5

In Bloomsbury, wohin sie ihr Weg am nächsten Morgen führte, war es sehr ruhig und kalt, aber während sie weiter nach Osten fuhren und dem Fluß immer näher kamen, gerieten sie in dichten Nebel. Er drang tief in ihre Kehlen und hinterließ zusammen mit dem Qualm aus Haus und Fabrikschloten einen widerlichen Geschmack auf der Zunge. Schließlich konnte die Droschke kurz vor der Isle of Dogs nur noch im Schrittempo vorankommen. Sie hielt in der Three Colt Street an, Monk entlohnte den Kutscher und streckte die Hand aus, um Drusilla herauszuhelfen. Wie sie es versprochen hatte, trug sie ein Kleid ihres Hausmädchens: einen dunklen Rock mit einer hellen, unauffälligen Bluse unter einem Jäckchen und einen Umhang, der sowohl braun als auch grau hätte sein können. In dem diffusen Licht des Nebels ließ sich das nicht feststellen. Sie hatte einen Schal über ihr honigfarbenes Haar gelegt und ihre Wangen sogar mit ein oder zwei Schmutzflecken versehen, aber nichts konnte ihre natürliche Schönheit verhüllen oder das Weiß ihrer Zähne, wenn sie lächelte.

Die Kutsche verschwand in der Düsternis des Nebels, und mit einem leichten Schaudern schob sie ihren Arm unter den seinen, bevor sie sich an ihre ermüdende Aufgabe machten. Zuerst hielt sie sich immer ein wenig zurück, wenn Monk mit Hausierern, fliegenden Händlern und Lumpensammlern sprach und nichts Brauchbares dabei herauskam. Es überraschte ihn nicht, daß diese Menschen ihr fremd und abschreckend erschienen. Ihr Akzent mußte für sie schwer verständlich sein, und ihre Gesichter unter der dicken Schmutzschicht drückten Wachsamkeit aus, eine Mischung aus Ärger und Angst.

Nach ungefähr hundert Metern gesellte sich eine Gruppe von Kindern mit mageren Gesichtern und großen Augen zu ihnen; einige von ihnen waren trotz der bitteren Kälte der nassen Pflastersteine barfuß. Sie waren neugierig und begierig auf jeden halben Penny, nach jedem Farthing, den sie vielleicht ergattern konnten. Schmutzige kleine Hände zerrten an Monks Ärmel und Drusillas Röcken, die weniger als halb so ausladend waren wie ihre gewohnten Krinolinen.

Allmählich kamen sie weiter nach Osten. In Ropemakers Field versuchte Monk bei mehreren Krämern sein Glück. Drusilla brachte sogar den Mut auf, selbst einige Vorschläge zu machen. Aber trotzdem hatten sie immer noch nichts Brauchbares in Erfahrung gebracht. Es gab durchaus Bemerkungen über Caleb Stone, von denen nur wenige schmeichelhaft waren und die meisten mit offensichtlicher Furcht ausgesprochen wurden.

In der Emmett Street war es genauso. Der Nebel vom Fluß war dort sogar noch dichter, hing wie ein schwerer Vorhang über der Landschaft und versperrte ihnen die Sicht. In den grauen, tristen Straßen mit ihren hohen, schmalen Mauern, die von Ruß und Feuchtigkeit fleckig waren, den Schornsteinen, aus denen dünne Rauchschwaden aufstiegen, gab es keine Farben, die der Nebel hätte auslöschen können. Überall türmte sich Unrat bis in die Gosse hinein, und der Geruch würgte sie in der Kehle. Der Nebel dämpfte alle Geräusche; selbst die Schritte anderer Passanten auf den nassen Steinen waren kaum zu hören. Ab und zu kam vom Fluß, der nur eine Straße weiter lag, das Tuten eines Nebelhorns.

Drusilla sah immer wieder zu Monk hinüber, Entsetzen und Ungläubigkeit in den Augen.

»Wollen Sie umkehren?« fragte er, denn er wußte, daß sie von Mitleid und Grauen erfüllt sein mußte. Wenn man bedachte, daß sie so etwas noch nie zuvor gesehen und auch nicht die leiseste Ahnung davon gehabt hatte, sprach es sehr für ihren Mut, daß sie überhaupt so weit mitgekommen war.

»Wir haben noch nichts herausgefunden«, sagte sie halsstarrig und biß die Zähne zusammen. »Vielen Dank, aber ich bleibe bei Ihnen.«

Er lächelte sie mit einer Wärme an, die er nicht vorzutäuschen brauchte. Er drückte ihren Arm ein wenig fester an sich, während sie nun an den West India Docks vorbei zur Isle of Dogs gingen.

Auf der Westferry Road sprach Monk eine Frau mit üppigem Busen und kurzen, sehr krummen Beinen an. Sie trug ein Bündel Lumpen und wollte gerade durch eine Tür treten, aus der ein Geruch nach verbranntem Fett auf die Straße drang.

»He! «rief Monk.

Die Frau blieb stehen und drehte sich um, zu müde, um neugierig zu sein. »Was gibt's?«

»Ich suche nach jemandem«, begann Monk, wie er es schon so viele Male zuvor getan hatte. »Es wär' mir durchaus was wert, ihn zu finden.«

»Ach ja?« Ein leichtes Zucken ging über das teilnahmslose Gesicht der Frau. »Wen suchen Sie denn, hm?«

Drusilla reichte ihr Enids Zeichnung von Angus. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete das Bild in dem fahlen Licht. Dann verzog sie ihr Gesicht und drückte Monk die Zeichnung wieder in die Hand; als sie zu sprechen begann, war ihre Stimme schroff und wütend.

»Wenn ihr Caleb Stone sucht, müßt ihr den ohne Hilfe finden! Stecken Sie sich Ihre Moneten an den Hut. Im Grab kann ich den Zaster nicht brauchen.«

»Das ist nicht Caleb Stone«, sagte Monk hastig.

»Doch ist er das!« Die Frau hielt ihm das Bild wieder hin.

»Denken Sie, ich bin blöd? Ich erkenne Caleb Stone, wenn ich ihn seh'!«

»Das ist nicht Caleb«, sagte Drusilla eindringlich und meldete sich damit zum erstenmal bei einer solchen Befragung zu Wort.

»Er ist mit ihm verwandt, deshalb die Ähnlichkeit. Aber sehen Sie doch einmal genauer hin.« Sie nahm Monk das Bild aus der Hand und reichte es der Frau. »Sehen Sie sich sein Gesicht noch einmal an. Seine Augen. Sieht er so aus wie die Art von Mann, die Caleb Stone ist?«

Die Frau krauste nachdenklich die Stirn. »Sieht für mich ganz nach Caleb Stone aus. Zurechtgemacht wie 'n feiner Pinkel, aber hat dieselben Augen und dieselbe Nase.«

»Aber es ist nicht derselbe Mann«, beharrte Drusilla. »Das ist sein Bruder.«

»Quatsch! Der hat keinen Bruder nich'!«

»O doch, das hat er.«

»Tja… «, meinte die Frau unschlüssig. »Vielleicht sieht er wirklich 'n bißchen anders aus, vor allem um den Mund rum, aber gesehen habe ich ihn jedenfalls nicht!«

»Er müßte gut gekleidet gewesen sein, und er hat bestimmt gepflegt gesprochen«, fügte Drusilla hinzu.

»Ich hab's Ihnen doch schon mal gesagt, ich hab' ihn nicht gesehen, und ich will ihn auch gar nicht sehen!« Sie machte Anstalten, Drusilla das Bild zurückzugeben.

Aber bevor diese es annehmen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und ein magerer Mann mit relativ dunklem, unrasiertem Gesicht streckte den Kopf heraus.

»Bist du endlich fertig mit Quatschen, du fette alte Kuh? Wo bleibt mein Essen? Ich schinde mich nicht ab, damit du auf der Straße rumstehst und mit irgend 'nem Blödmann quasselst und quasselst und quasselst! Beweg gefälligst deinen Hintern hier rein!«

»Halt die Klappe und guck dir lieber dieses Bild hier an, ja?« schrie die Frau zurück, und aus ihrer Stimme war nicht zu erkennen, daß sie es besonders übelgenommen hätte, daß der Mann so mit ihr sprach.

»Ist Ihnen die Sache noch immer 'n paar Moneten wert?« fragte sie Monk.

»Ja«, bestätigte dieser.

Der Mann kam widerstrebend aus dem Haus, und auf seinem Gesicht spiegelte sich deutlicher Argwohn wider. Er starrte Drusilla an, blickte mit schmalen Augen zu Monk hinüber und wandte sich dann endlich dem Bild zu.

»Ja«, sagte er schließlich. »Den hab' ich gesehen. Was wollen Sie von dem? Hat ein Pint unten im Artichoke getrunken und ist dann zum Fluß runter. Warum?«

»War es nicht Caleb Stone, den Sie da gesehen haben?« erkundigte Monk sich zweifelnd.

»Nein, es war nicht Caleb Stone, den ich da gesehen habe.« Der Mann äffte Monks Stimme gehässig nach. »Ich kenne den Unterschied zwischen Caleb Stone und so 'nem Wunderknaben mit feinen Manieren und Kleidern wie'n Fatzke.«

»Wann war das?« fragte Monk.

»Woher soll ich das wissen?« erwiderte der Mann gereizt.

»Letzte Woche oder die Woche davor.«

Monk schob beide Hände tiefer in seine Taschen.

»Natürlich weißte das, du blöder Hund!« sagte die Frau scharf. »Streng deine Birne 'n bißchen an, dann fällt's dir schon wieder ein. Was für'n Tag war es? Bevor Tantchen dir den Kinnhaken verpaßt hat oder danach?«

»Am selben Tag«, erwiderte er mürrisch. »Oder am Tag davor.« Er rülpste. »Nee, doch am Tag davor, also ist es jetzt genau zwei Wochen her! Mehr kann ich Ihnen nich' erzählen.« Er drehte sich um und wollte wieder ins Haus verschwinden.

Die Frau ließ ihre Hand vorschnellen, und Monk gab ihr einen Schilling. Das war der Tag, an dem Angus Stonefield verschwunden war. Diese Auskunft war einen Shilling wert.

»Vielen Dank«, sagte er freundlich.

Sie packte das Geldstück, verbarg es in ihren voluminösen Röcken, folgte ihrem Mann ins Haus und ließ die Tür hinter sich zufallen.

Monk drehte sich zu Drusilla um. In ihrem Gesicht stand ein Ausdruck des Triumphes, ihre Augen leuchteten, und ihre Wangen glühten. Trotz seiner Genugtuung darüber, daß es ihm gelungen war, Angus' Weg am Tag seines Verschwindens bis zur Isle of Dogs, ja sogar bis hinein in eine ganz bestimmte Taverne zurückzuverfolgen, überwog seine Freude an ihrer Gesellschaft jedoch alle anderen Gefühle, und als er sie jetzt ansah und wieder einmal dachte, wie hübsch sie doch war, verspürte er eine seltsame Erregung.

»Sollen wir unsere Suche ins Artichoke verlegen und etwas zu Mittag essen?« fragte er augenzwinkernd. »Ich meine, wir hätten es verdient.«

»Das haben wir wirklich«, stimmte sie ihm von ganzem Herzen zu und nahm seinen Arm. »Und zwar das Beste, das es dort gibt.«

Sie aßen im Artichoke, und Monk versuchte, mit dem Gastwirt zu sprechen, einem stämmigen Mann mit rotem Gesicht und gewaltiger Nase, die als Folge einer alten Verletzung ziemlich schief saß. Aber er war beschäftigt und höchst abgeneigt, irgendwelche Fragen zu beantworten, die nichts mit der Rechnung zu tun hatten. Monk erfuhr nichts von ihm, außer daß seine Wirtsstube einen hervorragenden Treffpunkt für zwei Männer abgeben würde, die sich ungestört unterhalten wollten.

Danach versuchten sie es noch in einigen weiteren Läden und bei Passanten, aber in dem dichten Nebel des sich zunehmend verdüsternden Nachmittags befanden sich nur noch wenige Menschen auf den Straßen. Um drei Uhr bot Monk Drusilla an, sie nach Hause zu bringen. Es war bitter kalt, und der rauhe Wind drang durch sämtliche Kleider, außerdem mußte sie auch sehr erschöpft sein.

»Vielen Dank, aber Sie brauchen mich nicht zu begleiten«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich weiß, daß Sie weitermachen wollen, bis es dunkel ist.«

»Natürlich bringe ich Sie nach Hause«, beharrte er. »Sie sollten in einer Gegend wie dieser hier nicht allein umherirren.«

»Unfug!« sagte sie energisch. »Wir gehen diese Sache als Partner an. Höflichkeit akzeptiere ich, aber ich weigere mich, mich wie ein dummes kleines Mädchen behandeln zu lassen. Rufen Sie mir einen Hansom, und ich werde in einer Stunde zu Hause sein. Wenn Sie mir das Gefühl geben, nur eine Last für Sie zu sein, rauben Sie mir die ganze Freude.« Sie lächelte ihn strahlend und mit einem Lachen in der Stimme an. »Und das wunderbare Gefühl, etwas geleistet zu haben. Bitte, William, ja?« Sie hatte seinen Vornamen noch nie zuvor ausgesprochen. Er fand es seltsam angenehm, ihn von ihren Lippen zu hören.

