Sie nickte. »Es war ziemlich knapp, aber – ja. Wo habt ihr euch versteckt?«
»Ich hab mich neben eine der Leichen gelegt«, sagte Mark. »Der Typ, der den Raum kontrollierte, hat mich überhaupt nicht beachtet.«
»Ich lag in einem Wandschrank unter einem Haufen Kleider. Ich glaube, sie waren ziemlich erschrocken über das, was sie gesehen haben. Ihre Suche war alles andere als gründlich.«
»Ich kann mir schon vorstellen, was sie empfanden«, stimmte ihm Linda zu und bemühte sich, nicht an ihre grässliche Umgebung zu denken. »Linc, du sagtest doch, du hättest etwas im Fahrzeugschuppen gefunden?«
»Ja, aber das musst du dir mit eigenen Augen ansehen.«
Nachdem sie ihre Schutzmasken wieder aufgesetzt hatten, trotteten die drei über den mit Stangen markierten Weg zu dem Gebäude mit dem gewölbten Dach. Die Tür schlug im Wind immer noch hin und her und erzeugte mit ihrem gleichmäßigen Klappern das einzige Lebenszeichen der Basis. Die Stromversorgung schien tot zu sein, und in der Garage war es so düster, dass die hintere Wand gar nicht zu sehen war. Die beiden Schneekatzen sahen wie eine Kreuzung zwischen Panzern und Kleinbussen aus. Die mit Stollen versehenen Raupenketten reichten bis zu Lindas Oberschenkeln. Die Karosserien waren hellorange lackiert, um auf den Schneefeldern hinter der Station leicht erkennbar zu sein.
»Hier drüben.« Linc führte sie zu einer Werkbank auf der einen Seite der Garage.
Inmitten des üblichen Durcheinanders – Werkzeug, Öldosen und gefrorene Putzlumpen – stand eine Truhe von etwa einem Meter Länge. Linc öffnete den Deckel.
Linda begriff erst nach und nach, was sie da vor sich sah. In der Truhe lag eine weitere Leiche, doch im Gegensatz zu den anderen war sie nach ihrem Tod für einige Zeit den Elementen ausgesetzt gewesen. Es war eher eine Mumie als eine Leiche, und ein Teil des Gesichts war von Aasfressern verzehrt worden, bevor der Körper zu hart gefroren war. Ihre Bekleidung erschien seltsam. Sie trug keine moderne arktische Kombination, sondern stattdessen eine gefütterte Jacke aus brauner Wolle sowie eine Hose, die für diese Witterung viel zu dünn war. Der Hut auf dem gefrorenen schwarzen Haar sah merkwürdig aus. Er hatte zwei Spitzen und eine schmale Krempe.
»Ich schätze mal, dass sich dieser Knabe seit einhundert oder mehr Jahren hier befindet«, erklärte Mark, während er den Körper untersuchte.
Linda sagte: »Vielleicht ein Walfänger, der über Bord gegangen ist.«
»Schon möglich.« Mark sah Linc fragend an. »Hast du seine Taschen durchsucht?«
»Nicht ich, Mann. Ich hab einmal reingeschaut und den Deckel sofort wieder zugeklappt. Aber unser fehlender Mann hat es ganz sicher getan.«
Linda hatte vergessen, dass sie ja noch gar nicht alle vierzehn Mitglieder der Besatzung von Wilson/George zusammenhatten. »Hast du Andy Gangle gefunden?«
»Ist das der Name des Typen? Er ist hinten in der Garage. Und ziemlich übel zugerichtet.«
Andy hatte sich am Ende eigenhändig das Leben genommen, durch den gleichen Wahnsinn zum Selbstmord getrieben, der ihn auch dazu gebracht hatte, seine Gefährten zu töten. Er hatte sich hingesetzt, mit dem Rücken an ein Regal mit Ersatzteilen gelehnt, und so heftig an seinem Unterkiefer gezerrt, dass er ihn fast abgebrochen hatte. Dann war er entweder durch die Kälte oder den Blutverlust gestorben, und hatte die Faust in den Mund gestopft, als wollte er versuchen, an das heranzukommen, was immer schon sein Gehirn gepeinigt hatte.
In seiner anderen Hand glänzte etwas Helles. Mark zerrte es aus den steifen Fingern. Es war ein Klumpen Gold, inzwischen völlig verformt, der jedoch früher mal ein Schmuckstück gewesen sein musste. Auf dem Fußboden dicht neben Gangles Körper lag ein Hammer. Als Mark den Lichtstrahl seiner Lampe darauf richtete, konnte er winzige Goldpartikel am Hammerkopf erkennen.
