13

Die gerichtliche Untersuchung des Todes von Caleb Stone wurde zwei Tage später eröffnet. Auf den Zuschauerbänken drängten sich die Neugierigen. Es war ein ungewöhnliches Ereignis gewesen, und die Leute wollten wissen, wie so etwas passieren konnte.

Lord Ravensbrook mußte anwesend sein, um eine Aussage zu machen, da er ja der einzige unmittelbare Zeuge war. Außerdem wurden die drei Gefängniswärter in den Zeugenstand gerufen, wo sie alle sehr steif Platz nahmen, verlegen und äußerst verängstigt. Jimson war davon überzeugt, daß sie alle unschuldig waren; Bailey, daß sie alle die Verantwortung dafür trugen und entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden würden. Der dritte Wärter, der die Sache gemeldet hatte, weigerte sich, überhaupt eine eigene Meinung zu haben.

Auch Hester wurde um ihre Aussage gebeten, wenn auch nur von Rathbone und nicht vom Leichenbeschauer. Zu guter Letzt wurde noch der Arzt befragt, der mit der offiziellen Untersuchung der Leiche betraut gewesen war.

Enid Ravensbrook saß neben ihrem Mann, mit bleichem, ausgezehrtem Gesicht, aber ruhigem Blick, und wirkte insgesamt körperlich weniger angegriffen als in der Woche zuvor. An ihrer Seite hatte Genevieve Stonefield Platz genommen, und neben ihr, ruhig und gelassen, Titus Niven.

Selina Herries saß allein da, mit hocherhobenem Kopf, das Gesicht weiß und starr, die Augen schreckgeweitet. Rathbone sah sie an, und ein unerklärlicher Kummer um sie bemächtigte sich seiner. Sie hatten nicht das geringste gemeinsam, nicht die Kultur, nicht den Glauben, ja, sie sprachen kaum dieselbe Sprache. Und doch erfüllte ihr Anblick ihn mit einem Gefühl der Trauer. Er wußte, was es bedeutete, einen Menschen zu verlieren, der einem nahegestanden hatte, wie zwiespältig oder verworren die Gefühle auch sein mochten.

Ebenezer Goode war noch nicht erschienen. Er war derjenige, der Caleb Stones Interessen offiziell vertreten sollte.

Rathbone hatte Genevieve überredet, ihm zu gestatten, sie zu vertreten, als Schwägerin des Verstorbenen und seiner nächsten Verwandten. Ravensbrook war nur sein Vormund gewesen und hatte keinen der beiden Jungen adoptiert, und Selina war nicht mit Caleb verheiratet gewesen.

Der Leichenbeschauer war ein großer, freundlicher Mann mit einem verbindlichen Lächeln. Er eröffnete das Verfahren mit der geziemenden Förmlichkeit und rief dann den ersten Zeugen auf, den Gefängniswärter Jimson. Der Raum war schlicht, ganz anders als das Hohe Gericht in Old Bailey. Es gab keine Stufen zum Zeugenstand zu erklimmen, keine prächtige Bank und keinen an einen Thron erinnernden Stuhl für den Leichenbeschauer, wie der Richter ihn für sich in Anspruch nehmen durfte. Jimson stand hinter einem einfachen Geländer, das nur dazu diente, dem Zeugen seinen Platz zuzuweisen, und der Leichenbeschauer setzte sich an einen schweren Eichentisch.

Jimson schwor, die Wahrheit zu sagen, und gab dann Namen und Beruf zu Protokoll. Er war so nervös, daß er immer wieder schluckte und über seine eigenen Worte stolperte.

Der Leichenbeschauer lächelte ihn wohlwollend an.

»Nun, Mr. Jimson, erzählen Sie uns, was passiert ist. Es gibt keinen Grund, solche Angst zu haben. In dieser Verhandlung geht es um eine Untersuchung, nicht um eine Anklage. So! Fangen Sie mit dem Zeitpunkt an, da der Gefangene wieder von Ihnen in Gewahrsam genommen wurde, nachdem das Gericht sich vertagt hatte.«

»Ja, Sir! Mylord!«

»›Sir‹ reicht vollkommen. Ich bin kein Richter.«

»Ja, Sir. Vielen Dank, Sir!« Jimson holte tief Luft und schluckte erneut. »Er war in einer merkwürdigen Verfassung, der Gefangene, meine ich. Er lachte und krakeelte und fluchte zum Steinerweichen. Er hatte eine Wut im Bauch, wie ich es noch nie erlebt habe, nur daß er gleichzeitig gelacht hat, als gab's da einen tollen Witz, den außer ihm keiner verstand. Aber er hat uns keine Schwierigkeiten gemacht, das nicht«, fügte er hastig hinzu. »Er ist gleich in seine Zelle rein, und wir haben ihn eingeschlossen.«

»Wir?« fragte der Leichenbeschauer nach. »Können Sie sich nicht daran erinnern, wer von Ihnen es gewesen ist?«

»Doch, Sir, ich war es.«

»Verstehe. Fahren Sie fort.«

In dem Raum herrschte fast völlige Stille, abgesehen vom leisen Rascheln von Stoff, als jemand auf seinem Stuhl hin und her rutschte, und einem Flüstern, als eine Frau sich an ihren Nachbarn wandte. Die anwesenden Journalisten schrieben bisher nicht mit.

»Dann kam Lord Ravensbrook und fragte, ob er den Gefangenen sehen könne; er wäre ja sozusagen sein einziger Verwandter«, fuhr Jimson fort. »Und noch dazu, wo die Verhandlung so schlecht lief für ihn. Schätze, er dachte wohl, daß es bald ein Urteil geben würde, und dann hätte man ihm nicht mehr erlaubt, allein mit ihm zu sprechen, weil er dann ja nämlich schuldig gewesen wäre, und bis dahin war er schließlich noch unschuldig, zumindest vor dem Gesetz.«

»Ich verstehe.« Der Leichenbeschauer nickte. »Sie brauchen das nicht weiter zu erklären, es ist ganz offenkundig und völlig natürlich.«

»Vielen Dank, Sir.« Jimson wirkte allerdings nicht im mindesten erleichtert. »Na ja, wir hatten nichts daran auszusetzen, Bailey und Alcott und ich, also haben wir ihn reingelassen…«

»Einen Augenblick mal, Mr. Jimson«, unterbrach ihn der Leichenbeschauer. »Als Sie Lord Ravensbrook eingelassen haben, wie ging es da dem Gefangenen? Wie hat er sich benommen, welchen Eindruck machte er auf Sie? War er immer noch in dieser zornigen Stimmung? Wie hat er Lord Ravensbrook begrüßt?«

Jimson sah ihn verwirrt an.

»Haben Sie ihn gesehen, Mr. Jimson?« bedrängte der Leichenbeschauer ihn. »Es ist wichtig, daß Sie uns wahrheitsgemäß antworten. Die Angelegenheit betrifft immerhin den Tod eines Mannes, der sich in Ihrem Gewahrsam befand.«

»Ja, Sir.« Jimson schluckte krampfartig, denn er war sich seiner Verantwortung geradezu verzweifelt bewußt.

»Nein, Sir, ich bin nicht mit Seiner Lordschaft reingegangen. Ich… ich wollte das nicht, schließlich war er ja Familie, sozusagen, und ich wußte von dem Wärter, der ihn vor Gericht beaufsichtigte, wie schlecht die Sache für ihn lief und daß man ihn wahrscheinlich hängen würde. Ich habe Seine Lordschaft reingelassen, als er sagte, er möchte lieber allein mit dem Gefangenen reden…«

»Lord Ravensbrook sagte, er wünsche den Gefangenen allein zu sprechen?«

»Ja, Sir, so war es.«

»Verstehe. Was ist dann weiter passiert?«

»Kurz drauf kam Seine Lordschaft wieder raus und bat um eine Schreibfeder und Tinte und Papier, weil der Gefangene irgend etwas aufschreiben wollte, ich habe vergessen, was.« Er spielte unruhig mit seinem Kragen. Er schien ihm zu eng zu sein. »Ich habe Bailey geschickt, die Sachen zu holen, und als er zurückkam, habe ich sie Seiner Lordschaft gegeben, und der ist wieder rein in die Zelle. Ein paar Minuten später kam dann ein Schrei, und jemand hämmerte an die Tür, und als ich öffnete, kam Seine Lordschaft aus der Zelle getaumelt, voller Blut, und sagte, es habe einen Unfall gegeben oder so etwas und der Gefangene sei tot… Sir.« Er holte tief Luft und nahm seinen Faden wieder auf. »Er sah schrecklich blaß und erschrocken aus, Sir, der arme Herr. Also habe ich Bailey weggeschickt, Hilfe zu holen. Ich glaube, er hat auch ein Glas Wasser geholt, aber Seine Lordschaft war zu aufgeregt, um es zu trinken.«

»Sind Sie in die Zelle gegangen, um nach dem Gefangenen zu sehen?« wollte der Leichenbeschauer wissen.