Und im Grunde hatte sie ja recht. Also gab er nach und brachte sie zur nächsten Hauptstraße, wo er einen Hansom anhielt und ihr hineinhalf, den Fahrer entlohnte und zusah, wie die Kutsche im dichten Nebel verschwand. Augenblicke später war sie wie vom Erdboden verschluckt. Er wandte sich ab und begann seine Arbeit von neuem. Noch eine weitere Stunde verbrachte er damit, Fragen zu stellen und das Terrain zu sondieren. Aber er erfuhr nichts mehr an diesem Tag; er traf nur immer wieder auf Angst vor Caleb Stone und auf Gerüchte, die allesamt unerfreulich waren. Caleb Stone schien schwer faßbar zu sein, er tauchte irgendwo auf und verschwand wieder, wie es ihm paßte, war immer wütend, immer an der Grenze zur Gewalttätigkeit.

Alles, was er mittlerweile wußte, überzeugte ihn nur noch mehr davon, daß Angus Stonefield wirklich tot war und Caleb ihn ermordet hatte, daß der Haß und die Eifersucht, die sich in vielen Jahren aufgestaut hatten, schließlich zum Ausbruch geführt hatten.

Aber wie sollte man das den Geschworenen beweisen? Wie ihnen vermitteln, daß es eine moralische Gewißheit gab, ein erdrückendes Gefühl von Ungerechtigkeit, von Unrecht, auf das ihnen jegliche Antworten verweigert wurden? Es gab keine Leiche. Vielleicht würde es nie eine geben. Alles, was er bis jetzt von Caleb wußte, ließ ihn als einen Mann von absolutem und grausamem Egoismus erscheinen, zeugte aber von beträchtlicher Schläue; außerdem hatte er viele Freunde im Hafenviertel, die ihn verstecken würden, die ihn tatsächlich versteckten, wann immer er in Gefahr war.

Aber Monk hatte doch gewiß genug Verstand und Phantasie, um ihn zu überlisten? Er ging langsam weiter, ertastete sich seinen Weg durch Nebel und Dunkelheit mehr, als daß er ihn sah.

Er konnte die gedämpften Schritte anderer Menschen, die jetzt am späten Nachmittag nach Hause zurückkehrten, kaum hören. Wagenlampen hingen wie am Himmel schwebende Monde in den Nebelschwaden. Selbst dem Klang der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster fehlte die gewohnte Schärfe.

Es gab so vieles, was er über sich selbst nicht wußte. Aber zumindest seit dem Unfall hatte er in keinem seiner wirklich wichtigen Fälle eine Niederlage erlitten. Von der Zeit vor dem Unfall wußte er nur das, was er in seinen eigenen Notizen in den Polizeiakten gelesen hatte.

Aber jeder Fall, über den er dort las, zeigte einen Mann von erbarmungsloser Hartnäckigkeit, weitreichender Phantasie und einer großen Leidenschaft für die Wahrheit. Er hatte schon früher mit so schwierigen und gewalttätigen Gegnern wie Caleb Stone zu tun gehabt, und keiner hatte ihn je geschlagen.

Er ging anderthalb Meilen über die West India Dock Road, bis er endlich einen Hansom fand, von dem er sich in die Fitzroy Street bringen lassen konnte. Er erwartete Genevieve Stonefield. Er hatte ihr einen Bericht über seine Nachforschungen versprochen und mußte dort sein, wenn sie kam. Er lehnte sich in das Sitzpolster zurück und schloß während der langen, gemächlichen Fahrt die Augen. Um diese Zeit und bei diesem Wetter würde es mehr als eine Stunde dauern, auch nur bis Bloomsbury zu kommen.

Nachdem er sich umgezogen und eine Tasse heißen Tee getrunken hatte, traf Genevieve Stonefield ein.

»Treten Sie ein, Mrs. Stonefield.« Er schloß die Tür hinter ihr und nahm ihr den nassen Umhang und die Haube ab. Sie sah sehr müde aus. In ihrem Gesicht zeichneten sich feine Linien ab, die er wenige Tage zuvor noch nicht dort entdeckt hatte.

»Vielen Dank«, sagte sie, während sie widerwillig Platz nahm und sich nur auf die Stuhlkante setzte, als könne es sie noch verletzlicher machen, wenn sie sich in irgendeiner Hinsicht gehenließ.

»Wie geht es Lady Ravensbrook?« fragte er.

»Sie ist sehr krank«, antwortete sie, und ihre Augen waren dunkel vor Erschöpfung und Kummer. »Sehr krank. Wir wissen nicht, ob sie überleben wird. Miss Latterly tut alles für sie, was in ihren Kräften steht, aber es ist vielleicht nicht genug. Mr. Monk, haben Sie etwas über meinen Mann herausgefunden? Meine Situation wird immer verzweifelter.«

»Das mit Lady Ravensbrook tut mir sehr leid«, sagte Monk leise und meinte es auch so. Er mochte sie, auch wenn er ihr nur ganz kurz begegnet war. Ihr Gesicht hatte Mut und Intelligenz verraten. Der Gedanke, daß sie nun vielleicht ein so sinnloses Ende finden würde, schmerzte ihn. Er sah Genevieve an. Wieviel schlimmer mußte sie dieses Gefühl der Hilflosigkeit und des Verlustes treffen. Sie saß starr auf der Stuhlkante und wartete mit ernster Miene darauf, daß er ihre Fragen beantwortete.

»Ich fürchte, es sieht immer mehr danach aus, als hätten Sie tatsächlich recht«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Erfreulicheres mitteilen, aber ich habe seinen Weg am Tag seines Verschwindens bis nach Limehouse zurückverfolgen können, und es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, daß er Caleb besucht hat, wie schon so häufig in der Vergangenheit.«

Sie biß sich auf die Lippen, und ihre Hände verkrampften sich auf ihrem Schoß, aber sie unterbrach ihn nicht.

»Ich suche selbstverständlich weiter, aber ich habe noch niemanden gefunden, der ihn seither gesehen hat«, fuhr er fort.

»Aber Mr. Monk, was ich brauche, ist ein Beweis!« Sie holte tief Luft. »In meinem Herzen weiß ich, was geschehen ist. Ich habe es gewußt, seit er nicht zur verabredeten Zeit nach Hause gekommen ist. Ich habe so etwas schon lange befürchtet, konnte ihn aber nicht davon abbringen. Aber das werden die Behörden nicht akzeptieren!« Die Verzweiflung ließ ihre Stimme lauter werden, als hätte sie das Gefühl, sich nicht verständlich machen zu können. »Ohne Beweis bin ich einfach nur eine sitzengelassene Frau, und Gott weiß, daß London voll davon ist.« Sie schüttelte verzagt den Kopf. »Ich kann keinerlei Entscheidungen treffen. Ich kann keinen Besitz entäußern, denn solange das Gesetz davon ausgeht, daß er noch lebt, gehört alles ihm und nicht mir oder meinen Kindern. Wir können nicht einmal jemanden einstellen, der das Geschäft für ihn führt. Und so gern Mr. Arbuthnot auch dazu bereit ist, hat er weder das nötige Selbstvertrauen noch die Erfahrung, um diese Dinge in die Hand zu nehmen. Mr. Monk, ich brauche einen Beweis!«

Er betrachtete ihr ernstes, gepeinigtes Gesicht und las die Angst darin. Das war alles, was er sehen konnte, eine große, verzehrende Angst. Verbarg sie damit den Kummer, den sie nicht zu zeigen wagte, zumindest nicht jetzt, wo noch so viel zu tun und sie nicht allein war, um ungestört weinen zu können? Oder steckten andere Gründe dahinter, handelte sie aus Gier nach Geld, Besitz und einem überaus gutgehenden Geschäft, das ihr, wenn sie als Witwe anerkannt wurde, ganz allein gehören würde?

Vielleicht mußte Monk, wenn er nicht nur ihr, sondern auch Angus gegenüber seine Pflicht tun wollte, Genevieve ein wenig ausführlicher befragen. Es war ein häßlicher Gedanke, und es wäre ihm weit lieber gewesen, wenn er ihm nie in den Sinn gekommen wäre, aber jetzt, da es einmal geschehen war, konnte er ihn nicht mehr ignorieren.

»Vor kurzem haben Sie noch davon gesprochen, das Geschäft zu verkaufen, solange es noch in gutem Ruf steht und Gewinne abwirft«, bemerkte er. Es war eigentlich unwichtig - auch diese Möglichkeit stand ihr im Augenblick nicht offen -, aber es interessierte ihn, warum sie ihre Meinung geändert hatte.

»Haben Sie jemanden im Sinn, der die Leitung übernehmen könnte?«

»Ich weiß es nicht.« Sie beugte sich vor, und ihre üppigen Röcke fielen bis über das Kamingitter. Sie schien es nicht zu bemerken. »Vielleicht wäre dies besser, als zu verkaufen. Dann könnten all unsere Angestellten bleiben. Auch daran müßte man denken.« Sie brannte darauf, ihn zu überzeugen. »Und es würde unsere Zukunft sichern… etwas, das meine Söhne erben könnten. Das ist besser als etwas Geld, das erschreckend schnell aufgebraucht sein wird. Ein einziger falscher Rat, ein törichter junger Mann, der sich von älteren Menschen nicht gängeln lassen will, weil er sie für unbeweglich und phantasielos hält. Das ist alles schon dagewesen.«

Er beugte sich vor und schob ihren Rock beiseite, aus Angst, ein Stückchen Kohle, das aus dem Kamin rollte, oder ein Funke könnte ihr Kleid in Brand setzen.

Sie bemerkte es kaum.

»Schauen Sie nicht ein wenig zu weit in die Zukunft?« fragte er ein wenig kühl.

»Das muß ich tun, Mr. Monk. Außer mir ist niemand da, der sich um diese Dinge kümmert. Ich habe fünf Kinder. Für die muß gesorgt werden.«

»Da wäre immer noch Lord Ravensbrook!« rief er ihr in Erinnerung. »Er hat sowohl die Mittel als auch den Einfluß, und er scheint mehr als bereit zu sein, Ihnen in jeder Hinsicht beizustehen. Ich glaube, Ihre Angst ist größer, als sie es unbedingt sein müßte, Mrs. Stonefield.« Er haßte es, aber es ließ sich nicht ändern: Sein Verdacht war geweckt. Vielleicht war die Beziehung zwischen ihr und ihrem Mann doch nicht so ideal gewesen, wie sie behauptet hatte. Möglicherweise war sie diejenige, deren Zuneigung ein anderes Ziel gefunden hatte, und nicht er? Sie war eine überaus attraktive Frau. In ihrem Wesen lag eine gewisse Leidenschaftlichkeit und eine Kühnheit, die weit tiefer gingen als bloße äußerliche Reize. Er fühlte sich selbst zu ihr hingezogen und sah sie fasziniert an, auch wenn sein Verstand dabei einige Tatsachen gegeneinander abwog.

»Und ich habe bereits versucht, Ihnen zu erklären, Mr. Monk, daß ich meine Freiheit nicht verlieren will, daß ich nicht von Lord Ravensbrooks Wohlwollen abhängig sein will«, fuhr sie fort, und die Gefühle, die sie nicht länger verbergen konnte, schnürten ihr nun hörbar die Kehle zu. »Ich werde das nicht zulassen, Mr. Monk, nicht, solange ich irgendeine Möglichkeit sehe, es zu verhindern. Meine Angst wächst von Tag zu Tag, aber noch bin ich nicht gänzlich am Ende meiner Weisheit. Und ob Sie es glauben oder nicht, ich tue, was mein Mann gewünscht hätte. Ich habe ihn gut gekannt, auch wenn Sie noch so sehr davon überzeugt sein mögen, daß ich mich da vielleicht irre.«

»Ich zweifle nicht daran, daß Sie Ihren Mann kannten, Mrs. Stonefield.« Es war untypisch für ihn, zu einer Lüge Zuflucht zu nehmen. Er wußte nicht so genau, warum er das tat, abgesehen davon, daß er vielleicht das Bedürfnis verspürte, sie zu trösten. Er konnte sie aber kaum in den Arm nehmen und verspürte auch keinerlei Neigung dazu. Er pflegte seine Gefühle nicht durch Berührungen auszudrücken. Ob er das in der Vergangenheit jemals getan hatte, vermochte er nicht zu sagen.

»Doch, das tun Sie sehr wohl«, entgegnete sie mit einem verkniffenen Lächeln und einem Anflug bitteren Humors. »Sie haben jede andere Möglichkeit erwogen, abgesehen von der einen, daß Caleb ihn getötet haben könnte, weil Sie diese anderen Dinge für wahrscheinlicher hielten.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und bemerkte nun endlich, daß ihr Rock dem Kamingitter zu nahe kam, und zog ihn automatisch zurück.

»Und ich kann Ihnen wohl keinen Vorwurf daraus machen. Ich schätze, jeden Tag verläßt irgendein Mann Frau und Kinder entweder des Geldes oder einer anderen Frau wegen. Aber ich kannte Angus. Er war ein Mann, für den Unehrenhaftigkeit nicht nur verabscheuungswürdig, sondern geradezu erschreckend gewesen wäre. Er hat sie gemieden, wie ein anderer Mann vielleicht die Berührung mit Pest und Aussatz vermieden hätte.« Nun geriet ihre Stimme trotz größter Bemühungen, Haltung zu bewahren, außer Kontrolle. »Er war wirklich und wahrhaftig ein guter Mann, Mr. Monk, ein Mann, der um die Häßlichkeit und Verderbnis des Bösen wußte. Es gibt keine Maske, unter der es ihn hätte locken können.«

Sein Verstand sagte ihm, daß hier eine zutiefst bekümmerte Frau sprach, die ihren Mann mit den Augen der Liebe gesehen hatte, und sein Instinkt sagte ihm, daß es die Wahrheit war. So hatte sie Angus immer gesehen, und obwohl er sie von ganzem Herzen dafür bewunderte, wußte er auch, daß es sie zu Zeiten wütend gemacht oder bedrückt hatte.