»Er hat das Ding mit dem Hammer zerschlagen?«
»Warum?«
»Warum hat er überhaupt all das getan? Er war krank.«
»Was war das?«
»Schwer zu sagen. Irgendeine kleine Figur.«
»Ist das reines Gold?«
»Etwa zwei Pfund, denke ich. Wert rund dreißigtausend Dollar.« Mark griff nach einem Rucksack, der sich ebenfalls in Gangles Reichweite befand. Als er ihn hochhob, klirrte es wie zerbrochenes Glas darin. Er sah hinein und schüttete den Inhalt dann auf den Boden.
Es war unmöglich festzustellen, was sich ursprünglich in dem Rucksack befunden hatte, denn heraus fiel nichts anderes als milchig grüner Sand und kleine Brocken Gestein von der gleichen Farbe. Wie auf die goldene Statue hatte Andy Gangle auf etwas eingehämmert, bis nur noch Staub und winzige, daumennagelgroße Fragmente übrig waren.
In dem Rucksack befand sich außerdem eine seltsame Röhre, die aussah, als bestünde sie aus Bronze. Ein Ende war geschlossen und das andere wie das offene Maul eines Drachen geformt. Die Röhre selbst war geschuppt, um die Haut eines Drachen darzustellen. Mark untersuchte das Objekt genauer.
»Das ist eine Pistole.«
»Was?«
»Seht mal, hier am geschlossenen Ende gibt es ein winziges Loch für einen Docht oder eine Kerzenflamme. Es ist eine einschüssige Vorderladerpistole.«
»Mit dem Drachenmaul und allem sieht sie … chinesisch aus.«
»Und uralt«, fügte Linda hinzu. »Ich nehme an, dass all dieses Zeug, was immer es gewesen sein mag, unserem geheimnisvollen Freund in der Kiste da gehört hat. Was meint ihr?«
»Das glaube ich auch«, erwiderte Linc.
»Bizarr«, äußerte Mark.
Linc fragte: »Was nun?«
»Wir melden unseren Fund der Oregon, damit wir der CIA mitteilen können, was geschehen ist. Ich vermute, Overholt wird von uns wollen, dass wir der argentinischen Basis einen Besuch abstatten, um nachzusehen, was dort im Gange ist. Im Instruktionsmaterial, das ich gelesen habe, stand, dass seit zwei Jahren niemand mehr einen Blick auf ihre Einrichtung geworfen hat. Ich würde sagen, wir kommen Overholt zuvor und machen uns auf eigene Faust auf den Weg.«
»Ich wandere ganz bestimmt nicht fünfundvierzig Kilometer weit durch die Antarktis«, maulte Mark.
Linda klopfte auf die Motorhaube der Schneekatze, neben der sie stand. »Ich auch nicht.«
Nachdem sie einen Funkruf an ihr Schiff abgesetzt und Doc Huxleys Bitte um Gewebe- und Blutproben von Andy Gangle und der Mumie in der Truhe entsprochen hatten, kostete es sie fast eine Stunde, um eines der großen Fahrzeuge zu starten. Ohne Elektrizität für den netzabhängigen Motorwärmer war das Öl so zähflüssig wie Teer. Es musste abgelassen und zweimal über einem Campingkocher erhitzt werden, da es beim ersten Mal zu schnell abkühlte, um den Motor anlassen zu können. Trotz seines geckenhaften Äußeren war Mark ein geschickter Mechaniker.
Die Wärme aus der Lüftungsanlage der Schneekatze wirkte wie ein willkommener Hauch, und nur wenige Kilometer von Wilson/George entfernt war es dann schon warm genug für sie, um die Reißverschlüsse ihrer äußeren Parkas zu öffnen und die dicken Handschuhe über ihren Goretex-Fingerlingen abzustreifen. Linc lenkte das Fahrzeug, und Linda überließ Murph den Beifahrersitz.
Sie entschied, einen weiten Bogen durch die Schneewüste hinter der Basis zu fahren und sich dem Camp der Argentinier von Osten zu nähern. Kompasse waren so nahe am Südpol nutzlos, doch die Schneekatze verfügte über Satellitennavigation. Aber auch sie war ein wenig ungenau, da die Position der Satelliten, die für die Triangulation benötigt wurden, oft unterhalb des Horizonts lag. Das System war nicht unter Berücksichtigung polarer Navigation entwickelt worden. Es gab erdgebundene Relaisstationen zur GPS-Unterstützung, doch die meisten davon befanden sich auf der anderen Seite des Kontinents, wo der Großteil der Forschungsbasen betrieben wurde.