»Ja, Sir, natürlich. Er lag in einer Blutlache, groß wie ein See, Sir, und seine Augen standen weit offen und starrten zur Decke.« Wieder zerrte er an seinem Kragen. »Er war tot. Man konnte nichts mehr für ihn tun. Ich habe die Tür zugezogen, aber nicht verschlossen, hatte keinen Sinn mehr. Alcott ist dann rauf, um zu melden, was passiert ist, und ich habe für Seine Lordschaft getan, was ich konnte, bis Hilfe kam.«

»Vielen Dank, Mr. Jimson.« Der Leichenbeschauer hielt nach Goode Ausschau.

»Wo steckt Mr. Goode?« fragte er mit einem Stirnrunzeln.

»Ich denke, er sollte die Familie des Toten vertreten. Ist das nicht so?«

Rathbone erhob sich. »Doch, Sir, Sie haben ganz recht. Ich weiß nicht, was ihn aufgehalten haben könnte. Ich bitte das Gericht um Nachsicht. Ich bin sicher, er wird nicht lange brauchen.« Das will ich ihm jedenfalls nicht raten, dachte er grimmig, sonst wird die Angelegenheit wegen eines Protokollfehlers schieflaufen.

»Dies ist kein Gericht, das einen Verteidiger notwendig macht, Mr. Rathbone«, sagte der Leichenbeschauer gereizt.

»Wenn Mr. Goode uns nicht mit seiner Anwesenheit beehren will, werden wir ohne ihn fortfahren. Haben Sie irgendwelche Fragen, die Sie diesem Zeugen stellen wollen?«

Rathbone holte tief Luft, um so umständlich zu antworten, wie es ihm nur möglich war, eine Notwendigkeit, die ihm erspart blieb, weil gerade in diesem Augenblick die Türen in ihren Angeln weit aufschwangen. Ebenezer Goode trat mit energischen Schritten und wehenden Rockschößen ein, die Arme voller Papiere. Er ging sofort nach vorn, schenkte dem Leichenbeschauer ein strahlendes Lächeln, entschuldigte sich überschwenglich und nahm seinen Platz ein, wobei es ihm gelang, jeden zu stören, der innerhalb eines Drei-Meter-Umkreises von ihm entfernt saß.

»Sind Sie soweit, Mr. Goode?« fragte der Leichenbeschauer voller Sarkasmus. »Dürfen wir fortfahren?«

»Natürlich!« sagte Goode immer noch mit dem gleichen Lächeln. »Sehr zuvorkommend von Ihnen, auf mich zu warten.«

»Wir haben nicht auf Sie gewartet!« fuhr der Leichenbeschauer ihn an. »Haben Sie irgendwelche Fragen an diesen Zeugen, Sir?«

»Aber ja, vielen Dank.« Goode erhob sich, warf seine Papiere durcheinander und sammelte sie wieder auf, bevor er sich dranmachte, eine Menge Fragen zu stellen, die lediglich bestätigten, was Jimson bereits gesagt hatte. Niemand erfuhr irgend etwas Neues, aber es kostete ungeheuer viel Zeit, und genau das bezweckte Goode. Und Rathbone. Der Leichenbeschauer konnte nur mit Mühe die Beherrschung bewahren.

Bailey, der zweite Wärter, wurde als nächstes aufgerufen, und der Leichenbeschauer erhielt die Bestätigung all dessen, was Jimson gesagt hatte, aber ohne besonders viel Zeit zu verlieren. Es gab keine Widersprüche, auf die man näher hätte eingehen müssen.

Goode mußte all seinen Einfallsreichtum aufbieten, um sich genug Fragen auszudenken, um die Sache noch eine weitere halbe Stunde in die Länge zu ziehen, und Rathbone fiel es anschließend sehr schwer, überhaupt noch etwas hinzuzufügen.

Er beschrieb noch einmal Calebs Worte, seine Gesten, seinen Tonfall, sein Benehmen während der Verhandlung. Er fragte Bailey sogar, was Caleb seiner Meinung nach empfunden und welchen Ausgang der Verhandlung er erwartet habe, bis der Leichenbeschauer ihm Einhalt gebot und ihn darauf aufmerksam machte, daß er den Zeugen aufforderte, Spekulationen über Dinge anzustellen, die er unmöglich wissen konnte.

»Aber Sir, Mr. Bailey ist ein sachkundiger Zeuge, was die Stimmung und die Erwartungen von Gefangenen betrifft, denen man ein Kapitalverbrechen zur Last gelegt hat«, protestierte Rathbone. »Das ist sein tägliches Brot. Wer könnte besser wissen, ob ein Gefangener auf einen Freispruch hofft oder nicht? Wenn wir die Wahrheit herausfinden wollen, ist es von höchster Wichtigkeit zu wissen, ob Caleb Stone verzweifelt war oder ob er noch immer eine gewisse Hoffnung hegte, am Leben zu bleiben.«

»Natürlich ist es das, Mr. Rathbone«, räumte der Leichenbeschauer ein. »Aber Sie haben von Mr. Bailey und Mr. Jimson bereits alles erfahren, was sie wissen. Es ist meine Aufgabe, Schlußfolgerungen zu ziehen, nicht die der Zeugen, wie erfahren sie auch sein mögen.«

»Ja, Sir«, sagte Rathbone widerstrebend. Es war ein Uhr.

Der Leichenbeschauer schaute auf seine Uhr und vertagte die Verhandlung bis nach dem Mittagessen.

»Haben Sie von Monk gehört?« fragte Goode, als er und Rathbone in einer exzellenten Gaststube in der Nähe Platz nahmen und ihre Mahlzeit genossen - Rinderbraten und Gemüse, Bier, Apfel und Brombeerpastete, reifen Stiltonkäse und feine Kekse. »Hat er irgend etwas in Erfahrung gebracht?«

»Nein, ich habe nichts von ihm gehört«, antwortete Rathbone mißmutig. »Ich weiß, daß er nach Chilverley gefahren ist, aber seitdem habe ich keine Nachricht mehr von ihm erhalten.«

Goode nahm sich eine große Portion Käse.

»Und was ist mit der Krankenschwester?« fragte er. »Wie hieß sie noch? Latterly? Hat sie irgend etwas Nützliches in Erfahrung gebracht? Ich habe sie im Gerichtssaal gesehen. Sollte sie nicht im East End sein? Wir hätten ihre Aussage hinauszögern können. Vielleicht hätte sie etwas zu berichten gewußt!«

»Sie hat nichts Neues erfahren«, nahm Rathbone sie in Schutz. »Sie sagte, es gebe nichts, was wir nicht bereits wüßten.«

»Was ist mit Caleb, verflucht!« rief Goode ärgerlich. »Wenn das kein Unfall war, dann war es entweder Selbstmord - und wir haben bereits festgestellt, daß das unwahrscheinlich ist - oder Mord. Im Interesse menschlichen Anstands müssen wir es wissen.«

»Dann sollten wir weiter in die Vergangenheit zurückgehen und uns nicht nur Calebs Leben in Limehouse ansehen«, erwiderte Rathbone und nahm sich einen zweiten Keks. »Die Antwort ist in der Beziehung zwischen Ravensbrook, Angus und ihm zu suchen. Das heißt, in Chilverley. Alles, was wir tun können, ist, die Sache in die Länge zu ziehen, bis Monk zurückkommt oder uns zumindest einen Zeugen schickt!«

Goode seufzte. »Und Gott weiß, was wir dann zu hören bekommen werden!«

»Oder was wir beweisen werden können«, fügte Rathbone hinzu und trank sein Bier aus.

Die Nachmittagsverhandlung begann damit, daß der Leichenbeschauer Milo Ravensbrook in den Zeugenstand rief. Sofort legte sich absolutes Schweigen über den Raum. Selbst das leiseste Geräusch verstummte, und alle Blicke ruhten auf ihm. Seine Haut war von kränklicher Blässe, aber seine Kleidung war tadellos und seine Haltung sehr aufrecht. Er schaute weder nach links noch nach rechts, als er seinen Platz hinter dem Geländer einnahm und mit einer klaren, leicht heiseren Stimme seinen Namen nannte. Seine Jacke war offen und fiel locker an ihm herab, um Platz für die Verbände für seine Verletzungen zu schaffen. Sein Kiefer war angespannt.

Noch bevor der Leichenbeschauer zu sprechen begann, erhob sich ein leises Gemurmel, in das sich Respekt und Mitleid mischten.

Rathbone warf einen Blick in die Menge. Enid sah ihren Mann an, und in ihren Augen lag ein Ausdruck von Trauer und Mitleid. Beinahe geistesabwesend verirrte ihre Hand sich zu Genevieve, die neben ihr saß.