»Jetzt sind so viele Tage vergangen«, sagte sie sehr leise, »daß ich fürchte, niemand kann noch beweisen, was ihm wirklich widerfahren ist.«

Er fühlte sich schuldig, was natürlich unsinnig war. Selbst wenn er Angus noch am Tag seines Verschwindens hätte folgen können, wäre es doch unwahrscheinlich gewesen, Caleb den Mord an seinem Bruder nachzuweisen. In Limehouse gab es genug Möglichkeiten, sich einer Leiche zu entledigen - der Fluß war dort sehr tief, und die Ebbe trug jegliches Treibgut aufs Meer hinaus, es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Frachtschiffen, und gerade jetzt gab es auch noch die Massengräber der Typhusopfer.

Er legte noch etwa ein Dutzend Kohlen ins Feuer.

»Man braucht nicht immer eine Leiche, um den Tod zu beweisen«, sagte er vorsichtig, ohne sie eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. »Obwohl es dann möglicherweise sehr viel schwieriger sein wird, einen Mord und Calebs Schuld zu beweisen.«

»Ich interessiere mich nicht für Calebs Schuld.« Auch sie sah ihm unverwandt in die Augen. »Gott wird sich seiner annehmen.«

»Aber Ihrer nicht?« fragte er. »Ich hätte gedacht, daß Sie seine Gnade viel mehr verdient hätten… und sie viel dringender brauchten.«

»Ich kann nicht auf Mildtätigkeit warten, Mr. Monk«, antwortete sie mit einer gewissen Schärfe.

Er lächelte. »Ich entschuldige mich. Natürlich nicht. Aber ich würde mich ganz gern ein wenig mit Caleb beschäftigen, bevor ich darauf warte, daß Gott es tut. Ich versuche, was möglich ist, und bin der Sache viel näher gekommen als bei unserer letzten Unterredung. Ich habe einen Zeugen gefunden, der Angus am Tag seines Verschwindens in Limehouse gesehen hat, in einer Taverne, in der er sich mit Caleb getroffen haben könnte. Ich werde noch andere Zeugen finden. Das dauert seine Zeit, aber die Leute werden reden. Es geht nur darum, die Richtigen zu finden und sie zu überreden, sich zu offenbaren. Am Ende werde ich auch Caleb selbst kriegen.«

»Werden Sie…« Sie schien sich neue Hoffnung zu machen, wollte es sich aber nicht gestatten. »Es ist mir wirklich nicht wichtig, ob Sie beweisen können, daß es Caleb war.« Der Anflug eines Lächelns spielte um ihren Mund. »Ich weiß nicht einmal, was Angus gewollte hätte. Ist das nicht absurd? Obwohl sie so völlig verschieden waren und Caleb ihn gehaßt hat, liebte er Caleb. Man hatte den Eindruck, als würde er das Kind, das er gewesen war, und die guten Zeiten, die sie zusammen verbracht hatten, bevor sie sich zerstritten, einfach nicht vergessen können. Jedesmal, wenn er zu Caleb nach Limehouse fuhr, tat es ihm in der Seele weh, aber er wollte einfach nicht aufgeben.«

Sie wandte den Blick ab. »Manchmal dauerte es Wochen, vor allem nach einem besonders schlimmen Besuch dort, aber dann wurde er wieder weich und fuhr hin. Bei diesen Gelegenheiten blieb er sogar länger fort, als müsse er etwas wiedergutmachen. Ich nehme an, Kindheitsbande reichen weiter zurück.«

»Hat er Ihnen viel von seinen Besuchen bei Caleb erzählt?« erkundigte er sich. »Hat er Ihnen irgendeinen Fingerzeig gegeben, wo sie sich trafen oder sich aufgehalten haben? Wenn Ihnen irgend etwas in der Art einfiele, könnte uns das vielleicht weiterhelfen.«

»Nein«, sagte sie mit einem leichten Stirnrunzeln, als verwundere dieser Umstand sie bei näherem Nachdenken ebenfalls. »Er hat überhaupt nie davon gesprochen. Möglicherweise war es gerade sein Schweigen, das mich auf die Frage gebracht hat, ob er seinen Bruder nicht ebensosehr aus Schuldgefühlen heraus wie aus Liebe besuchte.«

»Schuldgefühle?«

In ihrem Gesicht flackerte so etwas wie Stolz auf, als sie antwortete, und sie hob unbewußt ganz leicht das Kinn an.

»Angus war bei allem, was er anfaßte, erfolgreich, in seinem Beruf, mit seiner Familie und was seine Stellung in der Gesellschaft betraf. Caleb hatte nichts. Er war gefürchtet und verhaßt, wo Angus geliebt und respektiert wurde. Er lebte von der Hand in den Mund und wußte nie, woher die nächste Mahlzeit kommen würde. Er hatte kein Heim, keine Familie, nichts in seinem ganzen Leben, auf das er hätte stolz sein können.«

Es war ein trauriges Bild, das sie da malte. Monk begriff mit einem Schlag, gerade so, als hätte er eine Tür, die in eine andere, eisigere Welt führte, geöffnet, in welcher Einsamkeit Caleb Stone lebte, wie sehr sein Scheitern sich in seine Seele hineingefressen haben mußte, immer wenn er seinen Bruder sah, das glückliche, elegante, erfolgreiche Spiegelbild des Menschen, der er selbst hätte sein können. Und Angus' Mitleid und seine Schuldgefühle hatten das Ganze nur noch schlimmer gemacht.

Und doch lag vielleicht auch für Angus in der Erinnerung an die Liebe und das Vertrauen, an die Zeiten, in denen alle Dinge gleich waren für sie, und an die Zerwürfnisse und Kümmernisse einer noch unbekannten Zukunft etwas, das sie aneinander band.

Warum sollte das Ganze jetzt in Gewalttätigkeit münden? Was war geschehen, daß sich alles plötzlich verändert hatte? Er sah Genevieve an. Die Anspannung stand ihr nun deutlich ins Gesicht geschrieben. Um ihre Augen und ihren Mund zeichneten sich winzige Linien ab, die man selbst im Gaslicht sehen konnte. Angus war seit vierzehn Tagen fort. Sie verbrachte zumindest die Hälfte ihrer Zeit mit der Pflege von Enid Ravensbrook. Kein Wunder, daß sie erschöpft und von Angst erfüllt war.

»Haben Sie jemanden im Sinn, dem Sie in Abwesenheit von Mr. Stonefield die Leitung des Geschäfts übertragen könnten?« fragte er. Es war kaum von Bedeutung für ihn, und doch wartete er auf eine Antwort und wünschte sich, daß sie keine hätte. Solche Überlegungen waren ihm bei einer Frau, die noch nicht sicher wußte, ob sie Witwe war, seltsam kalt und nüchtern erschienen.

»Ich habe an Mr. Niven gedacht«, antwortete sie offen. »Trotz seiner Fehleinschätzung, die schuld an seinen augenblicklichen Verhältnissen ist, ist er durch und durch ehrlich und verfügt über ungewöhnliche Fähigkeiten und großes Wissen auf diesem Gebiet. Ich glaube, er wäre, wenn es um die Angelegenheiten eines anderen geht, nicht so unbesonnen oder so nachsichtig. Mr. Arbuthnot hat immer viel von ihm gehalten und wäre vielleicht nicht abgeneigt, auch unter Mr. Nivens Leitung weiter für uns tätig zu sein. Mr. Niven ist außerdem ein sehr liebenswürdiger Mensch, und ich könnte es ertragen, ihn an Angus' Stelle zu sehen, da ja irgend jemand sich um diese Dinge kümmern muß. Er hat selbst keine Familie und würde nicht versuchen, mich oder meine Söhne aus dem Geschäft zu drängen.«

Es hätte ihm eigentlich gleichgültig sein können, und doch stellte er fest, daß die Promptheit, mit der sie antwortete, ihn frösteln ließ.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie ihn persönlich kennen«, sagte er.

»Aber natürlich. Er und Angus standen sehr freundschaftlich zueinander. Er hat viele Male bei uns zu Abend gespeist, er ist einer der wenigen Menschen, die wir zu uns nach Hause einladen.« Wieder huschte ein Schatten über ihre Züge. »Aber ich kann mich ihm jetzt natürlich nicht nähern. Das wäre gänzlich unpassend. Erst muß ich einen Beweis für Angus' Schicksal haben, der das Gesetz zufriedenstellt.« Sie saß sehr gerade auf ihrem Stuhl und seufzte, als könne sie sich nur mit großer Anstrengung beherrschen.

Er fragte sich, welches Gefühl genau es war, das so stark unter der Oberfläche ihrer Gefaßtheit lag. Er spürte eine Kraft in ihr, die nicht so recht zu ihrem sanften, sehr femininen Äußeren passen wollte, zu diesem Bild der gehorsamen Ehefrau und hingebungsvollen Mutter; es gab Tiefen in ihrem Wesen, die nicht auszuloten waren. Das bekümmerte ihn, denn ihm gefiel, was er zuerst in ihr gesehen hatte; selbst die Kraft, die in ihr ruhte, war reizvoll. Er wollte nicht glauben, daß sich dahinter in Wirklichkeit Skrupellosigkeit verbarg. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, Mrs. Stonefield«, versprach er und schuf mit seinem Tonfall unbeabsichtigt eine gewisse Distanz zwischen ihnen. »Wie Sie selbst vorgeschlagen haben, werde ich meine Bemühungen darauf konzentrieren, die Behörden davon zu überzeugen, daß Ihr Mann tot ist, und es anderen überlassen herauszufinden, unter welchen Umständen er gestorben ist. Diese Aufgabe ist jedoch nicht leicht, und es könnte durchaus eine ganze Weile dauern, daher gebe ich Ihnen den Rat, in der Zwischenzeit darüber nachzudenken, ob Sie nicht doch Lord Ravensbrooks Angebot annehmen wollen, um für sich und Ihre Kinder ein Heim zu haben, auch wenn es nur vorübergehend wäre.«

Sie spürte, in welche Richtung seine Gedanken gingen, und erhob sich anmutig, legte sich mit einer flinken Bewegung den Umhang um die Schultern, aber in ihrem Gesicht zeichneten sich Unwille, Eigensinn und Widerstreben ab.

»Das wird mein letzter Ausweg sein, Mr. Monk, und an diesem Punkt bin ich noch nicht angelangt. Ich denke, ich werde mit Mr. Niven sprechen und seine Gefühle diesbezüglich ergründen, bevor ich zu Lady Ravensbrook zurückkehre. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.«

Für Hester vergingen die nächsten Stunden mit quälender Langsamkeit. Sie saß an Enids Bett und beobachtete deren ausgezehrtes Gesicht, das fahl und schweißnaß war und auf den Wangenknochen zwei Flecken hektischer Röte aufwies. Ihr Haar war wirr, ihr Körper verkrampft, und sie warf sich zitternd und von Schmerzen gepeinigt im Bett von einer Seite zur anderen. Jede Berührung tat ihr weh. Hester konnte kaum etwas für sie tun, abgesehen davon, daß sie sie immer wieder vorsichtig mit feuchten, kühlen Tüchern abtupfte, aber das Fieber stieg weiter an. Sie lag im Delirium und wußte kaum je wirklich, wo sie war.

Genevieve kehrte irgendwann am Abend zurück und kam für ein paar Minuten ins Krankenzimmer. Sie war erst wieder am Morgen an der Reihe, wenn Hester für ein paar Stunden Schlaf ins Ankleidezimmer gehen würde.

Sie tauschten wissende Blicke. Genevieves Wangen waren gerötet. Hester führte diesen Umstand auf die Kälte draußen zurück, bis die andere Frau zu sprechen begann.

»Ich komme gerade von Mr. Monk. Ich fürchte, er begreift nicht, wie ungeheuer wichtig es für mich ist zu wissen, was mit Angus passiert ist.« Sie blieb an der Tür stehen und sprach sehr leise, damit sie Enid nicht störte. »Manchmal glaube ich, die Ungewißheit ist mehr, als ich ertragen kann. Dann habe ich Mr. Niven aufgesucht - Titus Niven -, er war früher sehr erfolgreich in derselben Branche tätig wie mein Mann, bis vor kurzem jedenfalls. Er ist ein Freund.«

Obwohl sie so leise gesprochen hatte, bewegte Enid sich und versuchte sich aufzusetzen. Hester drückte sie schnell wieder in ihre Kissen zurück, strich ihr das Haar aus der Stirn und sprach sanft auf sie ein, obwohl sie nicht genau wußte, ob Enid sie hörte.

Genevieve sah Hester mit vor Furcht starrer Miene an. Ihre Frage war ihr so klar ins Gesicht geschrieben, daß sie nicht ausgesprochen werden mußte. Sie fürchtete, daß die Krise nicht mehr lange auf sich warten lassen und Enid die Nacht nicht überleben würde.

Hester hatte keine Antwort für sie. Alles, was sie sagen konnte, wäre nur eine vage Vermutung gewesen.

Langsam atmete Genevieve aus. Ein winziges Lächeln spielte um ihren Mund, aber es durchdrang nur für einen Augenblick einem Augenblick der Nähe - ihren Schmerz, es lag kein Glück darin. Welchen Trost Titus Niven ihr auch zu geben vermocht hatte, welchen Lichtstrahl er in der Finsternis vielleicht hatte aufscheinen lassen, er war wieder erloschen. Selbst die Sanftheit, mit der sie seinen Namen ausgesprochen hatte, schien vergessen zu sein.