Die Landschaft war eine weiße Einöde, die durch nichts unterbrochen wurde. Sogar die fernen Berge waren noch mit Wintereis bedeckt. Einiges davon würde auftauen, wenn die Schneeschmelze im Frühjahr andauerte und graue Granitabstürze freilegte. Aber zu diesem Zeitpunkt versteckten sie sich noch unter einem soliden Mantel aus gefrorenem Schnee.
Im Gegensatz zu anderen Regionen der Antarktis, wo das Eis kilometerdick war, bestand hier kaum Gefahr, in versteckte Spalten zu stürzen. Daher legte Linda ein zügiges Tempo vor, und die Raupenketten hatten keine Probleme, sie über die sturmumtoste Eiswüste zu tragen.
»Man geht allgemein davon aus«, sagte Mark, um die Langeweile zu vertreiben, »dass die Berge zu unserer Linken Ausläufer der Anden Südamerikas sind.« Er schwieg, als ihm niemand widersprach.
Nach drei Stunden monotoner Fahrt befanden sie sich drei Kilometer hinter der argentinischen Forschungsstation. Angesichts der derzeitigen – vom Militär gebildeten – Regierung in Buenos Aires rechneten sie mit umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen an den Grenzen der Anlage, die höchstwahrscheinlich aus regelmäßigen Patrouillen in Schneemobilen bestanden. Linda entschied, dass drei Kilometer Distanz nah genug war. Von hier würden sie ihren Weg zu Fuß fortsetzen.
Linda und Linc schlossen ihre Kälteschutzkleidung. Mark würde bei der Schneekatze bleiben, damit er den Motor gelegentlich starten konnte, um ihn warm zu halten und beweglich zu sein, sollte es irgendwelche Schwierigkeiten geben. Sie schnappten sich ihre Waffen und sprangen aufs Eis hinunter. Es war zwar dunkel, aber die Wolken waren inzwischen weitergezogen und gestatteten dem Mondlicht, der Schneedecke einen silbernen Schimmer zu verleihen.
Die nächtliche Stille war unheimlich. Es schien so, als seien ihr Atem und das Knirschen ihrer Stiefel die einzigen Geräusche auf der Welt. Sie kamen sich vor, als befänden sie sich auf einem fremden, menschenfeindlichen Planeten. Und in gewissem Sinn taten sie das auch, denn ohne ihre Schutzanzüge würden sie hier keine fünf Minuten überleben.
Linda hatte eine Handvoll Schraubenmuttern und Unterlegscheiben aus einem Werkzeugkasten in der Schneekatze genommen und in die Tasche gesteckt. Davon ließ sie etwa alle zwanzig Meter ein Stück fallen. Das Metall sah auf dem Eis tiefschwarz aus und war leicht zu erkennen. Sie hatte zwar auch ein Hand-GPS bei sich, doch die kleine Spur metallener Brotkrumen war ihre zwar technisch bescheidene, aber umso effektivere Rückversicherung.
Sie hatten etwa anderthalb Kilometer zurückgelegt, als Linc sich plötzlich fallen ließ. Linda warf sich neben ihm zu Boden und suchte den Horizont ab. »Ich sehe nichts«, flüsterte sie.
Linc robbte auf den Ellbogen vorwärts. Sie folgte ihm und entdeckte schließlich, was er gesehen hatte. Auf dem Eis befanden sich Spuren von einem Schneemobil. Es war richtig gewesen, dass sie besondere Vorsicht hatten walten lassen. Die Argentinier patrouillierten tatsächlich um ihre Basis herum.
»Da fragt man sich doch sofort, was sie wohl so ängstlich beschützen«, sagte Linc.
»Finden wir’s heraus.«
Sie kamen wieder auf die Füße und setzten ihren Weg fort. Als ehemaliger SEAL war Franklin Lincoln eigentlich immer auf der Hut, doch diesmal bewegte er sich weitaus wachsamer als sonst. Sein Kopf wandte sich nach rechts und nach links, während er das öde Terrain studierte. Alle zwei Minuten zog er die Parkakapuze herunter, um auf das typische Knattern eines sich nähernden Schneemobils zu lauschen.