»Lord Ravensbrook«, begann der Leichenbeschauer.

»Würden Sie uns bitte erzählen, was am Tag von Caleb Stones Tod vorgefallen ist. Sie brauchen nichts von dem zu erwähnen, was passiert ist, bevor Sie schließlich seine Zelle betraten, es sei denn, Sie wünschen dies. Auch wenn es meine Pflicht von mir verlangt, möchte ich nicht unnötig in Sie dringen.«

»Vielen Dank«, antwortete Ravensbrook, ohne ihn anzusehen. Er starrte die Wand gegenüber an und sprach wie in Trance. Er schien die Ereignisse im Geist noch einmal zu durchleben, und sie waren realer für ihn als der holzvertäfelte Raum, das gütige Gesicht des Leichenbeschauers oder die Menschen im Saal, die jedem seiner Worte lauschten. Alle Blicke ruhten auf seinem Gesicht, das von starken Gefühlen bewegt und doch seltsam starr war, als hielte er all seine Empfindungen mit unbarmherziger Strenge in seinem Innern fest.

»Der Wärter öffnete die Tür und trat zurück, um mich einzulassen«, begann er mit flacher, bedächtiger Stimme. »Ich hatte um Erlaubnis gebeten, allein mit Caleb sprechen zu dürfen. Ich wußte, daß es sehr wohl das letzte Mal sein konnte, daß man mir Gelegenheit dazu gab. Die Verhandlung lief nicht gut für ihn.« Sein Zögern war kaum wahrnehmbar. »Ich… ich wollte ihm einige Dinge sagen, die von persönlicher Natur waren. Wahrscheinlich war es töricht von mir, aber ich hoffte, daß er mir um Angus' Witwe willen vielleicht mitteilen würde, was zwischen ihm und Angus vorgefallen war, damit sie wissen könnte, daß Angus seinen… Frieden gefunden hatte, wenn Sie so wollen.«

Der Leichenbeschauer nickte. Irgendwo im Raum wurde ein Seufzer hörbar.

Genevieve sog scharf die Luft ein, gab sonst aber keinen Laut von sich. Sie schloß die Augen, als könne sie es nicht ertragen, irgend etwas zu sehen.

Rathbone blickte zu Goode hinüber und las eine Frage in seinen Augen.

»Es war natürlich nutzlos«, schloß Ravensbrook. »Nichts, was ich sagen konnte, hatte irgendeine Wirkung auf ihn oder konnte den Zorn in seinem Herzen beschwichtigen.«

»War er wütend, als Sie die Zelle betraten, Lord Ravensbrook?« fragte der Leichenbeschauer mit großen, sanften Augen. »Der Wärter scheint uns nichts darüber sagen zu können.«

»Er war… verdrossen«, erwiderte Ravensbrook mit leichtem Stirnrunzeln. Wenn er die Tatsache bemerkte, daß Selina Herries ihn anstarrte, als wolle sie sich sein Bild für alle Zeiten einprägen, so ließ er sich jedenfalls nichts davon anmerken. »Ich bat ihn, mir um Genevieves willen zu sagen, was bei jenem letzten Besuch seines Bruders vorgefallen, war«, fuhr er fort.

»Aber er wollte mir nicht antworten. Ich versicherte ihm, daß ich nichts davon den Behörden preisgeben würde. Ich wollte es einzig und allein für die Familie wissen. Aber er blieb hart.« Seine Stimme war fest, aber man hatte den Eindruck, als sei seine Kehle wie zugeschnürt, als müsse er die Worte mit Gewalt herauspressen, und mehrmals fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.

Rathbone sah sich noch einmal im Saal um. Enid saß steif auf ihrem Stuhl und lehnte sich eine Spur nach vorn, als versuche sie, ihm auf diese Weise näher zu sein. Genevieve sah vom Zeugenstand zu Enid hinüber und wieder zurück. Selina Herries ballte die Fäuste in ihrem Schoß, ihr Gesicht war von Schmerz erfüllt, aber sie ließ Ravensbrook keine Sekunde aus den Augen.

»Er hat mich um Feder und Papier gebeten«, nahm Ravensbrook seinen Bericht wieder auf. »Er sagte, er wolle seinen Letzten Willen niederschreiben…«

»Meinte er ein Testament oder eine Erklärung? Wissen Sie das?« erkundigte sich der Leichenbeschauer.

»Er hat es nicht gesagt, und ich habe nicht danach gefragt«, antwortete Ravensbrook. »Ich nahm an, daß es sich um eine Erklärung handelte, vielleicht eine Art Letzter Wille. Ich hoffte, es würde ein Geständnis sein oder eine Bekundung von Reue, um seinen Seelenfrieden zu retten.«

Auf den Zuschauerbänken stieß Selina einen leisen Schrei aus, den sie sofort unterdrückte. Eine andere Frau ließ ein ersticktes Schluchzen hören, aber ob es persönlichem Kummer entsprang oder allgemeinem Mitleid, ließ sich nicht feststellen.

Titus Niven legte seine Hand auf die Genevieves, diskret und sehr sanft, und die Anspannung in ihren Schultern ließ ein klein wenig nach.

»Also haben Sie den Wärter gebeten, eine Feder, Tinte und Papier herbeizuschaffen«, half der Leichenbeschauer seinem Zeugen wieder auf die Sprünge.

»Ja«, erwiderte Ravensbrook. Das Mitgefühl im Raum schien ihn nicht zu berühren; vielleicht war der Aufruhr in seinem eigenen Herzen so groß. »Als man sie mir brachte, kehrte ich in die Zelle zurück und gab sie Caleb. Er versuchte die Feder zu benutzen, sagte aber, sie kratze nur übers Papier. Die Spitze müsse neu geschärft werden. Ich holte mein Taschenmesser hervor, um das für ihn zu erledigen…«

»Sie haben ihm das Messer nicht angeboten?« fragte der Leichenbeschauer und beugte sich mit ernster Miene vor.

Ravensbrooks Mund wurde schmal, und seine Stirn legte sich in Falten. »Nein, natürlich nicht!«

»Vielen Dank. Fahren Sie fort.«

Ravensbrook saß nun noch steifer da als zuvor. Seine verzweifelten Bemühungen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, kosteten ihn große Anstrengung. Er war ein Mann, der durch einen Alptraum wandelte, und keine Menschenseele im Saal konnte das übersehen.

Diesmal bedrängte der Leichenbeschauer ihn nicht. Ravensbrook holte tief Luft und stieß einen unhörbaren Seufzer aus.

»Ohne die leiseste Warnung, ohne ein Wort zu sagen, stürzte Caleb sich auf mich. Das erste, was ich begriff, war, daß er mir an die Kehle wollte. Seine Finger umklammerten mein Handgelenk, und er versuchte, mir das Messer zu entwinden. Wir kämpften, ich, um mein Leben zu retten, er, um mich niederzuzwingen. Ob er mich töten oder mir das Messer entringen wollte, um sich damit selbst das Leben zu nehmen, weiß ich nicht, und ich möchte auch keine Vermutungen anstellen.«

Ein leises, zustimmendes Raunen ging durch den Raum, ein Seufzer des Mitleids.

»Um Gottes willen, wo bleibt Monk?« flüsterte Goode Rathbone zu. »Wir können diese Sache unmöglich bis morgen hinauszögern!«

Rathbone antwortete nicht. Es gab nichts zu sagen.

»Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was passiert ist«, begann Ravensbrook von neuem. »Es ging alles sehr schnell. Es gelang ihm, mich mehrmals zu verletzen, ein halbes Dutzend mal oder so. Der Kampf ging hin und her. Er kam mir wahrscheinlich länger vor, als er in Wirklichkeit war.« Er richtete seinen Blick auf den Leichenbeschauer und sah den Mann ernst an. »Ich habe kaum eine Vorstellung, ob es Sekunden oder Minuten waren. Es gelang mir, ihn wegzudrängen. Er rutschte aus, und ich stürzte durch die Wucht meiner eigenen Bewegungen nach vorn. Ich bin über sein Bein gestolpert, und wir fielen beide zu Boden. Als ich aufstand, lag er auf dem Boden, mit dem Messer in der Kehle.«

Er hielt inne. Im Raum herrschte absolute Stille. Alle Gesichter waren ihm zugewandt - in ihnen lag Entsetzen und Mitleid.

Selina Herries sah aus wie ein Gespenst, schmal und traurig, und die Arroganz war wie weggeweht.