»Es hat keinen Sinn, wenn Sie hierbleiben«, erklärte Hester ihr offen. »Es könnte heute nacht geschehen, es könnte aber auch bis morgen dauern. Es gibt nichts, was Sie tun können, außer sich darauf vorzubereiten, mich morgen früh abzulösen.« Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht.

»Das werde ich tun«, versprach Genevieve, berührte Hester ganz leicht an der Schulter, wandte sich dann ab und ging aus dem Raum, wobei sie die Tür mit einem kaum hörbaren Klicken hinter sich schloß.

Es war früher Abend und bereits dunkel, Regen klatschte gegen die Fenster hinter den dicken, zugezogenen Vorhängen. Die Uhr auf dem Kaminsims war das einzige Geräusch, abgesehen von dem leisen Zischen des Gases und einem gelegentlichen Stöhnen oder Wimmern Enids. Kurz nach halb acht klopfte Lord Ravensbrook an die Tür und trat sofort ein. Er sah angegriffen aus, und ganz hinten in seinen Augen flackerte eine Furcht auf, die er nur unzulänglich hinter seinem Stolz verbergen konnte.

»Wie geht es ihr?« fragte er. Vielleicht war es eine sinnlose Frage, aber ihm fiel nichts anderes ein, und schließlich erwartete man es von ihm. Er mußte irgend etwas sagen.

»Ich glaube, heute nacht könnte die Krise kommen«, antwortete sie. Sie sah, wie es in seinem Gesicht zuckte, so, als hätte sie ihn geschlagen. Einen Augenblick lang bedauerte sie, daß sie so direkt gewesen war. Vielleicht war es brutal. Aber was wäre, wenn Enid heute nacht starb und sie es ihm nicht gesagt hatte? Er konnte nichts für sie tun, aber hinterher würde sich in seinen Kummer auch das Gefühl von Schuld einschleichen. Sie hätte ihn dann wie ein Kind behandelt, das die Wahrheit nicht ertragen konnte, es nicht wert war, sie zu erfahren. Die Heilung seines Schmerzes würde um so schwerer werden und vielleicht nie ganz gelingen.

»Ich verstehe.« Er stand ganz still in der Mitte des Raums mit seinen Schatten, seinen Blumenmustern, seiner weiblichen Atmosphäre; seine Unfähigkeit zu sprechen machte ihn einsam, und die gesellschaftlichen Konventionen zwangen sie beide, sich an ihre jeweiligen Rollen zu halten. Er war Mitglied des Oberhauses, ein Mann, von dem man erwartete, daß er sowohl in körperlicher wie auch in seelischer Hinsicht Tapferkeit bewies und stets ganz Herr seiner selbst und seiner Gefühle war. Sie war eine Frau, galt daher von Natur aus als die Schwächere, von der man erwartete, daß sie weinte und sich auf andere stützte - und vor allem anderen war sie eine Angestellte. Die Tatsache, daß er sie nicht bezahlte, spielte keine Rolle. Er konnte die Kluft zwischen ihnen genausowenig überwinden wie sie. Sehr wahrscheinlich war ihm ein solcher Gedanke noch niemals gekommen. Er stand einfach reglos da und litt.

Als er sich langsam umwandte, waren seine Augen sehr dunkel, beinahe verschleiert, als könne er seinen Blick auf nichts Bestimmtes konzentrieren. Er holte tief Luft.

»Sie meinen, ob ich gern hier sein möchte, wenn es zu Ende geht? Ja… ja, natürlich möchte ich das. Sie müssen mich rufen lassen.« Er hielt inne, weil er nicht wußte, ob er den Vorschlag machen sollte, gleich hierzubleiben. Er blickte zum Bett hinüber. Es war erst vor zwei Stunden frisch bezogen worden, aber schon jetzt wieder völlig zerknittert, obwohl Hester die Laken beständig glattgezogen hatte. Er sog scharf die Luft ein.

»Weiß… weiß sie, daß ich hier bin?«

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Hester wahrheitsgemäß. »Selbst wenn man den Eindruck hat, daß sie es nicht weiß, könnte das durchaus ein Irrtum sein. Bitte, glauben Sie nicht, daß es nutzlos wäre. Vielleicht würde es sie trösten.«

Er ballte die Hände zu Fäusten. »Soll ich bleiben?« Er machte keinen Schritt auf das Bett zu, sondern sah nur Hester an.

»Das ist nicht nötig«, sagte sie mit fester Stimme. »Es ist besser, Sie ruhen sich aus, damit Sie die Kraft haben, wenn Sie sie brauchen.«

Er atmete ganz langsam aus. »Sie werden mich rufen lassen?«

»Ja, sobald irgendeine Veränderung eintritt; das verspreche ich Ihnen.« Sie zeigte mit dem Kopf auf die Klingelschnur neben dem Bett. »Solange irgend jemand wach ist, der Sie holen kann, wird man Sie sofort benachrichtigen.«

»Vielen Dank. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Miss… Latterly.« Er ging zur Tür und drehte sich dort noch einmal um.

»Sie… Sie leisten großartige Arbeit.« Und bevor sie Zeit hatte, etwas zu erwidern, war er schon fort.

Etwa zwanzig Minuten später verschlimmerte sich Enids Zustand. Sie warf sich im Bett hin und her und schrie vor Schmerzen.

Hester legte eine Hand auf ihre Stirn. Sie war glühend heiß, noch heißer als zuvor. Ihre Augen waren geöffnet, aber sie schien sich des Raums, in dem sie lag, nicht bewußt zu sein, sondern starrte an Hester vorbei, als stünde jemand hinter ihr.

»Gerald?« fragte sie rauh, »… nicht hier.« Sie keuchte und war einen Augenblick lang still. »Du brauchst wirklich nicht zu kommen - Papa wird…« Sie stöhnte leise und versuchte dann zu lächeln. »Du weißt, Mama mag Alexander sowieso lieber.«

Hester tauchte das Tuch noch einmal in kaltes Wasser und legte es Enid auf die Stirn, zog dann die Decke ein wenig zurück und tupfte ihr sanft Kehle und Brust ab. Sie hatte versucht, sie zum Trinken zu bewegen, war aber gescheitert. Daher mußte sie wenigstens nach Kräften versuchen, ihre Temperatur zu senken. Sie schien jetzt endgültig in Fieberphantasien versunken zu sein.

»Na gut«, sagte Enid plötzlich. »Erzähl es nicht Papa… Er ist so ein…« Sie warf sich herum und zuckte zurück, schien dann plötzlich von Traurigkeit überwältigt zu werden. »Der arme George. Aber ich konnte es einfach nicht tun! So furchtbar langweilig! Das verstehst du nicht, oder?« Sie schwieg einige Augenblicke, versuchte dann, sich aufzusetzen, und sah Hester fragend an. »Milo? Sei nicht so böse mit ihm. Er wollte doch nicht…«

»Pst.« Hester legte ihre Arme um sie. »Er ist nicht böse, ich verspreche es Ihnen. Legen Sie sich wieder hin. Ruhen Sie sich aus.«

Aber Enids Körper war steif wie ein Brett, und sie atmete schwer, keuchte schließlich vor Schmerzen.

»Milo! Es tut mir so leid, mein Lieber! Ich weiß, daß es dir weh tut… Aber du solltest wirklich nicht…«

»Keine Angst«, wiederholte Hester. »Er ist nicht ärgerlich. Er möchte nur, daß Sie ausruhen und wieder gesund werden.« Sie drückte Enid fester an sich. Ihr Körper brannte vor Hitze, und gleichzeitig hatte sie Schüttelfrost; ihr Nachtkleid war von Schweiß durchnäßt. Durch den dünnen Baumwollstoff fühlte sie sich zerbrechlich an. Noch vor wenigen Tagen war sie eine so starke Frau gewesen.

»So böse!« rief Enid, und ihre Stimme war rauh vor Kummer.

»Warum? Warum, Milo?«

Hester drückte sie sanft an sich. »Er ist nicht böse, meine liebe Freundin. Ganz bestimmt nicht. Wenn er böse war, dann ist das schon lange her. Jetzt ist alles wieder gut. Versuchen Sie still zu liegen und ein wenig Ruhe zu finden.«

Einige Minuten lang herrschte dann tatsächlich Ruhe. Enid schien sich ein wenig besser zu fühlen.

Hester hatte schon viele Menschen im Fieberwahn erlebt, und sie wußte, daß Vergangenheit und Gegenwart häufig eins wurden. Manchmal schienen die Menschen bis in ihre Kindheit zurückzukehren. Die Fieberphantasien waren erschreckend: Riesige Gesichter blähten sich vor ihnen auf und verschwanden wieder; die Züge der Menschen, die sie pflegten, verzerrten sich, wurden zu Schreckbildern, bedrohlich und entstellt.

Sie wünschte sich sehnlichst, helfen zu können, die Qualen ein wenig zu lindern, ja sogar die Krise abwenden zu können, aber im Augenblick gab es nichts für sie zu tun. Es gab keine Medikamente, keine Behandlung für diese Krankheit. Das einzige, was man tun konnte, war abwarten und hoffen.

Das Gas zischte leise in der einzigen Lampe, die noch brannte. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte. Das Feuer war im Kamin so weit heruntergebrannt, daß die Kohlen nur noch rotglühende Würfel waren und keine Flamme zuckte und kein Laut aus der zusammengefallenen Glut aufstieg.

Enid bewegte sich wieder.

»Milo?« wisperte sie.

»Soll ich ihn holen lassen?« fragte Hester. »Er ist im Haus, ganz in der Nähe. Er wird sofort kommen.«

»Ich weiß, es bekümmert dich, mein Lieber«, fuhr Enid fort, als hätte sie Hesters Frage nicht gehört. »Aber du darfst nicht länger daran denken. Es war doch nur ein Brief. Er hätte nicht schreiben sollen…« In ihrer Stimme schwang tiefe Sorge mit und etwas, das Mitleid hätte sein können. »Ich hätte nicht lachen dürfen…« Sie brach ab, und ihre Worte gingen in einem unverständlichen Murmeln unter. Dann stieß sie plötzlich ein Kichern aus, das von reinster Freude erfüllt war, bevor sie abermals in Schweigen verfiel.

Hester wrang noch einmal das Tuch aus. Es war Zeit, an der Klingelschnur zu ziehen und sich neues Wasser bringen zu lassen, das sauber und kühl war. Aber um zur Klingel zu kommen, würde sie Enid loslassen müssen.

Ganz vorsichtig versuchte sie sich aus Enids Armen zu lösen, aber diese klammerte sich plötzlich mit schwachem, aber verzweifeltem Griff an sie.

»Milo! Geh nicht weg!… Natürlich tut so etwas weh. Es war schändlich von ihm. Ich verstehe, mein Lieber… aber…« Wieder gerieten ihre Worte durcheinander und ergaben keinen Sinn mehr. Ihr Geist irrte umher. Sie schien wieder eine junge Frau zu sein und sprach von Tanzabenden und Festen. Meist waren ihre Worte nicht zu verstehen, aber gelegentlich kamen ihr ein oder zwei ganz klar über die Lippen - der Name eines Mannes, ein Kosewort, ein Tadel oder ein Lebewohl. Es schien, als ob Enid entweder in ihrer Phantasie oder im tatsächlichen Leben viele Bewunderer gehabt hätte, und aus der Vertrautheit, mit der sie sprach, und aus vereinzelten Bemerkungen hier und dort schloß Hester, daß einige der Männer sie sehr geliebt haben mußten. Milos Name kam ihr einmal mit einem Aufschrei der Hoffnungslosigkeit, ja beinahe der Verzweiflung über die Lippen, und dann sprach sie ihn zwei oder dreimal hintereinander so aus, als fasziniere er sie, und dann lag sowohl Zärtlichkeit als auch Ärger in ihrer Stimme.

Gegen Mitternacht wurde sie ruhiger, und Hester befürchtete, daß sie ihr langsam entglitt. Sie war sehr schwach, und das Fieber schien sich noch zu verstärken. Schließlich ließ Hester sie einen Augenblick lang allein, um an der Klingelschnur zu ziehen. Dingle erschien beinahe sofort, noch immer voll bekleidet, das Gesicht bleich vor Kummer, die Augen weit aufgerissen. Hester bat sie, Lord Ravensbrook zu holen, das schmutzige Wasser mitzunehmen und ihr frisches zu bringen, dazu auch noch einige saubere Handtücher.

»Ist es…«, begann Dingle, bevor sie ihre Meinung änderte.

»Glauben Sie, daß wir noch Zeit haben, die Bettwäsche zu wechseln, bevor Seine Lordschaft kommt?«

»Nein, vielen Dank«, lehnte Hester ihr Angebot ab. »Ich möchte ihr nicht zusätzliche Unannehmlichkeiten bereiten.«

»Ich helfe Ihnen, Miss.«

»Das ist jetzt nicht wichtig.«

»Ist es… das Ende?« Dingle zwang die Worte zwischen aufeinandergepreßten Lippen hervor. Sie schien vor einem Tränenausbruch zu stehen. Hester fragte sich, wie lange sie wohl bei Enid gewesen sein mochte… Wahrscheinlich ihr ganzes Leben, seit sie erwachsen war, vielleicht dreißig Jahre oder länger. Mit ein wenig Glück hatte Lord Ravensbrook Enid gestattet, Vorsorge für sie zu treffen, oder er würde es selbst tun. Ansonsten stand sie möglicherweise schon bald ohne Stellung da - obwohl Dingles bleiches Gesicht und ihre verweinten Augen bewiesen, daß dieser Gedanke ihr im Augenblick unendlich fernlag.