Die Rückseite der argentinischen Basis war durch niedrige, zerklüftete Felsen geschützt. Dort waren Schnee und Eis stellenweise vom Sturm weggeweht worden, so dass schartiger Fels, schwarz wie die Nacht, zum Vorschein kam. Die Kletterpartie war nicht allzu schwierig, aber sie bewegten sich betont bedächtig vorwärts. Ihre dicken Stiefel waren für die Aufgabe nicht geschaffen, außerdem hielten sie ständig nach Patrouillen Ausschau.
Schließlich erreichten sie den Gipfelgrat und holten ihre Nachtferngläser heraus, ehe sie einen Blick über den Grat warfen.
Linda wusste nicht, was sie erwarten sollte. Sie nahm an, dass die Argentinier etwas Ähnliches hatten wie Wilson/George, aber was sich dann zwischen den Bergen und dem Meer unter ihnen ausbreitete, war schlichtweg erstaunlich. Es handelte sich um keine isolierte kleine Forschungsstation, wie immer behauptet worden war, sondern eher um eine ausgedehnte Stadt, die so perfekt getarnt worden war, dass man keine auch nur halbwegs zuverlässige Aussage über ihre Größe machen konnte. Dutzende von Gebäuden standen auf einem vermeintlichen Eisschelf, das sich jedoch beim näheren Hinsehen als ein künstliches Konstrukt entpuppte, das wie Eis aussehen sollte. Da die Natur gewöhnlich gerade Linien meidet, waren sämtliche Gebäude mit gekrümmten Kanten konstruiert, um ihre Umrisse vor einer möglichen Satellitenkontrolle zu verbergen.
Große weiße Zelte verhüllten weitere Teile der Basis. Linda vermutete, dass man dafür Kevlar verwendet hatte, damit sie den Einflüssen der Elemente widerstanden. Außerdem verfügte die Basis über einen großen Hafen mit mehreren Piers, auch sie dergestalt konstruiert, dass sie wie Eis aussahen.
Die natürliche Bucht, an der die Einrichtung lag, war bis auf ein Dutzend hoher Eisberge eisfrei. Sie pickte sich einen heraus und zoomte ihn heran. Irgendetwas stimmte damit nicht. Er sah ja wirklich echt aus, allerdings viel zu hoch für seine Basis. Er hätte spätestens während des letzten Sturms umkippen müssen. Das hätte eigentlich mit allen passieren müssen. Erst dann erkannte sie, dass auch sie künstlich waren.
Ölbohrinseln. Genau das waren sie – kleine Offshore-Ölbohrinseln.
Nun, da sie sicher sein konnte, was die Argentinier hier gebaut hatten, erkannte sie auch, dass die drei einzelnen Hügel in Hafennähe in Wirklichkeit riesige Öltanks waren, die man teilweise unter Erdwällen vergraben hatte. Die Inseln in der Bucht waren nicht für Probebohrungen vorgesehen. Die Argentinier schienen im Begriff zu sein, eine reguläre Ölproduktion anlaufen zu lassen. Der Hafen mochte für Supertanker der jüngsten Generation zwar zu klein sein, doch einem Einhunderttausendtonner bot er sicherlich genügend Platz.
Sie wusste, dass das, was sie sah, ein Verstoß gegen eines der wichtigsten existierenden internationalen Abkommen darstellte. Seit Anfang der 1960er Jahre hatte man sich im Antarktisvertrag darauf geeinigt, dass der Kontinent als ein wissenschaftliches Reservat gewürdigt werde und keine Nation Besitzansprüche über Teile davon anmelden durfte. Das Abkommen verfügte außerdem, dass es den Unterzeichnern gesetzlich verboten war, dort nach Bodenschätzen zu suchen oder nach Öl zu bohren, sei es an Land oder im Meer.
Linc tippte ihr auf die Schulter und deutete weiter nach Süden. Sie sah, was er meinte – ein separates Gebäude in einiger Entfernung von den anderen. Aber sie konnte nicht erkennen, was sein Interesse geweckt hatte. Fragend sah sie ihn an.
»Ich glaube, das ist eine Raketenbatterie.«
Falls er mit seiner Vermutung recht hatte, dann stellte dies eine weitere Verletzung des Abkommens dar. Sie schoss mit ihrer Kamera mehr als ein Dutzend Bilder und fotografierte dabei durch ihr Nachtglas. Es waren zwar nicht gerade die besten Bilder, aber sie reichten als Beweis völlig aus.
Linc kam über die Hügelkuppe zurückgekrochen. »Was hältst du davon?«, fragte er, als sie sich wieder in sicherer Deckung befanden.