»Als ich meine Sinne wieder beisammen hatte«, fuhr Ravensbrook schließlich fort, »und mir klarwurde, daß mir keine Gefahr mehr von ihm drohte, habe ich mich gebückt und versucht, seinen Puls zu finden. Er blutete sehr stark, und ich fürchtete, daß ihm nicht mehr zu helfen war. Ich durchquerte die Zelle, hämmerte an die Tür und rief nach den Wärtern. Einer von ihnen öffnete und ließ mich hinaus. Den Rest kennen Sie.«

»Allerdings, Mylord«, pflichtete der Leichenbeschauer ihm bei. »Es besteht keine Notwendigkeit, Sie noch länger zu belästigen. Darf ich Ihnen und Ihrer Familie mein tiefstes Beileid zu Ihrem zweifachen Verlust aussprechen.«

»Vielen Dank.« Ravensbrook wandte sich zum Gehen. Goode erhob sich.

Der Leichenbeschauer machte eine Handbewegung, um Ravensbrook aufzuhalten, der Goode ansah, als stünde er einem Feind auf dem Schlachtfeld gegenüber.

»Wenn es unbedingt sein muß«, räumte der Leichenbeschauer widerstrebend ein.

»Vielen Dank, Sir.« Goode wandte sich an Ravensbrook und lächelte höflich, wobei er sämtliche Zähne entblößte.

»Nach Ihrem eigenen Bericht, Mylord, und nach den Verletzungen, die Ihnen zugefügt wurden, zu urteilen…«, begann er. »Übrigens ich hoffe, Ihre Genesung macht Fortschritte?«

»Vielen Dank«, sagte Ravensbrook steif.

»Das freut mich.« Goode neigte den Kopf zur Seite. »Wie ich schon sagte, Ihrem eigenen Bericht zufolge, Mylord, haben Sie erst um Hilfe gerufen, als der Kampf mit Caleb schon eine Weile in Gang war. Warum haben Sie es nicht sofort getan? Es muß Ihnen doch klar gewesen sein, daß Sie in sehr großer Gefahr schwebten?«

Ravensbrook starrte ihn mit fahlem Gesicht an.

»Natürlich wußte ich das«, sagte er. Sein Kiefer verkrampfte sich; Rathbone konnte selbst von seinem Platz aus das hektische Spiel der Muskeln beobachten.

»Und doch haben Sie nicht um Hilfe gerufen«, beharrte Goode. »Warum nicht?«

Ravensbrook sah ihn voller Abscheu an.

»Ich bezweifle, daß Sie es verstehen würden, Sir, sonst hätten Sie diese Frage nicht gestellt. Trotz all seiner Verfehlungen und seiner Undankbarkeit, seiner Treulosigkeit war Caleb Stone wie ein Sohn für mich. Ich hoffte, ich könnte die Sache regeln, ohne daß die Behörden jemals davon erfahren würden. Es war ein überaus tragischer Zufall, daß die Sache ein solches Ende genommen hat. Ich hätte meine eigenen Verletzungen verbergen können, bis ich das Gerichtsgebäude sicher verlassen hatte. Er war ja bis zum Ende unverletzt geblieben.«

»Ich verstehe«, erwiderte Goode ausdruckslos.

Dann machte er sich daran, alle möglichen weiteren Fragen zu stellen, und suchte spitzfindig Erklärungen für alle möglichen Dinge. Rathbone folgte seinem Beispiel, bis er jegliche Sympathie seitens der Zuschauer verloren hatte und auch die Geduld des Leichenbeschauers nur noch an einem seidenen Faden hing. Um Viertel nach vier am Nachmittag mußte er sich geschlagen geben, und der Leichenbeschauer rief ihn selbst in den Zeugenstand. Er brauchte nur ganze zwölf Minuten, um Rathbone seine Aussage machen zu lassen.

Goode zermarterte sich das Gehirn, aber ihm fiel nichts mehr ein, was er hätte vorbringen können, um die Befragung hinauszuzögern.

Neunundzwanzig Minuten vor fünf wurde Monk aufgerufen und seine Abwesenheit festgestellt. Rathbone bestand darauf, daß man ihn ausfindig machen müsse. Der Leichenbeschauer erhob den Einwand, daß Monk, da Rathbone sich während der ganzen in Frage stehenden Zeit in dessen Gesellschaft befunden habe, kaum etwas von Nutzen hinzufügen könne.

Goode erhob sich und wurde ebenfalls abgewiesen.

Der Leichenbeschauer vertagte die Sitzung auf den nächsten Tag.

Rathbone und Goode verließen gemeinsam und in tiefer Sorge das Gerichtsgebäude. Sie hatten immer noch keine Nachricht von Monk.

Seine erste Zeugin an diesem Morgen war Hester Latterly.

»Miss Latterly.« Der Leichenbeschauer lächelte sie gütig an.

»Es besteht kein Grund, nervös zu sein, meine Liebe. Beantworten Sie die Fragen einfach nach Ihrem besten Wissen und Gewissen. Wenn Sie die Antwort nicht kennen, dann sagen Sie uns das.«

»Ja, Sir.« Sie nickte und erwiderte sein Lächeln mit denkbar unschuldigstem Gesichtsausdruck.

»Sie verließen gerade den Gerichtssaal, nachdem Sie der Verhandlung beigewohnt hatten, als der Gefängniswärter Bailey Sie darüber informierte, daß jemand verletzt worden sei und medizinische Versorgung benötigte. Ist das korrekt?« Er würde ihr nicht erlauben, sich in weitschweifigen Ergüssen zu ergehen, indem sie die Geschichte mit ihren eigenen Worten ausschmückte. Er hatte sie überaus präzise für sie zusammengefaßt.

Rathbone fluchte in sich hinein.

»Wenn Monk nicht binnen einer Stunde hier ist, wird die Verhandlung vorüber sein«, sagte Goode. »Wo bleibt er nur, um alles in der Welt? Gibt es heute morgen einen Frühzug von Chilverley? Soll ich nach ihm suchen?«

Rathbone sah sich verzweifelt um. »Ich schicke einen Gerichtsdiener hin«, sagte er.

»Mr. Rathbone!« ermahnte ihn der Leichenbeschauer mit einem Stirnrunzeln.

»Ich bitte um Vergebung«, entschuldigte Rathbone sich mißmutig.

Der Leichenbeschauer wandte sich wieder Hester zu. »Miss Latterly?«

»Ja?«

»Würden Sie bitte die Frage beantworten.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Was war es noch gleich?«

Sehr bedächtig wiederholte der Leichenbeschauer, was er zuvor gesagt hatte.

»Ja, Sir«, antwortete sie. »Ich habe der Verhandlung zusammen mit Lady Ravensbrook beigewohnt.« Daraufhin wiederholte sie die gesamte Geschichte ihres Aufbruchs, kam auf Baileys Erscheinen zu sprechen, auf Enids Reaktion, sprach von ihrer eigenen Reaktion und den Anweisungen, die sie dem Kutscher gegeben hatte, und den Gründen, die sie dazu bewegen haben. Sie erwähnte auch sämtliche Alternativen und erklärte, warum diese indiskutabel waren; Enids Beteuerungen, daß sie durchaus in der Lage wäre, allein zurechtzukommen, und daß sie tatsächlich nach Hause fahren wolle, und dann ihre Rückkehr mit Bailey in das Gerichtsgebäude und ihr Eintreffen in der Zelle. Nichts konnte ihren Redefluß bremsen, obwohl der Leichenbeschauer es mehrfach versuchte. Sie schien ihn überhaupt nicht zu hören.

Rathbone sah aus den Augenwinkeln zu Goode hinüber und bemerkte, wie erstaunt er war, daß sich so etwas wie düstere Belustigung auf seinem Gesicht ausbreitete.

»Ja«, sagte der Leichenbeschauer grimmig. »Vielen Dank. Was haben Sie vorgefunden, als Sie in der Zelle eintrafen, Miss Latterly? Bitte, beschränken Sie sich auf die relevanten Fakten.«

»Wie bitte?«

»Bitte, beschränken Sie sich auf die relevanten Fakten, Miss Latterly!«

»Auf was, Sir?«

»Auf die relevanten Fakten, Miss Latterly!« wiederholte der Leichenbeschauer übertrieben laut.

»Sachdienlich wofür, Sir?«

Der Leichenbeschauer konnte sich nur mit Mühe beherrschen.

»Für die Frage von Caleb Stones Tod, Madame.«

»Ich fürchte, ich weiß nicht, was sachdienlich ist und was nicht«, erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Nach allem, was ich beobachtet habe, sah es so aus, als sei er von einem blinden Haß auf seinen einstmaligen Vormund, Lord Ravensbrook, erfüllt, so sehr, daß er bereit war, um welchen Preis auch immer, selbst wenn das bedeutete, daß er sein eigenes Leben opferte, indem er die Todesstrafe riskierte… sicher eine überaus abscheuliche Art zu sterben… um seinem Vormund irgendeine Verletzung zuzufügen, ja sogar seinen Tod zu wünschen. Es tut mir leid. Das war ein sehr komplizierter Satz. Vielleicht sollte ich die Sache lieber anders ausdrücken…«

»Nein!« schrie der Leichenbeschauer. Dann holte er tief Luft.