»Ich glaube, es ist die Krise«, antwortete Hester. »Aber sie ist eine starke Frau, und sie hat Mut. Vielleicht bedeutet es noch nicht das Ende.«

»Natürlich hat sie Mut«, sagte Dingle leidenschaftlich. »Ich habe nie jemanden kennengelernt, der ihren Kampfgeist besessen hätte. Aber der Typhus ist eine schreckliche Krankheit. Er hat schon so viele dahingerafft.«

Vom Bett aus hörten sie ein leises Stöhnen, dann lag Enid wieder völlig reglos da.

Dingle keuchte.

»Es ist schon gut«, sagte Hester schnell, denn sie sah, daß Enids Brust sich ganz leicht hob und senkte. »Aber Sie sollten besser ohne weiteren Verzug Seine Lordschaft holen. Und vergessen Sie das Wasser nicht; es soll kühl sein, nicht heiß. Sorgen Sie nur dafür, daß es nicht mehr ganz kalt ist, das ist alles.«

Dingle zögerte. »Ich weiß, Sie haben die ganze Pflege übernommen, aber ich möchte sie gern aufbahren, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Natürlich«, stimmte Hester sofort zu. »Falls das notwendig werden sollte. Aber noch ist die Schlacht nicht verloren. Und jetzt lassen Sie bitte das Wasser holen. Es könnte von entscheidender Wichtigkeit sein.«

Dingle fuhr herum und rannte beinahe zur Tür. Vielleicht hatte sie geglaubt, das Wasser sei lediglich für kosmetische Zwecke gedacht. Jetzt hastete sie über den Flur und kehrte schon nach weniger als fünf Minuten mit einem großen Eimer voll kaltem Wasser und einem sauberen Handtuch über dem Arm zurück.

»Vielen Dank.« Hester nahm beides mit dem Anflug eines Lächelns entgegen und tauchte das Tuch sofort ins Wasser. Dann legte sie es, noch naß, auf Enids Stirn und Kehle, bevor sie ihre Hände und Unterarme abtupfte.

»Helfen Sie mir, sie ein wenig aufzusetzen«, bat sie. »Dann kann ich ihr das Tuch ein oder zwei Sekunden lang in den Nacken legen.«

Dingle gehorchte augenblicklich.

»Lord Ravensbrook braucht aber lange«, murmelte Hester, während sie Enid wieder in ihre Kissen betteten. »Hat er sehr tief geschlafen?«

»Oh!« Dingle starrte sie entsetzt an. »Ich hab' ihn vergessen! Ach herrje - ich gehe sofort und hole ihn!« Sie bat Hester nicht, über ihre Pflichtvergessenheit zu schweigen, aber in ihren Augen stand ein stummes Flehen.

»Das Wasser war wichtiger«, sagte Hester und ließ es wie eine Entschuldigung klingen.

»Ich hole ihn sofort.« Dingle war bereits auf dem Weg zur Tür. »Und ich rufe besser auch Miss Genevieve…«

Wenige Minuten später stand Milo Ravensbrook im Raum. Er hatte sich angekleidet, aber sein Haar war ungekämmt und fiel ihm in wirren Locken ins Gesicht, um die die meisten Frauen ihn beneidet hätten. Seine Augen waren eingefallen, und auf seinen schmalen Wangen zeichnete sich der dunkle Schimmer von Bartstoppeln ab. Er sah wütend aus, erschrocken und ungewöhnlich verletzlich. Ohne Hester weiter zu beachten, trat er ans Bett und starrte auf seine Frau hinunter.

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug kaum hörbar - es war Viertel nach zwölf.

»Es ist kalt hier drin«, sagte er, ohne sich umzudrehen, und in seiner Stimme schwang ein unverhohlener Vorwurf mit. »Sie haben es kalt werden lassen. Schüren Sie das Feuer.«

Sie machte sich nicht die Mühe, irgendwelche Einwände zu erheben. Es spielte wahrscheinlich im Augenblick keine Rolle, und er war nicht in der Stimmung, ihr zuzuhören. Gehorsam ging sie zum Kohleneimer, griff nach der Zange und legte zwei Stücke Kohlen auf die Glut. Sie entzündeten sich nur langsam.

»Nehmen Sie den Blasebalg!« befahl er.

Sie hatte gelernt, daß die Menschen auf verschiedene Weise auf Kummer reagierten. Manchmal war es die Angst vor der Einsamkeit, die folgen würde, vor den langen Tagen und Jahren ohne einen Menschen, mit dem man seine intimsten Gedanken teilen konnte; Angst vor den Gefühlen, die man nicht erklären konnte, die Überzeugung, daß man von keinem anderen Menschen so geliebt werden könnte wie von dem Verstorbenen, daß nur er die eigenen Fehler verstand und akzeptierte, daß nur er um die eigenen Vorzüge wußte. Bei manchen Menschen waren es Schuldgefühle, weil sie glaubten, irgend etwas ungesagt oder ungetan gelassen zu haben, und nun war es zu spät dafür. Die Zeit rann ihnen durch die Finger, und noch immer wußten sie nichts zu sagen, um all die Fehler und die verpaßten Gelegenheiten wiedergutzumachen. »Ich danke dir« oder »Ich liebe dich« brachten sie nicht über die Lippen; es wäre zu schwierig und auch zu einfach gewesen.

Bei vielen war es auch die Furcht vor dem Tod selbst, das Wissen, daß auch sie ihm eines Tages ins Gesicht sehen mußten, und kein noch so tiefer religiöser Glaube konnte ihnen sagen, was danach kam. Wenn Milo Ravensbrook um sich selbst fürchtete, konnte sie ihm keinen Vorwurf daraus machen.

»Sie können mit ihr sprechen«, sagte sie vom Fußende des Bettes aus zu ihm, der immer noch stocksteif dastand und auf Enid hinabblickte, ohne sie zu berühren. »Selbst wenn sie nicht reagiert, ist es durchaus möglich, daß sie Sie hört.«

Er hob den Kopf, und sein Blick war ungeduldig, beinahe anklagend.

»Es tröstet sie vielleicht«, fügte sie hinzu.

Plötzlich verlor sich alle Wut, die er vorher noch empfunden haben mochte. Er sah Hester mit ruhigem Blick an, weniger ihr Gesicht als ihr graues Kleid und die weiße Schürze, die nicht Dingle gehörten, sondern ihr selbst. Ihr wurde klar, wie selbstverständlich solchermaßen gekleidete Frauen für ihn sein mußten. Wahrscheinlich war sie für ihn nichts anderes als die Ammen oder Kindermädchen, die ihn großgezogen, ihm Geschichten erzählt und ihm zu essen gegeben hatten, die ihm bei den Mahlzeiten Gesellschaft geleistet und dafür gesorgt hatten, daß er aß, was man ihm vorsetzte, die ihn bestraft und gepflegt hatten, wenn er krank war, die ihn bei Spaziergängen im Park oder bei Ausritten in der Kutsche begleitet hatten. Das graue, gestärkte Kleid hatte ihn sein ganzes Leben lang begleitet.

Er wandte sich ab von Hester und setzte sich mit dem Rücken zu ihr auf die Bettkante.

»Enid«, sagte er ein wenig unbeholfen. »Enid?«

Minutenlang bekam er keine Antwort. Er straffte sich und schien sich wieder erheben zu wollen, als sie etwas Unverständliches murmelte.

Er beugte sich vor. »Enid!«

»Milo?« Ihre Stimme war kaum hörbar, nur ein Flüstern, das von einem trockenen, pfeifenden Geräusch begleitet wurde. »Sei nicht so wütend… Du machst mir angst!«

»Ich bin nicht wütend, Enid«, sagte er sanft. »Du träumst! Ich bin überhaupt nicht wütend.«

»Er wollte das nicht…« Sie seufzte und schwieg eine Weile. Ravensbrook drehte sich zu Hester um, seine Augen verlangten eine Antwort.

Hester trat an die andere Seite des Bettes. Enid war sehr bleich, ihre Haut spannte sich über die Wangenknochen, und ihre Augen lagen so tief in ihren Höhlen, als seien diese zu groß für sie geworden. Aber sie atmete noch, wenn auch kaum sichtbar und vielleicht zu schwach, als daß Ravensbrook sich hätte sicher sein können.

»Es hat sie überhaupt nicht getröstet!« stieß er mit erstickter Stimme hervor. »Es hat sie nur aufgeregt! Sie glaubt, ich sei wütend!« Es war ein Vorwurf, eine Anklage gegen Hester, weil diese sich seiner Meinung nach geirrt hatte.

»Und Sie haben ihr versichert, daß Sie nicht wütend sind. Das muß sie auf jeden Fall getröstet haben«, erwiderte Hester.

Er wandte ungeduldig den Blick ab, und sein Gesicht verdüsterte sich vor Ärger.

»Angus«, sagte Enid plötzlich. »Du mußt ihm verzeihen, Milo, wie schwer es dir auch fallen mag. Er hat sich solche Mühe gegeben, ich schwöre es, er hat sich wirklich Mühe gegeben!«

»Ich weiß, daß er das getan hat!« sagte Ravensbrook schnell und beugte sich über sie; seine eigene Angst vor der Krankheit schien für den Augenblick vergessen zu sein. »Das gehört alles der Vergangenheit an, das verspreche ich dir.«

Enid stieß einen tiefen Seufzer aus, und ein winziges Lächeln spielte um ihren Mund, nur um sogleich wieder zu verschwinden.

»Enid!« rief er aus und griff mit einer heftigen Bewegung nach ihrer Hand.

Hester nahm das feuchte Tuch und tupfte damit Enids Stirn, Wangen, Lippen und Kehle ab.

»Das ist so verdammt nutzlos, Weib!« rief Ravensbrook laut. Dann fuhr er ruckartig herum und erhob sich. »Unterstehen Sie sich, vor meinen Augen mit Ihren verfluchten Ritualen zu beginnen. Können Sie nicht wenigstens den Anstand aufbringen zu warten, bis ich aus dem Zimmer bin? Sie war meine Frau, um Gottes willen!«

Hester legte ihre Hand auf Enids Hals, ganz oben direkt unter dem Kinn, und drückte fest auf die Arterie. Sie spürte, daß die Haut kühler geworden war und der Puls schwach, aber stetig ging.

»Sie schläft«, sagte sie voller Überzeugung.

»Ersparen Sie mir Ihre verdammten Beschönigungen!« Seine Stimme verriet hilflosen Zorn. »Ich lasse mich nicht von einer verfluchten Domestikin wie ein Kind behandeln, noch dazu in meinem eigenen Haus!«

»Sie schläft!« wiederholte Hester fest. »Das Fieber ist zurückgegangen. Wenn sie erwacht, wird sie sich bereits ein wenig besser fühlen, aber es kann eine Weile dauern. Sie war sehr krank, aber mit guter Pflege wird sie wieder vollständig genesen. Das heißt, wenn Sie sie jetzt nicht beunruhigen und mit Ihrer Unbeherrschtheit ihre Ruhe stören.«

»Was?« fragte er, noch immer zornig und verwirrt.

»Möchten Sie, daß ich es wiederhole?« fragte sie.

»Nein! Nein.« Er stand völlig reglos da - nur einen Schritt von der Tür entfernt. »Sind Sie sicher? Wissen Sie, wovon Sie da reden?«

»Ja. Ich habe schon viele Typhuskranke gesehen.«

»Im East End?« sagte er höhnisch. »Dort sterben die Menschen wie die Fliegen!«

»Auf der Krim«, korrigierte sie ihn. »Auch dort sind Hunderte von Menschen gestorben, aber nicht alle.«

»Oh.« Seine Miene entspannte sich ein wenig. »Ja. Die Krim hatte ich vergessen.«

»Das hätten Sie sicher nicht vergessen, wenn Sie dort gewesen wären!« fuhr sie ihn an. Er machte keine weitere Bemerkung, noch dankte er ihr, sondern ging nur aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Sie läutete nach Dingle, um ihr zu sagen, daß Enid die Krise überstanden habe, und um sie zu bitten, das benutzte Wasser fortzubringen. Außerdem bat sie um eine Tasse Tee. Bis zu diesem Augenblick war ihr nicht klar gewesen, wie unendlich müde sie war.

Dingle brachte ihr Tee, warmen, gebutterten Toast, eine frische, steinerne Flasche mit heißem Wasser und eine Decke, die sie am Küchenfeuer gewärmt hatte.

»Aber Sie bleiben doch noch bei ihr, oder?« fragte sie eindringlich. »Vorsichtshalber?«

»Natürlich werde ich bleiben«, versprach Hester.

Zum erstenmal, seit Hester das Haus betreten hatte, huschte ein Lächeln über Dingles Gesicht.