»Ich würde meinen, dass die Argies ziemlich fleißig gewesen sind. Hast du die Eisberge in der Bucht gesehen?«
»Ja. Ölbohrtürme.«
Linda nickte. »Das müssen wir melden.«
Wind kam auf. Er war zwar nicht stark genug, um ein Whiteout zu erzeugen, doch die Sicht nahm dramatisch ab, und nach so langer Zeit unter freiem Himmel spürte Linda, wie die Kälte allmählich durch ihre Kleidung drang. Bemerkenswerterweise konnte sie aber immer noch ihre Spur aus Schraubenmuttern und Metallscheiben erkennen.
Linc beobachtete weiterhin ihre Umgebung, daher entdeckte er das Schneemobil als Erster. Er stieß Linda so heftig zu Boden, dass die Luft zischend aus ihrer Lunge gepresst wurde. Sie hatten keine Ahnung, ob man sie entdeckt hatte, und ein paar angespannte Sekunden verstrichen, während der einzelne Scheinwerfer des Fahrzeugs durch die Dunkelheit tanzte.
Die Zeit dehnte sich, und es sah schon so aus, als hätte der Fahrer sie nicht gesehen – oder wenn, dass er seine Beobachtung als eine durch den Wind erzeugte optische Täuschung einstufte. Der Motor des Schlittens gab ein gleichbleibendes, durchdringendes Jaulen von sich, das sich aber von ihnen entfernte. In der letzten Sekunde jedoch riss der Wächter die Lenkstange scharf herum und steuerte direkt auf das liegende Paar zu.
Linc fluchte und legte das Sturmgewehr an.
Er konnte wegen des grellen Lichts des Scheinwerfers nicht erkennen, was der Fahrer tat, doch der Knall des Schusses übertönte den Motorenlärm. Der Schuss ging daneben, weil das Schneemobil über raues Gelände hüpfte. Fast hatte das Schneemobil sie erreicht. Linc fummelte mit seinen dicken Handschuhen am Sicherungsbügel herum, erkannte dann, dass ihm nicht mehr genug Zeit blieb, sprang schließlich auf und holte mit dem Gewehr wie mit einem Baseballschläger aus.
Der Gewehrkolben traf den Fahrer am Hals, und die kinetische Energie seiner Vorwärtsbewegung – kombiniert mit Lincs brutaler Kraft – pflückte ihn regelrecht von seiner Maschine und schleuderte ihn über das Eis.
Ohne seinen Fahrer stoppte das Schneemobil, und der Motor wurde abgewürgt, als der Sicherheitsschlüssel, der mit einer Schnur am Handgelenk des Mannes befestigt war, aus dem Zündschloss riss. Das Fahrzeug rutschte noch ein paar Schritte weiter und stand schließlich völlig still. Schneeflocken wurden vom Wind durch den Scheinwerferkegel gewirbelt.
Linda rannte zu dem Argentinier hinüber. Er rührte sich nicht. Sie nahm ihm den Sturzhelm ab. So wie sein Kopf haltlos hin und her wackelte, war ihr klar, dass sein Genick durch den brutalen Schlag gebrochen sein musste. Sie erhob sich.
»Tot?«
»Ja.«
»Er oder wir«, sagte Linc mit dem Fatalismus eines Elitesoldaten.
Er hob den Toten hoch und trug ihn zum Schneemobil. Dann legte er die Leiche behutsam aufs Eis und ergriff die Lenkstange. Er spreizte die Beine, spannte die Muskeln kurz an und warf die an die fünfhundert Pfund schwere Maschine auf die Seite, als wäre sie ein Spielzeug. Danach legte er den Toten derart zurecht, dass es aussah, als wäre er Opfer eines tragischen Unfalls geworden.
»Ich wünschte, wir könnten mit dem Ding zu der Schneekatze zurückfahren«, sagte Linda, obgleich sie wusste, dass das nicht möglich war.
»Das Laufen wird dir guttun«, rief Franklin Lincoln grinsend.
»Erst sagst du, ich bräuchte mehr Fleisch auf die Knochen, und nun heißt es, ich brauche ein wenig Körperertüchtigung. Also, was gilt jetzt?«
Linc wusste, dass er mit einer Antwort in irgendeine Falle tappen würde, daher erwiderte er klugerweise überhaupt nichts, sondern startete zu ihrem langen Marsch zu Murph und ihrer warmen Schneekatzenfahrt zurück zur Station Wilson/George.