»Das ist nicht nötig, Miss Latterly. Ihre Ansicht ist völlig klar, wenn auch nicht die Gründe, warum sie zu dieser Auffassung gelangt sind.«

Woraufhin sie sich lang und breit über die Gründe für ihre Auffassung ausließ, ohne seinen versuchsweisen Unterbrechungen auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Sie schien schwerhörig zu sein, fast bis an die Grenze zur Taubheit. Sie beschrieb in allen Einzelheiten, welchen Eindruck Lord Ravensbrook auf sie gemacht hatte, listete jedes Symptom akribisch auf und stützte sich dabei auf ihre Erfahrung im Krimkrieg mit Soldaten, die unter Schock gestanden hatten, um zu unterstreichen, daß ihre Meinung auf Sachkenntnis beruhte. Dann beschrieb sie seine Verletzungen, ihr Aussehen und die Behandlung, die sie, Hester, Seiner Lordschaft hatte angedeihen lassen. Dann erzählte sie davon, wie sie Rathbones Hemd als Verbandsmaterial benutzt habe und warum die Hemden der Wärter dafür nicht in Frage kamen, erwähnte ihre Entschuldigungen Rathbone gegenüber für die Unannehmlichkeiten, die sie ihm bereiten mußte, und ihre Ansicht, daß Ravensbrook ihn für seinen Verlust entschädigen werde. Als sie all das, ohne zwischendurch Luft zu holen, erklärt hatte, machte sie sich daran zu beschreiben, wie Ravensbrook auf die Behandlung reagiert hatte. Gegen halb eins hatte sie immer noch nicht den Zeitpunkt erreicht, an dem sie durch die Zellentür getreten war und die Leiche von Caleb Stone gesehen hatte.

Der Leichenbeschauer vertagte die Sitzung auf den Nachmittag und zog sich erschöpft zurück.

»Brillant, wenn auch ein wenig absurd«, sagte Goode mürrisch in derselben Gaststube wie am Vortag. »Aber wenn Monk heute nachmittag nicht mit irgendwelchen Fakten auftaucht, nützt uns das alles nichts. Ich meine, einer von uns sollte nach Chilverley fahren und ihn holen!«

»Er wird kommen, wenn er irgend etwas in der Hand hat!« sagte Rathbone.

Als das Gericht wieder zusammentrat, war der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt. Niemand konnte erklären, warum das so war. Vielleicht lag es daran, daß die Angelegenheit nicht ganz so verlaufen war, wie man es erwartet hatte, vielleicht stand die Hoffnung auf Enthüllungen dahinter, möglicherweise war es auch Hesters Vorstellung zu verdanken und dem Sinn für das Lächerliche. Mit einemmal war die ganze Sache interessant geworden.

Der Leichenbeschauer hatte gut gespeist. Er war in einer besseren Kampflaune als zuvor und begegnete Hester bei der Wiederaufnahme ihrer Aussage mit einem strengen Blick und einer Stimme, die sich sowohl bereit als auch fähig zeigte, sie niederzubrüllen.

»Würden Sie mir bitte sagen, ob Caleb Stone bereits tot war, als Sie in die Zelle traten, Miss Latterly. ›ja‹ oder ›nein‹ wird genügen.«

»Ja«, sagte sie mit einem überaus liebenswürdigen Lächeln.

»Er war tot?«

»Ja.«

»Wieso wissen Sie das?«

Mit einer gewissen Ausführlichkeit erzählte sie es ihm und erläuterte alle Methoden, anhand derer man erkennen kann, daß ein Mensch tot war.

»Ich bin Arzt und Jurist, Ma'am!« brüllte er über ihr. »Ich bin mir des Unterschieds zwischen Leben und Tod zur Gänze bewußt.«

»Wie bitte?« fragte sie freundlich. Er wiederholte, was er gesagt hatte.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, es tut mir leid, Ihnen berichtet zu haben, was Sie bereits wissen, Sir. Natürlich nahm ich an, daß Sie Jurist sind, ich war mir aber nicht darüber im klaren, daß Sie auch Arzt sind. Wenn ich Sie beleidigt haben sollte, tut mir das sehr leid.«

»Nicht im geringsten«, sagte er herablassend. »Vielen Dank. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie.« Er sah Rathbone und Goode bedeutungsvoll an. »Ihre Aussage war überaus vollständig«, fügte er hinzu.

Nichtsdestotrotz erhob Goode sich von seinem Platz und bat sie, die Dinge zu klären, die mißverständlich sein könnten. Er war fast am Ende mit seinem Latein, als ein älterer Mann in kirchlicher Gewandung sich mit einiger Mühe durch den Raum bewegte und Rathbone einen Brief überreichte.

Rathbone riß ihn auf, las ihn und stieß einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus.

Goode drehte sich zu ihm um und sah in seinen Augen, daß die Rettung gekommen war. Er erlaubte Hester, sich zu guter Letzt doch noch dem Ende zu nähern, und mit einem Seufzer der Dankbarkeit seitens des Leichenbeschauers wurde sie aus dem Zeugenstand entlassen, was einen Teil der Zuschauer, die weder Caleb noch Angus gekannt hatten, zutiefst enttäuschte.

Der Arzt, der die Leiche untersucht hatte, wurde aufgerufen. Der Leichenbeschauer brauchte weniger als eine Viertelstunde, um dessen Aussage aufzunehmen und ihn wieder zu entlassen. Weder Goode noch Rathbone fiel irgend etwas ein, was sie ihn noch hätten fragen können. Er hatte gesagt, die Todesursache sei eine tiefe Stichwunde, die von einem Taschenmesser stammte, gewesen, die die Halsschlagader durchtrennt habe, worauf der Verblichene verblutet sei. Diese Tatsache stand durchaus im Einklang mit dem Umstand, daß er die Waffe in einer Hand gehalten hatte und sie sich bei einem Sturz oder während des Handgemenges selbst in die Kehle gestoßen habe. Es gab nichts hinzuzufügen.

Rathbone erhob sich. Wo um alles in der Welt blieb Monk? Wenn er nicht in den nächsten paar Minuten erschien, würden sie durch einen Verfahrensfehler die Sache verspielen. Er konnte sie nicht länger hinauszögern. Die Geduld des Leichenbeschauers war schon auf eine harte Probe gestellt worden.

»Bei allem Respekt, Sir, dies alles ist ja durchaus sachdienlich und zutreffend, aber es gibt uns keinen Aufschluß darüber, ob sein Tod ein Unfall war oder nicht.«

»Da wir keine Beweise für einen Selbstmord haben, Mr. Rathbone«, sagte der Leichenbeschauer geduldig, »werden wir wohl davon ausgehen müssen, daß er Lord Ravensbrook in einem Anfall derselben Eifersucht und desselben Hasses angegriffen hat, die er anscheinend auch für seinen Bruder empfand, nur daß seine Waffe sich in diesem Fall gegen ihn selbst richtete und er zum Opfer wurde.«

Rathbone holte tief Luft und warf seinen guten Ruf in die Waagschale. »Oder es gäbe noch eine dritte Möglichkeit, Sir - daß es nicht Caleb war, der Lord Ravensbrook angegriffen hat, sondern daß der Ausgang des Kampfes genauso ausfiel, wie er von Anfang an geplant war.«

Absolute Stille trat ein. Es war so, als hätte alles Leben im Saal für einen Augenblick den Atem angehalten. Enid war aschfahl, Genevieve wie gelähmt.

Nach einer Weile ergriff der Leichenbeschauer wieder das Wort.

»Mr. Rathbone, wollen Sie damit andeuten, daß Lord Ravensbrook Caleb Stone mit voller Absicht getötet hat?«

»Ich möchte damit andeuten, daß das eine Möglichkeit ist, Sir.«

Goode schloß die Augen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück; die Qual, die er litt, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Zwei rote Flecken tauchten auf Milo Ravensbrooks Wangen auf, aber er bewegte sich nicht und sagte auch nichts.

Selina Herries biß sich in die Fingerknöchel und starrte Rathbone an.

»In Gottes Namen, Mann, aus welchem vernünftigen Grund sollte er das getan haben?« fragte der Leichenbeschauer.

Im hinteren Teil des Gerichtssaals öffnete sich eine Tür, und Monk trat ein, durchnäßt von Regen, mit zerzaustem Haar und erschöpft von einer schlaflosen Nacht, aber in Begleitung eines älteren Herrn und einer stämmigen, schwarzgekleideten Frau.

Rathbone fühlte sich ganz schwach vor Erleichterung. Als er dem Leichenbeschauer antwortete, zitterte seine Stimme.