»Ich danke Ihnen, Miss. Gott segne Sie.«

Monk war jetzt ebenfalls davon überzeugt, daß ihm keine andere Möglichkeit mehr blieb, als nach Caleb Stone zu suchen. Welche Zweifel er auch bezüglich Genevieves hegen mochte, sie rechtfertigten doch keine weiteren Verzögerungen oder irgend etwas Schwerwiegenderes als einen leisen Verdacht, ein Bewußtsein - quälend und schmerzlich - anderer Möglichkeiten. Aber worin diese auch bestehen mochten, sie führten immer wieder zu Caleb. Sobald sie über Angus' Schicksal im Bilde waren, und sei es auch nur so weit, daß die Behörden sich endlich veranlaßt fühlten einzugreifen, blieb immer noch Zeit, sich der Schuldfrage zuzuwenden. Er zog sich alte Kleidungsstücke an, die er früher einmal für einen ähnlichen Zweck erworben haben mußte. Seine eigene Garderobe war stets tadellos. Seine Schneiderrechnungen aus vergangenen Jahren legten ein stummes Zeugnis dafür ab und verrieten ein hohes Maß an Eitelkeit. Die Qualität und der Schnitt seiner Kleidung, der perfekte Sitz an den Schultern, die weichen, glatten Aufschläge brachten ihm schmerzlich zu Bewußtsein, wieviel Geld das alles gekostet haben mußte, gaben ihm aber gleichzeitig ein Gefühl tiefer Befriedigung. Jedesmal, wenn er sich ankleidete, freute er sich über die feinen Stoffe und sein elegantes Spiegelbild. Aber heute war sein Ziel Limehouse und vielleicht die Isle of Dogs, denn er wollte Caleb Stone suchen und sich nicht allzu deutlich als Fremder zu erkennen geben. Als solchen hätte man ihn ebenso verabscheut wie verachtet, und ganz gewiß hätte er nur Lügen zu hören bekommen. Deshalb streifte er sich ein zerrissenes, gestreiftes Hemd ohne Kragen über den Kopf und zog sich dann eine ausgebeulte, schlechtsitzende, bräunlichschwarze Hose an. Sein Spiegelbild entlockte ihm eine Grimasse; dann fügte er, hauptsächlich, um sich warm zu halten, eine fleckige Weste hinzu sowie eine dicke Jacke aus brauner Wolle mit mehreren Löchern darin. Schließlich krönte er das Ganze mit einem Hut und - wobei er es wohlweislich vermied, noch einmal einen Blick in den Spiegel zu werfen - trat hinaus in den leichten, frühmorgendlichen Nieselregen.

Mit einer Droschke fuhr er dann bis ans Ende der Commercial Road East im Herzen von Limehouse, von wo aus er zu Fuß weiterging. Er wußte bereits, daß es schwierig sein würde, Caleb zu finden. Schließlich hatte er schon vorher einige halbherzige Versuche in diese Richtung unternommen. Niemand schien besonders begierig darauf zu sein, mit ihm zu reden.

Er stellte seinen Kragen auf und überquerte die Britannia Bridge, die sich über das dunkle Wasser des Limehouse Cut spannte; dann führte ihn sein Weg vorbei am Rathaus und schließlich auf die West India Dock Road, von der er scharf nach rechts auf die Three Colt Street Richtung Fluß und Gun Lane abbog. Er hatte mehrere Lokale im Sinn, in denen er seine Nachforschungen anstellen wollte. Nach dem, was er bereits von ihm wußte, hielt sich sein Leben in einem instabilen Gleichgewicht, immer am Rande des Überlebens. Er war verschiedentlich in Gewalttätigkeiten und Betrügereien verwickelt gewesen. Er war jähzornig, und die Leute sprachen nur mit ängstlicher und gedämpfter Stimme von ihm. Aber bisher hatte Monk noch nicht herausfinden können, womit er eigentlich sein Geld verdiente oder wo er lebte, abgesehen von der Tatsache, daß sein Wohnort sich weiter östlich befinden mußte, vom West India Dock aus ein Stück flußabwärts.

Er fing beim Pfandleiher in der Gun Lane an. Dort war er schon einmal gewesen. Er konnte sich, was den Mann selbst betraf, an nichts Konkretes erinnern, genausowenig wie an den kleinen, mit privaten Gegenständen jeder Art überfüllten Raum; alles, was er dort sah, deutete auf das Ausmaß der Armut in diesem Viertel hin. Aber der erschrockene Gesichtsausdruck des Mannes, der da auf der anderen Seite der Theke im Licht der Öllampen stand, bewies, daß sie sich in der Vergangenheit irgendwann einmal begegnet sein mußten, und Monk war entschlossen, das Beste daraus zu machen.

Natürlich konnte er sich nicht länger auf die Machtbefugnisse der Polizei berufen, und Wiggins, der Eigentümer, war ein harter Mann. Er hätte seinem Gewerbe unmöglich so lange nachgehen können, wenn er leicht zu übervorteilen gewesen wäre.

»Ja?« sagte er vorsichtig, als Monk sich ihm näherte. »Ich weiß von nichts, von rein gar nichts«, sagte er abwehrend. »Ich hab' keine heißen Waren da, und ich mach' keine Geschäfte mit Dieben.« Sein dickes Kinn versteifte sich. Es war eine Lüge, und sie beide wußten es. Es ging nur darum, es zu beweisen.

Monk hatte bereits beschlossen, wie er vorgehen würde.

»Ich glaube Ihnen nicht, aber was soll's? Es interessiert mich auch nicht.«

»Ach? Seit wann denn das?« Wiggins' Gesicht spiegelte tiefste Ungläubigkeit wider.

»Seit Sie mir hier in Ihrem Laden mehr nützen als im Gefängnis«, erwiderte Monk.

»Ach ja?« Er beugte sich über die Theke, dort, wo zwischen zwei Steinkrügen auf der einen Seite und einem Stapel mit Töpfen und Kesseln auf der anderen eine kleine Lücke war.

»Machen wir vielleicht jetzt ab und an ein kleines Geschäftchen nebenbei?« Es sollte eine Beleidigung sein, aber als Monk keine Anzeichen von Arger zeigte, veränderte sich Wiggins Gesichtsausdruck plötzlich, und er sah sein Gegenüber verblüfft an. »Wir machen also doch ein paar krumme Geschäfte hier und da? Na, wer hätte das gedacht? Komischer Gedanke. Mr. Monk, ausgerechnet! Legt sich 'n bißchen was zur Seite. Schmeckt Ihnen wohl nicht, keinen regelmäßigen Lohn mehr zu kriegen dafür, daß Sie wen finden? Sie haben wohl Hunger und frieren jetzt auch ab und an? Muß schon sagen, Sie sehen auch nicht mehr so aus wie früher; war 'n richtiger Dandy, ja, ja. Bißchen runtergekommen, wie?« Sein Lächeln wurde bei jedem neuen Einfall breiter. »Wenn Sie jemand suchen, der Ihre feine Kluft kauft, könnte ich Ihnen vielleicht einen guten Preis machen. Könnte die Sachen nach Westen rauf verkaufen, mit 'nem schönen kleinen Gewinn. Das heißt, natürlich nur, wenn Sie's nicht selbst machen wollen? Verträgt sich wohl nicht mit Ihrem Stolz, wie?«

Monk unternahm eine gewaltige Anstrengung, sein Temperament zu zügeln. Er verspürte den Wunsch, später am Tag in den allerbesten Kleidern, die er besaß, zurückzukehren und Wiggins einen Goldsovereign zu geben, nur um ihm zu beweisen, daß er falsch lag.

»Ich kann ein unangenehmer Feind sein, wenn man mich dazu drängt«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Und im Augenblick fühl' ich mich sehr hart gedrängt.«

»Sie waren immer schon ein unangenehmer Feind«, erwiderte Wiggins säuerlich. »Und auch ein schlechter Freund, soweit ich weiß. Wollen Sie nun was verkaufen oder nicht?«

»Ich möchte ein kleines Geschäft machen«, sagte Monk vorsichtig. »Nicht mit Ihnen, mit Caleb Stone.«

Wiggins' Züge versteinerten.

»Ich habe eine Arbeit für ihn«, log Monk. »Eine, für die ich ihn bezahlen werde, und nach allem, was ich gehört habe, könnte er das Geld gut gebrauchen. Ich muß wissen, wo ich ihn finden kann, und Sie scheinen da eine gute Informationsquelle zu sein.«

»Ich weiß nicht, wo Sie ihn finden können, und würd's Ihnen auch nicht sagen, wenn ich's wüßte,« sagte Wiggins mit unverwandtem Blick auf Monk.

Die Tür öffnete sich, und eine kleinwüchsige Frau, die sich einen dünnen Schal um die gebeugten Schultern zog, trat mit einem Paar Stiefel in der Hand ein. Sie musterte Monk ängstlich, um festzustellen, ob sie warten sollte, bis er fertig war, oder nicht.

»Was willst du, Maisie?« fragte Wiggins über Monks Kopf hinweg. »Schon wieder Billys Stiefel, was? Ich geb' dir Sixpence. Wenn ich dir mehr geben würd', bekämst du nie genug zusammen, um sie wieder zurückzuholen.«

»Er kriegt am Freitag Geld«, erwiderte sie zaghaft, als handelte es sich mehr um eine Hoffnung als um eine Überzeugung. »Er hat 'n bißchen gearbeitet. Aber die Kinder müssen schließlich was im Bauch haben. Geben Sie mir einen Shilling, Mr. Wiggins. Ich zahl's Ihnen bestimmt zurück.«

»Die Dinger sind keinen Shilling wert«, sagte Wiggins sofort.

»Lauter Löcher drin. Ich kenne diese Stiefel da wie meine eigene Westentasche. Sevenpence. Das ist mein letztes Wort! Wenn's dir nicht paßt, kannst du ja gehen.«

»Was für eine Art Arbeit macht Billy denn?« fragte Monk plötzlich.

Wiggins holte tief Luft, um sich einzumischen, aber die Frau war schneller als er.

»Der macht alles, Mister. Wenn Sie irgendeine Hilfe brauchen, mein Billy erledigt das für Sie.« Ihr mageres Gesicht war voller Hoffnung.

»Ich will Caleb Stone finden«, erwiderte Monk. »Ich will nur wissen, wo er wohnt, das ist alles. Reden kann ich dann selbst mit ihm. Sein Bruder ist gestorben, und ich möchte es ihm offiziell mitteilen. Sie haben sich sehr nahegestanden, auch wenn sein Bruder oben im West End gelebt hat.«

»Ich kann Ihnen sagen, wo Selina wohnt«, sagte sie, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte. »Sie ist seine Frau. Na ja, irgendwie jedenfalls.«

Monk schob eine Hand in seine Tasche und förderte ein Geldstück zutage. »Einen Shilling jetzt und noch einen, wenn Sie mich zu ihr bringen. Behalten Sie die Stiefel.«

Sie riß den Shilling mit einer knochigen, schmutzigen Hand an sich, warf Wiggins einen Blick zu, der eine Mischung aus Triumph und dem Wissen war, daß sie ihn ganz gewiß bald wieder brauchen würde. Dann ging sie mit Monk im Schlepptau zur Tür.

Wiggins fluchte und spuckte in einen Messingnapf auf dem Fußboden.

Die Frau führte Monk durch schmuddelige Straßen zum Fluß hinunter und von dort aus nach Osten, wie er vermutet hatte, zur Isle of Dogs. Ein schneidender Wind wehte vom Wasser herauf und trug den Geruch von Salz, verdorbenem Fisch, übergelaufenen Abwasserkanälen und der kalten Feuchtigkeit der abfließenden Flut Richtung Flußmündung und Meer mit sich. Auf dem grauen Wasser bahnten sich endlose Reihen schwerbeladener Lastkähne ihren Weg stromabwärts.

Ein Brauereiwagen fuhr im Schritt neben ihnen auf der Straße her, und seine Räder holperten über die unebenen Pflastersteine. Ein Lumpensammler ließ seinen klagenden Ruf hören, als erwarte er tatsächlich eine Antwort. Zwei Frauen, die an der Straßenecke standen, waren in einen wilden Streit verwickelt, und eine Katze huschte mit einer Ratte im Maul durch eine Gasse.

Sie gingen die Bridge Street hinunter, zwischen Limehouse Reach auf der einen Seite und den West India Docks auf der anderen hindurch. Hohe Masten durchbrachen die Silhouette der Stadt, zeichneten sich grau gegen die Wolken ab und bewegten sich kaum von der Stelle. Aus den Schornsteinen zogen dünne Rauchschwaden in die Luft. Maisie ging an der Cuba Street vorbei und machte in der Manila Street dann endlich halt.

»Drittes Haus auf der anderen Seite«, sagte sie heiser. »Da wohnt sie. Selina heißt sie.« Dann streckte sie zaghaft die Hand aus, als sei sie nicht sicher, ob sie den zweiten Shilling wirklich bekommen würde oder nicht.

»Wie sieht sie aus?« Er wollte feststellen, ob ihre Beschreibung mit der von Mr. Arbuthnot übereinstimmte. Wenn es so war, würde er ihr vertrauen, und sie sollte ihren Shilling bekommen.

»Ein Flittchen«, sagte sie hastig und biß sich dann auf die Lippen. »Ganz hübsch, wirklich, 'n bißchen auffällig vielleicht. Dünn, würde ich sagen, scharfe Nase, aber schöne Augen, wirklich schöne Augen.« Sie sah Monk an, um festzustellen, ob ihm das reichen würde, und stellte fest, daß es das nicht tat.

»Irgendwie braune Haare, schöne, volle Haare. Und immer ziemlich selbstsicher, zumindest, wenn ich sie sehe. Schwingt die Hüften beim Gehen. Wie ich schon gesagt habe, ein Flittchen.« Sie schniefte. »Aber sie hat Mumm in den Knochen, das muß man ihr lassen. Hab' sie nie jammern hören, nicht wie manche das tun. Macht 'ne gute Miene zum bösen Spiel, egal, was passiert. Und sie hat's bestimmt nicht leicht, nicht mit 'nem Kerl wie Caleb Stone.«

»Vielen Dank.« Monk gab ihr den Shilling. »Haben Sie Caleb Stone gesehen?«

»Ich? Ich hab' nichts übrig für Leute wie die. Hab' genug zu tun mit meinen eigenen Problemen. Kann sein, daß ich ihn mal gesehen hab'. Würd's aber nicht zugeben, wenn Sie mich vor anderen Leuten noch mal fragen.«

»Ich habe Sie noch nie gesehen«, sagte Monk gelassen. »Und sollte ich Sie je wiedersehen, glaube ich nicht, daß ich Sie erkennen würde. Wie heißen Sie?«

Sie lächelte verschwörerisch und entblößte dabei zwei Reihen kaputter Zähne.