»Ich werde einige Zeugen aufrufen, um Aufschluß über diese Frage zu geben, Sir. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich mit Reverend Horatio Nicolson aus Chilverley beginnen.«

Der Leichenbeschauer zögerte. Er sah sich in dem Raum um, sah die Gesichter mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen, die erwartungsvolle Neugier, den einzigen Journalisten, der mit einem Bleistift in der Hand und eifriger Miene den Fall nach wie vor verfolgte. Er konnte das Gesuch nicht ablehnen.

»Ich werde Sie sofort unterbrechen, wenn Sie auch nur einen Augenblick lang vom Thema abschweifen oder irgend jemand zu einer unbegründeten Anschuldigung ausholt«, warnte er ihn.

»Seien Sie vorsichtig, Mr. Rathbone, wirklich sehr vorsichtig! Ich werde nicht zulassen, daß der gute Name eines Mannes grundlos in den Schmutz gezogen wird.«

Rathbone verneigte sich, um sein Einverständnis zu bekunden, und rief Horatio Nicolson in den Zeugenstand.

Langsam und mit tiefem Bedauern und offensichtlicher Verlegenheit betrat Reverend Nicolson den Zeugenstand und legte den Eid ab.

Rathbone begann seine Befragung, indem er zweifelsfrei feststellte, wer der Mann war, so daß das Gericht dessen Bedeutung verstehen konnte.

»Also, Sie kannten Lord Ravensbrook und seine Familie zu der Zeit, als Angus Stonefield nach Chilverley kam, ziemlich gut?« fragte er.

»Ja Sir«, antwortete Nicolson mit ernster Miene.

»Haben Sie Angus kennengelernt?«

»Ja. Ich habe ihn in Latein unterwiesen; ich glaube, als wir anfingen, war er etwa acht Jahre alt. Er war ein hervorragender Schüler, intelligent, willig und mit einer raschen Auffassungsgabe gesegnet. Ein sehr angenehmer Junge, so rücksichtsvoll und wohlerzogen.« Bei der Erinnerung mußte er unwillkürlich lächeln. »Meine Frau mochte ihn besonders gern. Sie hat sich immer große Sorgen um ihn gemacht. Er war ziemlich oft krank, wissen Sie, und manchmal sehr in sich gekehrt.« Seine Stimme wurde ein wenig leiser. »Er war immer von einer gewissen Traurigkeit erfüllt, vor allem, als er noch sehr jung war. Was kein Wunder ist, nehme ich an, nachdem er in so zartem Alter beide Eltern verloren hatte.«

»War er auch später ein so hervorragender Schüler, Mr. Nicolson?« fragte Rathbone.

Nicolsons Gesicht verriet ehrlichen Kummer.

»Nein. Ich fürchte, er wurde später sehr unstet. Manchmal war er hervorragend, ganz der alte. Und dann gab es Zeiten, da habe ich ihn wochenlang kaum zu Gesicht bekommen.«

»Wissen Sie, welchen Grund das hatte?«

Nicolson holte tief Luft und stieß einen stummen Seufzer aus.

»Ich habe natürlich danach gefragt. Lord Ravensbrook hat mir anvertraut, daß der Junge bisweilen äußerst aufsässig war, man konnte ihn dann kaum bändigen, und sein Verhalten grenzte an offene Rebellion.«

Man hörte ein leises Rascheln im Raum. Bisher interessierte sich niemand besonders für die Sache. Nicolson hob den Kopf.

»Obwohl ich zu seiner Verteidigung sagen muß, daß es sehr schwer war, Lord Ravensbrook zu gefallen.« Er sprach, als hätte er Ravensbrooks Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt, und sein Blick wanderte auch nicht ein einziges Mal zu dem Platz hinüber, wo dieser steif und mit bleichem Gesicht saß. »Er war selbst von angenehmem Äußeren, charmant und begabt«, fuhr Nicolson fort. »Und er erwartete von allen Familienmitgliedern, daß sie den gleichen hohen Anforderungen genügten. Wenn sie es nicht taten, war er sehr hart in seiner Kritik.«

»Aber Angus gehörte genaugenommen nicht zu seiner eigenen Familie«, stellte Rathbone fest. »Sie waren nur ganz entfernt verwandt. War er nicht das Kind eines Vetters?«

Nicolsons Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an, in den sich tiefes Mitleid mischte. »Nein, Sir, er war der uneheliche Sohn seines Bruders Phineas Ravensbrook. Stonefield war der Name der jungen Frau, und auf keinen anderen Namen hatte er vor dem Gesetz Anspruch. Aber in seinen Adern floß das Blut der Ravensbrooks.«

Rathbone hörte das erstaunte Murmeln im Saal.

Der Leichenbeschauer beugte sich vor, als wolle er unterbrechen, änderte dann aber seine Meinung.

»Warum hat Lord Ravensbrook ihn nicht adoptiert?« fragte Rathbone. »Vor allem, da seine Frau gestorben war und er selbst keine Kinder hatte.«

»Lord Ravensbrook und sein Bruder haben sich nicht besonders nahegestanden, Sir.« Nicolson schüttelte den Kopf, und in seiner Stimme und den sanften Linien seines Gesichts machte sich große Traurigkeit breit. »Das Verhältnis der beiden war sehr gespannt, eine tiefsitzende Rivalität, die am Glück oder am Erfolg des anderen keine Freude finden konnte. Milo, der gegenwärtige Lord Ravensbrook, war der ältere. Er war klug, charmant und begabt, aber ich glaube, sein Ehrgeiz überstieg dennoch seine Fähigkeiten, so beträchtlich diese auch waren.«

Die Erinnerung ließ sein Gesicht aufleuchten. »Phineas war ganz anders. Er besaß eine solche Vitalität, war so voller Leben und Phantasie. Jeder liebte ihn. Und er schien überhaupt keinen Ehrgeiz zu haben, außer das Leben zu genießen…«

Der Leichenbeschauer beugte sich über den Tisch.

»Mr. Rathbone! Hat das irgend etwas mit Caleb Stonefields Tod zu tun? Das scheinen doch sehr alte Geschichten zu sein, und noch dazu von überaus persönlicher Natur. Können Sie das dem Gericht gegenüber bestätigen?«

»Ja, Sir, wir kommen jetzt zum eigentlichen Kern dieses Falls«, pflichtete Rathbone mit einem eifrigen Nicken bei. Etwas von dem Zorn und der Entschlossenheit, die er verspürte, mußte sich in seiner Stimme und in seiner Körperhaltung ausgedrückt haben. Alle Blicke ruhten auf ihm, und der Leichenbeschauer zögerte nur eine Sekunde, bevor er ihm gestattete fortzufahren.

Rathbone nickte Nicolson zu.

»Ich fürchte, Phineas ist mit vielen Dingen durchgekommen, die man ihm vielleicht besser nicht hätte durchgehen lassen sollen«, sagte Nicolson ruhig, aber seine Stimme drang bis in den letzten Winkel des totenstillen Saals. »Er konnte die Menschen anlächeln, und sie vergaßen ihren Zorn. Sie verziehen ihm viel mehr, als gut für ihn war oder für Milo. Das Gefühl der Ungerechtigkeit, verstehen Sie? Als könne man alle Freuden und alle Schmerzen des Lebens gegeneinander abwägen - das kann nur Gott tun… am Ende, wenn alles bekannt ist.«

Er seufzte. »Vielleicht ist das der Grund, warum er so hart mit dem armen Angus war, um zu verhindern, daß dieser in die Fußstapfen seines Vaters trat. Charme kann ein furchtbarer Fluch sein und alles ruinieren, was in einem Menschen an Gutem angelegt ist. Es geht nicht an, daß wir uns mit einem Lachen jeglicher Gerechtigkeit entziehen können. So werden wir nur leichtsinnig.«

»War Lord Ravensbrook wirklich so streng, Mr. Nicolson?«

»Meiner Meinung nach ja, Sir.«

»In welcher Hinsicht?«

Das Gesicht des Leichenbeschauers zuckte, aber er verzichtete darauf, die Befragung zu unterbrechen.

Man hörte ein Reiben von Stoff auf Stoff und dann das Quietschen eines Stiefels. Lord Ravensbrook machte Anstalten, etwas zu sagen, tat es aber nicht.

Nicolson sah höchst unglücklich aus, zögerte aber nicht, mit einer leisen, ruhigen Stimme zu antworten.

»Es schien manchmal unmöglich zu sein, ihm zu gefallen. Er demütigte den Jungen für Fehler, für Torheiten, die lediglich der Unwissenheit entsprangen oder vielleicht einer gewissen Unsicherheit, einem Mangel an Selbstvertrauen. Und je verlegener ein Kind ist, um so mehr Fehler macht es natürlich. Es ist furchtbar, sich so wertlos zu fühlen, Sir, das Gefühl zu haben, einem anderen Dank zu schulden, und statt seine Schuld abzutragen zu glauben, man hätte denjenigen, der einem am wichtigsten von allen Menschen ist, enttäuscht.« Er kämpfte mit seinen Gefühlen. »Ich habe oft gesehen, wie Angus als kleiner Junge mit den Tränen kämpfte, und dann die Scham, die er empfand, wenn er sie nicht länger zurückhalten konnte und dann auch noch dafür bestraft wurde. Und er schämte sich so furchtbar, wenn er geschlagen wurde, was sehr häufig vorkam. Er hatte Angst davor, und andererseits fühlte er sich deswegen auch wie ein Feigling.«

In der Menge unterdrückte eine Frau ein Schluchzen.

Selina Herries hatte nicht um Caleb geweint. Sein Tod war noch zu frisch, ihre Gefühle für den Mann hin und hergerissen zwischen Stolz, Verachtung und Angst. Jetzt waren ihre Gefühle für das Kind, das er gewesen sein mußte, sehr klar. Sie ließ die Tränen ohne Scham ihre Wangen hinunterrollen und versuchte auch nicht, sie wegzuwischen.

Enid Ravensbrooks Gesicht war aschfahl und spiegelte unerträglichen Schmerz wider, als wäre eine lange befürchtete Tragödie nun tatsächlich über sie hereingebrochen. Sie sah ihren Mann von der Seite an, aber sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. Er drehte sich nicht ein einziges Mal zu ihr um. Vielleicht wagte er es nicht, sich dem zu stellen, was er in ihren Augen lesen würde.

Genevieve Stonefield war jenseits von Tränen, aber sie umklammerte Titus Nivens Hand, als würde sie sie vielleicht nie wieder loslassen wollen.

»Mr. Nicolson…«, drängte Rathbone den Pfarrer zum Weitersprechen.

Nicolson blinzelte. »Das Herz hat mir weh getan für ihn, und ich habe mich sogar dazu hinreißen lassen, Lord Ravensbrook darauf anzusprechen, aber ich fürchte, ich habe nichts Gutes damit bewirkt. Meine Einmischung hat ihn nur dazu bewogen, in Zukunft noch strenger mit ihm zu verfahren. Er glaubte, Angus habe sich bei mir beklagt, und betrachtete das als einen Akt der Feigheit wie auch des persönlichen Verrats.«

»Ich verstehe.« Der Mann zeichnete ein Bild von solcher Eindringlichkeit, daß Rathbone keine stärkeren oder passenderen Worte fand. Was mußte sich unter der Oberfläche von Angus' ehrenwertem und aufrechtem Charakter verborgen haben? Hatte er Ravensbrook für jene Jahre des Schmerzes und der Demütigung jemals verziehen?

Der Leichenbeschauer hatte Nicolson nicht unterbrochen und seinen Blick kein einziges Mal auf die Uhr gerichtet, aber jetzt mußte er, auch wenn es ihm widerstrebte, einschreiten.

»Mr. Rathbone, diese vergangenen Kümmernisse sind überaus peinigend, aber bisher steht das alles dennoch in keinem Zusammenhang mit dem Tod Caleb Stonefields. Ich bin sicher, Sie sind sich dessen ebenfalls bewußt. Mr. Nicolsons Aussage hat sich lediglich auf Angus bezogen.«

»Das liegt daran, daß er Caleb niemals mit eigenen Augen gesehen hat«, entgegnete Rathbone. »Wenn ich jetzt bitte meine letzte Zeugin aufrufen dürfte, Sir, wird sie diesen Sachverhalt erklären.«

»Ich hoffe, das kann sie wirklich, Mr. Rathbone, denn ansonsten muß ich den Eindruck gewinnen, daß Sie nur unsere Gefühle strapaziert und sinnlos unsere Zeit verschwendet haben.«

»Ich versichere Ihnen, es hat einen Sinn. Ich rufe Miss Abigail Ratchett in den Zeugenstand.«

Abigail Ratchett war eine sehr stämmige Frau mit unnatürlich schwarzem Haar, wenn man bedachte, daß sie mindestens fünfundsiebzig Jahre alt war. Aber abgesehen von einer gewissen Schwerhörigkeit, trat sie sehr selbstsicher auf und schien durchaus im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu sein. Alle Blicke ruhten auf ihr.

»Sie sind Krankenschwester, Miss Ratchett?« begann Rathbone, der sehr deutlich und bei weitem lauter sprach, als er das sonst tat.

»Ja, Sir, und Hebamme. Zumindest war ich das früher.« Das Gesicht des Leichenbeschauers wirkte verschlossen. Goode stöhnte.

Rathbone ignorierte beide.

»Sind Sie Ihrer Tätigkeit nachgegangen, als Miss Alice Stonefield im Oktober 1829 von ihren beiden Söhnen entbunden wurde, deren Vater ein gewisser Phineas Ravensbrook war?«

Rathbone blickte zu Ravensbrook hinüber, der jetzt bleich war wie ein Totenschädel.

»Ich habe meinen Dienst versehen, ja, Sir«, erwiderte Miss Ratchett. »Aber es war nur eine ganz normale Geburt wie jede andere, keine Zwillinge, Sir, nur das eine Kind. Ein Junge… prächtiger kleiner Kerl. Gesundes Kind. Hat ihn Angus genannt, die Mutter.«

Man hätte im Saal eine Stecknadel fallen hören können.

»Was?« fragte Rathbone.

Der Leichenbeschauer beugte sich vor und sah sie streng an.

»Madame, sind Sie sich dessen bewußt, was Sie da sagen? Es gibt Leute hier in diesem Gerichtssaal, die sowohl Angus als auch Caleb kannten!«

»Es gab nur einen Säugling, Sir«, wiederholte Miss Ratchett.

»Ich war dabei. Miss Alice hatte ein Kind. Ich war die ganze Zeit über bei ihr, während sie ihn gestillt hat. Habe ihn gekannt, bis seine arme Mutter starb. Im Jahr drauf ist dann auch Phineas Ravensbrook gestorben, irgendwo im Ausland. Und danach hat dann sein Onkel ihn zu sich genommen, den armen kleinen Kerl. War erst fünf Jahre alt und hat furchtbar gelitten. Der Vater hatte keine Zeit für ihn gehabt, nie. Hat ihn auch nie anerkannt, nein, und hat seine Mutter auch nicht geliebt.« Ihr Gesicht ließ keinen Zweifel an ihren Gefühlen für Phineas Ravensbrook aufkommen.

»Was Sie da sagen, ergibt keinen Sinn, Madame!« rief der Leichenbeschauer verzweifelt. »Wenn es nur ein Kind gab, woher kam dann Caleb? Wer war er? Und wer hat Angus getötet?«

»Darüber weiß ich nichts«, sagte Miss Ratchett gelassen. »Ich weiß nur, daß es bloß ein Kind gegeben hat. Und ich weiß, daß Kinder eine ungeheure Phantasie haben! Ich habe mich mal um ein kleines Mädchen gekümmert, das angeblich eine Freundin hatte, reinste Phantasie, und wenn sie irgendwas angestellt hatte, sagte sie, es wäre Mary gewesen, nicht sie. Sie war lieb, Mary war böse.«

»Völlig normal, daß ein Kind zu so einer Entschuldigung greift«, sagte der Leichenbeschauer. »Ich habe selbst Kinder, Madame. Ich habe viele solcher Geschichten zu hören bekommen.«

Reverend Nicolson erhob sich.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir.« Er sprach den Leichenbeschauer mit großem Respekt an, ließ sich aber nicht abweisen. »Ist es nicht möglich, daß der Junge in seinem Unglück, getrieben von dem Gefühl der Zurückweisung, der Verpflichtung und Einsamkeit, ein zweites Selbst schuf, dem er die Verantwortung für sein Versagen zuschieben konnte, ein zweites Selbst, das außerdem frei war, seinen Onkel so zu hassen, wie er es gern getan hätte, wie er es in seinem Herzen auch wirklich tat?«

Seine Stimme übertönte den wachsenden Lärm im Gerichtssaal, das Stöhnen und die Laute des Entsetzens, des Mitleids, des Zorns oder der Ungläubigkeit.

»Könnte es nicht als eine Flucht ins Reich der Phantasie begonnen haben - die Flucht eines unglücklichen verletzten und gedemütigten Kindes?« fragte er. »Und sich dann in echten Wahnsinn verwandelt haben, indem er zu zwei ganz verschiedenen Menschen wurde - zu einem, der alles tat, um zu gefallen, und die entsprechenden Belobigungen erntete, und zu einem anderen, der frei war, ohne Vorbehalte all den Zorn und Haß für seine Zurückweisung auszuleben, weil er der Sohn eines Vaters war, der ihn nicht anerkennen wollte, und einen Onkel hatte, für den er niemals gut genug war, ein Spiegelbild des Bruders, den er beneidete und an dem er sich nicht mehr rächen konnte, außer an dessen Kind?«

Der Leichenbeschauer schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Ruhe!« befahl er.