»Hab' keinen Namen nicht.«

»Das hab' ich mir gedacht. Drittes Haus auf der Seite da?«

»Ja.«

Er drehte sich um und ging den schmalen Weg entlang, der kaum breit genug war, um nicht in die Gosse zu treten, und beim dritten Haus ging er die Stufen zu der Tür hinunter, die von einem kleinen, mit Abfällen übersäten Bereich ins Haus führte. Er klopfte energisch und hatte gerade die Hand gehoben, um es noch einmal zu versuchen, als ein mit Sackleinen verhängtes Fenster über ihm sich öffnete und eine alte Frau den Kopf herausstreckte.

»Sie ist nicht zu Hause! Kommen Sie später wieder, wenn Sie zu ihr wollen.«

Monk legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu blicken. »Wieviel später?«

»Weiß nicht. Gegen Mittag vielleicht.« Dann verschwand sie wieder, ohne das Fenster hinter sich zu schließen, und Monk trat gerade rechtzeitig zur Seite, um einem Kübel mit Schmutzwasser auszuweichen, der über ihm entleert wurde.

Er wartete ungefähr zwanzig Meter von dem Haus entfernt auf der Straße, halb im Schutz einer überhängenden Mauer, konnte aber von seinem Standort aus weiterhin die Treppe beobachten, die zu Selinas Wohnung hinunterführte. Die Kälte wurde immer unangenehmer, und gegen Mittag begann es zu regnen. Viele Leute gingen an ihm vorbei; sie hielten ihn vielleicht für einen Bettler oder für einen Mann, der kein Zuhause hatte, einen von Tausenden, die von Abfällen lebten und in Hauseingängen schliefen. Das Armenhaus versorgte sie mit einem Minimum an Nahrung und einem Dach über dem Kopf, aber nur mit wenig Wärme, und die strengen Regeln dort waren fast so hart wie im Gefängnis. Manche glaubten sogar, schlimmer als dort.

Niemand hatte mehr als einen flüchtigen Blick für ihn, und er widerstand der Versuchung, ihnen in die Augen zu blicken. Er versuchte sich den Anschein eines Bettlers zu geben, denn arme Leute senkten den Blick, denn sie schämten sich.

Kurz nach Mittag sah er eine Frau, die sich von der Westferry Road näherte, dort, wo die Bridge Street der Flußbiegung folgte, die der Isle of Dogs ihre Form gab. Sie war von durchschnittlicher Größe, hielt aber den Kopf hoch erhoben und hatte einen wiegenden Gang. Selbst aus einiger Entfernung konnte er ihre ausgeprägten Gesichtszüge erkennen. Ihre Wangenknochen waren hoch und ließen ihre Augen ein wenig schräg erscheinen, ihre Nase war wohlgeformt, wenn auch ein wenig spitz, und ihr Mund verriet eine gewisse Großzügigkeit. Er zweifelte nicht daran, daß es Selina war. Ihr Gesicht hatte genug Mut und Ausdrucksstärke, um Männer wie Caleb Stone anzuziehen, die mittlerweile vielleicht gewalttätig und heruntergekommen sein mochten, aber für bessere Dinge geboren waren.

Er verließ seinen Warteposten; seine Beine schmerzten, und die Gelenke waren steif vom langen Stillstehen. Beinahe wäre er von der Bordsteinkante abgeglitten; seine Füße waren so kalt, daß er kein Gefühl mehr in ihnen hatte. Vorsichtig ging er quer durch den Schmutz über die Straße und konnte sein Gleichgewicht nur bewahren, indem er mit den Armen ruderte.

Als er sie, gerade als sie die Treppe hinunterging, endlich einholte, war er maßlos wütend auf sich selbst.

Als er nur noch einen Meter von ihr entfernt war, fuhr sie mit einem Messer in der Hand zu ihm herum.

»Passen Sie bloß auf, Mister!« warnte sie ihn. »Versuchen Sie irgendwas, schneid' ich Ihnen die Kehle durch. Ich warne Sie!«

Monk wich nicht von der Stelle, obwohl sie ihn tatsächlich überrascht hatte. Wenn er sich jetzt einschüchtern ließe, würde er nichts von ihr erfahren.

»Ich brauche mir keine Frau zu kaufen«, sagte er mit verkniffenem Lächeln. »Und ich habe noch nie eine genommen, die nicht willig gewesen wäre. Ich will mit Ihnen reden.«

»Ach ja?« Die Ungläubigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben, und doch sah sie ihn nun direkt an. Hinter ihren dunklen Augen lauerte kein gebrochener Geist, und ihre Furcht war rein physischer Natur.

»Ich komme von Ihrer Schwägerin.«

»Na, das war' mal was Neues.« Sie hob belustigt ihre schön geschwungenen Augenbrauen. »Ich habe keine Schwägerin, also muß das eine Lüge sein. Versuchen Sie's lieber noch mal.«

»Ich wollte nur höflich sein«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ihnen zuliebe. Sie ist jedenfalls mit Angus verheiratet. Ich dachte, es wäre immerhin möglich, daß Sie mit Caleb verheiratet sein könnten.«

Ihr Körper straffte sich. Ihre schlanken Hände umklammerten das verwitterte Geländer, bis die Knöchel weiß hervortraten. Aber ihr Gesicht verriet kaum eine Regung.

»So, dachten Sie. Und was ist, wenn ich's nicht bin? Wer sind Sie eigentlich?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich komme von Angus' Frau.«

»Das tun Sie nicht.« Sie sah ihn mit grenzenloser Verachtung von oben bis unten an. »Sie würde Sie nicht mal ins Haus lassen! Sie würde die Bullen rufen, wenn so was wie Sie sie auch nur ansprechen würde, außer vielleicht, um sie um einen halben Penny anzubetteln.«

Monk fuhr sehr bedächtig und mit seiner kultiviertesten Ausdrucksweise fort: »Und wenn ich in meiner gewohnten Aufmachung hierhergekommen wäre, hätte ich genausoviel Aufmerksamkeit erregt wie jemand, der sich in diesen Kleidern der Königin präsentiert. Junge Damen pflegen bei solchen Gelegenheiten Weiß zu tragen«, fügte er hinzu.

»Und Sie werden natürlich zu solchen Sachen eingeladen, na klar. Sie müssen's ja wissen!« sagte sie sarkastisch, aber ihre Augen forschten doch in seinen Zügen, und die Ungläubigkeit geriet ins Wanken.

Er streckte eine saubere Hand mit schmalen Fingern und tadellos gepflegten Nägeln aus und umfaßte das Geländer direkt neben ihrer Hand, ohne sie jedoch zu berühren.

Sie betrachtete seine Hand einen Augenblick lang und hob dann wieder den Blick, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Was wollen Sie?« fragte sie langsam.

»Wollen Sie das auf der Treppe besprechen? Sie haben neugierige Nachbarn, im Stockwerk über Ihrer Wohnung und wer weiß wo sonst noch.«

»Fanny Bragg? Eifersüchtige alte Kuh. Ja, sie würde mir liebend gern einen Eimer Schmutzwasser über den Kopf gießen. Kommen Sie mit rein.« Mit diesen Worten holte sie einen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn ins Schlüsselloch, drehte ihn um und ließ Monk eintreten.

Der Raum war dunkel und wurde nur von einem einzigen Fenster erhellt, das zudem unterhalb der Straße lag, aber er war größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte, und überraschend sauber. Der schwarze Kanonenofen verströmte beträchtliche Wärme, und auf dem Fußboden lag ein aus Stoffresten geknüpfter Teppich. Das Mobiliar bestand aus drei verschiedenfarbigen Sesseln, die unterschiedlich stark geflickt waren, aber allesamt recht bequem wirkten, und einem großen Bett, das in der Dunkelheit am anderen Ende des Raums stand und ordentlich gemacht und mit einer Flickendecke verhüllt war.

Er schloß die Tür hinter sich und sah sie mit neu erwachter Aufmerksamkeit an. Was sie auch sein mochte, sie hatte ihr Bestes gegeben, um aus dieser winzigen Behausung ein Heim zu machen.

»Nun?« fragte sie. »Sie kommen also von Angus' Frau. Worum geht's? Warum sind Sie hier? Was will sie von mir?« Ihre Lippen verzogen sich zu einer Grimasse, die er nicht deuten konnte. Ihre Stimme hatte plötzlich einen anderen Klang. »Oder suchen Sie in Wirklichkeit Caleb?« Ein ganzes Spektrum von Gefühlen verbarg sich hinter der einfachen Art, wie sie seinen Namen aussprach. Sie hatte Angst vor ihm, und doch verweilte ihre Zunge bei seinem Namen, als sei er ihr unendlich kostbar, als brauche sie eine Entschuldigung dafür, ihn noch einmal auszusprechen.

»Ja, Caleb suche ich auch«, entgegnete er. Sie hätte ihm nicht geglaubt, wenn er etwas anderes gesagt hätte.

»Warum?« Sie rührte sich nicht von der Stelle. »Sie hat sich bisher auch nicht um mich gekümmert. Warum jetzt? Angus kommt ab und zu her, aber sie ist nie mitgekommen.«

»Aber Angus kommt?« hakte er vorsichtig nach.

Sie starrte ihn an. In ihren Augen stand eine gewisse Furcht, aber auch unübersehbarer Trotz. Sie würde Caleb nicht verraten, ob nun aus Liebe zu ihm oder aus Eigennutz, weil er auf irgendeine Weise für sie sorgte, oder weil sie seine Brutalität kannte und wußte, was er möglicherweise mit ihr anstellen würde, wenn sie ihn verriet. Das konnte Monk nicht herausfinden. Doch er hätte es gern gewußt. Trotz der Verachtung, die er anfänglich für sie empfunden hatte, sah er in ihr nun doch mehr als nur eine Möglichkeit, Caleb zu finden, mehr als eine Frau, die sich einfach nur um des Überlebens willen einem brutalen Unhold angeschlossen hatte.

Er war schon davon ausgegangen, daß sie nicht mehr antworten würde, als sie schließlich doch zu sprechen begann.

»Er hat nichts für Angus übrig«, sagte sie bedächtig. »Er versteht ihn nicht.«

Etwas in ihrer Stimme, ein auffälliger Mangel an Ärger, brachte ihn auf den Gedanken, daß sie selbst dieses Gefühl nicht teilte, aber die Angelegenheit war viel zu heikel, um sie weiter zu verfolgen.

»Geht er jemals in die Stadt, um ihn zu besuchen?« fragte er statt dessen.

»Caleb?« Ihre Augen weiteten sich. »Nein, der doch nicht. Caleb geht nie in die Stadt. Zumindest nicht, daß ich wüßte. Sehen Sie mal, Mister, Caleb wohnt hier nicht. Er kommt bloß her, wenn ihm danach ist. Ich bin nicht sein Kindermädchen.«

»Aber Sie sind seine Frau…«

Plötzlich wurden ihre Züge weicher. Die harten Linien des Zorns und des Selbstschutzes verschwanden, machten sie um Jahre jünger und ließen sie in dem diffusen Licht einen Augenblick lang wie die Fünfundzwanzigjährige aussehen, die sie gewesen wäre, wenn sie an Genevieves oder Drusillas Stelle gestanden hätte.

»Ja«, erwiderte sie und reckte ihr Kinn ein klein wenig in die Höhe.

»Wenn er Sie darum bittet, gehen Sie also in die Stadt zu Angus.« Er ließ seine Worte wie eine Feststellung klingen, nicht wie eine Frage.

Wieder reagierte sie mit äußerster Wachsamkeit. »Ja. Er hat mich manchmal hingeschickt, wenn er knapp bei Kasse war. Aber in seinem Haus bin ich nie gewesen. Wüßte nicht mal, wo es ist.«

»Aber Sie wissen, wo Sie sein Geschäft finden können.«

»Ja. Na und.«

»Sie sind am Morgen des achtzehnten Januar dort gewesen.« Sie zögerte nur einen Moment, ließ ihn keine Sekunde aus den Augen und wußte, daß er mit Arbuthnot gesprochen haben mußte.

»Na, und wenn schon? Er hat sich nicht beschwert.«

»Caleb hat Sie darum gebeten?«

»Ich hab's Ihnen doch schon mal gesagt, ich gehe hin, wenn die Miete bezahlt werden muß und Caleb und ich das Geld nicht haben.«

»Also gehen Sie in die Stadt und bitten Angus darum. Und er zahlt? Und das, obwohl Caleb ihn so verachtet?«

Wieder sah Monk, daß ihr Kiefer sich verkrampfte. »Caleb redet nicht mit mir darüber. Geht mich nichts an. Wollte lediglich seinen Bruder sehen. Die beiden sind Zwillinge, wie Sie wissen. Das ist nicht wie bei normalen Brüdern. Seine Frau wird daran nichts ändern, auch nicht, wenn sie's bis zu ihrem letzten Atemzug versucht. Caleb hat keine Liebe für Angus, genausowenig wie Angus für Caleb. Aber Caleb braucht nur mit den Fingern zu schnippen, und er kommt angelaufen.« Sie sagte das mit einem gewissen Stolz und verriet damit eine Einstellung Angus gegenüber, die beinahe hätte Mitleid sein können, wenn nicht so zweifelsfrei festgestanden hätte, wem ihre Loyalität galt.