»Das ist ein monströses Bild, das Sie da zeichnen, Sir. Möge Gott es Ihnen vergeben. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Familie Ravensbrook das nicht kann.« Er sah Milo Ravensbrook an, der wie erstarrt dasaß; sein Gesicht war - von den scharlachroten Flecken auf seinen Wangen abgesehen - schneeweiß.

Aber Enid Ravensbrooks Gesichtsausdruck, der Zorn und das Mitleid darin, war es, der den Leichenbeschauer zurückschrecken ließ und Rathbone klarmachte, daß Nicolson nicht so weit von der Wahrheit entfernt war.

»Absoluter Wahnsinn!« stieß Ravensbrook zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Um Gottes willen! Jeder hier weiß, daß es zwei Brüder gab! Diese Frau ist entweder abgrundtief schlecht, oder sie hat den Verstand verloren. Der Alkohol hat ihr Gedächtnis getrübt.« Er fuhr herum.

»Genevieve! Du hast sowohl Angus als auch Caleb gesehen!« Er schrie jetzt. »Sag ihnen, daß das absurd ist!«

»Ich habe sie gesehen«, sagte Genevieve langsam. »Aber niemals zusammen. Ich habe die beiden nie gleichzeitig gesehen. Aber… es kann nicht sein! Sie waren so völlig verschieden. Nein.« Sie sah Abigail Ratchett an. »Nein, Sie müssen sich irren. Es ist mehr als einundvierzig Jahr her. Ihr Gedächtnis spielt Ihnen einen Streich. Wie viele Kinder haben Sie auf die Welt geholt? Hunderte?«

»Es war ein Kind!« sagte Abigail Ratchett scharf. »Ich bin nicht betrunken, und ich bin nicht wahnsinnig, egal, was irgend jemand behauptet.«

Genevieve wandte sich an Monk, und in ihrer Miene spiegelte sich Verzweiflung wider. Sie mußte die Stimme erheben, um sich Gehör zu verschaffen. »Sie sagten, jemand habe sie am Tag, an dem Angus starb, zusammen gesehen! Finden Sie diesen Mann, und bringen Sie ihn her. Das wird Aufklärung bringen!«

Der Leichenbeschauer griff abermals zu seinem Hammer, verlangte Ruhe und wandte sich dann wieder an Monk. »Nun?« fragte er heftig. »Haben Sie einen solchen Zeugen gefunden? Wenn ja, was soll dann all dieser Unfug! Ich habe den Eindruck, daß Sie absolut verantwortungslos handeln, Sir!«

»Ich bin dorthin zurückgekehrt«, erwiderte Monk, und seine Stimme war leise und scharf. »Ich habe den Zeugen gefunden und ihn dazu gebracht, sich genau dort hinzustellen, wo er Angus und Caleb gesehen hatte. Ich selbst habe mich dort hingestellt, wo sich seiner Aussage nach die beiden befanden.

Plötzlich war atemlose Stille in den Saal eingekehrt.

»Ich stand vor einem Spiegel, Sir«, sagte Monk mit einem strahlenden Lächeln. »Ich habe mit meinem eigenen Spiegelbild gekämpft, und der Mann, der mich dabei beobachtete, sah sich zum zweitenmal einem Trugbild gegenüber.«

»Das beweist überhaupt nichts!« sagte Ravensbrook mit belegter Stimme. »Sie haben gesagt, Caleb habe zugegeben, Angus ermordet zu haben. Wie kann ein Mann sich selbst ermorden?«

»Er sagte, er habe Angus zerstört«, korrigierte Monk ihn.

»Und daß ich niemals eine Leiche finden würde. Das war der Witz, das war der Grund, warum er lachte. Caleb wußte von Angus und verachtete ihn. Ich glaube, Angus wußte nichts von Caleb. Er konnte ein solches Wissen nicht ertragen. Für ihn war Caleb ein völlig anderer Mensch, eine düstere Erscheinung jenseits seiner Existenz, vor der er sich von ganzem Herzen fürchtete.«

»Unsinn!« entgegnete Ravensbrook mit erhobener Stimme.

»Das ist eine wilde und absolut lächerliche Behauptung, die Sie niemals beweisen können. Caleb war wahnsinnig, das steht fest, und er ermordete seinen Bruder. Als er dann begriff, daß man ihn verurteilen und hängen würde, hat er in einer letzten besessenen Aufwallung von Haß auch mich angegriffen, weil ich, Gott vergebe mir, Angus immer mehr liebte als ihn. Wenn ich mich einer Sünde schuldig gemacht habe, dann ist es die und nur die!«

Die Leute im Saal bewegten sich unruhig auf ihren Plätzen.

»Es gibt einen Beweis.« Monk hob die Stimme und sah den Leichenbeschauer unverwandt an. »Die Leiche Caleb Stones befindet sich im Leichenschauhaus.« Er drehte sich mit einer heftigen Bewegung zu Selina herum. »Madame, kennen Sie Calebs Körper gut genug, um ihn von Angus' unterscheiden zu können?«

»Ja, natürlich tue ich das«, sagte sie, ohne zu erröten.

Er sah Genevieve an. »Und Sie, Mrs. Stonefield, könnten Sie den Körper Ihres Mannes von dem Calebs unterscheiden?«

»Ja.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

»Dann lassen Sie uns dieser Farce ein Ende machen«, sagte der Leichenbeschauer entschlossen. »Wir werden diese beiden Damen ins Leichenschauhaus bringen.« Daraufhin erhob er sich mit starrer Miene und unbewegtem Blick. Er schenkte dem Aufruhr im Saal nicht die geringste Beachtung.

Der Aufseher des Leichenschauhauses zog das Laken zurück und enthüllte den nackten Körper bis zu den Lenden. Der Raum war kalt und roch nach Tod. Das Kerzenlicht schimmerte gelb und tauchte die Ecken in Schatten.

Selina Herries stützte sich auf Hesters Arm; ihr Gesicht war ruhig, beinahe schön, und alle Forschheit und aller Zorn schienen daraus verschwunden zu sein. Sie sah in das Gesicht mit der glatten Stirn, dem fein geschnittenen Mund, den geschlossenen Augen und blickte dann hinunter auf die breite Brust, die vernarbt und von marmornem Weiß war. Das Muster der alten Verletzungen war unverkennbar.

»Das ist Caleb«, sagte sie leise. Sie berührte ganz sanft mit den Fingern seine kalte Wange, als könnte er sie spüren. »Gott schenke ihm Ruhe und Frieden«, flüsterte sie.

Der Leichenbeschauer nickte, und Hester ging mit ihr hinaus. Einige Augenblicke später kehrte sie mit Genevieve zurück. Wieder zog der Aufseher das Laken zurück. Auch Genevieve sah unverwandt in das ruhige Gesicht mit den geschlossenen Augen und auf den weißen Oberkörper mit seinen Narben.

Schließlich füllten ihre Augen sich mit Tränen, die ungehemmt über ihre Wangen strömten; das Mitleid, das in ihr aufwallte, durchdrang sie mit einem Schmerz, wie sie ihn niemals würde vergessen können.

»Ja«, flüsterte sie so leise, daß man es an keinem anderen Ort als diesem Raum des Todes hätte hören können. »Ja, das ist Angus. Ich kenne diese Narben, wie ich meine eigene Hand kenne. Die meisten von ihnen habe ich selbst verbunden. Ich bete, daß Gott seine Seele wieder gesund macht und ihm endlich Frieden schenkt.« Sie drehte sich um, und Hester hielt sie in ihren Armen, während sie um all den vergangenen Schmerz weinte, den sie nicht lindern konnte, das Kind, das sie nicht erreichen konnte.

»Ich werde eine Mordanklage gegen Ravensbrook anstrengen«, sagte Rathbone leidenschaftlich.

»Sie werden es ihm nie nachweisen können«, entgegnete Monk.

»Das spielt keine Rolle!« Rathbone biß die Zähne zusammen, und sein ganzer Körper versteifte sich. »Die Anklage wird ihn ruinieren. Das reicht.«

Monk beugte sich vor und ergriff die Hand des Toten. Es war eine schöne, perfekt manikürte Hand, und er wußte jetzt auch, warum Caleb immer Handschuhe getragen hatte - um Angus' Hände zu schützen. Vielleicht konnte niemand sonst in dem Raum so aufrichtig und mit so tief empfundenem Mitleid nachfühlen wie er, was es für einen Menschen bedeutete, gespalten zu sein, auf ewig in der Furcht vor einer dunklen Seite in ihm, die er nicht kannte, leben zu müssen.

»Ruhe in Frieden«, sagte er. »Die Schulden, die du nicht mehr bezahlen konntest, werden wir für dich begleichen.«