»Und, Angus ist auch diesmal gekommen?«

»Klar. Warum? Ich habe Ihnen doch gesagt, sie wird ihn nicht davon abbringen!«

»Haben Sie ihn an bewußtem Tag gesehen?«

»Ja!«

»Ich meine nicht im Büro, ich meine hier auf der Isle of Dogs.«

»Hier nicht. Ich habe ihn in Limehouse gesehen, aber er wollte noch hier vorbeikommen. Ich schätze, er ist rüber zu den West India Docks, Richtung Blackwall und dann wieder zum Fluß.« Sie bückte sich, legte ein Stück verfaultes Holz in das Feuer und schloß mit lautem Geklapper die Ofentür.

»Aber Sie haben ihn gesehen?« fragte er hartnäckig weiter.

»Hab' ich doch gesagt. Haben Sie was mit den Ohren?«

»Haben Sie ihn mit Caleb zusammen gesehen?«

Sie goß etwas Wasser aus einem Kübel in einen Kessel und stellte diesen dann auf den Herd.

»Ich hab' Ihnen doch erklärt, daß ich gesehen hab', wie er in die Docks und Richtung Blackwall gegangen ist, und genau dahin wollte Caleb auch. Reicht denn das immer noch nicht?«

»Hat Caleb gesagt, daß er ihn dort treffen würde?« fragte er.

»Welche Anweisungen haben Sie Angus gegeben? Oder haben sie sich immer am selben Ort getroffen?«

»Unten beim Viehkai im Gold Harbour, meistens jedenfalls«, erwiderte sie. »Jedenfalls hat er das damals gesagt. Warum?« Sie sah ihn abermals an. »Wen interessiert das schon? Jetzt ist er jedenfalls nicht da! Warum fragen Sie mich überhaupt so aus? Fragen Sie doch ihn! Er wird schon wissen, wohin er gegangen ist!«

»Vielleicht ist er immer noch dort«, sagte Monk und zog die Augenbrauen hoch.

Sie holte tief Luft, wie um ihn zu verspotten, und schien dann erst den Ernst in seiner Stimme zu bemerken; plötzlich kamen ihr Zweifel.

»Wie meinen Sie das? Sie reden ja wirr!« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Also, weshalb sind Sie eigentlich gekommen? Was wollen Sie? Wenn Sie was von Caleb wollen, sind Sie ein Narr! Gehen Sie doch, und suchen Sie ihn! Wenn Angus Sie geschickt hat, dann sagen Sie mir, worum's geht, und ich sag's Caleb. Er kommt, wenn ihm der Sinn danach steht, und wenn nicht, dann läßt er's bleiben.«

Es hatte keinen Sinn, wenn er versuchte, sie zu überlisten.

»Niemand hat Angus nach Ihnen noch gesehen.« Er sah ihr direkt in die Augen, große, dunkle Augen mit langen Wimpern.

»Er ist nie nach Hause zurückgekehrt.«

»Er ist nie…« Ihr Gesicht erbleichte unter dem Schmutz und der Schminke. »Was reden Sie da, Mann? Er ist bestimmt nicht einfach weggelaufen! Er hat da doch alles, was er braucht. Hat er irgendwas angestellt? Ist er vor den Bullen weggelaufen?« Eine Mischung aus Belustigung und Mitleid machte sich in ihrem Gesicht breit.

»Ich halte das für sehr unwahrscheinlich«, erwiderte er ebenfalls mit einem Anflug von schwarzem Humor. Obwohl ihm, noch während er sprach, klarwurde, daß das nicht so völlig undenkbar war, auch wenn ihm dieser Gedanke vorher noch nie gekommen war. »Ich glaube vielmehr, daß er tot ist.«

»Tot!« Sie wurde noch blasser. »Warum sollte er tot sein?«

»Fragen Sie Caleb!«

»Caleb!« Ihre Augen weiteten sich, und sie schluckte sichtbar.

»Deswegen sind Sie also hier!« Ihre Stimme klang plötzlich schrill. »Sie glauben, Caleb hat ihn ermordet! Das hat er bestimmt nicht! Warum? Warum sollte er ihn nach all diesen Jahren töten? Das ergibt doch keinen Sinn.« Aber ihr Mund war trocken, und in ihren Augen stand schieres Entsetzen. Sie starrte Monk an und suchte offensichtlich nach irgendeinem Argument, mit dem sie ihn überzeugen konnte, aber noch während sie das tat, wurde diese Hoffnung geringer und löste sich schließlich ganz auf. Sie konnte an seinem Gesicht ablesen, daß er sie durchschaut hatte. Caleb konnte seinen Bruder sehr wohl getötet haben, und das wußten sie beide - sie, weil sie Caleb kannte, und er, weil er es in ihren Augen gelesen hatte.

Der Kessel begann auf der heißen Herdplatte zu vibrieren.

»Sie werden ihn nie kriegen!« sagte sie verzweifelt; ihre Angst und zugleich der Wunsch, Caleb zu beschützen, hielten sich jetzt die Waage. »Sie werden ihn niemals schnappen.«

»Vielleicht nicht. Mir ist es viel wichtiger zu beweisen, daß Angus tot ist.«

»Warum?« fragte sie scharf. »Das ist noch lange kein Beweis, daß Caleb es getan hat, und damit werden Sie ihn nicht schnappen… und erst recht nicht hängen. So sicher wie alle Feuer der Hölle.« Ihr Gesicht verriet ihre Erschütterung, und ihre Stimme klang gepreßt.

»Damit seine Frau als Witwe anerkannt werden kann«, antwortete er. »Und damit seine Kinder etwas zu essen haben.«

Sie atmete tief durch. »Da kann ich nichts dran tun, nicht mal, wenn ich wollte.« Sie gab sich alle Mühe, ihn und auch sich selbst davon zu überzeugen, schien aber hin und hergerissen zu sein, wem nun ihre Loyalität galt.

»Das haben Sie bereits getan«, erwiderte er. »Ich wußte, daß Angus das letzte Mal hier gesehen worden ist, auf dem Weg nach Blackwall Reach. Danach hat ihn niemand mehr zu Gesicht bekommen.«

»Ich werde es abstreiten!«

»Natürlich werden Sie das. Caleb ist Ihr Mann. Selbst wenn er das nicht wäre, würden Sie es nicht wagen, etwas zu sagen, das ihm nicht in den Kram paßt.«

»Ich habe keine Angst vor Caleb«, sagte sie trotzig. »Er würde mir niemals etwas antun.«

Er machte sich nicht die Mühe, dies zu bestreiten. Es war nur eine weitere Behauptung, von der sie beide wußten, daß es eine Lüge war.

»Vielen Dank«, sagte er gelassen. »Auf Wiedersehen… für den Augenblick.«

Sie antwortete nicht. Der Kessel auf dem Herd begann zu dampfen.

Monk ließ die Manila Street hinter sich und ging nach Osten durch die West India Docks auf demselben Weg, den Angus Stonefield eingeschlagen haben mußte. Dann verbrachte er den ganzen Nachmittag damit, die Docks und die Elendsviertel entlang der Isle of Dogs und das Blackwall Reach zu durchkämmen. Caleb Stone war in dieser Gegend gut bekannt, aber niemand wollte ihm verraten, wo er steckte. Die meisten konnten sich nicht einmal daran erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatten.

Ein Messerschleifer gab zu, daß er vor zwei Tagen mit ihm gesprochen hatte, und ein Händler erzählte Monk, daß er Stone vor einer Woche ein Seil verkauft habe; der Besitzer der Polly House Tavern hatte ihn regelmäßig gesehen, aber keiner von ihnen wußte, wo man ihn zu irgendeiner bestimmten Zeit antreffen konnte, und alle sprachen sie seinen Namen mit äußerster Vorsicht aus, nicht unbedingt angstvoll, aber doch auch nicht unbesonnen. Monk zweifelte nicht daran, auf wessen Seite sie stehen würden, wenn man sie jemals zu einer Entscheidung zwingen sollte.

Als es dämmerte, kehrte er Blackwall den Rücken und war froh, in die Fitzroy Street zurückkehren zu können, um sich zu säubern und wieder so zu kleiden, wie er es gewohnt war. Anschließend wollte er zum Haus der Ravensbrooks gehen, um Genevieve Bericht zu erstatten. Immerhin hatte er diesmal etwas zu berichten und außerdem eine Verabredung zum Essen mit Drusilla Wyndham. Schon der Gedanke an sie entlockte ihm ein Lächeln. Es war wie ein süßer Duft nach all dem Schmutz und dem Gestank der Isle of Dogs, wie Lachen und leuchtende Farben nach all dem grauen Elend.

Er trug seine allerbeste Jacke, vielleicht weil er an Selina gedacht hatte und an ihre Meinung von ihm, aber vor allem, weil es der Stimmung entsprach, die der Gedanke an Drusilla bei ihm hervorrief. Er konnte ihr Gesicht vor seinem inneren Auge sehen: die großen haselnußbraunen Augen, den zarten Schwung ihrer Brauen, die weiche Fülle honigfarbenen Haars, die Art, wie in ihren Wangen Grübchen erschienen, wenn sie lächelte. Sie besaß Anmut und Charme, Selbstsicherheit und Witz. Sie nahm nichts allzu ernst. Sie war eine Freude für Augen und Ohren, für Geist und Gefühl. Sie schien immer genau zu wissen, was sie sagen, und sogar, wann sie schweigen sollte.

Er betrachtete sich im Spiegel und zupfte sein Halstuch zurecht, bis es perfekt saß. Dann griff er nach Umhang und Hut, trat hinaus und machte sich energischen Schritts auf die Suche nach einem Hansom, wobei er eine leise Melodie vor sich hinsummte.

Natürlich würde er bei den Ravensbrooks wohl auch auf Hester treffen, aber das ließ sich nun einmal nicht vermeiden. Es war fast ausgeschlossen, daß er ihr über den Weg lief. Sie hielt sich bestimmt im Krankenzimmer auf, zu dem er keinen Zutritt hatte, nicht einmal, wenn er den Wunsch gehabt hätte, was ganz eindeutig nicht der Fall war.

Er zog den Hut vor einer Frau, der er im Schein einer Straßenlaterne begegnete. Das Wissen, daß er Hester nicht treffen würde, erleichterte ihn sofort. Er wollte sich sein augenblickliches Glück nicht von ihren Kritteleien verderben lassen, von ihren ständigen Erinnerungen an den Schmerz und die Ungerechtigkeiten des Lebens. Sie war in jeder Hinsicht zu einseitig. Sie hatte kein Gefühl für das richtige Maß der Dinge. Das war ein Fehler, den viele Frauen aufwiesen. Sie nahmen die Dinge immer wörtlich und persönlich. Frauen wie Drusilla, die einen Blick für die Realitäten des Lebens hatten und dennoch den Mut aufbrachten zu lachen und sich mit vollendeter Anmut zu bewegen, waren wahrhaftig selten. Er konnte wirklich von Glück sagen, daß sie seine Gesellschaft offenbar genauso sehr genoß, wie er die ihre.

Plötzlich beschleunigte er sein Tempo und ging mit weit ausholenden Schritten über das nasse Pflaster. Er wußte durchaus, daß Frauen ihn attraktiv fanden. Er brauchte nicht viel dafür zu tun; etwas in seiner Natur weckte ihr Interesse und ihre Faszination. Vielleicht war es eine Aura von Gefahr, von unterdrückten, unter der Oberfläche verborgenen Gefühlen. Es war nicht weiter wichtig. Er wußte einfach, daß es da war, und von Zeit zu Zeit hatte er sich irgendeinen kleinen Vorteil damit verschafft. Es voll auszunutzen wäre töricht gewesen. Das letzte, was er wollte, war eine Frau, die ihn verfolgte, die eine Romanze, ja möglicherweise sogar eine Ehe im Sinn hatte.

Er konnte niemanden heiraten. Er hatte keine Ahnung, was während der letzten Jahre in seinem Leben geschehen war, und, was vielleicht noch beängstigender war, er kannte seinen eigenen Charakter nicht. Einmal hätte er in einem Anfall blinder Wut beinahe einen Mann getötet. Das wußte er sicher. Diese grauenvollen Augenblicke hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt, auch wenn sie kaum an die Oberfläche traten, sondern nur manchmal seine Träume störten.

Die Tatsache, daß der Mann einer der schlimmsten Schurken gewesen war, die er je gekannt hatte, spielte letztlich keine Rolle. Es war nicht das Böse an diesem Mann, das er fürchtete. Er war jetzt tot, getötet von einem anderen. Es war die Dunkelheit in ihm selbst, die ihn beunruhigte.

Aber von all dem wußte Drusilla nichts, was einen Teil ihres Reizes ausmachte.

Hester wußte natürlich davon. Aber gerade heute abend wollte er nicht an sie denken, genausowenig wie an den Typhus und an die Qualen dieser Krankheit, die bittere Realität waren. Er würde Genevieve Stonefield erzählen, daß er heute einen beträchtlichen Schritt vorwärts gekommen sei, würde sich dann verabschieden und einen wunderbaren geistreichen und in jeder Hinsicht vollkommenen Abend mit Drusilla verbringen.

Er trat vom Gehsteig auf die Fahrbahn und rief mit einer Stimme, die die Vorfreude auf die kommenden Stunden heller als gewöhnlich klingen ließ, eine Droschke herbei.